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Seit der Geburt des Christentums sind Künstler fasziniert von Christus. Sein Abbild erscheint auf Fresken in Katakomben aus der Römerzeit, auf Buntglasscheiben in gotischen Kirchen sowie in verschiedenen Darstellungen in der heutigen Pop- Kultur. Der biblische Erlöser ist keine statische, körperlose Gottheit: Christi Geburt, sein ungewöhnliches Leben und sein dramatischer Tod machen ihn zu einem interessanten Motiv für religiöse und säkulare Künstler. Ob sie die Geistlichkeit des Leibhaftigen oder die menschlichen Charakteristika eines Mannes aus Fleisch und Blut zeigen, künstlerische Darstellungen Christi sind die umstrittensten, bewegendsten oder inspirierendsten Beispiele religiöser Kunst. Dieses reich illustrierte Buch erforscht verschiedene christliche Darstellungen, von Cimabues Krippenszenen über die Kreuzigungsdarstellungen Fra Angelicos bis hin zu den provozierenden Porträts Dalís und Andre Serranos. Der Autor Joseph Lewis French führt den Leser durch die ikonischen Darstellungen Christi in der Kunst. Zart oder graphisch, klassisch oder bizarr verdeutlichen diese Messiasbilder die verschiedenen Rollen des Gottessohns im sozialen Bereich wie auch im persönlichen Leben der Künstler.
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Seitenzahl: 343
Autor: Ernest Renan
Bearbeitung der deutschen Ausgabe: Klaus H. Carl
Layout:
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4. Etage
Distrikt 3, Ho Chi Minh City
Vietnam
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ISBN: 978-1-78310-683-7
Ernest Renan
Piero della Francesca,Die Auferstehung Christi, um 1460.
Fresko, 225x200cm.
Museo Civico, Sansepolcro.
Inhalt
Die Ursprünge der Geschichte Jesu Christi
Kindheit und Jugend Jesu
Seine ersten Eindrücke
Erziehung Jesu
Erste Aphorismen Jesu.Seine Gedanken über einen Gott Vater und eine reine Religion. Erste Jünger
Entwicklung der Ideen Jesu über das Reich Gottes
Jesus als Lehrer
Jesus zu Kapernaum
Die Jünger Jesu
Predigten am See
Das Reich Gottes als Herrschaft der Armen
Jesu Beziehung zu den Bewohnern und den Samaritanern
Jesus als Messias
Die Wunder
Die Institutionen Christi
Wachsender Fortschritt des Enthusiasmus und der Exaltation
Opposition gegen Jesus
Die letzten Tage und der Tod Jesu
Letzte Reise Jesu nach Jerusalem
Letzte Woche vor dem Tod
Verhaftung und Prozess
Jesu Tod
Jesus im Grab
Werk und Vermächtnis Jesu
Bibliographie
Antlitz Christi, spätes 15. Jh.
Papiermaché, bemalt, 19x15x5,5cm.
Museum Catharijneconvent, Utrecht.
Eine Geschichte der Anfänge des Christentums müsste die gesamte dunkle, unergründliche Epoche umfassen, die sich von den ersten Anfängen dieser Religion bis zu dem Zeitpunkt erstreckt, als ihre Existenz eine öffentliche, anerkannte und vor aller Augen liegende Tatsache wurde. Allerdings würde eine solche Geschichte einen erheblich größeren Umfang haben, als er hier zur Verfügung steht, deswegen behandelt dieser Text nur das eigentliche Faktum, das dem damals neuen Kultus als Ausgangspunkt gedient hat und wird ganz und gar von der Persönlichkeit Jesu ausgefüllt.
Der Text handelt nicht von den Aposteln und ihren unmittelbaren Schülern oder, um es genauer zu bestimmen, er beschreibt nur die Zeit bis etwa zum Jahr 100, als die letzten Freunde Jesu gestorben und alle Bücher des Neuen Testaments in der Form festgeschrieben waren, in der wir sie heute lesen können, und er berichtet von den Umwälzungen, die der religiöse Gedanke in den beiden ersten christlichen Generationen erlebte.
Damit schildert der Text auch nicht den Zustand des Christentums im zweiten nachchristlichen Jahrhundert unter den Antoninen, den römischen Kaisern von Antoninus Pius (86 bis 161) bis Lucius Aurelius Commodus Antoninus (161 bis 192), so dass man auch die langsame Entwicklung und Führung des fast unablässigen Krieges gegen das römische Reich nicht erkennen kann. Ein Reich, das den äußersten Gipfel seiner administrativen Vervollkommnung erreicht hatte und von Philosophen regiert wurde, ein Reich, dass diese wachsende, das römische Reich hartnäckig negierende und heimlich untergrabende Sekte als eine geheime, theokratische Gemeinschaft bekämpft.
Der Text beschreibt auch nicht die entschiedenen Fortschritte des Christentums von der Zeit der syrischen Kaiser an und deren Eroberung des Westens oder den Zusammenbruch der gelehrten Regierungen der Antonine, den unwiderruflichen Verfall der antiken Zivilisation sowie das aus diesen Zusammenbrüchen Nutzen ziehende Christentum.
Es ist die Zeit, in der Jesus im Geleit der Götter und gottgewordenen Weisen Asiens eine Gesellschaft in Besitz nimmt, der die Philosophie und der bloße bürgerliche Staat nicht mehr genügte. Da erst wandelten sich gründlich die religiösen Ideen der um das Mittelmeer gruppierten Völker, die orientalischen Kulte gewannen überall die Oberhand. Das Christentum, das seiner Kirche eine zahlreiche Anhängerschaft beschert hatte, vergaß vollständig seine Träume von einem tausendjährigen Reich, zerrissen waren die letzten es an das Judentum fesselnden Bande, es ging schließlich ganz in die griechische und lateinische Welt über. Die sich schon offenkundig zeigenden Kämpfe und die literarische Arbeit des dritten Jahrhunderts müssten eigentlich in breiten Zügen dargestellt werden.
Die Darstellung der Verfolgungen zu Anfang des vierten Jahrhunderts werden ebenso ausgelassen wie die letzten Anstrengungen des römischen Reiches zur Wiederherstellung seiner alten Prinzipien, die dieser religiösen Vereinigung jeden Platz im Staatswesen versagten. Der Text berichtet auch nicht über den Wechsel in der Politik, der unter Kaiser Konstantin I., der Große (nach 280 bis 337), die Rollen tauscht und aus der freiesten, freiwilligsten religiösen Bewegung einen offiziellen Kultus macht, der, dem Staat unterworfen, nun ebenfalls zum Verfolger wird.
Damit ist deutlich geworden, was dieses Buch nicht enthält: die Geschichte der Apostel, der Stand des christlichen Bewusstseins während der ersten Wochen nach dem Tod Jesu, die Bildung des Sagenkreises der Auferstehung, die ersten Handlungen der Kirche von Jerusalem, das Leben des heiligen Paulus, die Krise zur Zeit Kaiser Neros (37 bis 68), die Erscheinung der Apokalypse, den Untergang Jerusalems, die Gründung der hebräischen Christengemeinden von Batanea, die Abfassung der Evangelien und der Ursprung der großen, von Johannes ausgehenden Schulen von Kleinasien. Durch eine seltene Eigentümlichkeit in der Geschichte sind die Vorgänge in der christlichen Welt vom Jahre 50 bis 75 deutlicher als die zwischen den Jahren 100 und 150 zu erkennen.
Anbetung derHeiligenDrei Könige, um 200 n. Chr.
Fresko.Capella Greca, Priscilla Katakombe, Rom.
Hinsichtlich der alten Zeugnisse wurden bis zur Fertigstellung dieses Textes hoffentlich keine Quellen der Forschung übergangen. Über Jesus und die Zeit, in der er lebte, sind, abgesehen von einer ganzen Anzahl anderer, hier und da verstreut vorkommender einzelner Angaben, im Grunde fünf große Sammlungen von Schriften erhalten geblieben: die Evangelien und im Allgemeinen die Schriften des Neuen Testaments, die Werke, die Apokryphen des Neuen Testaments, die Werke Philons von Alexandria (um 25 v. Chr. bis um 40 n. Chr.), die Werke des Geschichtsschreibers Flavius Josephus (um 37 n. Chr. bis um 100) und der Talmud.
Die Schriften Philons haben den unschätzbaren Vorteil, uns die Gedanken zu zeigen, die zu Jesu Zeit die mit den großen religiösen Fragen beschäftigten Menschen beschäftigten. Philon lebte zwar in einer ganz anderen Provinz des Judaismus als Jesus, aber er hatte sich genau wie Jesus durchaus von den in Jerusalem herrschenden Kleinlichkeiten gelöst; Philon ist in dieser Beziehung wirklich wie ein älterer Bruder von Jesus. Er war zweiundsechzig Jahre alt, als der Prophet von Nazareth auf dem Zenit seiner Tätigkeit war und überlebte ihn noch um etwa zehn Jahre, und es ist durchaus schade, dass ihn der Zufall nie nach Galiläa geführt hat - was hätte er uns sonst nicht alles lehren können!
Flavius Josephus schrieb eine Geschichte des Jüdischen Krieges (75/79), zeigt aber in seinen Ausführungen nicht die Wahrheitsliebe Philons. Seine kurzen Notizen über Jesus, über den Gerichts- und Bußprediger Johannes der Täufer und über den Rebellen Judas von Gamala (7/4 v. Chr. bis 30/33 n. Chr.) in der Gaulanitis, dem Gebiet von Judäa jenseits des Jordans, sind trocken und kraftlos. Man merkt ihm das Bestreben an, diese Bewegungen von so durchgreifend jüdischem Geist und Charakter in einer Form darzustellen, die sie den Griechen und Römern verständlich machte.
Der gute Hirte, um 250 n. Chr. Fresko.
Capella Greca, Priscilla Katakombe, Rom.
Die Stelle über Jesus ist vermutlich authentisch und durchaus im Stil des Josephus, und wenn dieser Schriftsteller Jesu erwähnt, konnte es nur in dieser Sprache geschehen. Doch merkt man, dass eine christliche Hand diese Stelle überarbeitet hat und einige Worte hinzugefügt wurden, ohne die sie fast blasphemisch gewesen wäre, vielleicht sind auch einige Ausdrücke gestrichen oder abgeändert worden. Man darf nicht vergessen, dass Josephus seinen literarischen Erfolg im Wesentlichen den Christen zu verdanken hat, die seine Schriften als essentielle Dokumente für ihre Religionsgeschichte adoptiert haben.
Wahrscheinlich wurde im 2. Jahrhundert eine nach den christlichen Ideen verbesserte Ausgabe erstellt. Jedenfalls besteht das außerordentliche Interesse an Flavius Josephus hinsichtlich des hier behandelten Gegenstands für uns in den lebhaften, von ihm auf jene ferne Zeit geworfenen Schlaglichtern. Ihm ist es zu verdanken, dass Herodes der Große (73 bis 4 v. Chr.), seine Enkelin Herodias (8 v. Chr. bis 39 n. Chr.) und sein Sohn Antipas (um 20 v. Chr. bis 39 n. Chr.), aber auch Philipp, Hanna, der Hohepriester Kajapas (auch: Kaiphas; von 18 bis 36) und, nicht zu vergessen, der Präfekt (von 26 bis 36) Pontius Pilatus für uns Personen sind, auf die wir fast mit dem Finger zeigen können und die für uns eine seltsame Lebenswahrheit haben.
Die Apokryphen des Alten Testaments, besonders der jüdische Teil der geheimnisvollen Verse sowie die Bücher Henoch und Daniel, die tatsächlich ebenfalls Apokryphen sind, besitzen für die Entwicklungsgeschichte der messianischen Anschauungen und für das Verständnis der Auffassungen Jesu hinsichtlich des Reiches Gottes eine maßgebliche Bedeutung. Besonders das im Gefolgskreis Christi sehr häufig gelesene Buch Henoch ist ein Schlüssel zu dem Ausdruck ‘der Menschensohn’ und zu den Begriffen, die sich damit verbinden.
Das Alter dieser genannten Bücher, deren Bearbeitung zwischen dem zweiten und ersten vorchristlichen Jahrhundert einzuordnen ist, steht außer Zweifel. Das Datum des Buches Daniel steht noch sicherer fest. Der Charakter der beiden Sprachen (neben griechisch vor allem im ersten Teil aramäisch), in denen es geschrieben ist und in diesem ersten Teil über Daniel zur Zeit des Exils berichtet, verweist eindeutig auf diese Zeit. Der zweite Teil enthält unter Verwendung griechischer Worte seine Visionen mit den klaren, bestimmten, zeitlich datierten Ankündigungen von Ereignissen, die in die Zeit des Antiochus IV. Epiphanes (um 215 v. Chr. bis 164 v. Chr.) reichen. Es enthält die in keiner Weise an die Schriften der Gefangenschaft erinnernden falschen Schilderungen des alten Babylon, stattdessen aber eine ganze Reihe Affinitäten an den Glauben, an die Sitten und das besondere Vorstellungsvermögen zur Zeit der Seleukiden im dritten und zweiten vorchristlichen Jahrhundert.
Aber auch die apokalyptische Form der Visionen, die Stellung dieses Buches Daniel im hebräischen Kanon außerhalb der Reihe der Propheten, Daniels Fehlen in den Lobreden des Kapitels 29 des Ecclesiasticus (Jesus Sirach; etwa 180 v. Chr.), in dem sein Rang doch eigentlich hätte vermerkt sein sollen, und noch viele andere, schon reichlich oft herbeigebrachte Beweise gestatten keinen Zweifel daran, dass dieses Buch die Frucht der großen Begeisterung der Juden über die Verfolgung des Antiochus ist. Man darf dieses Werk nicht unter die alte prophetische, sondern muss es an die Spitze der apokalyptischen Literatur einreihen und es als erstes Vorbild einer eigenen literarischen Gattung ansehen, in der nach ihr die verschiedenen sibyllinischen Bücher, das Buch Henoch, die Offenbarung des Johannes, (vermutlich um 95) die Himmelfahrt Jesajae (aus dem 3. bis 4. Jahrhundert) und das wahrscheinlich um 100 entstandene vierte Buch Esra Platz finden sollten.
In der Geschichtsforschung der Anfänge des Christentums hat man früher den Talmud zu sehr vernachlässigt. Die wahre Kenntnis der Umstände, unter denen Jesus auftrat, sollten in jener seltsamen Kompilation gesucht werden, in der viele Belehrungen mit der nichts sagenden Scholastik vermischt sind. Da die christliche und die jüdische Theologie im Grunde zwei parallelen Bahnen gefolgt sind, kann die Geschichte der einen nicht ohne die der anderen verstanden werden. Unzählige materielle Einzelheiten der Evangelien finden ihren Kommentar im Talmud.
Die umfassenden lateinischen Sammlungen von John Lightfoot (1602 bis 1675), Johann Christian Schöttgen (1687 bis 1751) und Johann Buxtorf d. Ä. (1564 bis 1629) enthielten in dieser Beziehung schon ausreichend Informationen. Die angegebenen Zitate sind ausnahmslos im Original geprüft worden. Dadurch konnten auch die heikelsten Stellen des vorliegenden Textes durch einige Zusammenstellungen aufgeklärt werden. Hierbei ist das Auseinanderhalten der Epochen sehr wesentlich, da sich der Talmud etwa vom Jahr 200 bis fast zum Jahr 500 erstreckt. Dabei wurde mit der größten Umsicht verfahren. Die Angaben werden vielleicht bei solchen Personen Befürchtungen erregen, die es gewohnt sind, einer Chronik nur für die Zeit Geltung zuzugestehen, in der sie geschrieben wurde. Aber dergleichen Bedenken sind hier fehl am Platz.
Die Lehre der Juden von der hasmonäischen Zeit (141 bis 37 v. Chr.) bis zum zweiten nachchristlichen Jahrhundert wurde hauptsächlich mündlich übertragen. Man darf diese Art intellektueller Ausdrucksweise nicht nach den Gewohnheiten unserer Zeit beurteilen, in der viel geschrieben wird. Die Vedas (Sammlungen schriftlich festgelegter religiöser Texte) und die alten arabischen Dichtungen sind durch Jahrhunderte hindurch im Gedächtnis bewahrt worden, und doch sind diese Kunstwerke in einer sehr genau festgelegten und dabei sehr feinfühligen Form verfasst.
Beim Talmud hat aber die Form überhaupt keinen Wert, und es muss hinzugefügt werden, dass es vor der Mischna (Sammlung religionsgesetzlicher Texte) Judas’ Thaddäus des Heiligen, die rasch alle anderen vergessen machte, Bearbeitungsversuche gegeben hat, deren Anfänge vielleicht weiter in die Zeit zurückreichen als allgemein angenommen. Der Stil des Talmud ist der von Unterrichtsnotizen; die Bearbeiter taten wahrscheinlich wenig mehr, als dass sie den beträchtlichen Wirrwarr an Schriftstücken, den Generationen hindurch in den verschiedenen Schulen angehäuft hatten, unter bestimmte Titel gruppierten.
Schließlich muss noch über die Dokumente gesprochen werden, die sich als Biographien des Begründers des Christentums verstehen und in einem Leben Jesu natürlich die erste Stelle einnehmen müssen. Eine vollständige Abhandlung über die Bearbeitung der Evangelien wäre für sich allein ein großes Werk. Dank der diesen Gegenstand seit einer langen Reihe von Jahren behandelnden sorgfältigen Arbeiten ist ein Problem, das man ganz füher für absolut unlösbar gehalten hatte, zu einer Lösung gelangt, die zwar noch Platz lässt für einige Ungereimtheiten, aber dem geschichtlichen Bedürfnis doch vollständig genügt.
Hier gibt es keine Gelegenheit, darauf zurück zu kommen, obwohl die Abfassung der Evangelien von den überhaupt in der zweiten Hälfte des ersten Jahrhunderts für die Zukunft des Christentums wichtigen Tatsachen eine der wichtigsten war. In diesem Text wird nur ein bestimmter Teilaspekt des Gegenstands behandelt, der für die Untermauerung unserer Darstellung unentbehrlich ist. Von allem anderen, was dem Bild der Zeit der Apostel angehört, abgesehen, wird hier nur untersucht, inwieweit die Vorlagen der Evangelien geeignet sind, um sie für eine nach vernünftigen Grundsätzen angelegte geschichtliche Darstellung verwenden zu können.
Der gute Hirte, 4. Jh.
Marmor, Höhe: 43cm, mit Sockel.
Museo Nazionale Romano, Rom.
Dergute Hirte (Detail), um 450 n. Chr.
Mosaik.Mausoleum der Galla Placidia, Ravenna.
Dass die Evangelien teilweise legendenartig sind, lehrt der Augenschein und ist, da sie voller Wunder und Übernatürlichkeiten sind, bekannt; es gibt aber zwischen Legende und Legende einen Unterschied. Niemand zweifelt an den Grundzügen des Lebens des Franziskus von Assisi (1181/1182 bis 1226), obwohl man bei jedem seiner Schritte auf Übernatürliches stößt. Kaum jemand wird dagegen sehr schnell dem Leben des Philosophen Apollonius von Tyana (um 40 bis um 120) unmittelbar Glauben schenken, weil es zum einen lange Zeit nach dem Helden und zum anderen noch dazu in der Form eines reinen Romans von dem Sophisten Flavius Philostratos (um 165/175 bis um 244/249) beschrieben wurde. Die wichtigste Frage, von der die ganze Glaubwürdigkeit abhängt, die man den Legenden zu schenken bereit sein könnte, ist nun: Zu welcher Zeit und von wem und unter welchen Bedingungen sind die Evangelien redigiert worden?
Bekanntlich tragen alle vier Evangelien ganz vorn den Namen einer teils aus der Apostelgeschichte, teils aus der evangelischen Geschichte bekannten Persönlichkeit. Diese vier Personen sind, wenn es streng genommen wird, nicht als deren Verfasser bekannt. Die Benennungen ‘nach Lukas’, ‘nach Markus’, ‘nach Matthäus’ oder ‘nach Johannes’ deuten nicht darauf hin, dass nach der ältesten Ansicht diese Schriften von Anfang bis Ende von Lukas, Markus, Matthäus und Johannes verfasst worden sind; sie bedeuten bloß, dass sich darin Traditionen befinden, die von jedem dieser Apostel herrühren und sich auf dessen Autorität stützen. Es ist klar, dass, wenn diese Titel die richtigen sind, die Evangelien, ohne dass sie deswegen aufhörten, teilweise sagenhaft zu sein, einen hohen Wert besitzen, weil sie uns dann in die auf den Tod Jesu folgende Hälfte des Jahrhunderts zurückführen, und in zwei Fällen sogar zu Augenzeugen der Vorgänge begleiten.
Hinsichtlich Lukas (bis um 80) kann kein Zweifel bestehen. Das Evangelium Lukas ist eine regelrechte, auf frühere Dokumente begründete Darstellung. Es ist das Werk eines Mannes, der wählt, aussucht und kombiniert. Der Verfasser dieses Evangeliums ist sicher identisch mit dem der Apostelgeschichte, dessen Verfasser aber wiederum ein Anhänger des heiligen Paulus war, ein Namenszusatz, der auch auf Lukas passt. Dass gegen diese Schlussfolgerung mehr als ein Einwand geltend gemacht werden kann, ist bekannt, aber eines steht außer Zweifel: dass der Verfasser des dritten Evangeliums und der Apostelgeschichte ein Mann der zweiten apostolischen Generation war, und das genügt hinsichtlich dieses Textes. Das Datum dieses Evangeliums ist übrigens dadurch mit großer Genauigkeit bestimmt worden, indem die Zeitangaben im Buch selbst betrachtet wurden. Das mit dem ganzen Werk untrennbar verbundene, absolut einheitliche und von ein und derselben Hand geschriebene 21. Kapitel Lukas ist jedenfalls kurz nach der Zeit, in der der spätere römische Kaiser Titus die Stadt Jerusalem im Jahr 70 belagerte, verfasst worden.
Die Evangelien des Markus (bis 68) und des Matthäus (nach 42; Todestag unbekannt) haben bei weitem nicht dasselbe individuelle Gepräge. Es sind unpersönliche Berichte, in denen der Verfasser durchaus verschwindet. Der am Beginn dieser Werke vorangestellte Eigenname hat keine große Bedeutung. Wenn aber, wovon sicher auszugehen ist, das Evangelium Lukas ein Datum hat, so gilt dies auch für die des Markus und des Matthäus, denn es steht fest, dass das dritte Evangelium jünger ist als die beiden ersten und auch eine gewandtere Bearbeitung an den Tag legt.
Darüber liegt auch eine Bestätigung aus der ersten Hälfte des zweiten Jahrhunderts vor. Sie stammt von Papias (bis um 140), dem Bischof von Hierapolis, einem ernsten, der Tradition verhafteten Mann, der sein ganzes Leben lang darauf bedacht war, alles zu sammeln, was man von der Person Jesu wissen müsste. Nachdem er erklärt hat, dass er in dergleichen Dingen die mündliche Überlieferung den Büchern vorziehe, erwähnt Papias zwei Schriften über die Worte und Handlungen Christi: erstens eine Schrift von Markus, des Dolmetschers des Apostels Petrus (bis um 67), ein kurzes, unvollständiges, nicht chronologisch geordnetes Werk, das die Reden und Erzählungen enthält und nach den Angaben und Erinnerungen des Apostels Paulus verfasst wurde, und zweitens eine Sammlung der Äußerungen von Matthäus in hebräisch geschrieben, „… die jeder übersetzt, so gut er es kann.“
Gewiss entsprechen diese beiden Beschreibungen so ziemlich der allgemeinen Physiognomie der beiden nach Matthäus und Markus benannten Evangelien, da das erste durch seine langen Reden gekennzeichnet, das andere aber mehr anekdotisch, dafür in den kleinen Tatsachen genauer, kurz, knapp und staubtrocken, arm an Reden und schlecht zusammengesetzt ist. Dass diese beiden Werke, wie man sie heute liest, denen, die Papias las, absolut ähnlich seien, wird wohl niemand behaupten wollen: erstens, weil Matthäus’ Schrift nach Papias nur aus Reden in hebräischer Sprache bestand, die man in unterschiedlichen Übersetzungen von Hand zu Hand gehen ließ, und zweitens, weil die Werke des Matthäus und das des Markus für ihn vollständig anders geartet, ohne gegenseitiges Einverständnis und, wie es scheint, in grundverschiedenen Sprachen verfasst worden waren.
Proskynese von Leo VI.vor dem ThronChristi, 9.-10. Jh.
Mosaik.Hagia Sophia, Istanbul.
Im jetzigen Zustand der Texte zeigen das Evangelium nach Markus und das nach Matthäus so ausführliche und vollkommen identische Parallelstellen, dass entweder der endgültige Redakteur des zweiten das erste Manuskript vor Augen gehabt oder der endgültige Bearbeiter des ersten das zweite Manuskript vor Augen gehabt oder alle beide ein und dasselbe Vorbild kopiert haben müssen. Am wahrscheinlichsten ist jedoch, dass wir weder vom Evangelium ‘nach Matthäus’ noch von dem Evangelium ‘nach Markus’ die Originale besitzen und dass die heutigen beiden ersten Evangelien schon Arrangements sind, bei denen man die Lücken des einen Textes durch einen anderen Text ersetzt hat.
Aber jeder wollte natürlich ein vollständiges Exemplar besitzen; wer in seinem Exemplar nur die Reden hatte, wollte auch die Erzählungen haben und umgekehrt. Auf diese Weise wurde nun das Evangelium ‘nach Matthäus’ mit allen Charakterzügen des Markus durchsetzt und das Evangelium ‘nach Markus’ enthält heute eine ganze Anzahl Stellen, die aus den Logia, den Sprüchen des Matthäus, übernommen worden sind. Außerdem schöpfte jeder noch reichlich aus der Quelle der Tradition, die sich in feiner Umgebung weiter spann. Diese Tradition ist so weit davon entfernt, von den Evangelien erschöpft zu sein, dass die Apostelgeschichte und die ältesten Kirchenväter viele Aussprüche von Jesu zitieren, die zwar authentisch zu sein scheinen, aber in den Evangelien, wie wir sie besitzen, gar nicht zu finden sind.
Es kommt für den hier vorliegenden Text kaum darauf an, diese feingliedrige Analyse noch weiter zu führen und den Versuch zu einer Art Wiederherstellung einerseits der Logia des Matthäus, andererseits der ursprünglichen Erzählung, wie sie aus Markus Feder kam, zu unternehmen. Die Logia sind ohne Zweifel in den langen Reden Jesu zu suchen, die einen beträchtlichen Teil des ersten Evangeliums einnehmen. Diese Reden bilden allerdings, wenn man sie von dem übrigen Teilen abtrennt, ein ziemlich vollständiges Ganzes.
Was die Erzählungen des ersten und zweiten Evangeliums anbetrifft, so liegt ihnen offenbar ein gemeinsames Dokument zu Grunde, dessen Text sich bald bei dem einen, bald bei dem anderen wiederfindet und von dem das zweite Evangelium, wie es heute gelesen wird, nur eine modifizierte Wiedergabe ist. Mit anderen Worten: das System des Lebens Jesu bei den Synoptikern, den drei Evangelisten Lukas, Markus und Matthäus des Neuen Testaments, beruht auf zwei Originaldokumenten - erstens auf den durch den Apostel Matthäus gesammelten Reden Jesu und zweitens auf der Sammlung von Anekdoten und persönlichen Nachrichten, die Markus nach Petrus’ Erinnerungen niederschrieb. Man kann behaupten, dass diese beiden Dokumente noch vorliegen, nur vermischt mit Informationen anderen Ursprungs in den beiden ersten Evangelien, die nicht ohne Grund den Titel nach Matthäus, nach Markus tragen.
Es ist jedenfalls unumstritten, dass man schon in früher Zeit die Reden Jesu in aramäischer Sprache niederschrieb und dass gleichfalls schon früh seine bemerkenswerten Taten schriftlich festgehalten wurden. Es waren aber nicht etwa dogmatisch abgeschlossene, feststehende Texte. Außer den uns überlieferten Evangelien gab es noch eine ganze Reihe anderer Texte, die den Anspruch erhoben, die Überlieferungen von Augenzeugen wiederzugeben. Auf diese Schriften wurde wenig Wert gelegt, und gerade ein Sammler wie Papias bevorzugte besonders die mündlichen Überlieferungen.
Da man fest daran glaubte, dass die Welt bald dem Untergang geweiht sei, war man nicht allzu sehr darauf bedacht, Bücher für die Zukunft abzufassen; es kam bloß darauf an, im Herzen ein lebendiges Bild desjenigen festzuhalten, den man bald über den Wolken zu sehen hoffte. Von daher erklärt sich, dass die evangelischen Texte etwa hundertfünfzig Jahre lang so wenig Ansehen genossen haben. Man hatte überhaupt keine Skrupel, Zusätze hineinzuschreiben, Textteile neu zu arrangieren, den einen Text durch einen anderen zu ergänzen. Arme Leute wollten ein Buch haben, in dem alles enthalten war, woran ihr Herz hing. Man lieh einander diese kleinen Bücher und jeder schrieb an den Rand seines Exemplares die Aussprüche und Gleichnisse, die er woanders gefunden und die ihm gefallen hatten.
Deësis (Detail), 1261.
Mosaik.Hagia Sophia, Istanbul.
Christus als Pantokrator, 6. Jh.
Enkaustik, 84x45,5cm.
Katharinenkloster, Sinai.
Die Hl. Dreifaltigkeit, die JungfrauMaria und der Hl. Johannes, um 1250.
Altarteil der Wiesenkirche.
Gemäldegalerie, Berlin.
So ist also das schönste Werk der Welt hervorgegangen aus einer durchaus obskuren, ganz volkstümlichen Mitarbeiterschaft. Keine der Bearbeitungen hatte absoluten Wert. Der Philosoph und Märtyrer Justinus (1. Hälfte des 2. Jh. bis 165), der sich häufig auf das beruft, was er die „… Denkwürdigkeiten der Apostel“ nennt, hatte noch einen Zustand der Evangelien vor Augen, der von dem, den wir kennen, durchaus unterschiedlich ist. Zudem gibt er sich nicht einmal die Mühe, sie dem Text nach aufzuführen. Die evangelischen Zitate der pseudo-clementinischen Schriften abionitischen Ursprungs zeigen dieselbe Eigentümlichkeit. Der Geist war alles, das Wort nichts. Erst als in der zweiten Hälfte des zweiten Jahrhunderts die Tradition sich abzuschwächen begann, bekamen die die Namen der Apostel tragenden Texte eine entschiedene Autorität und Gesetzeskraft.
„… Wer wollte den Wert von Dokumenten verkennen, die aus rührenden Erinnerungen, naiven Erzählungen der beiden ersten christlichen Generationen zusammengesetzt sind und noch von dem starken Eindruck zeugen, den der Gründer hervorgebracht hat und der ihn noch lange Zeit überleben wird.“ Es muss noch hinzugefügt werden, dass die Evangelien, um die es sich handelt, gerade aus denjenigen Zweigen der christlichen Familie hervorgegangen sind, die Jesus am nächsten standen. Die letzte Handanlegung zur Fertigstellung zumindest bei dem den Namen des Matthäus tragenden Text könnte in einem der nordöstlich von Palästina gelegenen Länder wie Hauran, Gaulanitis oder Baschan vor sich gegangen sein, denn zum einen hatten sich zur Zeit der Römerkriege viele Christen dorthin geflüchtet, zum anderen gab es dort noch im zweiten Jahrhundert Verwandte von Jesus, und schließlich hielt sich die erste galiläische Tradition dort auch länger als sonst irgendwo.
Bis jetzt befasste sich der vorliegende Text nur mit den drei sogenannten synoptischen Evangelien. Es muss aber auch der vierte, den Namen des Johannes tragende Text behandelt werden. Bei ihm sind alle Zweifel viel begründeter, und die Frage einer Lösung ist viel weiter entfernt. Papias schloss sich der Schule des Johannes an und verkehrte, wenn er nicht sogar noch dessen Zuhörer gewesen ist, wie der Kirchenvater und Bischof des heutigen Lyon, Irenäus (etwa 135 bis 202) behauptet, wenigstens mit seinen unmittelbaren Schülern wie Tiberius Claudius Aristion (Wende 1./2. Jh.) und dem Presbyter Johannes (um 60 bis nach 130). Papias, der mit Leidenschaft alle mündlichen Erzählungen des Aristion und des Presbyters Johannes gesammelt hatte, erwähnt mit keinem Wort, dass Johannes ein Leben Jesu geschrieben habe. Hätte eine solche Erwähnung sich in seinem Werke gefunden, so hätte Eusebius (260/264 bis 339/340), der normalerweise alles, was die Literaturgeschichte der Apostelzeit anbetrifft, erwähnende Vater der Kirchengeschichte ohne allen Zweifel eine Bemerkung darüber gemacht.
Die sich aus dem Inhalt dieses vierten Evangeliums ergebenden inneren Schwierigkeiten sind nicht minder problematisch. Wie kommt es, dass man neben sehr präzisen Angaben, die jene des Augenzeugen nachvollziehen lassen, Reden findet, die sich ganz und gar von denen in Matthäus unterscheiden? Wie kommen bei einer allgemeinen Aufgliederung des Lebens Jesu, die viel befriedigender und genauer ist als die der Synoptiker, jene seltsamen Stellen hinein, bei denen man ein dem Schreiber zuzueignendes dogmatisches Interesse herauslesen kann - Gedanken, die Jesus fremd sind und manchmal mahnende Anzeichen dafür liefern, vor der vermeintlichen Aufrichtigkeit des Autors auf der Hut zu sein? Was sollen schließlich neben den reinsten, richtigsten, wahrhaft evangelischen Ansichten jene Flecken, in denen man am liebsten die Interpolationen eines hitzigen Sektierers erkennen möchte? Ist das wirklich Johannes, der Sohn des Fischers Zebedäus und Bruder des im vierten Evangelium übrigens niemals erwähnten Jakobus, dem es möglich war, in griechischer Sprache diese Vorlesungen voll abstrakter Metaphysik niederzuschreiben, von der weder die Synoptiker noch der Talmud etwas Analoges darbieten?
Das alles sind ernsthafte Bedenken, und es ist recht fraglich, ob das vierte Evangelium ganz und gar aus der Feder eines einstigen galiläischen Fischers stammt. Dass aber dieses Evangelium schließlich gegen Ende des ersten Jahrhunderts aus der großen Schule Kleinasiens, die sich an Johannes anschloss, gekommen ist, dass es eine Variante des Lebens des Meisters bietet, die es wert ist, höchste Beachtung zu erlangen und an manchen Stellen auch würdig ist, den anderen vorgezogen zu werden, das ist erwiesen, und zwar in einer Weise, die nichts zu wünschen übrig lässt, sowohl durch äußere Zeugnisse wie durch die Prüfung des Dokuments selber.
Zunächst zweifelt niemand daran, dass das vierte Evangelium um das Jahr 150 existierte und dem Johannes zugeschrieben wurde. Formale Texte von Justin, vom Apologeten und Kirchenvater Athenagoras (2. Jh.), von Tatian dem Assyrer (2. Jh.), vom Bischof Theophilus von Antiochien (bis um 183) und von Irenäus führen von da ab dieses Evangelium bei allen Kontroversen an, es wird als ein Eckpfeiler der Entwicklung des Dogmas angesehen. Irenäus äußert sich sehr bestimmt, aber er ging aus der Schule des Johannes hervor, und zwischen ihm und dem Apostel stand nur Polykarp (um 69 bis um 155), der Bischof von Smyrna.
Die Rolle dieses Evangeliums im Gnostizismus und besonders in dem System des Lehrers Valentin (vermutlich um 100 bis nach 160) und in dem Montanismus (der phrygischen Häresie) bei den Quartodecimanern ist nicht minder entscheidend. Die Schule des Johannes ist diejenige, deren Fortsetzung im zweiten Jahrhundert am deutlichsten wird; sie ist aber nur dann erklärlich, wenn man dieses vierte Evangelium an ihren Anfang stellt. Dazu kommt, dass die erste dem Johannes zugeschriebene Epistel ganz sicher von demselben Autor stammt wie das vierte Evangelium. Diese Epistel ist aber nicht nur von Polykarp und Papias, sondern auch von Irenäus als von Johannes stammend anerkannt, und es ist besonders die Lektüre des Werkes, die Eindruck macht.
Der Verfasser spricht stets wie ein Augenzeuge; er will für den Apostel Johannes gehalten werden. Wenn also das Werk tatsächlich nicht von dem Apostel selbst sein sollte, so muss man einen wissentlichen Betrug voraussetzen. Obgleich sich nun die Ansichten jener Zeit hinsichtlich literarischer Ehrlichkeit und Genauigkeit wesentlich von den heutigen unterscheiden, gibt es doch in der apostolischen Welt kein Beispiel einer derartigen Fälschung. Nicht nur, dass der Verfasser für den Apostel Johannes gelten will, man sieht auch deutlich, dass er im Interesse dieses Apostels schreibt. Auf jeder Seite verrät sich die Absicht, seine Autorität zu stärken, zu zeigen, dass er der Liebling Jesu gewesen ist, dass er bei allen feierlichen Gelegenheiten (beim Abendmahl, auf dem Calvarienberg, am Grabe) die erste Stelle eingenommen hat. Die Beziehungen des Verfassers zu Petrus sind zwar im Ganzen brüderlich, aber doch nicht frei von einer gewissen Rivalität, dagegen scheint sein Hass gegen Judas, ein wahrscheinlich schon vor dem Verrat entstandener Hass, hier und da durchzuschimmern.
Man sollte eigentlich davon ausgehen, dass Johannes in seinem Alter die zirkulierenden evangelischen Erzählungen gelesen und einerseits die einzelnen Ungenauigkeiten bemerkt hat, andererseits aber auch darüber verärgert war, dass man ihm in der Geschichte einen nicht genügend großen Platz eingeräumt hat. Deshalb mag er damit begonnen haben, eine Vielzahl an Dingen zu diktieren, die er besser wusste als die anderen, um zu zeigen, dass in vielen Fällen, in denen man nur von Petrus sprach, er mit ihm und bereits vor ihm eine Rolle gespielt hatte. Bereits zu Lebzeiten Jesu waren zwischen den Söhnen des Zebedäus und den anderen Schülern leichte Zeichen von Eifersucht erkennbar. Seit dem Tode Jakobs, seines Bruders, blieb Johannes der einzige Erbe der vertrauten Erinnerungen und deren Bewahrer, etwas, was nach den Aussagen aller anderen, diese beiden Apostel so lang gemeinsam gewesen waren. Daher stammen die anhaltenden Bestrebungen, daran zu erinnern, dass er, Johannes, der letzte lebende Augenzeuge war, und die offenbare Genugtuung, mit der er von Umständen erzählt, die nur er allein kennen konnte.
Christus als Krieger, um 520 n. Chr.
Byzantinisches Mosaik.Museo Arcivescovilee
Cappella diSan Andrea, Ravenna.
Hugo Van der Goes,Die Kreuzigung Christi, um 1470.
Öl auf Holz.Museo Correr, Venedig.
Diptychonhälfte mit dem Antlitz Christi(Lentulus-Brief), spätes 15. oder frühes 16. Jh.
Öl auf Holz, 38,5x27,3cm.
Museum Catharijneconvent, Utrecht.
Matthias Grünewald, Die Auferstehung (Detail des Isenheimer Altars), 1512-1516.
Musée d’Unterlinden, Colmar.
Daher stammen auch so viele kleine, genauer bestimmende Züge, die wie Scholien, wie erklärende Randbemerkungen, eines Bearbeiters aussehen, etwa in der Art: „Es war sechs Uhr“; „es war Nacht“; „dieser Mann hieß Malchus“; „sie hatten ein Feuer angemacht, denn es war kalt“; „der Rock war ohne Naht“ und eine ganze Reihe mehr. Darum schließlich die Unordnung in der Abfolge, aber auch die Unregelmäßigkeiten im Erzählstrang und die zusammenhanglosen ersten Kapitel. All dies sind dann rätselhafte Merkmale, wenn man annimmt, dass das Evangelium nur eine theologische These ohne historischen Wert ist; dagegen werden sie aber durchaus verständlich, sobald man der Tradition gemäß darin Erinnerungen eines alternden Mannes sieht, die mal von wunderbarer Frische sind, mal aber auch seltsame Irrtümer enthalten.
Eine wesentliche Unterscheidung muss man jedoch in diesem Evangelium Johannes machen. Der eine Teil zeigt uns einen Umriss des Lebens Jesu, der beträchtlich von dem der Synoptiker abweicht. Der andere Teil dagegen legt Jesus Reden in den Mund, die in Stil, Ton, Haltung und Doktrinen nichts mit den von den Synoptikern mitgeteilten Logia gemeinsam haben. Hinsichtlich dieses zweiten Teils ist der Unterschied so groß, dass man sich für eine Variante entscheiden muss: Wenn Jesus gesprochen hat, wie es Matthäus beschreibt, dann kann er nicht geredet haben, wie Johannes behauptet. Zwischen diesen beiden Autoritäten hat noch kein Kritiker geschwankt und wird nie einer schwanken.
Unendlich weit entfernt von dem einfachen, desinteressierten, förmlichen Ton der Synoptiker zeigt das Evangelium Johannes unablässig die Bestrebungen des Apologisten, die Hintergedanken des Sektierers und die Absicht, eine These zu beweisen und Gegner zu überzeugen. Nicht durch anspruchsvolle, schwerfällige, schlecht geschriebene, in moralischer Beziehung wenig sagende Tiraden hat Jesus sein göttliches Werk begründet. Selbst wenn Papias uns nicht mitgeteilt hat, dass Matthäus die Worte Jesu in der Originalsprache geschrieben hat, so würden die Natürlichkeit, die unausgesprochene Wahrheit und der unvergleichliche Reiz, den die synoptischen Reden ausstrahlen, deutlich genug darauf verweisen. Aber auch deren durchaus hebräische Wendungen, die Analogien, die sie mit den Zitaten der jüdischen, aus der gleichen Zeit stammenden Gelehrten aufweisen sowie ihre vollständige Übereinstimmung mit der Natur Galiläas - alle diese Merkmale würden, wenn man sie mit der obskuren Gnosis, der gewundenen Metaphysik, der Lehren und Gruppierungen vor allem im 2. und 3. nachchristlichen Jahrhundert, von der die Reden bei Johannes völlig durchdrungen sind, vergleicht, deutlich genug sprechen.
Damit soll nicht gesagt sein, dass in den Reden bei Johannes nicht bewundernswerte Züge und Lichtblicke vorkämen, die wirklich von Jesu herrühren. Aber der mystische Ton dieser Reden entspricht überhaupt nicht der Beredsamkeit Jesu, wie man sie sich nach den Synoptikern vorstellen muss. Ein neuer Zeitgeist ist darüber hinweggeweht; die Gnosis hat bereits begonnen; die galiläische Ära des Reiches Gottes ist zu Ende; die Hoffnung von der nahe bevorstehenden Rückkehr des Gesalbten ist in weite Ferne gerückt, man tritt schon in die Unerquicklichkeit der Metaphysik, in die Finsternis des abstrakten Dogmas ein. Jesus´ geistliche Gedanken finden sich hier nicht wieder, und sollte der Sohn des Zebedäus diese Stellen wirklich geschrieben haben, so hatte er beim Schreiben gewiss den See Genezareth und die mitreißenden Gespräche vergessen, die er einst an dessen Ufern gehört hatte.
Ein Umstand übrigens beweist deutlich, dass die vom vierten Evangelium mitgeteilten Reden keine historischen Dokumente, sondern Schriftstücke mit der Bestimmung sind, gewisse, dem Erzähler am Herzen liegende Doktrinen mit der Autorität Jesu zu umhüllen; darauf ist der Umstand ihrer vollständigen Übereinstimmung mit dem intellektuellen Zustand Kleinasiens zu der Zeit, als sie geschrieben wurden, zurückzuführen.
Kleinasien war damals der Schauplatz einer seltsamen Bewegung synkretistischer Philosophie. Der Gnostizismus stand nicht mehr am Anfang, sondern war bereits in vollem Gange, und Johannes scheint daran beteiligt gewesen zu sein. Es ist durchaus möglich, dass sich nach den Krisen der Jahre 68 (Datum der Apokalypse) und 70 (Zerstörung Jerusalems) der alte Apostel mit seiner agilen und feurigen Seele, enttäuscht über den Glauben an eine bevorstehende Erscheinung des Menschensohnes in den Wolken, sich zu einigen ihn umgebende Ideen hingezogen gefühlt hat, die sich ganz gut mit gewissen christlichen Doktrinen verschmelzen ließen. Dadurch, dass er diese neuen Ideen Jesus angedichtet hat, ist er nur einem sehr natürlichen Weg gefolgt. Unsere Erinnerungen ändern sich ebenso wie alles Übrige; auch das Ideal einer Person, die wir gekannt haben, wandelt sich mit uns selbst. Jesus als eine Inkarnation der Wahrheit betrachtend, konnte Johannes nicht umhin, ihm das zuzuschreiben, was er jetzt als Wahrheit betrachtete.
Um alles zu erzählen, muss gesagt werden, dass wahrscheinlich auch Johannes selbst nicht einmal viel Anteil daran hatte, dass diese Änderungen viel eher um ihn herum als durch ihn vorgenommen wurden. Man könnte versucht sein, zu glauben, dass von seinen Schülern wertvolle Notizen des Apostels in einem von dem ursprünglichen evangelischen Geist sehr unterschiedlichen Sinn benutzt worden sind. In der Tat wurden einige Partien des vierten Evangeliums erst nachher hinzugefügt; so etwa das ganze 21. Kapitel, bei dem sich der Verfasser möglicherweise vorgenommen hat, dem Apostel Petrus nach dessen Tod eine Huldigung zu widmen, um den Einwänden zu begegnen, die man nach Johannes eigenem Tod machen würde oder vielleicht sogar schon machte (siehe Kapitel 21, Vers 21-23). Mehrere andere Stellen tragen Spuren von Streichungen oder Korrekturen.
Es ist unmöglich, aus dieser zeitlichen Distanz den Schlüssel zu diesen eigenartigen Problemen zu finden, und zweifellos wären noch manch andere Überraschungen aufgetreten, wenn man in die Geheimnisse der mysteriösen Schule von Ephesus hätte eindringen können, die sich mehr als einmal auf dunklen Wegen getummelt zu haben scheint. Aber die eine wichtige, die folgende Erfahrung wurde doch gemacht: Jeder, der ein Leben Jesu schreiben wollte, ohne eine feste Ansicht über den relativen Wert der Evangelien zu haben und sich einzig von dem Gefühlston des Gegenstands leiten ließ, würde in den meisten Fällen dahin kommen, die Erzählung des Johannes derjenigen der Synoptiker vorzuziehen. Besonders die letzten Monate des Lebens Jesu sind nur aus Johannes heraus zu verstehen; eine ganze Reihe der bei den Synoptikern unverständlichen Darstellungen in der Leidensgeschichte haben in der Erzählung des vierten Evangeliums das Gepräge der Möglichkeit, der Glaubwürdigkeit.
Ganz im Gegensatz dazu kann jedermann versuchen, ein einen Sinn ergebendes Leben Jesu zu beschreiben und dabei die Reden zu berücksichtigen, die Jesu von Johannes in den Mund gelegt werden. Die Art und Weise, sich predigend zu zeigen und dabei stets auf sich hinzuweisen, diese immerwährende Beweisführung, diese Inszenierungen ohne Unbefangenheit, die langen Betrachtungen nach jedem Wunder, die steifen, linkischen Reden, deren Ton häufig falsch und unausgewogen ist, dies alles würde ein Mann von Unterscheidungsvermögen nicht neben den köstlichen Sentenzen der Synoptiker dulden. Es sind diese offenbar künstliche Machwerke, die uns die Predigten Jesu darstellen sollen, so wie die Dialoge Platons (428/427 v. Chr. bis 348/347 v. Chr.) die Unterredungen des Sokrates (469 v. Chr. bis 399 v. Chr.) wiedergeben. Es sind gewissermaßen die Variationen eines Musikers, der über ein vorgegebenes Thema improvisiert. Das Thema kann nicht ohne Authentizität sein, aber in der Ausführung lässt die Fantasie des Virtuosen ihm freien Spielraum. Man fühlt das gestellte Verfahren, die Absichtlichkeit der Rhetorik, die Unebenheiten heraus.
Ferner muss hervorgehoben werden, dass sich die Ausdrucksweise Jesu in den besagten Schriften nicht wiederfindet. Der Ausdruck ‘Reich Gottes’, der dem Herrn so geläufig war, kommt nur ein einziges Mal vor. Dagegen hat der Stil der durch das vierte Evangelium Jesu in den Mund gelegten Reden eine überraschende Gleichartigkeit mit dem der Episteln des heiligen Johannes; man merkt deutlich, dass der Verfasser beim Schreiben nicht seinen Erinnerungen, sondern dem ziemlich gleichförmigen eigenen Gedankengang gefolgt ist. Dabei tut sich eine ganz neue mystische Sprache auf, von der die Synoptiker keine Ahnung hatten: ‘Licht’, ‘Welt’, ‘Leben’, ‘Wahrheit’ oder auch ‘Finsternis’. Wenn Jesus jemals in diesem Stil gesprochen hätte, der nichts Hebräisches, nichts Jüdisches, nichts Talmudisches an sich hatte - wie wäre es möglich, dass auch nur einer seiner Zuhörer dies Geheimnis so gut bewahrt haben sollte?
Die Literaturgeschichte bietet übrigens ein anderes, viel zur Erklärung beitragendes Beispiel, das eine Analogie zur beschriebenen historischen Erscheinung darstellt. Sokrates, der gleich Jesus nichts Schriftliches hinterlassen hat, ist, wenn man vom Prozess gegen ihn absieht, vor allem durch zwei seiner Schüler bekannt: Platon und Xenophon (um 426 v. Chr. bis 355 v. Chr.), von denen der eine durch seine klare, durchsichtige, unpersönliche Darstellungsart an die Synoptiker, der andere Schüler durch seine imposante Individualität an den Verfasser des vierten Evangeliums erinnert. Soll man nun, um die sokratische Lehre anschaulich zu machen, den Dialogen des Plato folgen oder den Memorabilien des Xenophon? In dieser Beziehung kann man nicht zweifeln, denn jedermann hat sich an die Memorabilien Xenophons gehalten und nicht an die Dialoge. Lehrt uns aber Plato nichts über Sokrates? Hieße es kritisch zu Werke gehen, wenn man die Dialoge vernachlässigen würde? Wer sollte das behaupten? Übrigens ist die Analogie auch nicht vollständig, der Unterschied ist vor allem im vierten Evangelium zu finden. Der Verfasser dieses Evangeliums ist der bessere Biograph, wie etwa Plato auch, wenn er, während er seinem Meister erfundene Reden zuschreibt, über dessen Leben jedoch richtige, dem Xenophon ganz und gar unbekannte Umstände mitgeteilt hat.
Christus am Kreuze, Mitte 12. Jh.
Vergoldete Bronze, 22x21,5x3,9cm.
Musée du Louvre, Paris.
Reliquienplatte mit Ikonen:die Kreuzigung,Christus im Grab, Heiligeund Szenen
des Evangeliums, 11.-12. Jh.Eremitage, St. Petersburg.
Ohne etwas über die äußerliche Lage auszusagen, von wem das vierte Evangelium geschrieben wurde und weil angenommen werden kann, dass die Reden vielleicht nicht vom Sohn des Zebedäus sind, kann man doch sicherlich behaupten, dass es sich hier um das Evangelium ‘nach Johannes’ handelt, genau so wie das erste und zweite Evangelium die Evangelien ‘nach Markus’ und ‘nach Matthäus’ sind.