Chili sieht rot - Annefried Hahn - E-Book

Chili sieht rot E-Book

Annefried Hahn

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Beschreibung

Sturmflut. Oktober 2021 in Bremerhaven. Bei der NordNordWest-Post sind alle Reporter im Einsatz. Jemand muss über den Toten am Deich berichten. Anruf bei Coach Chili Keller, der Ab-und-zu-Mitarbeiterin. Bei dem Wetter zum Deich fahren? Wegen eines Toten? Nein! Auf keinen Fall. Doch wankelmütig wie so oft, stimmt sie zu. Und schlittert geradewegs in den Job als Polizeireporterin. Der Tote war Meeresbodenforscher; man hat ihn ermordet. Er untersuchte die Schleppnetzfischerei der Krabbenkutter, die angeblich das Watt schädigt. Das missfiel manchem Kapitän. Andererseits hatten viele Leute diesen Wissenschaftler gefressen. Chilis Recherchen führen sie tiefer in den Fall hinein, als es ihrem Mann Jan, Künstler und Hedonist, lieb ist. Er hält den Job für gefährlich. Sie streiten. Eines Tages hintergeht er sie. Für Chili bricht eine Welt zusammen. Und die Ermittlungen geraten in eine tote Phase.

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Sturmflut. Oktober 2021 in Bremerhaven. Bei der Nord-NordWest-Post sind alle Reporter im Einsatz. Jemand muss über den Toten am Deich berichten. Anruf bei Coach Chili Keller, der Ab-und-zu-Mitarbeiterin. Bei dem Wetter zum Deich fahren? Wegen eines Toten? Nein! Auf keinen Fall. Doch wankelmütig wie so oft, stimmt sie zu. Und schlittert geradewegs in den Job als Polizeireporterin.

Der Tote war Meeresbodenforscher; man hat ihn ermordet. Er untersuchte die Schleppnetzfischerei der Krabbenkutter, die angeblich das Watt schädigt. Das missfiel manchem Kapitän. Andererseits hatten viele Leute diesen Wissenschaftler ›gefressen‹.

Chilis Recherchen führen sie tiefer in den Fall hinein, als es ihrem Mann Jan, Künstler und Hedonist, lieb ist. Er hält den Job für gefährlich. Sie streiten. Eines Tages hintergeht er sie. Für Chili bricht eine Welt zusammen. Und die Ermittlungen geraten in eine tote Phase.

Annefried Hahn ist Sozialpsychologin und Autorin. 34 Jahre lang arbeitete sie in ihrer Praxis für Traumatherapie mit Gewaltopfern. »Wie gehen Polizisten mit der Extrembelastung in einem Landeskriminalamt um?« Diese Frage verfolgte sie in ihrer Feldforschung und promovierte 2008 mit den Ergebnissen. Chili sieht rot ist ihr erster Kriminalroman.

Inhaltsverzeichnis

Kapitel 1

Kapitel 2

Kapitel 3

Kapitel 4

Kapitel 5

Kapitel 6

Kapitel 7

Kapitel 8

Kapitel 9

Kapitel 10

Kapitel 11

Kapitel 12

Kapitel 13

Kapitel 14

Kapitel 15

Kapitel 16

Kapitel 17

Kapitel 18

Kapitel 19

Kapitel 20

Kapitel 21

Kapitel 22

Kapitel 23

Kapitel 24

Kapitel 25

Kapitel 26

Kapitel 27

Kapitel 28

Kapitel 29

Kapitel 30

Kapitel 31

Kapitel 32

DANKSAGUNG

Anmerkung

1

Vage nahm sie das Tosen wahr. Wie aus weiter Ferne. Durch das Glas der Terrassentür sah sie, wie der Orkan durch Bäume und Sträucher fegte. Er riss an den Zweigen des Birnbaums und warf die letzten reifen Früchte ins Gras, die sie am Sonntag ernten wollte. Es rührte sie nicht. Jetzt rüttelte der Sturm am Haus, vom krachenden Donnerschlag begleitet. Der Schrecken riss Chili ins Hier und Jetzt. Verwirrt ordnete sie ihr Haar und schaute sich um.

Das Gewitter musste direkt über ihnen sein. Was für ein glücklicher Zufall, dass sich alle Bewohner im Haus aufhielten! Sturmflut am 21. Oktober 2021 in Bremerhaven. Eigentlich hätte Chili an diesem Donnerstag ins Coachingbüro gemusst. Ihr Mann Jan Wolf, international bekannter Künstler, besuchte donnerstags den Deichmaler Hinnerks am Dorumer Tief. Julia Wolf, Jans Schwester und Professorin für Meeresbodenforschung an der Hochschule, hielt donnerstags eine Vorlesung. Lea, die 15jährige Tochter des Hauses, lernte derzeit täglich mit ihrer Freundin für die nächsten schriftlichen Tests in der 10a. Und die dreijährige Mia blieb bis 17 Uhr in der Kita. Nur nicht heute. Corona-bedingt hatten alle alles abgesagt.

»Mama! Ich hab’ Angst!« Mias Stimme drang leise durch das Getöse. Soeben legte sich das Gartenhausdach der Möllers von nebenan sanft auf dem Rasen der Wolfs und Kellers nieder. Die Kleine wich entsetzt von der Terrassentür zurück. Herr Möller hatte sein Gartenhaus erst im letzten Monat fertiggestellt. Selbst erschrocken, nahm Chili ihre Tochter in den Arm und tröstete sie.

»Es ist bald vorbei! Komm, meine Süße, wir backen jetzt deine Lieblingskekse.«

***

Die Meldung kam Punkt 16 Uhr 43 rein. Die auflaufende Flut hatte einen Toten am Weserdeich abgelegt, südlich der Strandhalle. Zu der Zeit liefen in der Redaktion der NordNordWest-Post bereits die Telefone wegen der Sturmschäden heiß. Orkanböen hatten mehrere Bäume entwurzelt, vor allem im Bürgerpark. Zwei Dächer in Mitte wurden stark beschädigt. Und in Speckenbüttel zerstörte eine abgebrochene Baumkrone die Windschutzscheibe und das Dach eines BMW. Der Wind trieb das Wasser bis zur Deichkuppe hoch. Wie immer hatten einige Unverbesserliche ihre Autos trotz Sturmwarnung auf dem jetzt überfluteten Kai stehen gelassen. Sämtliche verfügbaren Reporter waren unterwegs.

Ausgerechnet heute fehlte Franz Tepper, der Polizeireporter fürs Stadtgebiet. Er hatte sich gestern krankgemeldet, lag mit Corona auf der Intensivstation in Reinkenheide. Was nun? Ressortchefin Irene Bauer war ratlos. Niemand mehr da. Irgendjemand musste aber los - und zwar schnell. Vielleicht wusste Jahns, der Personalchef, wer einspringen konnte? Schon hatte sie das Telefon in der Hand. Er gab ihr die Handynummer einer freien Mitarbeiterin aus dem Kulturressort. Letzter Ausweg. Bauer wählte die Nummer an. Elfmal läutete es, dann nahm endlich jemand ab.

»Chili Keller hier, hallo!«

»NordNordWest-Post, Bauer, Polizeiressort, moin Frau Keller. Wir haben einen kleinen Coup auf Sie vor. Es geht um Folgendes. Wir leiden unter einem temporären Engpass bei den Reportern. Der Kollege Tepper ist leider erkrankt. Und ausgerechnet heute bräuchten wir ihn unbedingt. Da haben wir gedacht, ob Sie nicht – vorübergehend – einspringen könnten. Es gibt einen Todesfall am Deich, die Kripo ist bereits vor Ort. Sie sind unsere letzte Chance, dass wir einen Bericht in die neuen Ausgaben bekommen. Herr Sommer, unser Fotograf, holt Sie ab.«

Chili sagte nichts, sie versuchte zu verstehen, kringelte eine ihrer rotblonden Haarsträhnen um den bemehlten Zeigefinger und meinte schließlich:

»Das ist verrückt. Bei aller Liebe Frau Bauer, bei dem Sturm geh’ ich nicht raus!«

Damit legte sie auf und widmete sich der Vervollkommnung der Keksteighäufchen, die Mia inzwischen aufs Backblech gesetzt hatte. Da erklang wieder Beethovens Neunte, ihr Smartphone.

Chili seufzte genervt: »Ja?«

»Hier nochmal Bauer, bitte legen Sie nicht auf. Der Sturm ist schon runter auf Stärke acht. Das kam gerade über den Wetterdienst. Es flaut weiter ab. Ich würde Sie nicht bitten, wenn wir nicht wirklich in Not wären. Es ist niemand da, der diesen Job machen könnte, außer Ihnen.«

Chili dachte nach. Auf der einen Seite brauchte sie mehr Einkommen, weil psychologisches Coaching einfach nicht mehr lief. Niemand wollte mehr über Krisen nachdenken. Und wegen der Coronamaßnahmen brachte auch der Nebenjob als Kulturreporterin kaum noch etwas ein. Aber Leichen? In diesem Sturm an den Deich? Die spinnen ja!

»Was ist, wenn mir was passiert? Das ist doch gefährlich, auch bei Windstärke acht!«

Irene Bauer lächelte und atmete aus, fast geschafft: »Das stimmt. Doch wir haben viel Erfahrung mit ähnlichen Situationen. Herr Sommer holt Sie mit dem Wagen ab. Er kennt sich aus und wird Sie unterstützen. Außerdem sind Sie im Außendienst über uns versichert. Bitte, kann ich auf Sie zählen?«

Normalerweise war Chili nicht ängstlich. Sie überlegte. Schließlich gab sie sich einen Ruck und sagte: »Na gut, ausnahmsweise. Schicken Sie Ihren Herrn Sommer. Ich ziehe mich rasch um und informiere meine Familie. In zehn Minuten bin ich soweit.«

Gerade wollte sie den zweiten Gummistiefel über ihren linken bestrumpften Fuß ziehen, da klingelte es schon. Sie hüpfte an die Haustür und öffnete sie.

»Moin, ich bin’s, der fotografische Taxidienst. Na, auch neu bei der NordNordWest?«

»Wer denn noch?« Chili blickte neugierig hoch in ein grinsendes Männergesicht. Die braunen Augen kniff der Fotograf verschmitzt zusammen: »Na, ich natürlich.«

Das fehlte ihr gerade noch. Man hatte sie angelogen. Empört knallte Chili die Tür hinter sich zu.

Im Wagen fragte sie: »Stimmt es etwa nicht, dass Sie sich mit Polizeieinsätzen und Stürmen auskennen?«

»Nee, hab’ ich nie behauptet. Wer erzählt denn sowas? Bis vorgestern war ich bei Aktuelles aus den Landkreisen. Da kam auch mal ein Diebstahl oder Einbruch vor. Aber sowas wie hier, mit Toten, nee, hab’ ich noch nicht gehabt. Stürme kenn ich, obwohl, heute, der ist krass.«

Chili schluckte ihren Ärger über Frau Bauers Manipulation hinunter und meinte trocken: »Dann unterstützen wir uns eben gegenseitig.«

Ganz an den Deich ranfahren konnte Sommer nicht. Deshalb stellte er den Wagen auf dem Parkplatz an der Hermann-Heinrich-Meier-Straße ab. Wie in einem Nebelschleier verhüllt, so sah die Gruppe Menschen auf dem Deich hinter der Strandhalle aus. Sommer hakte Chili unter, denn es stürmte und regnete immer noch heftig. Sie mussten sich mit Gewalt rückwärts gegen den nassen Wind aus Nordwest stemmen, um nicht vom Deich getrieben zu werden. Das Wasser spritzte bei jedem Schritt um die Beine. Die See brüllte und rollte bis kurz vor die Deichkuppe.

Atemlos erreichten sie die Gruppe. Sich breitbeinig gegen den Sturm stemmende Polizisten hinter der Absperrung. Und Journalisten vom Bremer Rundfunk und Fernsehen. Sie warteten mit hochgezogenen Schultern, startbereiten Kameras und wuscheligen Sturm-Mikrofonen vor dem Absperrband auf erste Informationen für ihre Berichte. Identität des Toten, Herztod, Selbstmord oder Mord? Solche Fragen diskutierten sie miteinander, indem sie gegen den Sturm anschrien. Eine Ambulanz fuhr gerade weg. Eine weitere wartete noch.

Ein Polizist in Uniform kam auf Chili zu. »Hier gibt es nichts zu sehen, bitte kehren Sie um.«

Chili zeigte ihm ihren Presseausweis: »Keller, Nord-NordWest-Post. Herr Sommer ist mein Kollege, Fotograf, wie Sie an der Kamera sehen. Können Sie uns etwas zu dem Toten sagen?«

»Vorläufig wissen wir noch gar nichts, außer dass es sich um einen Mann handelt,« versuchte er sie abzuwimmeln.

Ein bisschen mehr Information brauchte sie schon.

»War es Mord?« Forschend schaute sie ihn an. »Und wer hat den Mann entdeckt?«

»Keine Namen, ein Spaziergänger«, stieß er ungeduldig hervor.

»Bei dem Wetter?« Ungläubig sah Chili sich um: »Wo ist er denn?«

»Warten Sie hier mal, ich rede eben mit meinem Vorgesetzten.« Weg war er.

Herr Sommer grinste sie an: »Sie sind ganz schön kess für eine Anfängerin, wir werden gut miteinander auskommen.«

Chili fror, der Wind zerrte an den langen Haaren. Sie schob sich die Kapuze ihres grasgrünen Regenmantels über den Kopf und stopfte die Haare darunter. Albert Sommer packte ihre linke Hand und zog sie mit. Sie stiegen über das Absperrband und liefen dem Polizisten einfach hinterher.

»Mehr als wegschicken können sie uns nicht«, schrie er ihr ins Ohr. »Ich heiße übrigens Albert. Und du?«

»Chili, Chili Keller«.

»Guten Abend! Sommer, Fotograf der NordNord-West-Post. Das ist Frau Keller, Polizeireporterin, sie ist kurzfristig für den erkrankten Kollegen Tepper eingesprungen, den sie ja wohl kennen.«

»Martin Lang, Polizeihauptkommissar. Viel kann ich Ihnen noch nicht sagen. Der Tote wurde kurz nach sechzehn Uhr von einem Spaziergänger gefunden. Er lag auf der Deichkuppe. Männlich, mittleres Alter. Ob er durch Unfall, Erkrankung oder durch Fremdeinwirkung umkam, werden wir erst nach der Obduktion wissen.« Damit ließ er sie stehen.

Während Albert den Ambulanzwagen und die Bahre, die gerade eingeladen wurde, fotografierte, lief Chili dem Kriminalhauptkommissar hinterher: «Herr Lang, einen Moment bitte. Wissen Sie schon, wer er ist?«

»Nein, wir wissen nicht, wer er ist. Es ist alles gesagt. Morgen im Laufe des Tages gibt es eine Pressemeldung.« Schnell entfernte er sich.

Der Wagen mit der Leiche fuhr jetzt ab. Auch die meisten Polizisten gingen zu ihren Autos. Spuren ließen sich bei dem Wetter ohnehin kaum finden. Trotzdem blieb ein Polizist im weißen Plastikschutzanzug da und suchte Stück für Stück den Bereich innerhalb der Absperrbänder ab. Chili erschien das aussichtslos. Denn schließlich wusste niemand, wo genau er umgekommen war. So viel war wohl klar.

***

Zuhause roch es nach Pizza oder Quiche. Bestimmt bereitete Julia das Abendessen zu. Julia, die Meeresforscherin und begnadete Köchin.

Die meisten Leute stellten sich unter einer Wissenschaftlerin eine unattraktive, an weiblichen Gepflogenheiten komplett uninteressierte Person vor. Im Grunde geschlechtslos. Julia war alles andere als das. Sie hätte auch Model werden können. Sie maß gertenschlanke eins zweiundachtzig. Ihr klassisches Gesicht mit den lebhaften braunen Augen, der ausdrucksvollen Nase und dem vollen Mund mit den Grübchen daneben ließ sich nur als schön bezeichnen. Ihre langen kastanienbraunen Haare trug sie meistens offen. Sie kleidete sich dezent elegant: Hosen, Pulli und Blazer aus hochwertigen Stoffen in zurückhaltenden Farben. Schwarz sei eine Nicht-Farbe, betonte Julia gerne. Sie beherrschte sowohl Smalltalk als auch komplexe Erörterungen. Unangenehm fand Chili ihren Hang, alle im Haus ständig über die richtige ökologische Einstellung zu belehren.

Weil Chili den Bericht über den Toten im Sturm noch schreiben musste, verzog sie sich unbemerkt in ihr kleines Zimmer im ersten Stock, nachdem sie ihre feuchte Kleidung mit dem roten Hausanzug getauscht und die Haare geföhnt hatte. Hier gab es Ruhe und ihren Laptop, auf dem sie rasch den kurzen Bericht in zwei Versionen schrieb, eine für die Printausgabe und eine für das Online-Portal. Und ab die Post.

Halb sieben. Die Familie saß bereits am Tisch, als Chili in die große Wohnküche kam. Julia verteilte gerade ihre Spezialität, eine Vollkorn-Gemüsequiche.

Jan fragte erregt: »Wo warst du?! Was ist das für eine wirre Geschichte von einem Toten, den du aufsuchen musstest? Verdammt, kannst du mir nicht Bescheid sagen, wenn du verschwindest?! Bei diesem Wetter! Dass ich mir Sorgen machen, daran denkst du wohl nicht.«

Mist, sie hatte nur kurz Julia gebeten, auf Mia zu achten, als Albert schon an der Tür stand. Doch Jans Ton missfiel ihr. Automatisch stellten sich ihr die Stacheln auf.

»Muss ich mich etwa bei dir abmelden, wenn ich das Haus verlasse? Wir haben 2021. Frauen dürfen entscheiden! Schon vergessen?« Chili geriet in Rage. Immer diese männliche Arroganz!

Jan schaltete einen Gang zurück: »Komm mal runter. Ich hab’ mir einfach Sorgen gemacht. Da draußen tobt immer noch das Unwetter. Ich will doch nicht, dass dir was passiert!«

Chili seufzte, dieses leidige Mann-Frau-Thema sollte sie wirklich ad acta legen. Sie wusste doch, dass Jan sie respektierte. Langsam biss sie in das letzte Stück der lauwarmen Quiche. Hm, lecker. Dann erzählte sie vom Anruf der NordNordWest und warum sie sich entschieden hatte, den Auftrag anzunehmen. Lea fand es spannend. Mia wollte spielen und hockte sich zum Lego auf den Küchenfußboden, um am Haus für die Roboter weiterzubauen.

Jan reagierte angefasst: »Das hättest du nicht tun müssen. Ich verdiene mit meinen Bildern und Skulpturen genug für uns alle.«

»Doch, Jan. Das musste ich einfach tun. Ich will weder von dir noch von Julia abhängig sein. Außerdem kann die Coronapandemie auch den Absatz deiner Bilder und Skulpturen noch kaputt machen. Das ist alles viel zu unsicher. Sie reden schon von der vierten Welle. Und ich will auf gar keinen Fall, dass unsere Töchter prekär aufwachsen müssen, so wie ich. Das war die Hölle. Tochter einer alleinerziehenden Friseurin. Auf dem Gymnasium ein einziges Spießrutenlaufen! Besser wir tun alle das, was jeder kann. Ich kann schreiben. Also habe ich mich verpflichtet, das zu tun. Morgen mache ich den Vertrag. Und versuche nicht, mir das auszureden! Es wird nicht klappen.«

Damit stand sie auf, nahm Mia hoch und sagte: »Jetzt geht es ans Zähneputzen, dann husch, husch ins Bettchen. Und danach erzähle ich dir die Geschichte vom Sturmibär.«

***

Schon sieben Uhr. Freitag. Chili hatte den Wecker, der sie immer um 6 Uhr 30 weckte, nicht gehört. Es war spät geworden, nachdem Jan mit einem Glas Versöhnungssekt ins Bett gekommen war. Liebe und Zuneigung stimmten wieder. Jan übte nach achtzehn Jahren Ehe immer noch eine unwiderstehliche Anziehung auf sie aus. Obwohl er bereits ein kleines Wohlstandsbäuchlein zeigte und die ersten Silbersträhnen sein dunkelbraunes Haar durchzogen.

Wie seine Schwester Julia guckte er mit braunen Augen lebhaft in die Welt. In allem anderen unterschieden sie sich. Jan maß nur eins neunundsechzig. Damit war er ganze fünf Zentimeter kleiner als Chili, die ihn mit ihren 1,74 leicht überragte, vor allem, wenn sie ihre geliebten High Heels trug. Jan kleidete sich salopp in Jeans, die er jeweils in fünffacher Ausgabe kaufte, um nicht wechseln zu müssen, wenn eine in die Wäsche kam. Dazu graue oder braune Pullover im Winter, im Sommer T-Shirts und schwarze Turnschuhe.

Chili legte Wert auf kräftige Farben. Wiesengrün, Klatschmohnrot oder Kornblumenblau, manchmal auch kräftig gelb. So zeigten sich all ihre Hosen, Blusen, Pullis und Kleider in bunter Pracht.

Mit Jan zusammen empfand sie sich als den Inbegriff des schönen Paares.

Jenseits der unbestreitbaren Zuneigung zwischen ihnen, verharrten ihre Meinungen über Chilis neuen Job jedoch unversöhnlich im Gegensatz. Sie hatte versucht, ihm ihre Haltung mit dem Wechsel der Jahreszeiten zu erklären.

»Du musst dir das so vorstellen, in meinem Job ist Herbst, alles stirbt ab wie welkende Pflanzen. Nur noch eine Kundin. Ich fühle mich unzulänglich, wie eine Versagerin. Dagegen muss ich einfach etwas tun. Die bloße, vielleicht sogar unrealistische Aussicht auf Armut macht mich krank. Ich fühle mich wie die Frauen in der Stadt, die im Herbst ihre Balkons mit Schneeheide bepflanzen, damit niemand denken kann, sie wären schlampig und hätten die balkonwürdigen Jahreszeiten nicht im Griff. Ich nehme also den Job in meinem Herbst an, um ohne größere Verluste über den beruflichen Winter zu kommen. Damit niemand behaupten kann, ich hätte mein Leben nicht im Griff. Und damit ich das nicht von mir selbst denken muss.«

Doch trotz ihrer anschaulichen Erklärung zeigte Jan sich uneinsichtig. Er fand, dass es an der Zeit wäre, »diese Albernheiten« aufzugeben. Schließlich war sie eine erwachsene, gestandene Frau mit einem gutverdienenden Ehemann. Sie hatte zwei Kinder geboren und außerdem längst bewiesen, was sie leisten konnte.

Chili drehte sich seufzend auf die linke Seite und sah, dass Jan schon aufgestanden war. Sturm und Regen hatten sich gelegt, die Sonne schien und ließ die letzten Regentropfen vom Vortag auf den herbstlich verfärbten Blättern des Birnbaums glitzern. Nur noch ein paar einzelne Birnen hielten sich an den Zweigen fest. Die meisten lagen am Boden. Ursprünglich hatte sie vorgehabt, sie schon in der letzten Woche für den Winter zu verarbeiten. Dumm gelaufen.

Schnell stand sie auf und duschte ausgiebig. Dann Zähne putzen, obwohl das eigentlich laut Zahnarzt erst nach dem Frühstück passieren sollte. Das schaffte sie nie, also setzte sie die Regel für sich außer Kraft. Weil die Lederhose noch feucht war, suchte sie die rote Jeans aus dem Schrank, dazu ein grünes Seidenshirt mit langen Ärmeln.

»Moin«, rief sie fröhlich. Die ganze Familie saß beim Frühstück und moinste zurück. Chili beugte sich zu Jan hinunter und gab ihm einen sanften Kuss in den Nacken. Er schenkte ihr Kaffee ein, so wie sie ihn am liebsten mochte, mit wenig Milch. Sie nahm ein Brownie, im Glauben, es wäre eins von denen, die sie mit Mia aufs Blech gesetzt hatte. Er schmeckte komisch, krümelig sandig und kaum süß.

»Julia, sind das die Kekse von gestern, die ich mit Mia aufs Blech gesetzt hatte? Oder hast du wieder dran rumgemurkst?« Ihr Adrenalinspiegel stieg.

Julia rollte genervt die Augen: »Ja, natürlich habe ich den Teig ausgetauscht. Die Häufchen standen zu lange und waren zusammengesunken. Außerdem solltest du dem Kind kein Weißmehl zumuten. Mia ist im Wachstum. Knochen, Muskeln, Zähne, für alles braucht sie Lebensmittel, die ihr beim Großwerden helfen. Nicht solche, die Raubbau treiben. Weißmehl ist ein absolutes No-Go!«

Julias ewige Belehrungen in Sachen Ernährung brachten Chili auf die Palme.

»Ich habe dir schon oft genug gesagt, du sollst dich nicht in die Erziehung einmischen! Es ist meine Sache, was ich meinem Kind zu essen gebe! Ein für alle Mal verbiete ich dir, solche Keile zwischen mich und meine Kinder zu treiben! Verstanden?!«

»Chili, meine Liebe, ich fürchte, du gehst mal wieder zu weit,« sagte Jan in diesem unerträglich sanften Tonfall.

»Halte du dich raus!« Chili wurde laut.

»Mamaaa! Gemütlich!« Mia fing an zu weinen. Streit setzte ihr zu. Gemütlich hieß in ihrer Sprache ›vertragt euch, seid wieder lieb‹. Mit drei Jahren hatte sie noch kein dickes Fell. Deshalb bat sie bei Familienstreit immer, dass es ›gemütlich‹ zugehen sollte. Chili verstand, drückte sie an sich und strich ihr über den Rücken. Das half immer.

Sie sah auf die Uhr. Es wurde Zeit, sie mussten los: »Komm Mia, zieh dich an, ich bringe dich in die Kita, ja?«

Während sie Mia beim Anziehen der Schuhe half, verabschiedete sich Jan mit einem zärtlichen Klopfer auf ihre rechte Schulter ins Atelier. Lea war verdächtig still geblieben. Normalerweise mischte sie sich nämlich wortstark ein. Jetzt nahm sie ihre Schultasche und riss die Tür auf.

»Immer suchst du Streit! Aber es gibt nicere Leute als dich! Ich bleib heute Nacht bei Sissi«, warf sie Chili an den Kopf und schlug die Tür lautstark hinter sich zu.

Das fing ja wenig heiter an. Andererseits, Sissis Mutter war eine alte Freundin. Dort war sie gut aufgehoben und aus dem Weg, bis die Wogen wieder geglättet sein würden. Chili seufzte, nahm ihre Tasche auf, Mia an die Hand und verließ das Haus mit einem knappen »Tschüss« in Richtung Julia, die das Frühstücksgeschirr in die Spülmaschine räumte.

2

Chili erreichte das Coachingbüro in der Deichstraße um 8 Uhr 20. Um 9 Uhr würde ihre einzige Coachingstunde der Woche beginnen. Sie warf einen Blick in die Notizen der letzten Sitzung. Eine nette, zu nette Bereichsleiterin in einer der großen Fischverarbeitungsfabriken. Die Affäre ihres Mannes hatte sie kalt erwischt. So sehr, dass ihr im Meeting die Tränen kamen, als der Geschäftsführer ihren Beitrag überging. Alle hatten es gesehen. Im darauffolgenden Gespräch unter vier Augen gab der Chef ihr die Adresse eines Psychotherapeuten, ein Schlag unter die Gürtellinie. Emotional aufgelöst war sie zu Chili gekommen. Ihre Freundin hatte ihr geraten, zuerst sie zu konsultieren. Sie hatte Vertrauen zu Chili gefasst und war geblieben. Es ging voran. Am Umgang mit männlicher Arroganz wollten sie weiterarbeiten. Um 8 Uhr 34 meldete sich das Smartphone. Eine Anfrage. Womit dieser Mann, Herr Lang, seinen Bedarf an Coaching begründete, trieb Chili kalte Schauer über den Rücken. Seine Frau schlug ihn, sagte er. Seit Jahren schon. Mit Gegenständen, zum Beispiel mit einer Vase. Er hatte bis vor acht Tagen im Krankenhaus gelegen, mit einem Schädeltrauma aufgrund von Schlägen auf den Kopf. Seine Kollegin hätte Chili empfohlen und ihm ihre Mobil-Nummer gegeben. Er wollte seine Frau anzeigen und sich scheiden lassen – trotz des Sohnes. Er würde aber dringend Unterstützung brauchen, um das durchzuziehen. Ihm würde es alles andere als leichtfallen, diesen Schritt zu tun.

Chili dachte nach. Mit dem Thema hatte sie bisher keine Berührung gehabt. Weil es inzwischen fast 9 Uhr war, verabredete sie mit Herrn Lang ein Erstgespräch für Montag. Dann würden sie die Einzelheiten in Ruhe besprechen können.

Nach der Coachingsitzung rief sie Stefan, ihren Partner im Coachingbüro, an. Sie wusste, dass er vor vielen Jahren ein Praktikum in einer Männerberatung gemacht hatte. Vielleicht konnte er ihr mehr über Männer von schlagenden Frauen erzählen. Sie verabredeten sich um Mittag herum bei ihm zu Hause. Chili packte ihre Notizen und das Smartphone in ihre große rote Ledertasche, in der sie ständig alles mit sich trug, was sie eventuell unterwegs brauchte. Von Ausweis und Brieftasche über Kosmetik und Zahnbürste bis hin zu Regenschirm und Ersatzwäsche. Sie wollte immer und überall auf alles vorbereitet sein.

Um viertel nach elf sollte Chili Frau Bauer vom Polizeiressort in der NordNordWest treffen, um Einzelheiten ihrer Aushilfstätigkeit zu besprechen. Zeit genug, um bei einem Kaffee im Café in der Alten Bürger nachzudenken. Weil es in der Sonne hinreichend warm war, suchte sie sich draußen einen Platz. So konnte sie auf die Corona-Maske verzichten.

»Moin, wie immer?«, fragte Margitta, die Bedienung, sie.

»Moin Margitta, heute mal nicht, ich hab’ Lust auf einen doppelten Espresso, schön stark, mit viel Zucker und Sahne. Und tu bitte zwei von euren selbstgemachten Pralinen dazu.«

Kurz darauf stellte Margitta den Espresso mit geschlagener Sahne und braunem Zucker sowie die Pralinen lächelnd vor Chili auf den Tisch, legte die Rechnung und die Zeitung daneben und verschwand wieder im Inneren des Cafés. Chili rührte mit dem Löffel dreimal um, damit sich etwas Sahne mit dem Espresso und dem Zucker vermischte. Dann löffelte sie die Sahne von oben weg genießerisch in den Mund. Hmmm, lecker. Danach weichte sie die beiden mitgelieferten Kekse im Kaffee ein und schlürfte die krümelige Angelegenheit aus der Tasse. Schließlich steckte sie die erste der beiden Pralinen in den Mund und nahm die Zeitung auf. Zuerst las sie die Polizeimeldungen. Sogar ein Foto illustrierte ihren kleinen Zweispalter. Es zeigte die Gruppe auf dem Deich, dunkel wie in einem Scherenschnitt, vor dem gespenstisch vom Mond erhellten Himmel, über den düstere Wolken jagten.

Gerade als sie ihren Text noch einmal lesen wollte, um zu sehen, ob er original übernommen worden war, meldete sich ihr Smartphone schon wieder.

Sie fischte es aus der Tasche: »Ja?«

»Hier Bauer, guten Tag Frau Keller. Sie müssten bitte sofort zur Kripo fahren. Punkt elf Uhr findet eine Pressekonferenz zum gestrigen Mordfall statt.«

»Ach herrjeh, sieben Minuten!« Chili dachte kurz nach: »Dann verschieben wir unser Gespräch lieber auf morgen, ich habe noch einen weiteren Termin heute Mittag.«

»Kein Problem, Frau Keller, Hauptsache, Ihr Beitrag über die Pressekonferenz ist rechtzeitig fertig! Dann also bis morgen zur gleichen Zeit!« Es klickte, Frau Bauer hatte aufgelegt.

Chili schob Zeitung und Handy in ihre Tasche, ging ins Café, zahlte und hastete zum Wagen. Zum Glück war es nicht weit zur Polizei am Theodor-Heuss-Platz. Mit dem Parkplatz hatte sie Glück. Nur beim Pförtner hielt es sie auf, ihren Personalausweis zu suchen. Sie hatte angenommen, der Presseausweis würde reichen. Hastig kramte sie in der Tasche danach. Schließlich fand sie, was sie suchte.

Die Konferenz hatte bereits begonnen, als sie eintrat. Schnell setzte sie sich auf einen freien Stuhl am Rand der 10 Stuhlreihen. Ein Mann in Zivil war gerade noch mit der Begrüßung befasst. Später erfuhr sie, dass dies der Pressesprecher war. Der andere war der Leiter der Kriminalpolizei, Direktor Kaulsanger

Kaulsanger übernahm: »Es ist erwiesen, dass es sich im Fall des Toten am Deich um ein Kapitalverbrechen handelt. Die noch in der Nacht durchgeführte Obduktion hat ergeben, dass er durch Fremdeinwirkung zu Tode kam. Im Laufe des weiteren Tages bildet die Kriminalpolizei Bremerhaven eine Mordkommission und beginnt unmittelbar mit der Ermittlung. Bis jetzt wissen wir nicht, wer er ist. Auch fehlt jeglicher Hinweis auf den Täter.«

»Wie wurde er getötet? Erschossen? Erstochen? Erwürgt?« Ein Mann mit Glatze hielt ein Mikrofon in Richtung der beiden Polizeivertreter.

Der Pressesprecher antwortete: »Dazu können wir derzeit keine Aussage machen.«

»Können Sie uns sagen, was Sie in den nächsten Tagen unternehmen, um den Mord aufzuklären?« Die Frage stellte eine korpulente Frau mit grauem, kurzgeschnittenem Haar.

»Wie gesagt, wir bilden jetzt eine Mordkommission, die, da noch Anhaltspunkte fehlen, zunächst in alle Richtungen ermittelt. Ich danke Ihnen für Ihre Aufmerksamkeit.«

Chili blieb sitzen, um schnell letzte Notizen ins IPad zu bringen. Als sie aufsah, stand Albert neben ihr und grinste sie an.

»Guter Artikel gestern.«

»Dein Foto ist auch Klasse! Passte gut. Tschüss, ich hab’s eilig.« Chili stand auf und lief los.

»Halt mal an, ich hab’ noch was für dich! Der Zeuge.« Albert drückte ihr einen Zettel in die Hand und ging weiter.

Verdutzt besah sie sich das Stück Papier. Da stand der Name Helmut Kassten und eine Telefonnummer drauf. Wow, wie hatte er das geschafft? Von der Polizei hatte er das jedenfalls nicht bekommen. Die war, was den Spaziergänger im Sturm anging, komplett zugeknöpft. Sie holte ihr Smartphone aus der Tasche, ging zu ihrem Auto auf dem Parkplatz und rief die Nummer an. Eine hohe Frauenstimme meldete sich, indem sie knapp den Namen Kassten nannte.

»Hier Keller von der NordNordWest-Post. Ich hätte gern Herrn Helmut Kassten gesprochen.«

»Moment!« Während sie wartete, hörte Chili sie entfernt rufen: »Helmi, da ist wer am Telefon, kommst du?«

Kurz darauf, mit weicher Tenorstimme: »Ja? Hier Kassten, und wer sind Sie?«

Sie erklärte ihm, wer sie war und dass sie ihn gerne persönlich sprechen wollte, wegen des Toten gestern, den er doch gefunden hatte. Als erstes fragte er, ob er dann auch in die Zeitung kommen würde, mit Foto und so. Chili meinte, das könnten sie doch besser persönlich besprechen, am liebsten heute Nachmittag. Würde es ihm zwischen 15 und 16 Uhr passen? Es passte ihm; er gab ihr die Adresse durch.

»Klingeln Sie einfach, wenn Sie da sind. Ich bin die ganze Zeit zu Hause.«

Damit war ihr Zeitplan endgültig im Eimer. Sie rief Jan an und bat ihn, Mia aus der Kita abzuholen. Er sagte einfach ja und fragte nicht nach dem Grund.

3

Erleichtert machte Chili sich auf den Weg zu Stefan. Keine fünf Minuten später parkte sie vor seinem Grundstück in einer Seitenstraße am Speckenbütteler Park.

Stefan war im Garten und hatte bunten Mangold in der Hand, den er in den Korb zu dem Feldsalat, Radicchio und den Kräutern tat, bevor er sie begrüßte.

»Komm mit rein, ich mach uns erstmal was zu essen. Dabei können wir in Ruhe reden.«

Sein Grundstück maß ganze 2.500 Quadratmeter. Das Haus belegte nur 60 Quadratmeter davon. Für ihn reichte das. Er lebte allein und war meistens im Garten, den er nach dem Konzept der Permakultur angelegt hatte. Wenn man ihn nicht bremste, erzählte und zeigte er einem ohne Punkt und Komma jedes Detail seiner Gartenkunst. Chili interessierte sich nicht dafür und war froh, dass sie gleich ins Haus gingen. Dort war es erheblich angenehmer. Der Wind hatte aufgefrischt, obwohl man ihn nicht Sturm nennen konnte. Der Himmel zeigte sich inzwischen grau in grau. Am Nachmittag würde es wieder regnen.

Die Küche war der größte Raum im Haus. Chili setzte sich auf den bequemen Stuhl am großen alten Eichentisch und sah Stefan zu, dem großen Mann mit dem runden Gesicht und den kleinen blauen Augen unter bleichen Augenbrauen. Sein weißblondes Haar lichtete sich bereits in der Mitte. Wie immer, wenn er privat war, trug er ausgeleierte Cordjeans und einen weiten Pullover, auf dem die Wollknötchen sich vermehrten. Die Gummistiefel hatte er ausgezogen und lief nun auf Socken im Haus.

Er träufelte gekonnt Olivenöl über ein Blech mit Hokkaidospalten. Salz und Thymian hatte er schon darüber gestreut. Nachdem er den Kürbis in den Ofen geschoben hatte, nahm er sich den Mangold vor. Er wusch ihn kurz, ließ ihn abtropfen, während er zerdrückte Knoblauchzehen in eine Pfanne gab. Bevor sie braun wurden, schnitt er den Mangold in breite Streifen und gab ihn nebst etwas Meersalz zum Knoblauch dazu. Als der Mangold zusammenfiel, wendete er ihn noch zweimal und legte ihn dann auf eine Schale. Petersilie und etwas Zitronensaft darüber, fertig. Der Kürbis war inzwischen gebräunt, und Stefan brachte ihn auf den Tisch. Außerdem legte er ein Stück Feta und Baguette dazu.

Dann setzte er sich an den Tisch und füllte ihre Teller: »So, lang zu, Chili, und erzähl mir, wobei ich dir helfen kann.«

Sie hatte plötzlich großen Hunger und aß erstmal alles mit Genuss auf.

»Du kannst toll kochen, Stefan. Es schmeckt prima, danke für die Einladung!«

Chili legte ihr Besteck beiseite und wischte ihren Mund mit der Serviette ab.

»Weshalb ich dich sprechen wollte, hat mit dem großen Thema ›Wandel des Lebens‹ zu tun. Bei mir ändert sich fast alles, zumindest beruflich. Es kommt einfach zu viel zusammen. Manchmal ist mir zum Heulen, weil immer weniger Kunden zu mir kommen, seit dem ersten Shutdown. Im Moment habe ich nur noch eine einzige Coachee. Das fühlt sich an, als ob mir der Boden unter den Füßen weggezogen würde. Manchmal will ich mich nur noch verkriechen.«

»Mensch Chili, das ist ja wirklich übel. Warum hast du denn nichts gesagt?! Das muss dich doch schon seit längerer Zeit ziemlich beuteln.«

Stefan legte seine Hand auf ihre und drückte sie.

Chili blinzelte eine Träne weg: »Ich wusste einfach nicht, was ich dir sagen sollte. Psychologisches Coaching wird nicht mehr nachgefragt. Jan meint ja, er verdient genug für uns alle. Aber darum geht es mir gar nicht. Ich habe so viel in meinen Beruf reingesteckt, Geld und Zeit für die Ausbildung. Hoffnung, ja, viel Hoffnung. Ich war zutiefst überzeugt davon, dass viele Menschen mein Coaching brauchen würden. Und jetzt will das keiner mehr.«

Sie schluchzte trocken auf. Dann räusperte sie sich und entzog Stefan ihre Hand:

»Und gestern gegen Abend kam dann dieser Anruf von der NordNordWest-Post. Du weißt ja, dass ich hin und wieder für die etwas Kulturelles schreibe. Aber, was jetzt kam, hat mich etwas geschockt. Ich soll vorübergehend den Polizeireporter vertreten, der mit Corona im Krankenhaus liegt. Sie waren unter Druck und schickten mich gestern an den Deich. Die Sturmflut hatte einen Toten angeschwemmt. Stell dir vor: Ermordet! Gott sei Dank brauchte ich ihn nicht anzusehen. Inzwischen habe ich trotz meinem Grusel beschlossen, den Vertrag zu unterschreiben. Ist ja erstmal befristet.«

Stefan schwieg. Er schaute sie lange nachdenklich an. Sein eigener Terminkalender war mit Coachingterminen prall gefüllt. Als Coach mit seinem Abschluss als Ingenieur war er gefragt und beriet vor allem Umwelt-Unternehmen, Windkraft und Solar, aber auch einen Lebensmittelkonzern, der auf Ökoproduktion umstellte. Es tat ihm leid, dass er sich so wenig um Chili gekümmert hatte.

»Dass dein Coachinggeschäft nicht mehr läuft, tut mir riesig leid. Und dann hopplahopp in eine Mordgeschichte, als wenn du einen Hebel umlegst. Das kann doch nicht gesund sein. Da muss man sich doch drauf einstellen. Und das dauert ein wenig, würde ich meinen.«

»Das merke ich auch, Stefan. Eigentlich bräuchte ich Zeit, um mich damit abzufinden. Oder zumindest zu schauen, ob mich der neue Job zufrieden macht. Denn so, wie es ist, bin ich ziemlich durcheinander und frustriert. Aber da ist die Chance. Und ich will einfach zugreifen, um den Frust und die Aussichtslosigkeit zu besiegen, verdammt!«

Stefan lächelte: »Du warst schon immer eine Kämpferin, Chili. Das mag ich so an dir, dass du nie aufgibst. Deshalb dachte ich auch, dass du ständig ein volles Haus hättest, denn diese innere Haltung der Stärke gegenüber den Problemen hast du deinen Klienten so gut vermitteln können wie kaum jemand. Das hat mir ein Freund erzählt, dessen Frau dich konsultiert hatte. Sag mir, wie ich dir helfen kann, Chili.«

»Ich glaube, dass du mir zuhörst ist schon sehr viel. Eigentlich bin ich wegen des verprügelten Mannes gekommen, der Montag sein Erstgespräch hat. Können wir noch darüber reden? Ich habe keine Erfahrung damit und weiß nicht, wie ich ihm begegnen soll.«

»Normalerweise hast du doch schon am Telefon ein fast unfehlbares Gespür für Leute. Wie kam er dir denn vor? Welchen Eindruck hattest du von ihm?«

Chili versuchte, sich zu erinnern. »Ich war in Eile, hab’ nicht richtig zugehört. Wahrscheinlich muss ich mein Bild von der Gewaltlosigkeit der Frauen revidieren. Bisher war ich überzeugt, dass Frauen sowas nicht tun, ihren Mann mit Gegenständen verprügeln. Das gibt es doch gar nicht – dachte ich jedenfalls.«

Stefan lachte: »Okay, dann bist du jetzt informiert. Ich erzähle dir gleich, was ich darüber weiß.«

Chili musste jetzt auch lachen: »Blinder Fleck, was? Danke fürs Wegwischen! Jetzt hätte ich gerne einen Kaffee aus deiner tollen Maschine, bevor wir weiterreden. Ist das unverschämt?«

»Aber nein, eine kleine Pause zum Themenwechsel täte mir auch gut.« Stefan stand auf, bereitete zwei Tassen Milchkaffee zu und trug sie mitsamt dem Zucker zum Tisch, setzte sich wieder und klärte Chili auf.

»Männer werden von ihren Frauen verprügelt, teilweise so schlimm, dass sie ins Krankenhaus kommen. Stell dir das einfach ähnlich vor wie umgekehrt. Wie Frauen, die von ihren Männern verprügelt werden. Es ist ein Tabuthema. Deshalb finde ich es bewundernswert, dass dieser Mann zu dir kommt und einen Schnitt machen will. Er muss ziemlich stark sein.«

Chili war skeptisch. »Ich weiß nicht, wenn er stark wäre, hätte er sich doch wehren können. Warum hat er es so weit kommen lassen?«

Stefan rührte im Kaffee: »Sich als Mann gegen eine Frau zu wehren – aus welchem Grund auch immer – ist tabu. Egal, was tatsächlich geschehen ist, er ist der Täter. In den Augen der Polizei, der Familienhilfe, der Ärzte. Ich glaube, kein Mann will das riskieren. Deshalb halten alle still.«

Das hätte Chili sich in ihrer kühnsten Fantasie nicht ausdenken können, so unmöglich erschien es ihr, dass Männer stillhielten, während sie von ihrer Frau physisch attackiert und bedroht wurden.

»Das muss ja der reinste Horror für diese Männer sein. Sie sitzen praktisch in der Falle. Ach herrje.«

Stefan nickte: »Wie ich schon sagte, es ist ein Tabu, buchstäblich niemand schenkt ihnen Glauben. Dabei passiert es furchtbar oft. Nicht mal du wolltest es glauben, obwohl dir fast sämtliche Abgründe des Lebens vertraut sind. Dein neuer Vielleicht-Kunde wird vor allem dies brauchen: Jemand, der ihm glaubt und ihm vertraut.«

Chili stand auf und umarmte Stefan kurz: »Danke für alles! Ich bin froh, zu dir gekommen zu sein. Jetzt muss ich los zu dem Zeugen, der den Toten am Deich gefunden hat. Stell dir vor, er ging spazieren, in dem Sturm!«

Beide standen gleichzeitig auf. Chili zog im Flur ihre Jacke an und nahm die Tasche von der alten wunderschönen Kommode, die ihr so sehr gefiel.

Sie trennten sich an der Haustür, wo Stefan sie kurz in den Arm nahm und »toi, toi, toi« sagte. Als sie ins Auto stieg, winkte er kurz und ging ins Haus zurück.

4

Es regnete leicht, und der Wind hatte zugelegt. Außerdem war es reichlich kühl geworden. Da wollte man lieber im warmen Wohnzimmer sitzen, anstatt zu frieren, nur weil man wildfremde Leute besuchen musste. Das schoss Chili kurz durch den Kopf. Doch dann zog sie die Jacke fester um sich und lief die paar Meter zum Haus, in dem Herr Kassten wohnte.

Es wirkte heruntergekommen und war drei Stockwerke hoch. Die ehemals weiße Farbe konnte man nur noch ahnen, der Putz bröckelte, die Eingangstür hatte ihren Anstrich komplett verloren. Sie klingelte bei Kassten. Sofort ging der Summer an und sie drückte die Holztür auf. Im Treppenhaus roch es nach altem Fisch und Bratkartoffeln, bestimmt in Margarine gebraten, igitt.

»Zweiter Stock!« Die Männerstimme klang erfreut und energisch. Chili stieg die ausgetretenen Stufen nach oben. Dort standen eine rundliche, ergraute Frau im geblümten Haushaltskittel und ein nicht minder gerundeter Mann mit grauem Haarkranz, in ausgebeulter Jeans und selbstgestricktem beigen Pullunder mit Muster. Die Beiden sahen ihr erwartungsvoll entgegen. Sie trugen keine Corona-Maske. Deshalb bat Chili sie, eine aufzusetzen. Herr Kassten schaute seine Frau an, runzelte die Stirn, drehte sich um und lief in den Flur. Fast sofort kam er zurück, setzte sich eine Maske auf und gab seiner Frau eine andere.

Jetzt stellten sie sich vor. »Ich bin der, der den Toten gefunden hat; ich heiße Helmut Kassten, und das ist meine Frau Elli.« Er zeigte auf die Frau, die soeben durch die Tür, links vom Flur verschwand.

Herr Kassten ging voraus ins Wohnzimmer, das geradeaus lag. Chili folgte ihm. Auf dem Couchtisch mit Häkeldeckchen standen drei Tassen, eine Kaffeekanne, Zuckertöpfchen und Dosenmilchkapseln. Frau Kassten kam mit Keksen, »selbstgebacken«, dazu. Freundlich lächelnd nahm Chili einen der Kekse und biss ins sehr süße Krümelige hinein. Ohne mit der Wimper zu zucken, bedankte sie sich, leicht verlogen:

»Wunderbar! Aber Sie hätten sich meinetwegen nicht solche Mühe machen sollen, ich habe nur ein paar Fragen an Sie.«

Chili sah Herrn Kassten aufmunternd an.

»Wie kam es, dass Sie bei dem furchtbaren Wetter am Deich spazieren gingen?«

Frau Kassten antwortete: »Man kann ihn nicht davon abhalten. Ich sage immer wieder, du kommst nochmal um da draußen.«