Kinikiller - Tanja Voit - E-Book

Kinikiller E-Book

Tanja Voit

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Beschreibung

Kommissar Helmut Taglieber wird bewusstlos auf der Fraueninsel aufgefunden – er wurde brutal niedergeschlagen. Als er aus dem Koma erwacht, kann er sich an nichts erinnern. Doch für Erholung bleibt keine Zeit, denn auf Schloss Herrenchiemsee wird eine Leiche entdeckt: ein Doppelgänger von König Ludwig, bekleidet mit der Königsrobe. Was steckt hinter diesem bizarren Mord?

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Seitenzahl: 368

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Tanja Voit, geboren 1976, studierte Theaterwissenschaft und Germanistik in München. Bereits während des Studiums schrieb sie Drehbücher, drehte zwei Kurzfilme und verfasste ein Theaterstück, das sie auch selbst inszenierte. Sie ist heute als Medizinische Fachangestellte und als freischaffende Autorin tätig. Mit ihrem Romandebüt »Kinikiller« räumt sie ihrer kreativen Seite endlich den verdienten Platz in ihrem Leben ein. Die Autorin lebt und arbeitet unweit des schönen Chiemsees.

Dieses Buch ist ein Roman. Handlungen und Personen sind frei erfunden. Ähnlichkeiten mit lebenden oder toten Personen sind nicht gewollt und rein zufällig.

© 2016 Emons Verlag GmbH Alle Rechte vorbehalten Umschlagmotiv: Florian Werner/Look-foto Umschlaggestaltung: Tobias Doetsch Lektorat: Uta Rupprecht eBook-Erstellung: CPI books GmbH, LeckISBN 978-3-96041-145-1 Oberbayern Krimi Originalausgabe

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Für Mucki

PROLOG

Die Dämmerung hatte bereits eingesetzt, vereinzelt lagen Nebelfetzen wie weiße Daunen auf dem See. Seit vier Tagen hatte er die Fraueninsel nicht verlassen und kein Wort gesprochen.

Er hatte in Kontemplation der Stimme in seinem Inneren gelauscht.

Am Uferweg wehte ihm ein Windstoß den Schal vors Gesicht, sodass er einen Moment lang nichts mehr sehen konnte. Er schob ihn beiseite und hob den Blick.

Der Abendstern stand am Firmament und verlieh der Szenerie etwas Märchenhaftes.

Langsam ging er weiter zum Steg, im Geiste seine Predigt für den Totensonntag vorbereitend.

Irgendetwas hatte ihn an diesem kalten Novemberabend nach draußen gezogen. Ein erneuter Windstoß erfasste ihn, und ein paar Haare flatterten ihm vor die Augen. Er strich sie nach hinten und sah wieder hinauf zum Himmel. Bis auf ein paar Wolken war er frei, es würde eine sternenklare Nacht werden.

Schon bevor er als Priester auf die Insel gekommen war, hatte Christian Waldherr Trost und Heilung in der Natur gesucht. Er hegte einen leisen Zweifel, ob das Priesterleben wirklich das Richtige für ihn war.

Und obwohl er diesen Beruf bereits seit fünfzehn Jahren ausübte, wusste er es immer noch nicht.

Es war nicht so, dass er keinen Bezug zu Gott hatte. Ganz im Gegenteil– wenn er innehielt und horchte, vernahm er seine Stimme klar und deutlich.

Auf dem Wasser spiegelten sich die Lichter vom gegenüberliegenden Ufer, die nahezu glatte Oberfläche zog ihn heute magisch an. Auf dem Steg schlug ihm eine kühle Brise entgegen.

Am Himmel gesellten sich zwei weitere Sterne zur Venus, wohl, damit sie nicht so einsam war.

So einsam wie er. Obwohl er die Stimme in seinem Inneren vernahm, hatte Gott ihn doch niemals dazu aufgefordert, in den Dienst der Kirche einzutreten. Diesen Entschluss hatte er ganz allein gefasst. Die meisten Priester, die er kannte, mochte er nicht besonders. Sie waren viel älter oder zumindest weit spießiger als er.

Die Insel dagegen liebte er so, wie sie war: Ströme von quasselnden Touristen im Sommer, Stille und Einsamkeit im Winter. Manchmal jedoch sehnte er sich nach einem Gespräch mit einer gleich gesinnten Seele.

Auf dem See strebten kleine Wellen zum Ufer, als ob sie es eilig hätten, dort anzukommen.

Er seufzte, während sein Blick zur Kirche hinüberwanderte.

Hatte er da im Augenwinkel etwas wahrgenommen?

Tatsächlich, rechts vom Steg lag etwas im Wasser. Etwas oder jemand. Schon lief der Priester schnellen Schrittes den Steg entlang zum Ufer. Tock-tock-tock, hämmerten die Absätze seiner Schuhe. Es war ein Mann –das erkannte er im Näherkommen deutlich–, er lag kopfüber im Schilf. Christian klopfte das Herz bis zum Hals, ohne Rücksicht auf seine Priesterrobe rannte er ins Wasser. Er beugte sich über den reglos Daliegenden, dann nahm er seinen Mut zusammen und drehte ihn um. Der Fremde war schwer wie ein nasser Sack. Christian Waldherr keuchte.

Soweit er das in dem spärlichen Licht erkennen konnte, hatte der Mann helles Haar und war ungefähr in seinem Alter. Die Augen waren geschlossen wie bei einem Schlafenden, und die Gesichtszüge wirkten weich und freundlich. Aus der Nase und von der Stirn lief eine dunkle Flüssigkeit– frisches Blut.

»Können Sie mich hören?« Christian rüttelte ihn. Es war sonderbar für ihn, seine eigene Stimme zu vernehmen.

Keinerlei Reaktion, aber eine innere Gewissheit sagte ihm, dass der Mann lebte. Sein Kopf hatte auf einem Stein gelegen, was ein Ertrinken verhindert hatte. Christian kniete sich neben ihn und hielt sein Ohr über Nase und Mund, während er mit der Hand den Puls fühlte.

EINS

Drei Monate später

Brigitte Regel nahm heute weder das wunderbare Wetter noch das in der Sonne strahlende Schloss Herrenchiemsee wahr. Sie war viel zu unausgeschlafen.

Um vier Uhr früh war ihre Nachtruhe beendet gewesen, als ihr Mann Ingo mit Guido, seinem besten Kumpel, im Schlepptau von der Faschingsparty der Bürgermeisterin nach Hause kam. Seitdem hatte Brigitte sich bemüht, die beiden davon abzuhalten, das Haus auf den Kopf zu stellen.

Lauter Gesang, fröhliches Zerdeppern ihrer von Tante Zilly geerbten Porzellanteller, der Versuch, sie zu einem flotten Dreier zu überreden– die Volltrunkenen hatten alles im Angebot.

Gitte schauderte bei der Erinnerung daran, wie der moppelige kleine Guido mit seiner Krawatte um den Kopf im Wohnzimmer zu »Beat it« von Michael Jackson die Hüften kreisen ließ und sich dabei wie das Idol ständig zwischen die Beine griff. Hätte sie das gefilmt und auf YouTube gestellt, er hätte seinen Posten als Chefredakteur der Lokalzeitung an den Nagel hängen können.

Doch dann hätte auch Ingo, der dort als freier Reporter arbeitete, keine Aufträge mehr erhalten. Die beiden hatten bis halb acht Uhr morgens gehörig die Bude gerockt. Als sie Ingo endlich ins Bett verfrachtet und Guido zu Hause bei seinen Maine-Coon-Katzen abgeliefert hatte, war es schon so spät gewesen, dass es sich nicht mehr gelohnt hatte, sich hinzulegen.

Sie schüttelte sich und nahm einen Schluck aus ihrem Becher mit doppeltem Latte. Gleich würde die Gruppe komplett sein, und sie musste mit der Führung anfangen– und das auch noch auf Englisch. Wenn sie vorher gewusst hätte, wie elend sie sich heute fühlen würde, dann hätte sie diese Sonderführung, die ihr der Kastellan aufs Auge gedrückt hatte, dankend abgelehnt.

Die letzten zwei Touristen gesellten sich endlich zu ihnen, sie hatten noch staunend am Brunnen gestanden und die Figuren bewundert.

»Mr.and Mrs.O’Herlihy?« Die beiden nickten. »Okay, Ladies and Gentlemen, here we go.« Sie hob die Hand, der Trupp setzte sich in Bewegung und folgte ihr zum Schloss.

Die Gruppe war bunt gemischt: Mehrere Asiaten, ein paar Amis und das englische Pärchen trippelten brav hinter ihr her und lauschten mehr oder weniger interessiert dem, was sie zu sagen hatte. Sie beschloss, heute nur das Minimalprogramm zu absolvieren, Schnörkel und ergänzende Anekdoten, etwa über die Entmündigung des Königs und die zahlreichen Verschwörungstheorien zu seinem Tod, würde sie weglassen, um so schnell wie möglich nach Hause auf die Couch zu kommen.

Sie stiegen die Prunktreppe hinauf und durchquerten den Wartesaal des niederen Adels. Im Ochsenaugensaal blieb sie kurz zurück, um in einen der großen Spiegel zu blicken und ihre Frisur zu richten. Den Dutt ordentlich zu drapieren, dafür hatte ihr heute früh die ruhige Hand gefehlt.

Plötzlich liefen die Chinesen aus der Gruppe kreischend und jubelnd, ihre Kameras im Anschlag, weiter in den nächsten Raum, das Prunkschlafzimmer LudwigsII.

Diese Asiaten, was für sonderbare Leute, dachte sie noch, als auch schon die Amis losstürmten. Nur das englische Pärchen wahrte die Contenance und wartete auf sie. Es ging bei Fuß wie ein treuer Hund.

»Oh, how amazing, how beautiful!«

»He is indeed an extraordinary personality, isn’t he?«

Die Frage des Amerikaners war an sie gerichtet, doch Brigitte blieb die Antwort im Halse stecken. Entsetzt sah sie den Mann an, der im Prunkbett lag.

Er trug die blaue Uniform des Königs und darüber einen Hermelinmantel –natürlich nur ein billiges Imitat, das sah Gitte auf den ersten Blick– sowie sämtliche Abzeichen und die Insignien von LudwigII.

Doch was sie am meisten erschütterte, war, dass der Mann nicht nur vom Kostüm her dem Märchenkönig ähnelte. Die Ähnlichkeit seiner Gesichtszüge mit denen LudwigsII. war frappierend. Dazu kam noch die Tatsache, dass er offensichtlich nicht mehr am Leben war: das Gesicht kreidebleich, der Körper so reglos wie in Stein gemeißelt, sein starrer Blick trüb und nach oben gerichtet.

So etwas hatte ihr heute gerade noch gefehlt! Sie konnte den Schock spüren, der einem Zittern gleich von unten nach oben ihren Körper erfasste.

Unterdessen waren die Teilnehmer der Führung fleißig dabei, sich jenseits der Absperrung gegenseitig mit einem breiten Grinsen im Gesicht neben dem »Märchenkönig« zu fotografieren. Ein asiatischer Tourist trat neben sie und tippte ihr sanft auf die Schulter: »Is it allowed to touch?«

Seine großen braunen Augen blickten unschuldig fragend.

Gitte musste sich an einem der Beistelltische im Raum festhalten, um das Gleichgewicht nicht zu verlieren.

Endlich fand sie ihre Stimme wieder: »No, please leave him, he is real, a real person, and most likely he is dead!«

Das freudige Gequieke der Gruppe verwandelte sich schlagartig in panisches Geschrei, ihre Schützlinge sprangen zurück über die Absperrung und verließen wie aufgescheuchte Hühner das Prunkschlafzimmer.

Nur Brigitte blieb und tippte mit unsicheren Fingern die110 in ihr Handy.

Was für ein beschissener Rosenmontag, dachte sie, während sie den Toten betrachtete und überlegte, woher er ihr so bekannt vorkam.

Helmut Taglieber und Christian Waldherr saßen sich im »Klosterwirt« auf der Fraueninsel bei einem Bier gegenüber und hatten gerade mit dem Essen begonnen. Es war ein sonniger Tag, und wenn es nur etwas wärmer gewesen wäre, hätten sie sich sogar in den Biergarten setzen können.

Plötzlich klingelte Tagliebers Handy. Er kannte die Nummer nicht, doch sein Diensthandy hatte im Gegensatz zu ihm nicht das Gedächtnis verloren. Groß und breit stand »Rösler (Chef)« unter der angezeigten Nummer.

»Einen Moment bitte, es ist mein Chef, da muss ich wohl rangehen. Entschuldigen Sie mich«, bat er sein Gegenüber.

»Ist schon in Ordnung.«

»Taglieber, hallo?«

Es klang immer noch komisch, wenn er seinen Namen aussprach. Mehrfach hatte er in seinem Ausweis nachgesehen, um zu überprüfen, ob das auch wirklich sein Name war, doch glauben konnte er es immer noch nicht ganz.

»Hallo, Helmut, hier Rösler. Ich habe einen Fall für Sie.«

»Wie bitte?« Beinahe hätte er sich im Nachhinein an seinem Essen verschluckt, so sehr erschreckte ihn die Nachricht. »Ich glaub, ich höre nicht richtig…«

»Doch, Sie hören richtig, Taglieber, wo sind Sie gerade?«

»Auf der Fraueninsel.«

»Na, dann los zum Steg, ich schicke den Wasserschutz mit einem Boot rüber. Auf der Herreninsel wurde eine Leiche im Schloss entdeckt.«

»Ja, aber ich… Heute ist mein erster Tag!«

»Dafür haben wir jetzt keine Zeit. Die Krimplstötter kommt nachher zur Verstärkung, ein Uniformierter ist bereits vor Ort, ich kann mich doch auf Sie verlassen?«

»Äh, sicher, aber warum ich?«

»Das ganze Revier ist mit der Kindesentführung beschäftigt, wir haben einen wichtigen Hinweis erhalten, dem wir nachgehen müssen, und die Verstärkung aus Rosenheim hat uns sitzen lassen. Unser Suchtrupp durchkämmt gerade den Wald, mit überregionalem Presseaufgebot und großem Tamtam. Wir können keinen einzigen Mann entbehren. Unser Ruf hat durch die ganze Sache ohnehin schon gelitten; wenn ich Pech habe, kosten mich Hänsel und Gretel meinen Posten. Also los, Sie und Frau Krimplstötter machen das schon, immerhin sind Sie Kommissar.«

»Ja, aber…« Der Chef hatte aufgelegt.

»Was ist los? Sie sehen aus, als ob ich Ihnen gleich wieder das Leben retten müsste, so bleich sind Sie.«

»Es tut mir leid, ich muss weg– ein Leichenfund. Aber ich würde mich gern ein andermal für meine Rettung erkenntlich zeigen. Darf ich mich wieder bei Ihnen melden?«

»Selbstverständlich. Sie wissen ja, wo Sie mich finden«, antwortete der Pfarrer mit einem Lächeln auf den Lippen. »Und übrigens, ich heiße Christian.«

»Helmut.« Sie gaben sich die Hand.

Bevor Taglieber den Tisch verließ, legte er einen Fünfziger darauf. »Die Rechnung geht wie versprochen auf mich.« Ohne die Reaktion des Priesters abzuwarten, verschwand er in Richtung Steg.

Obwohl es kalt war, stand er bei der Überfahrt zur Herreninsel draußen auf Deck und ließ sich den Wind ins Gesicht blasen. Wie sollte er sich am Tatort verhalten? Er hatte keinen blassen Schimmer, wie ein echter Kommissar vorging. Hätte er doch am Samstag mit seiner Frau statt der Romantikkomödie einen Krimi angesehen! Spurensicherung, Absperrung des Tatortes, das waren Begriffe, die ihm nicht völlig unbekannt waren, doch etwas anderes bereitete ihm noch mehr Sorgen: Es war seine erste Leiche, zumindest seit seiner Amnesie. Was, wenn er in Ohnmacht fiel oder sich übergeben musste?

Das gäbe eine peinliche Nachricht in der Klatschspalte der regionalen Presse. Seine innere Anspannung wuchs, und ein leichter Schwindel stieg in ihm auf. Er konzentrierte sich auf die kleinen blauen Wellen des Chiemsees, die in der Sonne glitzerten. Es würde alles gut gehen, schließlich würde ihn seine Kollegin Tanja unterstützen. Sie war vielleicht schon vor ihm vor Ort.

Als das Schiff an der Herreninsel anlegte, hätte er am liebsten noch etwas Zeit vertrödelt, damit er nicht allein an den Tatort musste, doch eine innere Stimme ermahnte ihn, so schnell wie möglich zum Schloss zu fahren– schließlich war es seine Pflicht.

Er nahm die erstbeste Pferdekutsche, zeigte seinen Dienstausweis, den er erst heute Vormittag erhalten hatte, und der Kutscher schnalzte mit der Peitsche. Schon trabten die Pferde auf das Schloss von König Ludwig zu, das dem des Sonnenkönigs in Versailles nachempfunden war.

Am Tatort angekommen, erfüllten sich seine schlimmsten Ängste.

*

Wo bleibt eigentlich Mama? Wir sind schon so lange hier. Anni und ich haben schon einmal, zweimal, dreimal geschlafen. Und Mama ist immer noch nicht da. Ich will nach Hause.

Anni weint viel. Dann tröste ich sie. Hier riecht es komisch. Daheim riecht es viel besser.

Onkel Hubsi wollte mir seine Spielzeugeisenbahn zeigen, das hatte er mir doch versprochen. Darum bin ich mit ihm mitgegangen. Aber wenn ich ihn frage, sagt er nur, das soll ich vergessen. Er ist gar nicht mehr so nett zu uns.

ZWEI

Eine Menschentraube blockierte den Weg zum Schloss, sodass der Kutscher gezwungen war, anzuhalten, und Taglieber sich zu Fuß einen Weg durch die Menge bahnen musste.

Der angekündigte Streifenpolizist hatte bereits den Tatort mit einem gelben Band abgesperrt und mit der Feststellung der Personalien der Zeugen begonnen. Es handelte sich um niemand anderen als Polizeihauptmeister Dobermann, den größten Wichtigtuer der hiesigen Polizei– zumindest soweit Taglieber das bis jetzt beurteilen konnte.

Er erinnerte sich, wie er ihm nach seinem Koma zum ersten Mal begegnet war. Damals hatte ihn Dobermann gemeinsam mit seinen Kollegen im Krankenhaus besucht.

Der blonde Hüne hatte die Tür aufgerissen und war mit einer Gruppe Polizisten ins Zimmer gestürmt. Unter ihnen zwei Männer ohne Uniform und, in der Mitte der Horde, eine kleine Frau mit dunklen Locken.

»Helmut, alte Haut!«

»Der sieht ja ganz passabel aus!«

»Du hast abgenommen!«

Alle riefen wild durcheinander, während die kleine Dunkelhaarige ihn herzlich umarmte und ihm einen Blumenstrauß in die Hand drückte. Er nahm verdutzt die Blumen, murmelte ein »Danke schön« und wusste gar nicht, wem er zuhören und wen er zuerst ansehen sollte.

»Du kannst dir nicht vorstellen, welche Sorgen ich mir um dich gemacht hab«, sagte die Frau und strahlte ihn an. »Du siehst gut aus.«

Ihre Offenheit war ihm unangenehm, deshalb richtete er den Blick nach unten auf die gelben und orangefarbenen Blüten. Aber der Duft, den sie verströmten, war penetrant und ekelte ihn so sehr, dass sich ihm die Haare auf den Armen aufstellten.

Das Gewusel der zahlreichen Polizisten um ihn herum machte ihn unruhig. Am liebsten hätte er sich in Luft aufgelöst. Einer seiner Kollegen reichte der Kleinen eine Blumenvase, sie nahm ihm die stinkenden Blumen aus der Hand, steckte sie in die Vase und stellte sie auf seinen Nachttisch.

»Sag mal, Liebchen, wann fangst denn wieder bei uns an?«, säuselte Dobermann, den er sich besser beim Maßkrugstemmen auf der Wiesn als auf einer Polizeiwache vorstellen konnte.

»Jetzt lasst ihn doch alle mal in Ruhe«, ergriff die Kleine das Wort.

Er war überrascht, was sie für ein lautes Organ hatte, und es gelang ihr tatsächlich, die Meute zum Schweigen zu bringen. »Frau Krimplstötter hat recht«, donnerte ein Koloss von einem Mann, der die Gruppe allein durch seine imposante Größe und sein Volumen dominierte. Es war offensichtlich, dass es sich bei ihm um ihrer aller Vorgesetzten handelte. »Lasst ihn doch auch mal zu Wort kommen.«

Wenn Rösler –so hieß der Koloss, für den die Bezeichnung »untersetzt« noch schmeichelhaft gewesen wäre– sprach, erzeugten die Worte in seinem Bauch einen Widerhall. Durch den enormen Resonanzkörper gewann das, was er sagte, zusätzlich an Gewicht.

»Wir sind ganz Ohr«, schleimte Dobermann, der ihm auf Anhieb unsympathisch gewesen war. Im Nu waren alle Blicke erwartungsvoll auf Taglieber gerichtet.

Er wusste beim besten Willen nicht, was er zu seinen Kollegen sagen sollte. Sosehr er sich auch anstrengte und es wünschte, er erinnerte sich an keinen von ihnen.

»Schön, dass ihr gekommen seid, und danke für die Blumen!«, sagte er, unsicher, ob sie es ihm abnehmen würden. »Ich weiß nicht, was ich sagen soll, aber leider spielt mir mein Erinnerungsvermögen einen Streich. Der Arzt meint zwar, dass es bald wiederkommt, aber momentan seid ihr mir alle unbekannt.« Jetzt war es heraus. Er fühlte sich nicht unbedingt besser, aber zumindest war er ehrlich.

»Was, du kannst dich nicht mal mehr an Tanjas Linke erinnern?«, fragte ein Uniformierter und schubste die Kleine mit den Locken näher ans Bett. Ihre braunen Augen brannten darauf, eine Antwort zu bekommen.

»Nein, leider nicht.« Er sah ihre Enttäuschung, aber er konnte es nicht ändern.

»Wir sind Partner, weißt du«, sagte sie. »Du wirst dich bestimmt bald daran erinnern. Dein Arzt hat uns schon vorgewarnt, er meinte, unser Besuch könnte deine Erinnerung an deine Arbeit und an uns wieder wachrufen.«

Wieder schaltete sich Dobermann ein und wandte sich an Tanja: »Wollt ja sonst keiner mit dir zammarbeiten.«

Ich wette, dass ich dich nicht ausstehen kann, dachte Taglieber bei sich. Der Typ war echt ein Arschloch.

Doch wider Erwarten ließ die Kleine den bissigen Kommentar nicht auf sich sitzen. Ein Tritt gegen das Schienbein –was hatte die Polizei denn für Manieren?–, und der Kollege war still.

»Frau Krimplstötter, wenn Sie nicht so eine gute Polizistin wären und hoch in meiner Achtung stünden, dann könnten Sie jetzt sofort Ihren Schreibtisch räumen! Entschuldigen Sie sich bei Dobermann«, fuhr sie der Untersetzte an.

Sie zuckte mit den Achseln. »’tschuldigung, Dobsi!«

Ein Augenaufschlag, und die beiden waren wieder beste Freunde. »Dobsi« legte sogar den Arm um Tanja. »Hat gar ned wehgetan!« Doch bevor sie nachlegen und ihm wirklich wehtun konnte, ergriff Rösler das Wort.

»Also, Herr Taglieber, ich glaube, ich spreche im Namen der gesamten Mannschaft, wenn ich Ihnen sage, dass wir Sie wieder herzlich bei uns im Team willkommen heißen, sobald Sie aus dem Krankenhaus entlassen werden. Wir werden selbstverständlich alles Erdenkliche tun, um Ihre Erinnerung an uns und Ihre Arbeit wieder aufzufrischen.«

»Das da haben wir dir mitgebracht, es lag in deinem Schreibtisch.« Ein langhaariger, schlaksiger Kerl, der eine schwarze Lederjacke trug und dessen strähnige Haare so aussahen, als würden sie nur zu Weihnachten mit Shampoo in Berührung kommen, hielt ihm ein abgegriffenes grünes Buch unter die Nase.

Er nahm es an sich und las den Titel: »Kriminalistik– Lehrbuch für Ausbildung und Praxis«. Der Schlaksige, der in Tagliebers Augen eher wie ein Verbrecher als wie ein Polizist aussah, hob die Schultern. »Als wir hörten, dass du eine Amnesie hast, haben wir uns gedacht, du kannst es brauchen, um dich wieder einzustimmen.«

»Danke. Ich werde mich damit beschäftigen.« Er schlug das Buch auf und sah, dass an den Seitenrändern Anmerkungen mit Bleistift standen. Es war seine Handschrift. So schreibe ich.

Seine Kollegen blieben noch einige Zeit, bis Schwester Klara kam und sie mit strengem Gesicht und dem Hinweis, dass Herr Taglieber noch viel Ruhe für seine Genesung brauche, hinauskomplimentierte.

Er ließ sich müde ins Kissen fallen. Der Besuch hatte ihn einiges an Kraft gekostet.

Ein sonores Hämmern in seinem Kopf bestätigte ihm, dass die Polizeiversammlung in seinem Krankenzimmer zu viel für ihn gewesen war.

Heute ging Taglieber schon der bloße Anblick Dobermanns auf die Nerven.

»Servus, Liebchen, was willstn du? Statisten können wir hier ned brauchen.«

So also klang die nette Begrüßung am Königsschloss für ihn, den leitenden Kommissar vor Ort. Taglieber warf ihm einen bösen Blick zu und reagierte prompt: »Dann kannst du ja jetzt den Weg frei machen, Dobermann.«

Er war selbst erstaunt über diesen Anflug von Schlagfertigkeit, doch insgeheim hoffte er, dass Tanja so schnell wie möglich zur Stelle sein würde, um ihm den bissigen Muskelberg vom Hals zu halten.

»Nix für ungut«, meinte Dobermann und hielt ihm eine handgeschriebene Liste vor die Nase. Die Buchstaben tanzten über die Seite und schmiegten sich zum Teil so eng aneinander, dass er sie beim besten Willen nicht entziffern konnte. »Dobsi«, wie Tanja ihn liebevoll nannte, war wohl in der Schule nicht gerade eine Leuchte gewesen, sein Schriftbild entsprach eher dem eines frustrierten Viertklässlers als dem eines Erwachsenen.

»Des is die Liste mit den Zeugen, die den Toten gfundn ham.« Mit dem Kinn deutete er nach links auf ein kleines Grüppchen verängstigt dreinblickender Menschen, die, teils mit Kameras oder Smartphones bewaffnet, scheu zu ihnen herüberschielten. Ihnen stand der Schock ins Gesicht geschrieben. Eine hochgewachsene, schlanke Rothaarige mit lockiger Hochsteckfrisur stand der Gruppe gegenüber und redete, begleitet von großen Gesten, beruhigend auf sie ein.

»Scharfes Fahrgstell, was?«, ließ sich Dobsi vernehmen. »Des is die Gitte, die kenn ich noch aus der Grundschule, die ham wir immer an den Haaren gezogen.«

Nicht, dass Dobermanns Erklärung ihn interessiert hätte, doch der fuhr trotzdem fort: »Später hats’ Tourismus studiert, und jetzt machts’ Führungen hier auf der Insel und solches Zeug.«

Taglieber warf noch einmal einen Blick auf die Liste. Ganz oben stand ein Name in Krakelschrift: »Brigitte Regel… ist sie das?«

Dobsi nickte. »Hm. Ja, genau.« Er starrte geistesabwesend in Gittes Richtung und sah ihr gebannt zu, wie sie an ihrem Rock herumnestelte. »Des san Beine…«

Taglieber verlor die Geduld. »He, was ist nun mit ihr?« Er stupste seinen Kollegen unsanft an.

»He, was soll des? Ja, die Gitte hat ihn heut gfundn. Sie hata Sonderführung ghabt. Hat gleich bei uns angrufn. Komm, gemma rein, dann kannst dir den Knaben mal anschaun.«

Genau das hätte Taglieber am liebsten vermieden, eigentlich wollte er den »Knaben« überhaupt nicht sehen. Doch er war nun einmal Polizist, und das gehörte zu seinem Job.

»Wollen wir nicht auf Tanja warten?« Ein vergeblicher Versuch, das Unvermeidliche hinauszuzögern.

»Nein, des kannst vergessn, die Krimplstötter kommt immer zu spät. Bis dahin is der schwarz.«

Am Eingang des Schlosses gab ihm Dobsi Schuhüberzieher und ein Paar Latexhandschuhe, damit sie am Tatort keinerlei Spuren hinterließen.

»Mir solln den Tatort schon mal sichern, die Spusi kommt erst später.«

»Okay«, meinte Taglieber.

Er hatte keinen blassen Schimmer, was dabei seine Aufgabe war, aber Tanja würde ihm sicher jeden Moment zu Hilfe kommen.

Über eine Treppe, die von grauen und roten Marmorwänden und weißen Statuen umgeben war, führte ihn Dobermann nach oben.

Sie durchquerten zwei Räume, bis sie ein Schlafzimmer erreichten, in dem die Einrichtung ganz in Rot und Gold gehalten war. Taglieber sah von Weitem schon den jungen Mann, der reglos auf dem Paradebett unter dem goldenen Baldachin lag. Er glich einem König, der sich nach einem anstrengenden Tag voller Staatsgeschäfte entspannte.

In der Tat ein interessanter Tatort, dachte er. Als sie sich der Leiche näherten, wurde ihm mulmig. Dobermann blieb in etwa einem Meter Abstand von dem Toten stehen. Taglieber konnte die bleiche Haut des Gesichts und die bläulichen Verfärbungen an den Unterseiten der Hände, die auf dem roten Brokatlaken ruhten, gut erkennen. Selbst er als Laie konnte sehen, dass das keine normale Hautfarbe war– dieser junge Mann war eindeutig tot.

Dobsi sah ihn an und zuckte mit den Schultern: »Recht unauffällig, da is nix von äußerer Gewalt zu sehn.«

Taglieber nickte. Es gab keinerlei Blutspuren am Körper, im Bett oder auf dem Boden.

»Warten wir die Obduktion ab«, fuhr Dobermann fort, »bin gspannt, was da rauskommt. Wennst mich ned brauchst, geh ich raus und fang mit der Zeugenbefragung an. Die Gitte lass ich euch. Is eh ganz fertig, die Arme, und auf mich ist die bestimmt ned so gut zu sprechen.«

»Wäre es nicht das Beste, wir bringen sie alle aufs Revier?«, fragte Taglieber.

»Na, so a Schmarrn, der Chef hat schon genug mit den Pseudozeugen von der Kindesentführung zu tun. A jeder will irgendwas gsehn haben, die rennen ihm jetzt scho den Laden ein. Wir notieren die Adressen von denen und laden sie dann vor, falls’ noch Fragen gibt.«

Taglieber dachte an die Asiaten, die zu der Gruppe gehörten. Deren Adressen in Kombination mit Dobsis Schrift, das würde bestimmt lustig werden.

Er war nun allein mit der Leiche und nutzte die Zeit, um sich den jungen Mann genauer anzusehen.

Den Kopf erhöht auf einem Kissen, lag der Tote mit offenen Augen da und starrte nach oben zum Betthimmel, als ginge dort etwas Schreckliches vor sich. Seine Haut war makellos, er konnte sich den Toten gut in einer Parfümwerbung als Model für Armani oder Dolce& Gabbana vorstellen. Seine dunklen Locken waren nach hinten gekämmt, genau wie bei LudwigII. Taglieber hatte den König im Foyer auf einer Postkarte gesehen, auf der er in ebendieser Kleidung posierte.

Es gab überhaupt keinen äußerlichen Hinweis auf einen Mord an diesem Mann außer der Inszenierung an sich. Aber dass er ohne Begleitung hierhergekommen war, um in dem Bett des Königs, als dessen Abbild er offensichtlich verkleidet war, sein Leben auszuhauchen– das erschien Taglieber eher unwahrscheinlich.

Doch was war dann geschehen?

Nachdem er den Leichnam ergebnislos untersucht hatte, ohne seine Stellung zu verändern –was nicht leicht gewesen wäre, denn die Totenstarre hatte schon eingesetzt–, fand sich Taglieber draußen bei der Touristengruppe um Brigitte Regel ein. Ihm fiel ein Stein vom Herzen, als er seine Partnerin Tanja entdeckte. Die kleine Kommissarin mit den dunklen Locken gestikulierte wild mit den Asiaten und versuchte, ihnen die Kameras und Smartphones abzuluchsen, doch sie setzten sich mit aller Kraft zur Wehr.

Frau Regel fungierte als Vermittlerin, sie wirkte schwach und kraftlos mit ihren großen bläulichen Augenringen. Als Taglieber sich zwischen Dobermann und sie drängte, sah sie ihn hilfesuchend an.

»Hallo, ich bin Kommissar Taglieber. Sie haben den Toten entdeckt?«

»Brigitte Regel, aber nennen Sie mich Gitte. Wie kann ich Ihnen helfen?« Ihre Stimme klang müde.

»Geht es Ihnen nicht gut, Frau Regel?«

Sie schüttelte den Kopf. »Ich hatte heute nur wenig Schlaf.«

»Nun gut, was können Sie mir über den Toten sagen, kannten Sie ihn?«

»Ich fand ihn heute bei der Führung– der einzigen heute. Die Touristen hielten ihn zuerst für eine Attrappe und haben fleißig fotografiert.« Sie machte eine Pause. »Ja, ich kannte ihn. Zuerst wusste ich nicht, woher, doch dann ist es mir wieder eingefallen. Wir waren zusammen in der Schule. Ich musste das letzte Jahr wiederholen und kam in seine Klasse. Er war damals der Schwarm aller Mädchen– auch von mir.«

»Können Sie sich an seinen Namen erinnern?«

»Nein, ich überlege schon die ganze Zeit. Sein Vorname war Michael, aber den Nachnamen habe ich vergessen– ist ja auch schon ein paar Jahre her.«

»Auf welcher Schule waren Sie?«

»Auf dem Ludwig-Thoma-Gymnasium in Prien.«

»Und in welchem Jahr haben Sie Abitur gemacht?«

»Lassen Sie mich überlegen… Es war 2001, wenn ich mich nicht irre. Mir fällt noch ein, dass Michael Prien gleich nach dem Abi verlassen hat. Ich glaube, er ist nach München gegangen, zum Studieren.« Sie schwieg einen Moment und sagte dann: »Ich will nicht unhöflich sein, aber wann lassen Sie mich gehen? Ich habe wirklich sehr wenig geschlafen, und wenn ich nicht bald ins Bett komme, dann kippe ich um.«

Tagliebers Blick wanderte hilfesuchend zu Tanja, die Gittes Frage mitbekommen hatte. Sie nickte ihm zu.

»Okay, Frau Regel, Sie können gehen. Ihre Adresse haben wir, wir melden uns, wenn wir noch etwas von Ihnen brauchen.«

»Vielen Dank, ich stehe Ihnen selbstverständlich zur Verfügung.« Gitte zupfte noch einmal ihren Rock zurecht, verabschiedete sich von der Gruppe und stakste in ihren Pumps davon zur nächsten Pferdekutsche.

Sie hatte tatsächlich tolle Beine.

»He, was starrst du so bekloppt, hilf mir lieber beim Tragen!« Tanja drückte ihm einen Teil der von ihr einkassierten Geräte in die Hand. »Bringen wir die erst mal zur Kutsche, die Leute von der Spusi müssten bald kommen. Ich möchte vorher gern noch selbst einen Blick auf unseren Toten werfen.«

Im Prunkschlafzimmer hielt sich Taglieber zurück und ließ Tanja beim Untersuchen der Leiche den Vortritt. Auch sie trug dabei die obligatorischen weißen Latexhandschuhe. Als sie mit der Inspektion fertig war, meinte sie: »Hm, sonderbar, absolut keine Anzeichen von Gewalt oder andere Spuren an der Leiche. Sieht gar nicht aus wie ein Mord.«

»Zu dem gleichen Schluss sind Dobermann und ich gekommen.«

»Mich würde interessieren, wie er hier hereingekommen ist, was meinst du?«

»Gute Frage. Frau Regel hat heute Mittag vor der Führung die Vordertür aufgesperrt. Sie war unversehrt, und dieser Eingang ist außerdem durch eine Alarmanlage gesichert. Vielleicht gibt es eine Hintertür?«

»Ganz sicher gibt es die. Komm mit, wir schauen sie uns an.« Wie zuvor durchquerten sie zwei prachtvolle Räume und gingen über die Marmortreppe nach unten. Dort blieben sie vor einer breiten Fensterfront stehen, in die eine Doppeltür integriert war.

Tanja versuchte vergeblich, die Tür zu öffnen.

»Bingo. Sie ist verschlossen«, sagte sie.

»Entschuldige, aber ich verstehe nicht ganz.«

»Der Tote trug keinen Schlüssel bei sich, richtig?«

Taglieber nickte. »Dobermann und ich haben jedenfalls keinen bei ihm gefunden.«

»Und ich auch nicht. Dann ist die Theorie doch ganz einfach: Tür zu heißt, jemand war mit ihm hier, hat aufgeschlossen, sie sind zusammen rein, die zweite Person ist wieder durch die Hintertür hinaus und hat danach abgeschlossen. Was aber noch nicht heißt, dass unser Ludwigdouble ermordet wurde.«

Doch Taglieber flüsterte die leise Stimme seiner Intuition etwas anderes zu. Für ihn war ein Mord die logischere Variante. Doch er schwieg dazu. Stattdessen meinte er: »Oder sie sind irgendwie anders hineingelangt.«

»Stimmt. Das herauszufinden überlassen wir den Spusis.«

Sie wollten sich gerade auf den Rückweg machen, als Taglieber noch einen Blick durch das Glasfenster der Tür warf. Das, was er da am Boden liegen sah, ließ ihn sofort aufmerken. Klein und gelb leuchtete sie durch das Fester, als wollte sie ihn auf etwas hinweisen. Eine gelbe Feder– das war sicherlich kein Zufall.

»Nein, schau mal«, sagte er und zeigte nach draußen auf den Gegenstand. »Du hast recht, sie sind genau hier hereingekommen, und durch diese Tür gelangte der Täter auch wieder hinaus.«

Tanja sah ihn mahnend an: »Na, na, na. Wollen wir nicht gleich von einem Täter sprechen.« Dennoch zückte sie im nächsten Augenblick erfreut einen Plastikbeutel zur Sicherung von Beweisstücken. »Los, finden wir heraus, wie man dorthin kommt!«

Anschließend machten sie sich, das Beweisstück und eine Ladung konfiszierter Digitalkameras und Smartphones im Gepäck, auf den Weg zum Festland.

Die Fahrt auf dem Boot der Wasserschutzpolizei gestaltete sich äußerst wackelig. Das und ein leichtes Kopfweh weckten schlagartig Tagliebers Erinnerung daran, wie er vor zwei Wochen im Krankenhaus aus dem Koma erwacht war. Er wollte dem inneren Film noch Einhalt gebieten, doch schon lief er vor seinem geistigen Auge ab.

Das Erste, was er gefühlt hatte, war ein gnadenloses Hämmern in seinem Schädel, das nur langsam nachließ. Ihm war, als wäre eine Horde wilder Stiere durch seinen Kopf galoppiert und hätte jegliches Denkvermögen darin niedergetrampelt.

Er wollte etwas sagen, doch alles, was er herausbrachte, war ein hilfloses Lallen. Obwohl er wach war, gelang es ihm nicht, die Augen zu öffnen. Seine Lider waren wie zugeklebt, sie gehorchten ihm nicht, eine bleierne Schwere hielt sie geschlossen. Dann sank er wieder weg, hinein in eine bewusstlose Odyssee durch eine öde, wie von Dalí gemalte Traumlandschaft.

Er wusste nicht, wie viel Zeit vergangen war, als er plötzlich weiße Umrisse und mehrere Schatten vor sich sah. Braune Augen, umrandet von einer großen schwarzen Brille, blickten ihn an. »Können Sie mich verstehen, Herr Taglieber?« Es wurde plötzlich hell in seinen Augen. Zuerst rechts, dann links.

»Pupillen isokor, lichtreagibel.«

Er wollte etwas antworten, doch dann schüttelte er doch nur den Kopf. Den Namen Taglieber hatte er noch nie in seinem Leben gehört.

Die Brille ließ nicht locker. »Herr Taglieber, hören Sie mich?«

Was er sah, drohte gerade wieder zu verschwinden, als er rechts einen Schmerz spürte, an dem Arm, von dem er gar nicht mehr gewusst hatte, dass es ihn gab.

»Au!«, rief er, mehr erschrocken als vor Schmerz.

Der Mund unter der Brille lächelte. »Wir haben ihn«, sagte er. Die Lippen waren von einem Dreitagebart umgeben, und darunter hing so ein Ding um den Hals– wie hieß das noch gleich?

Denken war so furchtbar anstrengend, er wollte zurück in seine Träume.

»Lassen Sie die Augen offen und sagen Sie mir, wie viele Finger Sie sehen«, forderte ihn die Stimme auf.

Widerwillig blickte er auf die Hand. »Vier.«

Hinter dem Mann mit der Brille nahm er statt der Schatten nun noch zwei weitere Personen wahr. Es war, als wären Schemen unter Wasser auf einmal aufgetaucht. Zwei Frauen, eine von ihnen mit einer silbernen Schale in der Hand.

»Krankenschwestern… und Sie sind… Arzt.«

»Richtig, und ich werde jetzt Ihre Reflexe testen.« Der Mann mit der Brille zog ein kleines Hämmerchen aus seiner Kitteltasche und bat eine der Schwestern: »Schwester Klara, bitte helfen Sie Herrn Taglieber, sich aufzusetzen.«

Ihm war das alles zu anstrengend, er hatte keine Lust auf solche Spielchen, doch der Weg zurück ins Traumland blieb ihm versperrt. Die Schwester packte ihn unsanft an dem Arm, in den ihn der Arzt vorhin gekniffen hatte, und zog ihn nach vorn, dann nahm sie seine Beine –er konnte sich nicht mehr an das Gefühl erinnern, welche zu haben– und schwups!, schon hingen sie am Bett nach unten, und der Arzt schlug ihm aufs Knie.

»Au, was soll das?«

Doch statt einer Antwort sauste der Hammer erneut nieder.

Dann kam das andere Knie dran. Sein rechtes Bein schoss nach oben und hätte den Arzt beinahe in sein Genital getroffen, wenn er nicht im letzten Moment zur Seite gesprungen wäre.

»Gut. Ziehen Sie ihm bitte die Socken aus.«

Die ruppige Schwester folgte seiner Anweisung.

»Einen Stuhl bitte.«

Er war gespannt, was als Nächstes kam. Der Arzt setzte sich auf den Stuhl und fuhr mit der anderen Seite des Hammers an seiner Fußsohle entlang.

Er konnte ein Lachen nicht unterdrücken. »Bitte hören Sie auf damit, das hat doch überhaupt keinen Sinn.«

»Darüber haben Sie nicht zu entscheiden.« Der Arzt grinste und ließ seinen rechten Fuß wieder los. Dann machte er sich an dem linken zu schaffen.

»Langsam werde ich sauer: Sie halten mich fest, wecken mich auf, und dann treiben Sie Ihre sonderbaren Spielchen mit mir. Vielleicht sagen Sie mir zuerst einmal, was hier los ist und wo ich überhaupt bin!«

Der Arzt erhob sich, und seine Miene wurde ernst: »Gut. Dann muss ich Ihnen leider sagen, dass Sie über zwei Monate hier im Krankenhaus im Koma gelegen haben. Wir waren uns nicht sicher, ob Sie überhaupt jemals wieder zu sich kommen.« Der Doktor machte eine bedeutungsschwere Pause.

»Hören Sie mir jetzt gut zu«, fuhr er dann fort. »Können Sie sich an irgendetwas erinnern? An Ihren Namen? An Ihre Familie oder an die Arbeit? Wissen Sie, wie es zu der Verletzung gekommen ist?«

Tagliebers Kopf war so leer wie der eines schlechten Schülers beim Ausfragen an der Tafel. Er schluckte betreten und spürte einen dicken Kloß in seinem Hals.

»Nein, das kann ich nicht«, stellte er leise fest.

»Sind Sie sich sicher? Gibt es gar nichts, das Sie über den Angriff oder Ihr Leben davor noch wissen?«

Als er krampfhaft versuchte, sich doch an irgendetwas zu erinnern, musste er seinen Kopf in die Hände nehmen, weil das Hämmern darin so stark wurde. »Nein, nein, NEIN! Ich… kann nicht! Hören Sie auf damit! Ich weiß überhaupt nichts mehr!«

Wenn er seinen schmerzenden Kopf schüttelte, begann sein Herz zu rasen. Verzweifelt warf er ihn nach vorn und nach hinten, alles, damit die rasenden Schmerzen bloß wieder aufhörten.

Nun musste offenbar auch der Arzt schlucken. Nachdem er sich geräuspert hatte, verkündete er gefasst die Diagnose: »So, wie es aussieht, sind Sie zwar körperlich gesund, aber Ihre Psyche hat die Erinnerung an das Geschehene verdrängt. Man nennt diesen Zustand Amnesie.«

Damit hatte Taglieber nicht gerechnet. Er sah dem Mediziner, der ihn mitfühlend betrachtete, verwirrt in die Augen. Welche Diagnose er erwartet hatte, hätte er nicht sagen können, doch diese Feststellung erschütterte ihn zutiefst.

Der Arzt umfasste Tagliebers Handgelenk und legte ihm den Finger an den Puls. »Ganz ruhig, das kriegen wir schon wieder hin.« Zu der zweiten Schwester sagte er knapp: »Diazepam.« Es war eine jüngere Frau mit blonden Löckchen, deren piepsige Stimme ihn an ein kleines Mäuschen erinnerte.

»Bitte drehen Sie sich zur Seite«, sagte sie und half ihm dabei. Sie machte einen viel sanfteren Eindruck als die ruppige Schwester von vorhin. Der Arzt fühlte immer noch seinen Puls, während das Mäuschen hinter ihn trat und ihm die Hose nach unten zog. Er wollte gerade protestieren, da hatte sie schon ihren behandschuhten Finger in seinem Hintern.

Bevor er sich wehren konnte, hielt ihn der Arzt zurück: »Es ist nur ein Zäpfchen zur Beruhigung.« Die Piepsstimme kicherte leise.

Die Finger des Arztes blieben noch kurze Zeit auf seinem Puls liegen, dann ließ er los und verabschiedete sich: »Ich werde jetzt Ihre Frau benachrichtigen, sie wird sich bestimmt freuen, dass Sie wieder unter den Lebenden weilen. Entspannen Sie sich einfach, Schwester Irmi bleibt solange bei Ihnen. Schwester Klara, Sie kommen bitte mit mir.«

Die Wirkung des Zäpfchens setzte prompt ein. Es war wie eine sanfte Welle, die den Druck in seinem Kopf fortspülte. Seine Anspannung ließ nach, er wurde ruhiger.

Schwester Irmi blieb bei ihm, sie hatte ihre Hand auf seinen Arm gelegt. Es war angenehm, sie in seiner Nähe zu wissen, auch wenn es ihm peinlich war, dass sie gerade noch ihren Finger in seinem Hintern gehabt hatte. »Sie werden sehen, dass es sich lohnt, dass Sie aufgewacht sind«, meinte sie wohlwollend.

»Ach ja, dann freue ich mich schon darauf, meine Frau kennenzulernen!«

DREI

In der Dienststelle in Prien nahm kaum jemand Notiz von ihm. Es war viel los, alle waren von der allgemeinen Unruhe erfasst. Telefone klingelten, Funkgeräte quasselten unaufhörlich, zwei dicke Uniformierte quetschten sich an ihm vorbei und drückten ihn dabei an die Wand. Ihre Rücksichtslosigkeit ärgerte ihn, doch in Anbetracht der angespannten Lage auf dem Revier sagte er nichts. Sein erster Tag im Dienst hatte wirklich schon einiges an Überraschungen für ihn bereitgehalten.

Den Rest des Nachmittags hätte Taglieber lieber zu Hause auf dem Sofa verbracht, denn eigentlich hatte er schon seit dem Mittag frei. Aber Tanja hatte ihn gebeten, ihr bei der Klärung der Identität des Opfers zu helfen. Der Tote hatte keinerlei Papiere bei sich gehabt.

Auf dem Weg zu ihrem Büro schnappte er bruchstückhaft einen Funkspruch auf: »…haben endlich eine Spur im Ohland-Fall…«

Mit dem Fuß schob Tanja die Bürotür zu, und mit einem Mal war es still.

»Die sind mir heute alle zu hektisch. Ich hoffe, Hänsel und Gretel werden bald gefunden, das ist ja nicht auszuhalten. Der Chef steht schon kurz vor einem Herzinfarkt.«

Taglieber sank müde in seinen Stuhl und genoss einen Moment lang die Ruhe. Die Nachmittagssonne schickte ihre letzten Strahlen zum Fenster herein.

»Kannst du mir erklären, um was es im Fall Hänsel und Gretel genau geht?«, fragte er nach einiger Zeit.

Tanja setzte sich mit einer Pobacke auf seinen Schreibtisch und erklärte: »Also, offiziell ist das der Ohland-Fall, aber unter uns heißt er ›Hänsel und Gretel‹.« Seine Kollegin las die Frage in seinem Gesicht. »Ganz einfach: weil die Kinder, die verschwunden sind, Johannes-Louis und Anna-Greta heißen.«

Wie passend, dachte Taglieber.

»Ihre Mutter, Frau Ohland, kam vergangenen Freitag zu uns aufs Revier und erzählte unter Tränen, ihre Kinder seien verschwunden. Sie hatte sie während des Faschingszuges, bei dem ihr Familienunternehmen mit einem eigenen Wagen beteiligt war, Bekannten anvertraut. Es handelte sich um ein älteres Ehepaar namens Sommer, der Mann hat als Hausmeister in der Reederei gearbeitet.– Die Ohlands sind übrigens die Inhaber der Chiemsee-Schifffahrt vor Ort«, erläuterte sie. »Als die Mutter die beiden nach dem Faschingszug abholen wollte, stimmte weder die Adresse des Ehepaars, noch war dort jemand mit diesem Namen bekannt. Wie es scheint, sind die Kinder Opfer einer Entführung geworden. Die Eltern sind sehr vermögend, aber sie würden ihr ganzes Geld dafür geben, um ihre Kinder wieder bei sich zu haben. Seit Freitag suchen alle verfügbaren Polizisten nach den Kleinen. Sie sind erst sechs und vier Jahre alt, allein würden sie sich wohl kaum zu helfen wissen.«

»Und, ist schon eine Lösegeldforderung eingegangen?«, erkundigte sich Taglieber.

»Das ist das Sonderbare an der Geschichte. Vielleicht sind die Entführer gar nicht auf das Geld der Eltern aus, sie haben noch nichts von sich hören lassen.«

Tanja zuckte mit den Schultern, dann wechselte sie das Thema und fragte: »Na, wie gefällt dir jetzt unser Job?«

Er schnaubte. »Puh! So turbulent hätte ich mir meinen ersten Tag nicht vorgestellt. Ehrlich. Ich muss zugeben, dass ich mich ein wenig überfordert fühle.« Das war sogar noch untertrieben.

»Und es kommt noch besser.« Sie ging hinüber an ihren eigenen Schreibtisch und tippte hastig etwas in den Computer.

»Wir müssen die Identität des Opfers klären. Wann hat Brigitte Regel ihren Abschluss gemacht?«

Taglieber warf einen Blick auf seinen Notizblock.

»2001. Sie sagte auch, dass er mit Vornamen Michael heißt.«

»So. Ludwig-Thoma-Gymnasium, Abiturienten von 2001, gleich haben wir ihn.«

Sie klopfte nervös mit den Fingern auf ihren Schreibtisch, bis der Computer die Information ausspuckte.

»Da war nur ein Michael in Brigittes Jahrgang. Sein Nachname ist Gässler. Gut, schauen wir mal in den Datenbanken nach.«

Tanja verzog das Gesicht. »Unter Michael Gässler hab ich da nichts, weder in Prien noch in München. Dafür hab ich einen Martin Gässler, hier in Prien. Der hat einiges auf dem Kerbholz: Anzeigen wegen Körperverletzung, Beleidigung, sexueller Belästigung und Widerstand gegen die Staatsgewalt. Scheint ein unangenehmer Bursche zu sein«, stellte sie fest.

Als Nächstes loggte sich seine Kollegin in die Daten des Einwohnermeldeamtes von Prien ein.

»Das muss er sein!«, rief sie plötzlich aus und weckte Taglieber aus dem Halbschlaf, in den er aufgrund seiner großen Müdigkeit gesunken war.

»Was ist los?«, fragte er, während er sich in seinem Stuhl hochrappelte.

»Der Brutalo Martin Gässler ist der Vater vom Michael. Der Martin ist Wirt auf der Fraueninsel und uns als Schlägermartl wohlbekannt. Jetzt weiß ich auch, warum mir der Name so bekannt vorkam. Und der Michael, der es bei ihm nicht mehr länger ausgehalten hat, ist dann gleich nach dem Abi nach München gezogen. Die Meldeadresse habe ich auch hier, er wohnte mit einem gewissen Matthias Herforth zusammen.« Tanja senkte die Stimme ein wenig. »Dem Martin sollten wir eigentlich einen Besuch abstatten und ihm die Nachricht vom Tod seines Sohnes überbringen. Identifizieren muss er ihn dann auch. Vielleicht müssen wir ihn aber auch in den Kreis der Verdächtigen aufnehmen. Die Täter stammen oft aus den Reihen der Familie.«

Taglieber unterdrückte ein Gähnen. Er sehnte sich nach Couch und Fernseher, die Arbeit strengte ihn doch sehr an.

»Ja, okay. Fahren wir hin«, stimmte er zu und rieb sich die Augen.

Bevor sie sich auf den Weg zur Fraueninsel machten, erhielten sie noch Nachricht von der Spurensicherung.

Außer der kleinen gelben Feder, die Taglieber am Hinterausgang entdeckt hatte, hatten die Kollegen bis jetzt nichts gefunden, was auch nur im Geringsten auf die Anwesenheit einer weiteren Person hingewiesen hätte. Es gab weder Fingerabdrücke noch Fasern, aber auch kein Boot, mit dem Gässler auf die Insel gekommen sein konnte.

Es sah dennoch ganz danach aus, als wären der Täter und sein Opfer durch den Hinterausgang ins Schloss gelangt und hätten sich über die angrenzende Marmortreppe hinauf ins Prunkschlafzimmer geschlichen.