Chondrit 55 - Stephan Heinz - E-Book

Chondrit 55 E-Book

Stephan Heinz

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Beschreibung

Meeressäuger verschwinden und Ökosysteme sterben Am Rande der Welt macht ein junger Meeresbiologe beunruhigende Entdeckungen. Wissenschaftler aller Nationen tappen im Dunkeln und die Welt steht vor dem Untergang. Auf der Suche nach der Ursache der Katastrophe beginnt ein Wettlauf gegen die Zeit, der schon vor langer Zeit begonnen hat. Mit einem Vorwort von Günther Bonin, dem CEO von “One Earth-One Ocean”. Jedes verkaufte Buch unterstützt seine Organisation mit 1 €.

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Seitenzahl: 201

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Stephan Heinz

Chondrit 55

Prinzengartenverlag

Bibliographische Information der Deutschen Bibliothek

Die Deutsche Bibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliographie; detaillierte Daten sind im Internet über http://dnb.ddb.de abrufbar.

Copyright 2022 by Prinzengarten Verlag

Dr. Hans Jacobs, Am Prinzengarten 1, 32756 Detmold

Bild Umschlag: Eoneren von iStock

ISBN 978-3-89918-837-0

Für Ayda und Atila

Vorwort

Meeresmüll, Abschmelzen der Polkappen, Versauerung, Ausbeutung und Überfischung der Meere – man muss kein Bösewicht wie der Geologe Ivan Boyka in Novosibirsk sein, um die Erde an den Abgrund zu führen.

In dem Roman von Stephan Heinz genügt ein einziger konsequenter Eingriff in das maritime Gleichgewicht, um eine globale Katastrophe auszulösen. Die Handlung spielt in der Zukunft, doch sie liegt gar nicht so weit entfernt von unserem Hier und Jetzt. Und sie veranschaulicht die Bedeutung der Meere für die Zukunft unseres Planeten. Wer die Ozeane gefährdet, treibt die gesamte Welt ins Verderben. Der gut recherchierte Roman von Stephan Heinz führt dies eindrücklich vor Augen.

Die Ozeane bedecken mehr als zwei Drittel unseres Planeten. Sie produzieren mehr als die Hälfte des weltweiten Sauerstoffs und binden Unmengen an Kohlendioxid. Weitgehend unbemerkt von den Menschen auf Land bahnt sich hier eine Katastrophe ungeahnten Ausmaßes an. Wo niemand ist, ist auch nichts? Weit gefehlt!

Im Roman ist es eine Handvoll beherzter Wissenschaftler in der fernen Antarktis, die die Welt vor dem Kollaps retten. In der Realität sind es wir alle! Gleichgültigkeit und Bequemlichkeit (nicht nur Größenwahn und kriminelle Energie Einzelner) tragen täglich dazu bei, dass die Erde unter unserem Gewicht ächzt. Wir sind es unserem schönen Planeten und den nachfolgenden Generationen schuldig, endlich aufzuwachen und die Ärmel hochzukrempeln.

Stephan Heinz' spannender Roman könnte ein erster Ansporn dazu sein. Mit dem Kauf des Buches unterstützen Sie die Organisation One Earth – One Ocean, die seit 2011 gegen die Vermüllung der Meere kämpft. Dank Ihres Beitrags können weitere Schiffe gebaut, Fachleute eingestellt und technische Entwicklungen finanziert werden. Mit dem Kauf des Buches trägt jeder dazu bei, die Belastungen der Meere durch Plastikmüll zu verringern. Vielen Dank für Ihre Unterstützung!

Günther Bonin

Gründer von One Earth – One Ocean

www.oneearth-oneocean.de

15.02.2013 Tscheljabinsk, Russland

Der hohe Schnee knirschte unter den Stiefeln von Peter Trushnikov, der gerade auf dem Weg vom Einkaufen nach Hause war. Er würde heute einen freien Tag in seiner gemütlichen Wohnung verbringen und seinem Hobby, dem Malen, nachgehen. Nachdem er sich ein Frühstück zubereitet hatte, stellte er eine neue Leinwand auf seine Staffelei. Gerade in dem Moment, als er den Pinsel zum ersten Mal in die Farbe getaucht hatte, klingelte sein Telefon.

»Hier spricht das Hauptquartier des Roskosmos. Es tut mir leid, Sie stören zu müssen, aber Ihr freier Tag wurde soeben gestrichen. Die russische Raumfahrtbehörde hat das Eindringen eines Flugkörpers in die Erdatmosphäre registriert. Schon seit geraumer Zeit kündigte sich das Eindringen des Meteoriten in den russischen Luftraum an, jetzt ist es so weit. Der errechnete Einschlag wird in etwa dreißig Minuten in der Gegend um Tscheljabinsk sein. Evakuierungsmaßnahmen laufen bereits an.«

In diesem Moment hörte Peter die ersten Sirenen, gefolgt von den Martinshörnern der ausrückenden Feuerwehren. Der Anrufer fuhr fort:

»Sie sind der einzige Roskosmos-Mitarbeiter in der näheren Umgebung. Ihre Aufgabe wird es sein, die Bruchstücke nach dem Aufschlag zu bergen und den Transport zu organisieren. Alle vor Ort agierenden Einheiten unterstehen mit sofortiger Wirkung Ihrem Kommando. Eine entsprechende E-Mail geht gerade raus. Alle weiteren Informationen bekommen Sie auf Ihr Smartphone. Bleiben Sie erreichbar. Viel Erfolg!«

Damit war das Gespräch beendet. Einige Minuten später erhielt Peter Information bezüglich des geplanten Einschlagortes, der Evakuierungspläne und andere Informationen im Zusammenhang mit dem bevorstehenden Einschlag.

Peter packte seine Sachen zusammen und zog sich einen dicken Daunenparka an. Er steckte gerade seine Autoschlüssel ein, als er sah, wie sich der Himmel in einem eigenartigen Orange färbte. Sekunden später erschütterte die Detonation des Einschlags die Gegend wie ein Erdbeben. Noch in mehr als hundert Kilometer Entfernung zeichneten Seismografen den Einschlag auf. Offensichtlich hatte man sich bezüglich der noch verbleibenden Zeit geirrt.

Auf seinem Weg in Richtung Einschlagsort kämpfte sich Peter durch ein absolutes Chaos. Unzählige Einsatzkräfte begegneten ihm oder fuhren in seine Richtung. Viele Menschen flohen aus Angst vor einem zweiten Einschlag. Die Straßen waren hoffnungslos überfüllt, ein Vorankommen nahezu unmöglich. Nach fast zwei Stunden war Peter endlich an dem See, in den die Überreste des Meteoriten gestürzt waren, angekommen. Er hatte mittlerweile erfahren, dass der Meteorit kurz nach seinem Eindringen in die Erdatmosphäre in drei Teile zerbrochen war. Die örtliche Polizei war bereits vor Ort und hatte den See, in dem die Bruchstücke gelandet waren, großräumig abgesperrt. Peter stellte sein Auto ab und legte die letzten Meter bis zur Absperrung zu Fuß zurück.

Ein kleiner, dicker Polizeibeamte kam auf Peter zu. Anstelle seiner Polizeikappe trug er eine Mütze aus Waschbärfell, um sich gegen die Kälte zu schützen.

»Dies ist ein Tatort. Unbefugte haben keinen Zutritt. Ich bitte Sie, das Gelände umgehend zu verlassen«, belehrte der Beamte den scheinbaren Eindringling.

»Peter Trushnikov vom Roskosmos«, stellte sich der schlanke, hoch aufgeschossene Mann vor, während er seinen Ausweis zeigte.

»Entschuldigen Sie bitte«, gab der Polizist kleinlaut zurück. »Sie wurden bereits angekündigt. Ich stelle Sie dem leitenden Beamten vor.«

Nachdem Peter die Absperrung überwunden hatte, gingen sie zusammen auf einen weiteren Beamten zu, der gestikulierend vor einem provisorischen Einsatzzelt stand.

»Mein Name ist Fjodor Ivank, ich bin der Leiter der Polizeibehörde«, stellte sich der Mann in militärischem Tonfall vor.

»Ich vermute, ab jetzt übernehmen Sie?«, fragte er resigniert nach.

Peter stimmte wortlos mit einem Kopfnicken zu und fuhr dann sogleich mit seinen Anweisungen fort:

»Bitte veranlassen Sie die Sperrung des ganzen Geländes. Wir benötigen einen Autokran und ein Team von Tauchern. Der Großteil des Meteors ist in dem See gelandet. Es sind insgesamt drei Teile. Ich möchte, dass sie geborgen und zur Untersuchung ins geologische Institut nach Nowosibirsk gebracht werden«, wies Peter Trushnikov an.

Ohne ein weiteres Wort winkte der Polizeichef einen seiner Polizisten zu sich, um ihm die genannten Aufgaben zu übertragen.

Zwei Stunden später schlüpften fünf Taucher in Trockenanzügen durch das riesige Loch im Eis ins Wasser. Mithilfe dieser Anzüge blieben die Taucher, anders als mit einem Neoprenanzug, trocken. Zum Schutz vor der Kälte trugen sie Thermokleidung unter den Anzügen. Sie hatten die Anweisung, Fotos der Bruchstücke aufzunehmen und wenn möglich eine Probe zu entnehmen. Der mittlerweile eingetroffene Kran sollte seine Kette ins Wasser hängen, um abschätzen zu können, ob die Bruchstücke erreichbar waren und geborgen werden konnten.

Peter Trushnikov lehnte entspannt an einem der vielen Lkw, die zusammen mit dem Kran eingetroffen waren. Er nippte an einer Tasse heißem Tee, den die Einsatzkräfte verteilten. Gerade als er seinen Tee abgesetzt hatte, kam einer der Taucher, dank der Schwimmflossen etwas unbeholfen, über das Eis in seine Richtung gelaufen und meldete mit trockener Stimme: »Wir konnten die Bruchstücke lokalisieren.«

Die Kälte und die trockene Luft aus der Pressluftflasche hatten seinen Mund ausgetrocknet und erschwerten ihm zu sprechen. Peter Trushnikov hielt ihm die Teetasse hin, um ihm den letzten Schluck des noch warmen Tees zu überlassen. Nachdem der Taucher diesen getrunken hatte, konnte er flüssig weiter berichten: »Es handelt sich um drei etwa kleinwagengroße Bruchstücke. Das Gewicht würde ich auf mehrere Tonnen pro Steinbrocken schätzen. Mit der Kette des Krans sollten wir sie leicht erreichen können. Wie stabil die innere Struktur ist, kann ich nicht sagen. Vielleicht zerbrechen sie beim Herausheben. Eine Probe konnten wir leider nicht entnehmen.«

Peter Trushnikov sah den Taucher einen Moment schweigend an, dann sagte er: »Gut gemacht! Ihre Leute sollen aus dem Wasser kommen und sich aufwärmen. Ich benachrichtige das geologische Institut über die neuesten Erkenntnisse. Wir verschieben die Bergung auf morgen früh, acht Uhr. Bitte seien Sie und Ihr Team einsatzbereit.«

Der Taucher gab die Teetasse ebenso schweigend zurück, wie er sie empfangen hatte. Die letzten Tropfen des Tees, die gedroht hatten an der Tasse herunterzulaufen, waren auf ihrem Weg am Rand der Tasse gefroren. Bevor der Mann sich zum Gehen umdrehte, verabschiedete er sich mit einem militärischen Gruß. »Jawohl, morgen früh um acht Uhr. Mein Team wird vollständig und einsatzbereit zur Verfügung stehen.« Dann drehte er sich um und watschelte mit seinen Flossen davon.

Nachdem er den Polizeichef angewiesen hatte, die Absperrung aufrechtzuerhalten und die Schaulustigen, die mittlerweile eingetroffen waren, nach Hause zu schicken, verließ auch er den Fundort. Morgen würde es weitergehen. Er war schon sehr gespannt, was genau sie aus den Tiefen des Sees herausziehen würden.

25.03.2013 Geologisches Institut Nowosibirsk, Russland

Die Bergung der Bruchstücke aus dem See war weitaus schwieriger gewesen als zunächst erwartet. Ein plötzlich einsetzender Sturm hatte die Arbeiten erschwert und dafür gesorgt, dass der bereitgestellte Lkw die Bruchstücke erst drei Tage nach dem Einschlag in Richtung Nowosibirsk transportieren konnte. Der Transport dauerte aufgrund der Witterung mehrere Tage.

Peter Trushnikov hatte ebenfalls die lange Reise nach Nowosibirsk angetreten, nachdem ihn der Leiter des geologischen Instituts darüber informiert hatte, dass die Untersuchungen des Bruchstücks abgeschlossen waren.

Er freute sich auf Nowosibirsk. Die Stadt war sehr lebendig und fühlte sich trotz ihrer geografischen Lage wie eine Kleinstadt im Zentrum Europas an. Es gab zahlreiche gute Restaurants und eine beträchtliche Anzahl moderner Bars und Clubs. Von denen würde Peter vor seiner Abreise einige besuchen. Nach seiner Ehe, die vor zwei Jahren in einem heftigen Streit zerbrochen war, hatte Peter keine Mühe darauf verwendet, eine neue Frau in sein Leben zu lassen. Sollte sich allerdings jemand für einen Abend oder gar eine ganze Nacht finden, wäre er nicht abgeneigt.

Der Leiter des geologischen Instituts, Ivan Boyka, war ein dünner, ausgemergelter Mann. Sein Gesicht wirkte dank des weißen Kittels, den er über einem hellgrünen Strickpullover trug, noch blasser, als es ohnehin schon war. Mit seinen gerade mal vierunddreißig Jahren sah Ivan aus wie ein alter Mann, der seine besten Jahre bereits hinter sich hatte. Die Umstände, unter denen er leben musste, waren geprägt von Entbehrungen und einem Mangel an Komfort. Sein Einkommen reichte kaum für Miete und Nahrungsmittel. Er hielt sich mit Konserven über Wasser, die er im Sommer mühsam aus selbst angebautem Obst und Gemüse herstellte, um die langen russischen Winter überstehen zu können. Er begrüßte Peter mit einem sanften Lächeln und führte ihn in ein Besprechungszimmer des Instituts.

»Nun, Herr Boyka«, startete Peter nach einer kurzen Begrüßung, »was können Sie mir über unseren Besucher berichten?«

Ivan Boyka hatte eine Vielzahl von Proben und den dazugehörigen Berichten auf den Besprechungstisch gelegt. Einige der Notizen sahen für einen Laien wie das wilde Gekritzel eines Kleinkindes aus.

»Es gibt einiges über unseren Reisenden zu erzählen«, antwortete Ivan Boyka aufgeregt. »Er gehört zu einer Gruppe erdnaher Asteroiden vom Typ Apollo. Vermutlich ist er bereits 1908 während des Tunguska-Ereignisses in die Erdumlaufbahn eingedrungen. Unser Besucher, wie Sie ihn nennen, ist der Größte seit über hundert Jahren. Es handelt sich um einen sogenannten Chondrit. Sieht man sich die kristalline Struktur an, handelt es sich dabei um einen der Stufe sechs. Der Eisengehalt entspricht circa achtundzwanzig Prozent des Gesamtgewichts. Damit rückt er in die Klasse der H-Chondrite vor.«

Peter Trushnikov schweifte mit den Gedanken kurz ab, während der Professor weiter dozierte. Das Tunguska-Ereignis war ihm noch aus seiner Schulzeit bekannt. Ein lange unerklärtes Ereignis, das auf einer Fläche von zweitausend Quadratkilometern etwa sechzig Millionen Bäume entwurzelt hatte. »Die Menschen damals müssen dieses Phänomen für das Ende der Welt gehalten haben«, dachte Trushnikov.

»Hier, schauen Sie sich diese Probe genau an«, weckte ihn der Professor aus seinem Tagtraum. »Wenn Sie sich den ungewöhnlich hohen Anteil an Platin anschauen, werden Sie feststellen, dass unser Besucher bereits einen Zusammenstoß hinter sich hatte. Die Temperatur, die dazu nötig ist, das Metall in eine solche Form zu bringen, kann nicht beim Eindringen in die Erdatmosphäre erzeugt worden sein. Er muss schon einmal mit einem anderen Asteroiden zusammengestoßen sein.«

»Wunderbar, Herr Boyka«, antwortete Peter Trushnikov mit schwindendem Interesse. Er hatte gehofft zu erfahren, ob sich auf den Bruchstücken der Beweis für außerirdisches Leben oder eine andere spektakuläre Entdeckung befände, die ihn die Karriereleiter weiter nach oben befördern würde.

»Wenn ich Ihre Ausführungen richtig verstanden habe, gibt es also nichts Ungewöhnliches an dem Meteoriten zu bestaunen. Ich schlage deswegen vor, Sie lagern ihn ein und behalten ihn für weitere Forschungen hier.«

Ein Aufblitzen in den Augen des Institutsleiters verriet Peter, dass noch eine letzte Information auf ihn wartete.

»Unsere Ergebnisse bezüglich des Platingehalts und dessen Struktur werden wir auf einer Konferenz in Florenz präsentieren«, berichtete Ivan Boyka stolz.

»Das klingt nach einer spannenden Reise«, antwortete Peter auf dem Weg zum Ausgang. »Ich hoffe für Sie, dass die Konferenz im Sommer ist.«

Das Strahlen des Mannes erhellte sein ganzes Gesicht und ließ erahnen, wie er wohl als Kind ausgesehen haben musste.

»Sie ist mitten im Juni«, lautete seine euphorische Antwort, während sie sich zum Abschied heftig die Hände schüttelten.

Es war spät geworden und die Dunkelheit hatte bereits ihren Mantel über der Stadt ausgebreitet. Auf dem Weg zum Hotel fuhr Peter an einigen beleuchteten Bars vorbei. Er würde eine Kleinigkeit essen und sich dann nach etwas umsehen, das weniger seelenlos war als ein abgestürzter Steinbrocken. Vielleicht fand seine Reise nach Nowosibirsk doch noch ein erfreuliches Ende.

»Dieser dumme, einfältige Schnösel«, dachte Ivan, als er die Türen des Instituts verschloss. Zurück in seinem Labor dachte er an die Umstände, die ihn hergeführt hatten. Ivan war ein fleißiger Schüler gewesen und hatte sich nach seinem Abitur für ein Studium entschieden. Das Bestimmen von Gesteinen war seine Leidenschaft geworden. Als kleiner Junge war er in den Besitz eines Rosenquarzes gekommen und das hatte seine Begeisterung nachhaltig geweckt. Nachdem er sein Studium erfolgreich abgeschlossen hatte, glaubte er an eine Zukunft in Moskau mit einer Eigentumswohnung und gutem Einkommen. Seine Freundin, so hatte er sich vorgestellt, wollte er von seinem ersten Gehalt in ein nobles Restaurant ausführen, um dort um ihre Hand anzuhalten. Stattdessen bekam er nur einen Praktikumsplatz bei einer Firma, die Bodengutachten erstellte, und war gezwungen, nach Feierabend einen zweiten Job anzunehmen, um über die Runden zu kommen. Als er endlich eine Festanstellung im Geologischen Institut erhalten hatte, hatte ihn seine Freundin verlassen, und mit ihr gingen Ivans Träume von einem besseren Leben. Den größten Rückschlag seines Lebens hatte er erlitten, als einem seiner alten Schulfreunde als Parteifunktionär ein riesiges Unternehmen geschenkt worden und dieser nun ein millionenschwerer Geschäftsmann war, ohne jemals dafür gearbeitet zu haben. Früher hatte Ivan ihm in unterschiedlichen Fächer Nachhilfe erteilt und dafür gesorgt, dass er den Schulabschluss überhaupt erlangen konnte. Heute kannte er ihn nicht mehr. Das war der Dank, der ihm zuteilwurde. Er nahm sein Mobiltelefon und wählte eine Nummer in Sierra Leone. Nachdem es dreimal geklingelt hatte, meldete sich eine Stimme, die Ivan lange nicht gehört hatte.

»Hallo, hier ist Ivan. Sie können sich sicher an mich erinnern. Ich habe vor Jahren Ihre Blutdiamanten analysiert und den genauen Wert bestimmt. Ich bin auf etwas gestoßen, das für Sie von Interesse sein könnte. Sind wir im Geschäft?«

Nach kurzem Schweigen raunte eine raue Stimme: »Erzählen Sie mir, worum es geht. Dann sehen wir weiter.«

25.05.2019 Hundert Kilometer vor der Küste von Java

Als Petrus Wang sein Fischerboot vom Strand der Insel Java ins Wasser schob, war es kurz nach vier Uhr am Morgen. Das Wasser war tiefbraun, von Müll übersät und bedeckt von einer dichten Schaumkrone. Das Fehlen von Kläranlagen begünstigte diesen Zustand ebenso wie das Verbrennen von Haushaltsmüll am dortigen Strand. Seit der zehnjährige Petrus sich erinnerte, hatte sich an diesem Zustand nichts verändert. Erst seit er vor Kurzem mit seinem Vater zum Fischen aufs offene Meer fuhr, wusste er, dass Wasser eigentlich keine braune Farbe hatte. Seine Eltern und sechs Geschwister teilten sich eine einfach Holzhütte, die aus einem einzigen Raum bestand. Hier wurde gekocht, geschlafen und die Familienangelegenheiten besprochen. Dass Meerwasser weder dunkelbraun war noch unangenehm roch, kannte der Rest seiner Familie nur aus seinen Erzählungen und denen des Vaters.

Der Wind wehte kräftig an diesem Morgen und Petrus kam mit seinem Vater schnell in Richtung offene See. Das Wasser wurde immer bläulicher, bis es irgendwann plötzlich ganz klar war. Jetzt wurde es Zeit, die Netze auszuwerfen und für einen reichen Fang zu beten. Nach drei Stunden harter Arbeit war das Boot mit einer stattlichen Anzahl unterschiedlicher Fische gefüllt. Auf dem täglichen Fischmarkt würde der Verkauf genug einbringen, um die Familie zu ernähren. Bevor sie allerdings die Rückreise antraten, war noch eine letzte täglich wiederkehrende Arbeit zu erledigen.

Sie fuhren gemeinsam noch einige hundert Meter ins offene Meer, bevor sie anfingen, Müllfässer mit Plastiktüten, defekten Handys, Plastikflaschen und anderem Unrat über Bord zu kippen. Wenn man nur weit genug auf dem Wasser war, konnte man sicher sein, dass nichts von dem, was nicht mehr gebraucht wurde, zurück an den Strand gespült würde. Dieser Service, den sie für ihre Familie, die Nachbarn und ein paar kleinere Geschäfte anboten, war ein zusätzliches Einkommen, das half, die eigene Familie zu versorgen.

Als sie alle Fässer geleert hatten, sah Petrus seinen Vater an. »Schade, dass wir nicht die Einzigen sind, die den Müll mit aufs Meer nehmen. Würden nur wir das tun, wären wir längst reich.«

Ohne zu antworten, drehte der Vater das kleine Boot in Richtung seines Heimatdorfes. Ihm war schon lange klar, dass die Entsorgung des Mülls im Wasser nicht ungestraft für ihn und seine Familie bleiben würde.

01.06.2019 Sechzig Kilometer vor der Küste von Nigeria, Südatlantik

Das chinesische Frachtschiff »Dragon of the Sea« hatte in Lagos seine Ladung gelöscht und Zementklinker an Bord genommen, bevor es sich auf die Rückreise nach China begab. Die Mannschaft hatte drei Tage freigehabt und sich ausgiebig an einheimischen Frauen und Schnaps erfreut. Jetzt lagen sie in ihren Quartieren und warteten auf die Ankunft in China.

Lin Gang Yang stand gerade an Deck und rauchte eine Zigarette, während er aufs Wasser schaute und sich mit einem Grinsen an die Schweinereien erinnerte, die er mit zwei hübschen nigerianischen Mädchen getrieben hatte, als sein Kapitän ihn ansprach.

»Lin, du faules Stück Mist, steh nicht hier herum und rauche. Geh in den Laderaum und schau, welche Menge Müll wir bereits an Bord haben!«

Ohne eine Geste des Widerstandes drückte Lin die Zigarette aus. »Jawohl, Kapitän!«, meldete er gewohnt militärisch und machte sich auf den Weg in Richtung Frachtraum.

Der Platz, den die Besatzung für den Müll, der an Bord anfiel, vorgesehen hatte, war etwa halb so groß wie ein Fußballfeld. Auf diesen siebentausend Quadratmetern stapelten sich Essensreste, Verpackungen, halb leere Eimer mit Fett und Farbe, verdreckte Overalls und viele andere Dinge, die keine Verwendung mehr fanden. Lin schätzte den verbleibenden Platz noch auf etwa zweihundert Quadratmeter. Diese Kapazität sollte noch für etwa vier Tage reichen. Auf dem Weg in den Befehlsstand befürchtete er schon, dass eine ungeliebte Arbeit auf ihn zukam.

Der Kapitän des Schiffes saß in einem Bürostuhl, aus Leder und mit gepolsterten Armlehnen, und schaute abwechselnd auf das Radar und die vor ihm liegende Seekarte. Als er die Tür des Kontrollstandes hörte, drehte er sich kurz um.

»Zustand?«, fragte er kurz angebunden.

»Der Platz reicht noch für etwa vier Tage«, lautete die Antwort.

Der Kapitän sprang von seinem Stuhl auf. Den Müll in Lagos zu entsorgen, hatte er bewusst unterlassen. Die Gebühr, die für eine fachgerechte Entsorgung anfiel, schmälerte den Gewinn der Reederei und damit auch die Summe, die in seine eigene Tasche floss. Zum Glück fuhren sie niemals Häfen in Europa an. Dort musste man die fachgerechte Entsorgung nachweisen, um einer empfindlichen Strafe zu entgehen. Auf dem afrikanischen Kontinent wurde das Thema Müll weniger konsequent verfolgt. Dass mittlerweile eine Menge von ungefähr hundertvierzig Millionen Tonnen davon in den Weltmeeren trieb, interessierte dabei niemanden.

»Nimm fünf von diesen faulen Schweinen unter Deck und sieh zu, dass du diesen ganzen Müll ins Meer kippst.«

Genau das hatte Lin erwartet. Er freute sich nicht besonders darüber. Da er aber derjenige war, der den Auftrag erhalten hatte, konnte er sich wenigstens seine Helfer aussuchen.

Eine Stunde später stand Lin mit fünf seiner Kameraden an der offenen Laderampe des Schiffs und begann die Berge von Müll mit Schaufeln ins Meer zu schaffen. Je näher sie den Essensresten kamen, die sich mittlerweile halb verwest auf dem Boden verteilt hatten, desto mehr Ratten versuchten sich ins Innere des Schiffs zu retten. Der Gestank wurde nun nahezu unerträglich. Lin schwor sich, nachdem sie ihre Arbeit nach über drei Stunden beendet hatten, die nächste Überfahrt im Maschinenraum zu verbringen. Dort würde der Kapitän nur vorbeikommen, wenn es unbedingt sein musste.

12.07.2025 Bali, Indonesien

Absolute Stille begleitete Roland Hagen während seines morgendlichen Tauchgangs. Lautlos und mit einer Langsamkeit, die einer Meditation ähnelte, glitt er durch das Wasser. Lediglich die aufsteigenden Luftblasen aus seinem Atemregler verrieten seine Anwesenheit in dieser für Menschen fremden Welt. Er tauchte in einer Tiefe von etwa zehn Metern und genoss das Farbenspiel, das ihm unter Wasser geboten wurde. Aus einem Loch im Riff streckte eine Moräne ihren Kopf. Ihr Körper war gelb gebändert und schillerte, als ob jemand sie mit einem gelben Textmarker angemalt hätte.

In einem großen Bogen umrundete Roland das vor ihm liegende Korallenriff und entdeckte eine Meeresschildkröte in der Größe eines Traktorreifens. Als er etwas auftauchte, um die Schildkröte nicht zu stören, schwamm diese geschmeidig unter ihm durch. Von oben konnte er ihren eindrucksvollen Panzer betrachten. Die Bewegungen, die für die Schildkröte an Land mühselig und anstrengend waren, sahen unter Wasser spielerisch leicht aus. Mit einer majestätischen Eleganz zog sie weiter. Er schaute ihr nach, bis sie in den Weiten des Ozeans verschwunden war. Roland tauchte etwas weiter um das Riff herum. Auf der anderen Seite würde das Tauchboot auf ihn warten. Dank seiner guten Ausbildung zum Master-Diver und Rettungstaucher hatte die Tauchschule ihm gestattet, ganz allein zu tauchen. Einen Tauchbuddy, wie eigentlich vorgeschrieben, brauchte er nicht. Seine intelligente Smartwatch übernahm die Funktion des Tauchcomputers. Im Notfall würde diese auch Hilfe rufen und seine Position sowie seine Vitalfunktionen übermitteln. Ein speziell dafür konzipierter Tauchroboter würde dann seine Rettung durchführen. Ein solches Modell war mittlerweile in jeder Tauchbasis vorhanden.

Als er weit genug getaucht war, um das Riff von der anderen Seite sehen zu können, traute er seinen Augen nicht. Unzählige Plastiktüten, Flaschen, Kunststofffolien, Fässer, leere Shampoo-Flaschen und viele andere Gegenstände aus Plastik hatten sich in dem Riff verhakt und sahen fast so aus, als wären sie darin verwachsen. Einige Fische schwammen zwischen dem Müll umher und erinnerten an Krähen, die auf einer Mülldeponie herumliefen. Roland konnte einen der kleineren Fische davor bewahren, in eine Plastiktüte zu schwimmen, bevor ein Signal seiner Uhr verriet, dass der Füllstand seiner Atemflasche langsam in den roten Bereich geriet. Es war Zeit, aufzutauchen. Zurück an Deck des Tauchschiffs erzählte er dem Kapitän von seinen Beobachtungen. Die vielen Versuche, die Meere vom Plastikmüll zu befreien, waren bisher bei weitem nicht so erfolgreich gewesen wie erhofft. Während das Boot rhythmisch in Richtung Festland schaukelte, verlor Roland sich in seinen Gedanken.

Er sah seinen Vater vor sich. Oft war er mit ihm auf dem Flugplatz gewesen. Es war immer ein Abenteuer, in die kleine Propellermaschine zu steigen und so zu tun, als flöge er um die ganze Welt. Als begeisterter Hobbyflieger hatte ihn sein Vater oft zu Rund- und kleineren Streckenflügen mitgenommen. Die vielen Instrumente im Cockpit faszinierten Roland extrem und weckten sein Interesse. Eine wachsende Begeisterung für Technik und die besonderen Momente mit seinem Vater waren tief in dem kleinen Jungen von damals verankert.

Die Katastrophe begann, als Rolands Vater ein befreundetes Paar zu Ehren ihrer Silberhochzeit zu einem Rundflug über Hamburg, die Elbe und das Wattenmeer mitgenommen hatte. Im Landeanflug auf den Flughafen, an dem die geladenen Gäste das Hochzeitspaar hatten in Empfang nehmen wollen, war es zu Schwierigkeiten gekommen. Die Maschine war außer Kontrolle geraten, auf die Landebahn gekracht und sofort in Flammen aufgegangen. Während die zusehenden Gäste fassungslos und geschockt den Feuerball gesehen hatten, war für den Piloten und seine Passagiere jede Hilfe zu spät gekommen.

Der Tod seines Vaters hatte Roland in ein tiefes Loch gerissen. Er hatte sich versteckt, nur noch allein sein wollen und bald keine Freunde mehr gehabt. Auch das Verhältnis zu seiner Mutter war gestört gewesen. So hatte Roland viel Zeit allein verbracht, in der er sich Bücher über Meeressäuger, Fische und Tiefseeabenteuer angesehen hatte.