City of Thieves - Natalie C. Anderson - E-Book

City of Thieves E-Book

Natalie C. Anderson

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Beschreibung

Wer auf der Straße überleben will, muss unsichtbar sein Seit der Ermordung ihrer Mutter hat Tina nur ein Ziel: Rache. Sie will es dem ehemaligen Chef ihrer Mutter, einem privilegierten weißen Geschäftsmann, heimzahlen. Also lässt Tina sich von einer der führenden Gangs in Sangui City, Kenia, zur Meisterdiebin ausbilden. Doch als der Moment der Rache schließlich da ist, muss sie feststellen, dass die Wahrheit noch viel brutaler und komplizierter ist, als sie geahnt hat. Sie führt Tina zurück in ihre Heimat, den Kongo – in eine gefährliche Vergangenheit, die ihre Mutter für immer hinter sich lassen wollte …

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Seitenzahl: 522

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Natalie C. Anderson

CityofThieves

Thriller

Aus dem amerikanischen Englisch von Beate Schäfer

dtv Verlagsgesellschaft mbH & Co. KG, München

 

 

 

Für alle Mädchen,die mehr sind als nur Flüchtlinge

 

 

 

Gebet der heiligen KatharinaStern der Welt, Katharina,Bezwingerin des Rades,die du den erwählten Kindern hilfst,ein jedes errettest undbei ihnen bist, wenn sie sterben.Katharina, verehrte Tochter,Spross der Tugend,das Gesicht wie ein Apfel, die Brust wie ein Schwan,Jungfrau, unversehrt.Breite deinen Mantel über meinen Wahn,Sohn der Maria.Bitte um Gnade für die Diebe, Katharina.Flehe um mein Fortkommen, damit ichdie Feinde meiner Seele überwinde,siegreich bin in meinem letzten Kampfund nach dem Todvon den Engeln geleitet werde.Amen.

1

Wenn du ein Dieb sein willst, musst du als Erstes begreifen, dass es dich nicht gibt.

 

Und ich mein das ernst, du musst es wirklich tief drinnen begreifen, es muss absolut dein Ding sein. Das hat mir Bug Eye beigebracht. Wenn es dich nämlich gibt, dann können Blicke an dir kleben bleiben, und wenn jemand dich sieht, runzelt der vielleicht die Stirn und fragt sich, wer du bist. Dann will er wissen, wer dich da draußen rumlaufen lässt. Wo du heute Nacht schläfst. Ob du nachts überhaupt schläfst.

Wenn es dich gibt, schaffst du es nie, dich durchs Gedränge zu schlängeln, dich zwischen lauter warmen Leibern durchzuschieben, zwischen Armen und Schultern, die nach Arbeit und Seife riechen. Dann fehlt dir die Zeit, deine Wahl zu treffen: die üppige Lady in Rosa und Gold. Du kannst sie nicht anstoßen und dich wegducken, während du ihre Geldbörse tief in deine Hose stopfst. Wenn es dich gibt, kannst du nicht ausatmen und dich durch die Gitterstangen vor einem Fenster zwängen. Dann lassen deine Schritte vielleicht den Fußboden knarren. Dann kann es sein, dass dein Schweiß zu sehr riecht.

Bei dir ist das vielleicht so.

Bei mir nicht.

Ich bin der beste Dieb der Stadt.

Mich gibt es nicht.

 

Ich sitze jetzt schon so lange in diesem Mangobaum, dass ich sieben Moskitos zerquetscht habe. Zwischen den Fingern spüre ich mein eigenes warmes Blut. Gott allein weiß, wie viele Stiche ich schon habe. Ameisen krabbeln mir zwischen den Beinen herum. Aber Schwester Gladys – der Herr segne sie – will einfach nicht schlafen gehen.

Durchs Fenster sehe ich sie im Gemeinschaftsraum sitzen, ins Licht des Fernsehbildschirms getaucht. Sein blauer Schein liegt auf ihrem Gesicht, und wenn sie lacht, wackelt ihr Bauch. Ihre Füße liegen auf einem Hocker, die Zehen biegen sich wie Antilopenhörner in alle Richtungen weg. Ich wüsste zu gern, was sie anschaut, nachdem ihre Schülerinnen im Bett liegen und sie sich entspannen kann. Der Prinz von Bel-Air in der soundsovielten Wiederholung? Churchill Raw? Was finden Nonnen lustig?

Ich sehe auf dem Handy nach, wie spät es ist, und überlege, ob ich nicht morgen wiederkommen und dieses steinalte Fernsehgerät mitgehen lassen soll, damit das ein Ende hat. Sollte Schwester Gladys nicht lieber beten oder so?

Acht Moskitos. Mein Magen knurrt. Ich drücke dagegen und das Knurren hört auf.

Endlich sinkt Schwester Gladys der Kopf auf die Brust. Ich warte, bis ihr Atem ganz gleichmäßig geht, dann lasse ich mich langsam auf der anderen Seite der Schulmauer herunter.

Wie aus dem Nichts kommt ein Wachhund aus der Dunkelheit und stürzt auf mich zu.

Ich hebe die Arme. Dirty springt an mir hoch und leckt mir das Gesicht ab. »Schhh«, mache ich, als er zu fiepen beginnt. Auf dem Weg zum Waschraum am Ende der Schlafsäle schlägt mir sein wedelnder Schwanz gegen die Beine.

»Wo warst du so lange?«, fragt Kiki und drückt das Fenster ein Stück weit auf, was ziemlich laut quietscht. Ich zucke zusammen und sehe mich um, obwohl ich weiß, dass außer Dirty niemand in diesem blitzsauberen Innenhof ist. Er drückt sich an meinen Oberschenkel und hechelt genüsslich, während ich ihm das weiche Fell zwischen den Ohren kraule. Dirty und ich, wir sind alte Freunde.

»Schwester Gladys ist anscheinend in Will Smith verknallt«, sage ich.

Meine Schwester grummelt und schiebt ein Hefebrötchen durch die Gitterstäbe am Fenster, die Diebe wie mich abwehren sollen. So süß, wie es schmeckt, muss es im Laden gekauft sein. Ich gebe Dirty ein Stück ab. Er schlingt es auf einmal runter und leckt sich winselnd die Lefzen.

»Alles in Ordnung?«, frage ich zwischen den Bissen. »Die Pinguine hacken nicht zu viel auf dir rum, oder?«

Sie schüttelt den Kopf. »Und du?«

»Bei mir auf dem Dach gibt’s keine Pinguine. Können nicht fliegen, die Viecher.«

»Du weißt doch, was ich meine, Tina.«

»Mir geht’s gut«, sagte ich. »Hey, ich hab dir was mitgebracht.« Ich krame in meinem Rucksack und ziehe eine Packung HB-Bleistifte heraus, noch in der Plastikhülle. Ich schiebe sie durch die Gitterstäbe.

»Tina …«

»Warte, ich hab noch mehr«, sage ich, bevor sie protestieren kann, und bringe ein Notizbuch zum Vorschein. Vorne drauf ist eine Cartoon-Zeichnung mit glücklichen Kindern und darüber steht in bombastischen Großbuchstaben: SCHOOLDAYS!

Auch das Buch halte ich ihr hin. Ihr Blick bleibt an den Tattoos auf meinen Armen hängen.

»Was ich für die Schule brauche, kriege ich von den Nonnen«, sagt sie. »Du musst für mich nichts stehlen.«

»Die geben dir doch bloß, was sonst keiner will. Du sollst nicht von milden Gaben leben. Die Sachen von mir sind besser.«

»Aber das sind doch auch milde Gaben.«

»Das ist nicht das Gleiche. Ich bin Familie.«

Darauf sagt sie nichts.

Ich trete ein Stück zurück und lasse meine Mitbringsel auf der Fensterbank liegen. »Gern geschehen.«

»Tina«, platzt es aus ihr heraus, »du kannst doch nicht dein ganzes Leben lang auf der Straße sein.«

Ich ziehe den Reißverschluss an meinem Rucksack zu. »Ich bin doch gar nicht auf der Straße. Ich wohne auf einem Dach.«

Da kneift Kiki die Augenbrauen zusammen und setzt wieder diese komische Miene auf. Sie sieht dann aus wie Mama. Mit jedem Besuch bei Kiki entdecke ich mehr Ähnlichkeiten zwischen Mama und ihr. Das tut manchmal weh, aber ich sehe noch tausendmal lieber Mama in ihr als ihn. Ihn erkennt man sowieso auf den ersten Blick, an der helleren Haut, den helleren Augen, den weichen Locken. Trotzdem sieht man uns beiden an, dass wir Schwestern sind. Mir wäre bloß lieber, wenn nicht jeder gleich wüsste, dass wir nur Halbschwestern sein können. Ich hasse dieses Wort. Halbschwester, das klingt wie halber Mensch.

Jedenfalls kann keiner übersehen, dass Kikis Vater weiß ist und meiner nicht. Ihr ist mal rausgerutscht, dass die anderen Mädchen sie »Null-Komma-fünf« nennen, so wie null Komma fünf schwarz und null Komma fünf weiß. Ich wollte wissen, wer das gesagt hat, aber sie hat die Namen nicht rausgerückt, sondern nur erklärt: Das meinen die doch nicht böse, Tina. Das macht mir nichts. Und außerdem kannst du doch keine kleinen Kinder verhauen. Aber manchmal bekomme ich mit, wie sie meine dunkle Haut anschaut und mit ihrer vergleicht, und mir ist klar, dass sie sich fragt, wie es wohl wäre, ausnahmsweise mal kein Null-Komma-fünf-Waisenkind, sondern einfach wie alle anderen zu sein.

Kiki umklammert die Gitterstäbe, die uns trennen, als ob sie sie auseinanderziehen könnte. Sie ist noch nicht fertig. »Du kannst doch hierher zu mir kommen. Das weißt du. Schwester Eunice würde dich reinlassen. Du bist nicht zu alt. Andere Sechzehnjährige hat sie auch aufgenommen. Die haben hier viele Bücher und ein Klavier und –«

»Schhh.« Ich lege einen Finger auf die Lippen. »Nicht so laut.«

Sie wirft einen Blick über die Schulter in den dunklen Waschraum. Von irgendwoher kommt ein Husten.

»Im Ernst, Tina«, flüstert sie, nachdem sie sich wieder zu mir gedreht hat. »Die können dir ein Stipendium geben, genau wie mir.«

»Ach komm, Kiki, das tun die nie. Aus jeder Familie nur eine, du kennst doch die Regel.«

»Aber –«

»Schluss jetzt«, sage ich scharf. Zu scharf. Sie lässt die Schultern sinken. »Hey.« Ich stecke meine Hand zwischen den Stäben durch und streiche die lockigen Haarsträhnen glatt, die ihren Zöpfen entwischt sind. »Danke fürs Abendessen. Ich muss jetzt los, bin mit Boyboy verabredet.«

»Geh noch nicht, Tina«, bittet sie und drückt ihr Gesicht gegen das Metall.

»Sei brav, okay? Mach deine Hausaufgaben und lass dich nicht von den Pinguinen erwischen, wenn du nachts nicht im Bett bist.«

»Kommst du nächsten Freitag wieder?«, fragt sie.

»Wie immer.«

Vorsichtig schiebe ich Dirty von mir weg und prüfe, ob mein Rucksack fest genug sitzt. Rauskommen ist schwieriger als reinkommen: Auf den Baum lässt sich leicht klettern, aber die hohe Mauer ist knifflig. Ich will nicht am Stacheldraht hängen bleiben oder an den Glasscherben, die in das Zement der Mauerkrone eingelassen sind.

Kiki beobachtet mich immer noch. Ich zwinge mich zu einem Grinsen. Einen Moment lang regt sich nichts in ihrem Gesicht, dann wird ihr Blick weicher und sie lächelt.

Für eine halbe Sekunde gibt es mich doch.

Dann verschwinde ich in der Dunkelheit.

2

Regel 2: Trau keinem. Und wenn es gar nicht anders geht, dann nur so weit wie einem Straßenhund beim Metzger.

Nimm zum Beispiel die Goondas. Dass ich bei denen mitmache, heißt noch lange nicht, dass ich ihnen traue. Bug Eye ist in Ordnung. Ohne ihn wär ich wahrscheinlich nicht mehr am Leben. Aber Typen wie sein Bruder Ketchup?

In Sangui City sind die Goondas überall. Sie lesen Flüchtlingskinder auf wie der Straßenhund Flöhe. Mein Leben wäre einfacher, wenn ich bei ihnen in der Lagerhalle wohnen würde, aber dann würde sich nachts garantiert irgendwer an mich ranmachen und am Ende ginge es mir wie Sheika, die mit ihren Kleinen auf dem Gehweg hockt und die Leute um Münzen anbettelt. Die meisten Mädchen machen es nicht lange bei den Goondas. Aber ich bin nicht wie die.

 

Ich laufe durch die dunklen Gassen. Den Weg von Kikis Schule zum Lagerhaus der Goondas kenne ich so gut, dass ich ihn sogar blind finden würde. Aber ich halte die Augen offen. Wenn du als Mädchen nach Einbruch der Dunkelheit alleine unterwegs bist, bist du Beute. Ich versuche, möglichst unauffällig zu sein. Mein Gesicht verstecke ich unter der Kapuze von meinem Hoodie und meine Klamotten sind absichtlich formlos. Die Haare schneide ich mir immer kurz. Dass ich dünn bin und wenig Busen habe, hilft auch.

Ich weiche Schlamm und Abfall aus, der in grauen Pfützen vor sich hin rottet. Der Himmel wirft die Lichter der Stadt als einen rosa Schein zurück. Das reicht, damit ich mich zurechtfinde. Die Straßenhändler auf der Biashara Avenue haben ihre Sachen zusammengepackt und sind zum Schlafen heimgegangen. Nur die Gestalten der Nacht sind noch da: Betrunkene und ruhelose Prostituierte, ins Neonlicht der Bars getaucht. Die Mädels vom Strich beäugen mich von ihrer Straßenseite aus misstrauisch. Ich ignoriere sie und laufe schnell weiter, bis ich zur Brücke komme – sie verbindet Old Sangui Town, wo Kikis Schule liegt, mit der Industriegegend, wo die Goondas abhängen. Die Lichter der Lagerhallen und Fabriken spiegeln sich im Wasser, der Fluss sieht aus wie ein magisches Band, das Neues und Altes trennt.

Einmal habe ich von der Brücke aus eine Leiche unten im Fluss schwimmen sehen. Das war mitten in der Nacht, keiner außer mir hat es mitgekriegt. Wahrscheinlich ist sie immer weitergetrieben, bis ein Krokodil sie geschnappt hat. Vielleicht hat sie es auch bis zu den Mangroven im Delta geschafft oder sogar bis ins Meer, falls da noch was von ihr übrig war. Heute gibt es keine Leichen, nur ein paar Dhaus, die in der Strömung ankern, mit schlafenden Fischern im Schiffsrumpf.

Auf der anderen Seite falle ich in einen Laufschritt. Die Gegend hier ist still; keine Bars weit und breit. Ich höre nur das Schrillen von Alarmanlagen in der Ferne und das Knurren von Hunden, die um Essensabfälle kämpfen. Sie heben nicht mal die Köpfe, als ich vorbeihusche. Ich muss nicht erst auf mein Handy gucken, um zu wissen, dass ich zu spät bin. Diese verfluchte Schwester Gladys und ihre Fernsehsucht. Ich hätte Kiki heute nicht besuchen sollen. Die Zeit war zu knapp. Aber ich gehe freitags immer hin; wenn ich nicht gekommen wäre, hätte sie sich Sorgen gemacht.

Außerdem wollte ich sie auf jeden Fall sehen, bevor ich das tue, was jetzt ansteht.

Als ich die salzverkrustete Lagerhaustür endlich erreiche, bin ich außer Atem und habe schon wieder Hunger. Ich klopfe dreimal. Pause. Zweimal. Pause. Einmal.

Ein Guckloch öffnet sich. Dahinter erscheint ein finster dreinblickendes Auge.

»Tiny Girl«, erkläre ich.

Die Wache öffnet die Tür.

Drinnen wartet Boyboy auf mich. »Du kommst spät«, sagt er. Er hat die dürren Arme vor der Brust verschränkt und wirft mir einen gereizten Blick zu. Ich mustere sein pinkes, durchscheinendes Shirt und die geschminkten Augen.

»Du solltest doch was Schwarzes anziehen«, schimpfe ich, als ob die Goondas nicht schon genug auf ihm herumhacken würden. »Lass uns gehen.«

Er folgt mir den Gang entlang zu Bug Eyes Büro. Ich sehe die Goondas nicht, höre sie aber durch die Wände. Sie hängen ab, dröhnen sich zu, gucken Fußball, warten, dass irgendwer sie zu einem Job losschickt. Vielleicht trainieren manche auch im Kraftraum, dreschen auf Autoreifen ein oder wuchten Betonblöcke, aber darauf würde ich nicht wetten.

Eine weitere Wache tritt zur Seite, damit wir zu Bug Eye können. Als ich die Tür öffne, sind da Bug Eye und Ketchup. Über den Tisch gebeugt betrachten sie Pläne und Straßenkarten. Wegen der Hitze haben sie die Ärmel hochgekrempelt und die Tattoos auf Bug Eyes Armen zucken, während er hektisch mit dem Finger auf dem Papier herumfährt. Sie gehen den Plan ein letztes Mal durch. Gute Idee. Bug Eye hat in dieser Familie nämlich allen Verstand gepachtet – sein Bruder Ketchup hat so viel Hirn wie ein Haufen Steine in einem Sack. Wir sind schon öfter zusammen irgendwo eingestiegen, aber noch nie ging es um so viel wie dieses Mal. Dass Ketchup bei dem Job mitmacht, passt mir nicht. Er reißt dauernd dumme Schwulenwitze, die Boyboy aus der Bahn werfen. Auch sonst kann ich den Kerl nicht ausstehen. Und da soll ich mich ausgerechnet auf ihn verlassen? Aber mit so was kann man Bug Eye nicht kommen. Wenn Bug Eye was macht, dann ist sein kleiner Bruder dabei und fertig.

Keiner käme auf die Idee, dass die beiden verwandt sind. Bug Eye ist älter, Mitte zwanzig vielleicht. Er hat Muskeln und breite Schultern, ein ernstes Gesicht und Augen, die sich in deine dreckige kleine Seele bohren und dich bei jeder Lüge erwischen. Viele sagen, er sieht wie Jay Z aus. Ketchup dagegen ist dürr und wirkt viel jünger als achtzehn. Er hat ein schmales Gesicht und lacht wie eine Hyäne. Über ihn sagen die Leute, dass er wie ein verhungertes Wiesel aussieht.

Auf dem Boden neben den beiden stehen zwei Reisetaschen voll mit Zeug: Laptops, dunkle Hoodies, Kabel, Klebeband, Kartoffelchips, Energydrinks. Was man so braucht.

Ich trete näher und spähe über ihre Schultern.

»Hier kommen wir an«, erklärt Bug Eye. Er tippt auf den Plan und mustert mich mit starrem Blick – sein Markenzeichen, mit dem er alle auf Kurs hält. Ich nicke und er guckt wieder auf den Plan. »Was kommt dann, Ketchup?«

»Scheiße, das haben wir doch schon hundert Mal durchgekaut. Tiny Girl steigt aus, wir cruisen um den Block und parken möglichst genau hier.« Er fuhrwerkt mit dem Finger auf der Karte rum.

»Und was tun wir beim Warten?«

Ketchup lacht dreckig und macht eine obszöne Handbewegung. Er schaut mich an, ob ich rot werde. Tu ich nicht.

Bug Eye klatscht ihm eine auf den Hinterkopf. »Werd erwachsen, Mann«, sagt er, ohne von den Plänen aufzuschauen.

Ketchup reibt sich den Kopf und schmollt, protestiert aber nicht. Sogar er weiß, dass man sich besser nicht mit Bug Eye anlegt.

»Okay, Boyboy bleibt bei mir im Transporter und macht sein Computerzeug«, fährt Bug Eye fort.

Boyboy hat die Arme fest vor der Brust verschränkt und bleibt vor lauter Respekt lieber auf Abstand. Er sagt nichts. Er ist kein Goonda.

»Und du stehst Schmiere«, erklärt Bug Eye seinem Bruder.

»Aber was treibst du, alter Klugscheißer?«, kontert Ketchup.

»Ich sag dir, wo’s langgeht«, antwortet Bug Eye ruhig, »und halte Mr Omoko auf dem Laufenden. Bleibt noch Tiny Girl. Du weißt, wo du hinmusst?«

Alle drei sehen mich an.

Ich hebe das Kinn. »Ja.«

Bug Eye ruckt kurz mit dem Kopf in Richtung der Pläne. Das ist eine Aufforderung, also trete ich näher. Ich greife zwischen den Schultern von Ketchup und Bug Eye durch und pflanze meinen Finger auf die Straße vor dem Anwesen. Ich fahre mit ihm über den Elektrozaun, durch Wände, die fast einen halben Meter dick sind, an Laserscannern vorbei und über stille, mit Teppichen ausgelegte Gänge, zwischen lauter hingekritzelten Notizen hindurch: Wachposten, Kamera, Hunde. Tief im Innern des Gebäudes macht der Finger halt.

»Hierhin.«

3

Regel 3: Diebe haben keine Freunde.

Jeder Dieb hat eine Mutter, manche mit ein bisschen Glück sogar eine kleine Schwester, dagegen lässt sich nichts machen. Es ist auch okay, Leute wie Boyboys Mom zu haben, bei der ich jeden Tag auf dem Heimweg vorbeischaue. Das fällt unter Vertrautsein mit deiner Gegend. Sie verkauft Tee an der Straßenecke und sagt mir, ob sich irgendwo Polizei herumtreibt. Dafür passe ich auf, dass die Goondas ihren Jungen nicht zu hart anfassen. Bekannte darfst du haben. Aber Freunde, also Leute, die dir wichtig sind und denen du wichtig bist … Die bringst du bloß in Schwierigkeiten.

 

Bevor irgendwer Fragen stellt: Boyboy ist kein Freund.

Er ist mein Geschäftspartner. Ein großer Unterschied. Er kommt auch aus dem Kongo, also muss ich ihm bestimmte Dinge nicht erklären, über die ich lieber nicht rede – wo meine Familie ist, wieso ich nicht richtig schlafen kann, warum mich Männer in Uniform nervös machen. Manchmal kommt er zu mir aufs Dach, wir rauchen eine zusammen und schauen zu, wie die Sonne in den ewigen Smog der Stadt taucht. Das ist alles. Boyboy hat seine Jungs und ich habe Kiki. Mag sein, dass das traurig klingt, aber für mich ist es okay. Außerdem habe ich keine Zeit für Freunde. Es gibt Dinge, die ich tun muss.

 

Wir fahren in einem Blumentransporter hin. Ketchup ist am Steuer und Bug Eye schreit ihn dauernd an, er soll langsamer fahren und auf die Straße achten. Es ist zwei Uhr morgens und die Bullen würden uns wohl eher hochnehmen und Geld abgreifen, als sich darum zu kümmern, dass wir bei Rot über die Ampel fahren. Aber trotzdem ist es besser, wenn sich später keiner an einen Transporter mit schwarz angezogenen Kids erinnert, die garantiert keine Blumenhändler sind. Je näher wir kommen, desto mehr juckt es mich, endlich mit dem Job loszulegen. Ketchups pausenloses Quatschen macht mich nervös. Er lacht sein Hyänenlachen und sagt eklige Sachen über die Mädels an den Straßenecken, an denen wir vorbeifahren.

Boyboy und ich sitzen still hinten im Wagen und bereiten uns vor. Ich befestige mein Headset und prüfe die Bluetooth-Verbindung zum Handy.

»Lass mal sehen, wie die Kamera überträgt«, sagt Boyboy.

Indem ich ihn anschaue, richte ich die Minikamera im Ohrhörer auf ihn. Sein Gesicht erscheint auf dem Laptop-Bildschirm. »Gut.« Er betrachtet sich selbst, wie er sich die Haare in Form drückt. »Mikroprobe? Sag irgendwas.«

Ich flüstere: »Boyboys Styling ist beschissen«, und der Ohrhörer überträgt meine Worte erst auf mein Telefon, dann auf Boyboys Computer, von wo aus meine Worte nachhallen.

Boyboy zeigt mir gelassen den Finger und regelt gleichzeitig irgendwas an seinem Equipment. »Kannst du mich gut genug hören?«

»Ja«, sage ich. »Alles klar und deutlich.«

»Das Handy muss nah beim Headset sein. Beim letzten Job hattest du’s in der Hosentasche, da war die Verbindung furchtbar. Wo tust du’s dieses Mal hin?«

Ich schiebe das Telefon in meinen Sport-BH und wedele mit den Händen – tada.

»Wie süß.«

»Vor allem sicher.«

»Steck das hier in deine Tasche«, sagt er und reicht mir einen winzigen USB-Adapter. »Das ist der Schlüssel zur Schatzkiste – der soll nicht zwischen deinen Möpsen verschwinden.«

»Ha.« Ich habe kaum mehr Busen als meine elfjährige Schwester. Aber ich tue, was er sagt.

Boyboy ist irre gut mit diesem Technik-Kram. Das war er schon immer, seit ich ihn kenne. Er hat mir mal erzählt, dass die großen Jungs ihn als Kind dauernd Schwuchtel genannt und verdroschen haben, also ist er lieber in seinem Zimmer geblieben und hat Handys und Computer zerlegt und wieder zusammengebaut. Neuerdings hackt er sogar Geldautomaten und bringt sie dazu, funkelnagelneue Tausend-Schilling-Scheine auszuspucken. Gar kein Problem für ihn.

Richtig einsteigen bei den Goondas will er nicht, aber mit mir arbeitet er schon. Wenn ich ihn brauche, spielt er das IT-Genie für mich. Dafür klaue ich ihm alle raffinierten Sachen, die er so braucht – Computer, Handys oder auch mal eine Designer-Handtasche. Er sagt, er wäre der beste Hacker in Ostafrika, und soweit ich es mitkriege, stimmt das auch.

Gut so. Er soll uns nämlich gleich den Weg in das bestgesicherte Haus am ganzen Ring freimachen.

 

Am Ring wohnen alle, die es sich leisten können. Üppig, hügelig und grün liegt er oberhalb von Sangui City – wer hier lebt, kann genüsslich auf uns da unten herabgucken. Die Häuser stehen breit und groß auf sorgfältig getrimmten Rasenflächen, hinter Flammenbäumen, Zäunen und Stacheldraht, geschützt von Hunden und von Wachleuten, die mit AK-47s bewaffnet sind und früher beim Militär waren. Ganze Mercedes-Flotten bringen die großen Männer aus diesen Häusern morgens zur Arbeit runter in die Stadt. Wir nennen solche Typen WaBenzi: die vom Mercedes-Benz-Stamm. Es gibt sie in jeder Größe, Statur und Hautfarbe, sie kommen von überall auf der Welt, aber alle sprechen dieselbe Sprache: Geld. Wenn sie abends in ihre Villen oben am Ring zurückkehren, schimpfen sie über den Verkehr, trinken importierten Whiskey und legen sich früh schlafen in ihre Betten mit den weichen Baumwolllaken. Ihre Frauen führen kleine Armeen von Hauspersonal an und sind so zart besaitet, dass sie von der afrikanischen Sonne Kopfschmerzen kriegen. Ihre Kinder spielen Tennis. Ihre Hunde haben Therapeuten.

Um diese Zeit in der Nacht ist es still am Ring, nur Frösche und Insekten sind zu hören. Hier oben hat es geregnet, die Gegend ist in dichten Dunst gehüllt. Die gruselig vertrauten baumbestandenen Straßen, durch die wir fahren, sind leer. Ein Blumentransporter fällt hier nicht besonders auf. Vielleicht kommen wir ja von einem Bankett oder einer Mega-Hochzeit.

Ich schaue aus dem Fenster. Wir fahren gerade an einer Lücke zwischen den Häusern vorbei und ich erhasche einen Blick auf den Indischen Ozean. Sangui: Stadtstaat auf einem Hügel, Hafen zur Welt und ein verdammt guter Ort, um Geschäfte zu machen. Die Drecksarbeit erledigen diese Typen unten in der Stadt und abends ziehen sie sich zurück auf den Ring.

Ich muss es ja wissen. Ich habe das alles aus der Nähe gesehen. Auch wenn ich jetzt unten im Schmutz lebe – es gab eine Zeit, in der eine Festung am Ring mein Zuhause war.

 

Regel 4: Wähl dein Ziel sorgfältig aus.

Thief

Kauzi

Thegi

Voleur

Mwizi

Alle Wörter für Dieb sind magisch. Sie haben Macht.

Sie auf offener Straße laut auszusprechen, kann Leute das Leben kosten. Ich habe das erlebt. Die Polizei taugt nichts, also neigt man hier dazu, das Recht selbst in die Hand zu nehmen. Und es braucht keiner zu glauben, dass der Dieb irgendwem leidtut, wenn sich der Staub legt und sein Blut in den Boden sickert. Also musst du sichergehen, dass keiner mit dem Finger auf dich zeigt.

Sperr die Ohren auf. Triff eine gute Entscheidung. Wähl das richtige Ziel. Und das ist fast immer das einfache Ziel. Wenn du als Taschendieb unterwegs bist, such Besoffene aus oder Leute, die sich am Handy mit irgendwem streiten. Wenn du irgendwo einbrechen willst, nimm das Haus, wo der Schlüssel oben auf dem Türrahmen liegt. Und wenn du ein Bankkonto leer räumen willst? Versuch’s bei einer reichen alten Lady. Wahrscheinlich hat sie den Namen ihres Hundes als Passwort.

Du hast viel Auswahl. Da wäre es unsinnig, sich das Leben schwer zu machen.

Doch zu jeder Regel gibt es eine Ausnahme.

Das Anwesen von Roland Greyhill ist kein Ziel, das sich anbietet. Seine Tore sind gut verschlossen, alles ist bewacht. Der Mann macht Geschäfte mit Warlords und Armeen und verschiebt dabei Unmengen von Geld. Er weiß, dass er Feinde hat. Er passt schon seit Jahren auf sich auf und vertraut keinem. Nichts an ihm ist einfach.

Aber egal, ob einfach oder schwer: Heute ist er das richtige Ziel.

 

Wir sind fast da. Ich schlucke die Beklommenheit in meiner Kehle weg und lasse das Fenster ein Stück weit herunter. Die Luft ist feucht und riecht nach Jasmin.

Boyboy neben mir ist still. Ich weiß, dass er mich gern fragen würde, wie es mir geht. Alle sind heute den Plan innerlich immer wieder durchgegangen, aber ich denke schon seit Jahren über ihn nach. Ich bezweifle, ob ich überhaupt beschreiben könnte, wie es mir im Moment geht. Als ob ich einen Schwarm Bienen verschluckt hätte? Ist das ein Gefühl?

Doch Boyboy weiß, dass er mir besser keine dummen Fragen stellt.

Als nur noch zwei Häuser zwischen uns und dem Ziel liegen, macht Ketchup die Scheinwerfer aus und lässt den Wagen weiterrollen, bis er von selbst stehen bleibt.

»Wir sind da, Mr Omoko«, sagt Bug Eye in sein Handy.

Im Vergleich zu den anderen Häusern in der Straße ist dieses Anwesen locker doppelt so groß. Nur die roten Dachziegel ragen über die hohen Mauern. Was wir nicht sehen, das sind die Wachen – ein halbes Dutzend, jede mit einer AK-47 bewaffnet – und die beiden Schäferhunde, die sich auf dem Grundstück herumtreiben. Aber wir wissen, dass sie da sind.

Wir alle betrachten das Anwesen, in Totenstille. Sogar Ketchup hält die Klappe.

Bug Eye reibt sich die Hände. »Bist du bereit, Tiny Girl?«

Ich fasse mir ans Ohr. Das Headset sitzt sicher. Ich bewege die Schultern und lockere meinen Rücken. Ich muss mich beherrschen, um nicht laut loszubrüllen: Ich bin hier. Ich zieh’s durch. Das ist mein Haus.

»Bereit«, sage ich und schlüpfe aus dem Wagen.

4

Regel 5: Du brauchst einen Plan.

Einen verdammt guten Plan. Mach ihn so einfach wie möglich. Überleg dir alle Details. Präg ihn dir ein. Sieh zu, dass du ihn in- und auswendig kennst, damit du nicht versteinerst, wenn du vor dem Haus stehst, in das du einbrechen willst, mit den Goondas im Nacken.

Mein Plan hat drei Teile: Schmutz. Geld. Blut.

Er ist gut.

Heute geht es los mit Schmutz.

Ich habe lange und gründlich über diesen Plan nachgedacht, ihn immer wieder aus allen Blickwinkeln unter die Lupe genommen. Ich bin gewissenhaft gewesen. Ich habe versucht, alles zu berücksichtigen.

Aber egal wie gut dein Plan ist, du musst immer darauf gefasst sein, dass er dir unterwegs noch um die Ohren fliegen kann. Werkzeug geht kaputt. Dienstboten wachen auf. Hunde bellen. Ein wirklich guter Dieb hat den Mumm, das Ding auch dann noch mit kühlem Kopf durchzuziehen, und kriegt am Ende mit ein bisschen jua kali trotzdem alles hin.

Genau. Du musst immer bereit sein zu improvisieren, wenn du anders nicht weiterkommst.

 

Boyboy macht den Start. Während ich mit Ketchup zu dem Anwesen schleiche, hackt er sich in das Überwachungssystem. Er schaltet den Elektrozaun ab und blockiert die Kamera-Feeds am Kontrollhäuschen. Dann leitet er die restlichen Feeds so auf seinen Computer um, dass er den weiten Greyhill-Rasen gleich mehrfach im Blick hat. Als Nächstes dreht er den Alarm an den Erdgeschossfenstern ab. Er kann das System etwa drei Minuten lang offline halten, schätzt er, danach bringt die Security wieder alles zum Laufen. Bis dahin bin ich drin und er schickt einen Loop auf die Innenkameras, damit jeder, der hinguckt, bloß ein schönes leeres Haus sieht. In der Regenzeit fällt öfter mal der Strom aus, also werden die Security-Typen denken, Mutter Natur wäre schuld an der Störung. Ich muss nur schnell genug sein.

Ketchup und ich ziehen eine Holzleiter aus den Büschen, die ein fest angestellter Gärtner aus einem der Nachbarhäuser am Nachmittag versteckt hat. Dann klettere ich im Schatten der Jacarandabäume, die am Straßenrand stehen, bis hoch auf die Mauer. Kinderspiel. Oben lausche ich, ob Strom im Klingendraht surrt. Ich höre nichts, trotzdem tippe ich ihn sicherheitshalber erst mal mit dem kleinen Finger an.

»Traust du mir nicht?«, beschwert sich Boyboy durch den Ohrhörer.

Ich gebe keine Antwort, bin voll darauf konzentriert, mich über die Mauerkrone zu hieven.

Als Kind habe ich ein paar Jahre lang Gymnastikunterricht gehabt, bis Mama meinte, wir sollten keine Almosen mehr annehmen. Keine Ahnung, ob das der Grund ist oder eher die Tatsache, dass ich so klein bin, jedenfalls ist es für mich überhaupt kein Problem, auf einer vier Meter hohen Mauer über Klingendraht zu klettern. Manche Leute kennen sich mit Computern aus. Andere können gut singen. Ich habe ein Talent zum Stehlen.

Vorsichtig lasse ich mich an der Wand herunter und springe ab. Als ich unten in den Büschen lande, gibt es einen dumpfen Schlag. Versteckt zwischen tropfenden Palmblättern, warte ich, bis ich den Wagen starten und wegfahren höre. Bug Eye, Ketchup und Boyboy werden ein Stück weiter weg parken, damit niemand Verdacht schöpft.

Boyboys Stimme flüstert: »Okay, die Hunde sind auf der anderen Seite, aber ein paar Typen kommen in deine Richtung.«

Ich höre das Geräusch von Schritten im nassen Gras, gleich darauf zuckeln zwei Wachmänner heran, auf ihrer Routine-Runde. Ich tauche tief in die Dunkelheit, atme flach und spanne die Muskeln an, um mich tiefer im Laub zu verstecken, falls sie noch näher kommen, aber die beiden laufen ahnungslos weiter. Als sie um die Ecke sind, werfe ich einen letzten Blick über das Gelände und husche zum Haus. Für den Rest habe ich noch zwei Minuten.

Das Fenster über dem Generator steht wie erwartet einen Spaltbreit offen, aber es ist mit Eisenstreben gesichert. Das wird echt knapp. Gut, dass ein Hefebrötchen mein ganzes Abendessen war.

Ich klettere auf den Generator und lege die Hand an die Gitterstäbe, messe den Abstand. Von Ohr zu Ohr passt mein Kopf gerade eben durch. Das reicht. Wenn ich den Kopf durchkriege, geht der Rest auch.

Ich halte mich nicht groß auf; wahrscheinlich bleiben mir nur noch circa neunzig Sekunden. Ich öffne das Fenster so weit, wie es geht, schiebe erst ein Bein nach drinnen, dann die Hüften. Dann atme ich aus und zwänge den Oberkörper zwischen den kalten Gitterstreben durch – dabei kriege ich wie jedes Mal kurz Platzangst –, dann schlüpft mein Kopf hinterher und schon bin ich drin.

Leise komme ich auf dem Boden auf und nehme mir kurz Zeit, um mich zu orientieren. Ich bin an der Ecke im Gang. Vorne ist das Wohnzimmer und dahinter glitzert das türkisblaue Licht des Pools. Nach so langer Zeit wieder hier zu sein ist wie ein Traum. Ich atme tief durch und schleiche los. Eigentlich kann keiner im Haus sein. Mr und Mrs Greyhill sind in Dubai. Die Kinder gehen sowieso aufs Internat, in einem kalten, neutralen Land weit weg von hier. Die Dienstboten schlafen in ihren Hütten ganz hinten im Hof.

Nur ich bin da, und die Geister.

In meinem Ohrhörer knistert Boyboys Stimme. »Mach schon, Tina, du hast nur noch fünfundvierzig Sekunden oder so. Und eben hat dich die Wache fast erwischt, dein Arsch hing noch halb aus dem Fenster.«

Am liebsten würde ich ihn anschnauzen, er soll die Klappe halten, aber ich beherrsche mich und schleiche vorsichtig weiter. Am Ende des Gangs blinzele ich um die Ecke. Das Wohnzimmer liegt leer und still da. Die Kontrolleinheit, zu der ich will, ist an der Wand direkt gegenüber angebracht. Dort angekommen, sehe ich auf dem Bildschirm, dass in zweiunddreißig Sekunden die Laserscanner wieder aktiviert werden. Sie tasten alle Räume ab, und wenn sie mich erwischen, löst das sofort einen stillen Alarm aus. Er landet bei den Wachen, die daraufhin einen superteuren und supereffizienten Sicherheitsdienst anrufen, der lauter Ex-Geheimdienstler aus Südafrika beschäftigt. Die sind innerhalb von Minuten da. Egal, wen sie erwischen, sie schalten die Polizei gar nicht erst ein – die würde Eindringlinge nämlich nur wieder freilassen, wenn sie entsprechend zahlen. Nein, die bringen dich im Helikopter raus aufs Meer. Und was tun sie dann? Sagen wir mal so: Zurückschwimmen dauert ziemlich lange.

Dreißig Sekunden.

Ich richte den Blick auf den Bildschirm und hoffe, dass die Kamera alles richtig überträgt. »Und? Siehst du’s?«

»Ja. Heb den Kopf. Okay.« Es gibt eine Pause, in der Boyboy hoffentlich irgendwas Nützliches tut. Am liebsten würde ich ihn anschreien, dass er sich beeilen soll. Er muss die Laser ausschalten, kann sich dort aber nicht reinhacken, es ist ein geschlossenes System. Stattdessen muss er mir erklären, wie ich das Ganze runterfahren kann.

Und zwar innerhalb von fünfundzwanzig Sekunden.

»Das ist ein TX-400. Neues Modell«, sagt Boyboy nach einer Ewigkeit. Dann rattert er Anweisungen runter. »Drück auf Alarm. Dann auf Code. Vier, acht, vier. Copy. Program …«

Boyboy schleust mich durch, flüstert mir Zahlenreihen ins Ohr und nennt Schaltflächen, auf die ich drücken soll. Das Ganze erinnert mich an die Gebete, bei denen ich immer fast eingeschlafen bin, wenn Mama mich in die Kirche geschleppt hat. Es lullt einen irgendwie ein. Trotzdem zittern meine Finger. Wenn es doch bloß schneller ginge. Vier Sekunden. Er gibt mir eine letzte Folge von Zahlen durch und ich tippe sie ein. Der Timer bleibt stehen. Noch eine Sekunde.

Ich atme aus.

»Alles klar«, sagt er.

Ich bin schon in Bewegung. Da lang, zur Haupttreppe. Die Stufen hoch, dann den Flur entlang und nach links. Ich muss mich nicht anstrengen, um leise zu sein. Der dicke Teppich schluckt meine Schritte. Ich schleiche durch die Gänge und lausche angestrengt. Kurz glaube ich ein Geräusch wahrzunehmen und erstarre. Durch das Ohrteil höre ich das Klackern von Boyboys Fingern auf der Laptop-Tastatur. Ich ziehe das Ding vom Ohr weg und lausche weiter. Stille, mehrere Sekunden lang, also befestige ich es wieder und gehe weiter.

An den Flurwänden hängen lauter Familienfotos. Als Erstes fällt einem zwangsläufig auf, dass er weiß ist und sie Kenianerin. Die beiden Kinder sind eine perfekte Mischung aus beidem. Der Junge ist in meinem Alter, das Mädchen ungefähr so alt wie Kiki. Als Zweites sieht man den penetranten Reichtum, den sie ausstrahlen. Mrs Greyhill stammt aus einer Familie von Immobilien-Mogulen und Mr Greyhill verdient mit den Bergwerken auch nicht schlecht. Sie tummeln sich in frisch gebügelten, korallenroten Button-down-Hemden auf Jachten oder lächeln auf Luxussafaris in der Serengeti von bulligen Geländewagen. Goldene Uhren, Perlenketten, Diamanten an den Ohrläppchen und am Handgelenk. Sie passen perfekt in diese Küstenstadt mit ihren gemischten Hautfarben und Nationalitäten und sind so reich, wie diese Stadt sein will.

Aber das ist nichts Neues für mich. Ich habe keine Zeit dafür.

Ich bin auf der Jagd.

Ich biege um eine Ecke und auf einmal ist es stockfinster. Die Luft wirkt kühl und trocken, typisch Klimaanlage. Ich bin fast da. Hier hängen keine Fotos mehr an den Wänden, es gibt nur eine dunkle Holzverkleidung. Je weiter ich vordringe, desto mehr knistert es in meinem Ohrhörer. Hoffentlich ist der Transporter nicht zu weit weg. Noch eine Ecke. Windung um Windung schraube ich mich in das Anwesen hinein, bis in sein totes Herz.

Dann bin ich da.

Ich starre die schwere Ebenholztür an, mein Brustkorb hebt und senkt sich schnell. Ich versuche meinen Atem zu beruhigen. Meine Handflächen jucken vor lauter Schweiß. Auf diesen Moment habe ich praktisch mein ganzes Leben lang gewartet. Es ist, als ob tausend Ameisen auf meiner Haut krabbeln.

Meine Hände zittern, als ich die Tür zu öffnen versuche, dabei weiß ich sowieso, dass sie abgeschlossen sein wird. Aber das macht nichts. Ich ziehe mir zwei Klammern aus den Haaren und biege sie zurecht. Sobald ich mich an die Arbeit mache, hört das Zittern auf. Mit den Zähnen reiße ich bei einer Klemme das Plastikende ab, damit ein schöner Pick daraus wird, die andere biege ich zu einem Haken zurecht. Dann stecke ich die abgebogene Seite ins Schloss und spüre nach, wo Spannung drauf ist. Als das Gefühl stimmt, schiebe ich mein kleines Werkzeug darüber. Ich nehme den Ohrhörer zwischen die Zähne, damit ich mich auf das leise Schnappen der Stifte im Schloss konzentrieren kann. Erwartungsgemäß dauert es kaum eine Minute, bis das Schloss aufspringt.

Ich befestige das Ohrteil wieder und schaue den Gang entlang. Eine Sekunde lang bilde ich mir ein, dass da ein Zucken in der Dunkelheit ist, und reiße die Augen auf.

»Mach schon, Tiny«, sagt Bug Eye. Auf einmal seine Stimme im Ohr zu haben ist irgendwie schräg. Anscheinend guckt er Boyboy am Computer über die Schulter.

Ich blinzele, doch in der Dunkelheit rührt sich nichts. Da ist niemand, sage ich mir. Los jetzt. Du vergeudest bloß Zeit.

Als ich drin bin, schließe ich die Tür von innen ab. Wenn es im Gang schon dunkel war, dann ist es hier wie in einem Tintenfass. Draußen könnte strahlendes Mittagslicht herrschen, ohne dass man hier drin etwas davon bemerkt. Es kommt mir wie Mogelei vor, aber ich muss wohl doch das Licht anmachen. Ich prüfe noch mal das Türschloss und drücke dann auf den Lichtschalter. Jetzt ist es auf einmal so hell, dass ich die Augen zukneifen muss.

Der Raum ist kleiner, als ich ihn in Erinnerung hatte. Ein Ledersofa und zwei Sessel vor einem Kamin. Das Sofa ist neu, grün statt hellbraun. Wahrscheinlich waren die Blutflecken auf dem alten nicht mehr wegzukriegen. Über dem Kaminsims hängen ein Büffelkopf und drei Stammesmasken. Sie scheinen mich zu beobachten, während ich mich durch den Raum bewege. Am anderen Ende steht ein wuchtiger Schreibtisch, groß wie ein kleines Rhinozeros, rechts und links daneben sind Bücherregale. Dazwischen hängt auf einem Untergrund aus roter Seide ein Schwert mit goldenem Griff an der Wand. Es sieht aus wie von einem Scheich und ist so aufgehängt, dass es genau über Mr Gs Kopf aufragt, wenn er am Schreibtisch sitzt. Im Vorwärtstappen wird mir klar, dass das kein Zufall ist. Jedem, der im Stuhl gegenüber sitzt, sagt das Schwert: Komm mir in die Quere und du wirst es bereuen.

»Im Schreibtisch«, sagt Ketchup. Ich kann ihn hören, aber die Worte sind ganz zerhackt.

»Ich weiß«, sage ich.

»In der Schublade.«

»Halt die Klappe«, sagt Bug Eye zu Ketchup.

Die Goonda-Brüder und Boyboy sind jetzt still. Trotzdem nehme ich ihre Energie wahr. Ich trete hinter den Tisch und lasse mich im Schreibtischstuhl nieder. Er riecht nach Leder und Tabak. Nach Geld. Einen Moment lang spüre ich die Macht, die Mr G jeden Tag spürt. Ich starre das Sofa an und kann sie fast vor mir sehen, wie sie da sitzt und mich beobachtet.

»Tiny, mach keinen Scheiß«, brummt Bug Eye.

Ich antworte nicht.

»Was tut sie denn?«, will Ketchup wissen.

Ich atme tief durch. Reiß dich zusammen, Tiny Girl. Schmutz, Geld, Blut.

Ich ziehe die oberste Schreibtischschublade auf und hole ein schlankes Notebook heraus. Dann greife ich tiefer hinein. Meine Hand umschließt ein Metallkästchen in der Größe eines Kartenspiels. Ich ziehe es heraus.

»Das ist es«, keucht Boyboy. »Das muss seine Festplatte sein.«

Ketchup brüllt »Volltreffer!« in mein Ohr und Bug Eye sagt ihm noch mal, er soll die Klappe halten.

»Und jetzt?«, frage ich Boyboy.

»Die Festplatte ist wahrscheinlich kabellos. Leg sie neben den Computer, dann steck den USB-Adapter ins Notebook.« Schnell fügt er hinzu: »Aber schalt noch nichts an.«

Ich drücke auf den Ohrhörer, damit ich seine Anweisungen alle richtig mitkriege. Nachdem ich getan habe, was er gesagt hat, höre ich das leise Klacken einer Computertastatur. Viel einfacher wäre es gewesen, Mr Gs externe Festplatte zu stehlen. Rein, raus und fertig. Das hatte ich Bwana Omoko ursprünglich vorgeschlagen. Aber der Goonda-Boss wollte keine Spuren hinterlassen. Er findet es besser, wenn Mr G nicht weiß, dass er beklaut wurde, bis wir zum Geld kommen, dem zweiten Teil des Plans, und es für ihn zu spät ist.

»Klappt es?«, frage ich nach einer langen Pause. Der USB-Adapter soll die Daten vom Computer und der Festplatte auf mein Smartphone übertragen, und von dort weiter zu Boyboy.

»Der Empfang ist katastrophal«, grummelt Boyboy. »Ich hab gleich gesagt, diese dicken Wände sind ein Problem. Bring dein Telefon näher an den Adapter.«

Widerwillig ziehe ich das Handy aus dem BH und lege es auf den Schreibtisch neben den Computer. »Besser?«

»Glaub schon. Einen Fuß in der Tür habe ich, aber da ist so ein verrückter Crypto-Code, den ich erst noch knacken muss.«

Wir warten alle in angespannter Stille, jede Sekunde wirkt wie ein halbes Leben, und irgendwann sagt Boyboy: »Na gut …« Das klingt okay, aber nicht annähernd so selbstsicher, wie ich mir das wünschen würde.

»Bist du drin?«, flüstere ich.

»Gibt nur einen Weg, das rauszukriegen. Schalt an.«

Wenn das hier läuft, wie es soll, haben wir jetzt Zugang zum Notebook und der Festplatte. Wenn aber nicht, muss mir Boyboy Schritt für Schritt erklären, wie ich mich reinhacke. Das würde Ewigkeiten dauern und bei jedem Fehler bestünde die Gefahr, dass eine Auto-Delete-Funktion ausgelöst wird. In Boyboys Worst-Case-Szenario würde die Festplatte dann auf einen Schlag komplett gelöscht und es ginge ein Signal an die Geheimdienst-Truppe raus, damit sie losziehen und mich unschädlich machen.

Mein Herz wummert, als ich den Bildschirm aufklappe. Ich drücke auf den Startknopf. Eine grauenhafte lange Sekunde passiert gar nichts und ich denke schon, es hat nicht funktioniert, ich bin zu weit weg für die Übertragung, der stille Alarm läuft schon, die Wachen schnappen mich gleich. Aber dann sehe ich einen blinkenden Cursor und höre einen glamourösen Startsound.

Aufgeregtes Flüstern erfüllt mein Ohr. Die Festplatte blinkt und fährt hoch.

Boyboy atmet erleichtert auf. »Wir sind drin.«

Auf Greyhills Rechner ist nichts drauf. Boyboy hat schon versucht, sich von draußen reinzuhacken, aber das Ding war praktisch leer. Da hatte er die entscheidende Idee: Mr Greyhill, meinte er, würde wohl alle seine Geschäftsdaten separat speichern, und zwar offline, wahrscheinlich auf einer externen Festplatte wie dieser. Ich grinse das Kästchen an. Kaum zu fassen, dass etwas derart Kleines so viele schmutzige Geheimnisse speichern kann.

Ich lehne mich zurück. Jetzt muss ich nur noch warten. Ich höre Boyboy auf seiner Tastatur herumtippen und schaue zu, wie sich auf dem Computerbildschirm ein Fenster nach dem anderen wie von selbst öffnet.

»Wie lange wird das dauern?«, fragt Bug Eye.

»Ein paar Minuten«, sagt Boyboy.

Ich erlaube mir ein selbstzufriedenes Jubeln. Ich habe uns hier reingebracht. Bald fließt Mr Gs gesamtes Datenmaterial rüber zu Boyboy. Boyboy rechnet damit, dass es danach noch ungefähr eine Woche dauert, bis er alles entschlüsselt hat, aber das ist egal. Ich warte jetzt schon fünf Jahre; da macht mir eine Woche mehr wirklich nichts aus.

Ich ziehe Mr Gs Schreibtischschubladen auf, suche rein aus Gewohnheit nach Wertsachen. Die erste Schublade ist so gut wie leer. Ein paar Stifte, eine Büroklammer, dazu einer von diesen Bällen, die man in der Hand zusammenknautscht, um Stress loszuwerden. Ich öffne die nächste und erstarre.

Auf dem Mahagoniholz liegt eine Pistole, geschmeidig und glänzend wie eine zusammengerollte Schlange. Seitlich auf dem Lauf steht PIETROBERETTAMADEINITALY Nr. II. Ist es die gleiche Waffe? Beinahe greife ich nach ihr, aber dann schließe ich die Schublade so schnell, dass die Pistole gegen die Rückwand kracht. Ich atme tief durch, damit meine Stimme nicht zittrig klingt. »Wie lange dauert’s noch?«

»Keine Hektik«, sagt Boyboy. »Der Empfang ist immer noch scheiße.«

Auf dem Bildschirm flimmern weiter irgendwelche Codes, die ich nicht verstehe, weißes Krickelkrakel auf schwarzem Grund. Ich habe keine Ahnung, was Boyboy da treibt, aber es poppen immer neue Fenster auf, mit jeder Menge Dateien.

Ich will gerade aufstehen und mir ein bisschen Bewegung verschaffen, als mir ein Dateiname ins Auge fällt. Ich blinzle, um zu prüfen, ob ich richtig gelesen habe. Aber die Datei heißt wirklich so: ANJUYVETTE. Auf einmal rast mein Herz. Ich zögere. Ich sollte die Finger vom Computer lassen, solange Boyboy sein Ding durchzieht, das ist mir klar, aber meine Hand bewegt sich wie von selbst.

Als ich ihren Namen anklicke, öffnet sich ein Foto.

»He, was machst du da?« Die Tippgeräusche von Boyboy hören auf. »O mein Gott, ist das …?«

Ich kann nicht antworten. Ich kann mich nicht bewegen. Ich erkenne ihr Gesicht sofort, auch wenn das Bild an die zwanzig Jahre alt sein muss. Vor meinen Augen verschwimmt alles.

Normalerweise hätte ich die Veränderung des Luftdrucks garantiert bemerkt. Ich hätte die Zugluft gespürt oder den leichten Geruch von Erde und Feuchtigkeit wahrgenommen. Ich hätte gehört, wie hinter mir eine Tür aufgeht, obwohl hinter mir gar keine Tür ist. Stattdessen löse ich den Blick erst von dem leuchtenden Bildschirm, als ich hinter mir ein leises, metallisches Klicken höre.

Ich drehe mich nicht um. Dieses Geräusch kenne ich.

Ich kriege eine Gänsehaut, als die kalte Mündung der Waffe meinen Nacken berührt.

5

Ich schlucke. Jetzt bloß keine falsche Bewegung.

»Hände hoch.«

Rasend schnell versuche ich abzuschätzen, was hier läuft. Es ist die Stimme eines Jungen. Eines Jungen, den ich nicht kenne. Nicht Ketchup, nicht Bug Eye. Keiner hintergeht mich. Security? Die Stimme klingt zittrig, so als würde der Typ den Hände-hoch-Befehl bis jetzt nur aus Filmen kennen. Er wirkt zu jung, um Security zu sein. Außerdem wäre ich in dem Fall jetzt schon halb im Helikopter. Ich werfe einen Blick auf die Schublade mit Greyhills Pistole, aber es ist unmöglich, sie schnell genug rauszuziehen und auf den Jungen zu richten.

»Ich drehe mich jetzt um.« Ich strenge mich an, möglichst ruhig und selbstbewusst zu klingen.

Die Waffe löst sich von meinem Nacken und ich gleite langsam auf dem Stuhl herum. Der Atem des Jungen geht heftig und die hellen grünen Augen sind weit aufgerissen. Trotzdem zielt er weiter, in der präzisen Haltung eines Soldaten. Auch wenn er noch nie auf einen lebendigen, atmenden Menschen geschossen haben mag – er hat eindeutig Übung. Er weiß, wie er die Waffe halten muss und wie man zielt, und macht den Körper locker, um den Rückstoß abzufangen.

Er steht vor einem der Bücherregale, das sich an Scharnieren bewegt hat. Eine Tür, die nie in den offiziellen Plänen auftauchen würde. Ein Fluchtweg. Ich hätte es wissen müssen. Schlangen haben immer einen.

Ich konzentriere mich wieder auf den Jungen.

Natürlich. Wer soll es denn sonst sein?

»Hallo, Michael«, sage ich. »Ganz schön lange her.«

 

Regel 6 ist sowieso klar: Lass dich nicht erwischen.

 

Ich muss ungefähr neun gewesen sein, da entdeckte mich meine Mutter am Schießstand der Greyhills, wo mir einer der Wachleute zeigte, wie man mitten in die Brust einer Papierfigur trifft. Ich hielt eine Pistole in der Hand, so eine wie in Mr Greyhills Schublade. Jedes Mal, wenn ich auf den Abzug drückte, riss es mich fast von den Füßen. Ich fand das super. Es war, als wäre ein kleines Monster in mir, das bei jedem Krachen vor Begeisterung johlte.

Mama wartete, bis ich die Pistole dem Wachmann zurückgegeben hatte, dann packte sie mich an der Schulter. Ihre Hand bebte. Sie schleppte mich zurück zu den Dienstbotenhütten und erklärte dem Wachmann mit zusammengebissenen Zähnen, sie würde dafür sorgen, dass er rausfliegt oder noch Schlimmeres, wenn er mich jemals wieder in die Nähe einer Waffe ließe. Meine Mutter war klein, aber ihre Wutausbrüche waren berüchtigt und sie vergaß nichts. Den Jungen neben mir, der den Schießunterricht überhaupt erst angezettelt hatte, ließ sie trotzdem in Ruhe. Energisch oder nicht, für ihn war sie nur ein Dienstmädchen.

Ich wartete ein Jahr, bis der Junge gut genug schießen gelernt hatte, um ohne die ständige Anwesenheit eines Wachmanns zu üben. Dann überredete ich ihn, es mir beizubringen.

Und er war wirklich gut, dieser Junge.

Der jetzt eine Pistole auf meine Brust richtet.

 

Meine Begrüßung hat den gewünschten Effekt.

»Ti-Tina?«, stottert er.

Ich nicke langsam und zwinge mich zu einem kleinen Lächeln. Die Zeit hat ihn verändert: Er ist jetzt groß wie sein Vater und hat kräftige Muskeln, die auf den Fotos im Gang nicht zu sehen waren. Ich darf mich auf keinen Fall dadurch ablenken lassen, dass ich die Züge meiner Schwester in ihm suche, in seinem Gesicht, seinen hellen Augen, seiner Lippenform.

Er ist verwirrt, das sehe ich an der tiefen Furche zwischen seinen Augenbrauen. Die Pistole schwankt, als er sie unwillkürlich von meiner Brust wegbewegt, und in dem Moment stürze ich mich auf ihn. Mit einer Hand greife ich nach der Pistole, die andere balle ich zur Faust und ziele damit auf seine Luftröhre. Er keucht und schnappt nach Luft, behält die Pistole aber fest im Griff. Also versuche ich es anders, ich drücke seine Arme weg und schlinge den Fuß um seinen Knöchel, um ihn aus dem Gleichgewicht zu bringen. Er will mich packen, aber ich winde mich aus seinem Griff, robbe rückwärts über den Tisch und schnappe mir dabei mein Handy.

Schneller als gedacht erholt er sich von meiner Attacke und kommt mir über den Schreibtisch hinterher. Ich renne durchs Zimmer und bin schon fast an der Tür, als er die Arme um mich schlingt und wir beide der Länge nach auf den Teppich knallen, die Gesichter auf dem Boden. Das Telefon rutscht mir aus der Hand.

Ich tue alles, um mich freizukämpfen, trete, setze die Ellbogen ein, grabe die Zähne in seine Hand. Ich erwische ihn am Schienbein und bin zufrieden, als er vor Schmerz aufjault. Aber dann reißt er meine Arme zurück und presst mir die Knie in den Nacken. Ich will mich wehren, aber das geht nicht mit diesem Druck auf den Schultern.

»Au! Du tust mir weh!«

Er zögert, lässt aber nicht locker. »Bist du das wirklich? Was machst du hier?«, krächzt er und bekommt einen Hustenanfall.

»Lass mich los!«

»Tina! Hör auf zu kämpfen!« Er hustet weiter, lockert seinen Griff aber nicht.

»Was machst du hier?«, schreie ich.

»Was?« Er wirkt ziemlich irritiert. Kein Wunder, das hier ist schließlich sein Zuhause.

Ich höre auf zu toben, erkläre aber nichts. Mein Gesicht ist halb in den Perserteppich gedrückt, ich sehe verschlungene Muster und sonst gar nichts. Der Ohrhörer drückt gegen meine Brust; ich habe ihn beim Rennen in den BH stopfen können. Ich keuche, meine Arme brennen wie Hölle, aber ich denke nur eins: Wie viele Files hat Boyboy erwischt? Hat die Übertragung geklappt? Reicht es?

»Du solltest nicht hier sein«, sage ich mit zusammengebissenen Zähnen und mehr zu mir selbst als zu ihm. Eigentlich müsste er in seinem Schweizer Edelinternat brav im Bett liegen. Ich habe mich extra vergewissert, dass keine Schulferien sind.

»Was redest du da?« Er packt meine Arme fester. »Wieso soll ich nicht hier sein?«

Mir läuft die Nase, ich wische sie am Teppich ab. »Lass mich hoch.«

Er rührt sich nicht.

»Lass mich hoch und ich erzähl’s dir.«

Ich spüre, wie er zögert, aber dann verlagert er doch das Gewicht und lässt meine Arme los. Langsam richte ich mich auf. Als ich mich zu ihm umdrehe, hat er wieder die Pistole auf meine Brust gerichtet. Ich ziehe mein Shirt zurecht und nutze die Zeit, um zu überlegen, ob ich noch einen Versuch starten soll. Nah genug bin ich, ich könnte mir den Pistolenlauf schnappen, Michael umwerfen und ihm wieder an den Hals gehen, wo ich ihn eben schon erwischt habe. Vielleicht würde das funktionieren. Vielleicht aber auch nicht, denn er ist schnell und rechnet jetzt mit einem Angriff. Also hebe ich stattdessen eine Augenbraue, fixiere die Pistole und gebe alles, um so selbstsicher und kontrolliert wie möglich zu wirken, auch wenn ich mich nicht so fühle. »Kannst du das Ding runtertun?«

Die Pistole bewegt sich nicht. »Ich werde dich nicht umbringen«, sagt er nach einer Weile. »Aber in die Beine schießen schon.«

Seinem Gesicht ist anzusehen, dass das keine Lüge ist. Er würde mir wirklich eine Kugel verpassen. Ich bin also nicht die Einzige, die sich verändert hat, seit wir uns vor fünf Jahren zuletzt gesehen haben. Sein Schweizer Internat habe ich mir immer watteweich vorgestellt, aber vielleicht haben ihn seine Eltern ja in so eine Militärakademie gesteckt. Das würde auch die Muskeln erklären. Und wenn das wirklich der Fall ist, könnte er jeden schmutzigen Trick parieren, der mir einfällt. Mein Repertoire beim Kämpfen ist ziemlich beschränkt: Ich bringe meine Gegner aus dem Gleichgewicht und ziele auf die Stellen, wo es den größten Effekt hat: Nase, Hals, Knie, Eier. Das ist fies, aber es funktioniert. Und Bug Eye hat beim Training immer gesagt, dass Kämpfen sowieso überbewertet wird.

Während wir dastehen, checkt mich Michael genauso ab wie ich ihn. Sein Blick wandert an mir herunter und wieder nach oben, er betrachtet mein Gesicht und meine Tattoos. Ich ziehe ein grimmiges Gesicht und merke, wie mein Selbstvertrauen zunimmt, als er rot wird.

»Ich setz mich jetzt hin«, verkünde ich.

Ohne seine Antwort abzuwarten, lasse ich mich auf einem Ledersessel nieder. Ich behalte ihn genau im Blick und glaube nicht, dass er merkt, wie ich dabei mein Handy unter den Sessel kicke. Ob die Goondas mich über das Ohrteil wohl immer noch hören? Und ob Boyboy noch mehr Dateien runterladen kann? Wie lange dauert es noch, bis sie den Transporter umstellen müssen? Einmal pro Stunde kommt hier ein Wachdienst durch. Lange kann es nicht mehr sein bis dahin. Dann müssen sie mich hier zurücklassen, ein bisschen in der Gegend herumfahren und später zurückkehren.

»Wie bist du überhaupt hier reingekommen?« Michael tritt hinter den Schreibtisch seines Vaters und zielt dabei mit der Pistole weiter auf meine Brust. Mit großen Augen schaut er vom Computer zu mir und wieder zurück.

Ich halte die Luft an. Hoffentlich verrät ihm der Bildschirm nicht, was ich hier getrieben habe.

»Bist du verrückt geworden?«, fragt er. »Du warst an Dads Notebook? Weißt du nicht, was er Leuten antut, die sich an seinen Sachen vergreifen?«

Und in dem Moment, als er dasteht und mich mit weit aufgerissenen Augen mustert, erkenne ich ihn, den Freund von früher. Er ist immer noch der kleine Junge, der sich ängstlich und ehrfürchtig am Arbeitszimmer seines Vaters vorbeischleicht, und der seinem Vater hinterherschaut, wenn der zur Arbeit geht, wie ein Hund, der nicht ohne sein Herrchen sein will. Als ich diesen Blick sehe, würde ich ihn am liebsten gleich wieder schlagen. Auf einmal überfluten mich die Erinnerungen: Wir sind sieben, Michael und ich am neonblauen Pool, wir kreischen und lachen und machen Arschbomben. Wir sind neun, der Strom ist ausgefallen und wir lassen bei Kerzenlicht Schattenfiguren an der Küchenwand tanzen. Wir sind zehn und bauen uns im Mangobaum hinten im Hof ein Haus. Als wir auf ein Nest mit kleinen Bülbüls stoßen, schlägt die Mutter wild mit den Flügeln und hackt nach unseren Köpfen, um uns zu verscheuchen.

Eine Erinnerung nach der anderen, als ob sie ganz hinten in meinem Kopf eingesperrt gewesen wären und jetzt hätte jemand die Käfigtür aufgemacht. Ich war die Auserwählte, Michaels beste Freundin. Ich kannte alle seine Geheimnisse und Ängste. Wenn er dabei war, konnte ich überall frei herumstromern; wenn nicht, wurde ich zurück zum Quartier meiner Mutter gescheucht.

Und dann kommen auf einmal alle Erinnerungsbilder zum Stillstand.

Ich bin elf, Michael ist nicht in der Nähe. Da sind nur meine Mutter und ich, ihre weit geöffneten Augen starren an mir vorbei, von ihrem Mundwinkel bis zu ihrem Kinn zieht sich eine feine Linie Blut. Ihre Zöpfe fallen über das Loch in ihrer Brust. Bis ich sie zu Gesicht bekam, war das Leben schon aus ihr herausgeströmt, auf die teuren Möbel in genau diesem Zimmer, in dem wir jetzt sind.

Die ganze Wut, der ganze Schmerz, die ganze Verzweiflung kommen wieder hoch, heiß und rot. Einen Moment lang kann ich nichts mehr sehen.

Er muss wissen, warum ich hier bin, warum mir egal ist, wie wütend sein Dad werden könnte, und warum es mich nicht kümmert, ob mir bei dieser Aktion etwas passiert. Er muss es wissen. Ich balle die Hände zu zitternden Fäusten und starre sie an.

Michael wartet. »Und? Was hast du an seinem Notebook gemacht?«

»Nichts.«

Er zieht den USB-Adapter aus dem Computer und schwenkt ihn in meine Richtung. »Was ist das? Hast du Daten kopiert?«

Als ich schweige, kommt er hinter dem Schreibtisch vor, dann stürzt er sich auf mich, reißt mich hoch auf die Beine und klopft mich von Kopf bis Fuß ab, immer mit der Pistole an meiner Schläfe. Er ist grob und unter seinen Händen fühle ich mich zerbrechlich, aber die Befriedigung, meine Angst zu sehen, gönne ich ihm nicht. Stattdessen beiße ich die Zähne zusammen und starre an ihm vorbei, bis er mein Messer findet und dann auch den Ohrhörer. Er steckt beides ein.

»Gefällt dir das? Mich zu betatschen?«

Ein paar Sekunden lang dehnt sich die Zeit. Wir bewegen uns nicht, stehen nur da, beide in Rage und bereit, uns gegenseitig in Stücke zu reißen, sobald einer den ersten Schritt macht.

»Und jetzt?«, frage ich nach einer Weile. »Lieferst du mich aus?«

Die Frage lässt ihn zusammenzucken. »Shonde«, flucht er.

»Was denn?«, frage ich.

Er reißt den Blick von mir los und schaut zur Tür. »Die Typen von der Security sind gleich hier. Ich hab den Alarm ausgelöst.«

Ich kann nichts dagegen tun, dass meine Knie weich werden und der Hals trocken. Ich muss schlucken, bevor ich wieder sprechen kann. »Die bringen mich um, das weißt du?«

»Und ob ich das weiß.« Er rennt zur Tür des Arbeitszimmers. Während er durch den Türspion späht, hält er die Pistole weiter auf mich gerichtet. Ich nutze die Ablenkung, um mein Telefon unter dem Sessel vorzuholen, und schiebe es mir in den Ärmel.

»Lass uns abhauen«, sagt er. Als er sich umdreht, ist sein Blick hart geworden, ich kann ihn nicht deuten. Er macht das Licht aus, packt meinen Arm und schiebt mich auf die geöffnete Regaltür zu. Erst wehre ich mich, aber dann höre ich etwas. Ein Stampfen. Ein Stampfen, das lauter und lauter wird: Stiefel. Sie sind noch nicht an der Tür, kommen aber schnell näher. Viele Stiefel.

Michael deutet mit der Pistole auf den Tunnel hinter der Tür. »Entweder die oder ich, was ist dir lieber?«

Ich beäuge die dunkle Öffnung in der Wand, und einen Augenblick lang kommt es mir vor, als ob ich in mein Grab schaue. Die Tritte sind jetzt vor dem Arbeitszimmer angekommen. Jemand rüttelt an der Tür. Es dauert nicht mehr lange.

»Ich weiß nicht«, sage ich, stürze mich aber in den Tunnel. Michael drückt das Bücherregal genau in dem Moment hinter uns zu, als draußen der erste Stiefel gegen die Tür rumst, um sie einzutreten.

6

»Nicht zu fassen, was ich da tue«, sagt Michael.

Ich antworte nicht. Ich kann auch nicht fassen, was ich da tue – mich mit ihm in ein unbekanntes Dunkel zu stürzen. Ich mache ein paar tastende Schritte, aber er packt meinen Arm. »Halt. Hier gibt’s Stufen.«

Ein Lichtschalter klackt, dann flackert über unseren Köpfen eine Leuchtstoffröhre an, wie als Auftakt zu einem Horrorfilm. Ihr Licht fällt auf eine Treppe, die steil nach unten in die Tiefe führt. Die Betonwände des Tunnels sind uneben und rau, von der Decke tropft rostiges Wasser und macht Flecken wie von getrocknetem Blut. Michael drückt auf ein paar Knöpfe an einem Screen, der in die Wand eingelassen ist. Als das Ding angeht, sehen wir über eine Livecam, wie die Wachen Mr Gs Arbeitszimmer stürmen. Innerhalb von Sekunden füllen sie den ganzen Raum, mit gezückten Waffen.

Mir stockt der Atem. Nicht wegen den Wachen, sondern weil in dem Raum eine Kamera ist.

Wie festgefroren schaue ich auf den Schirm.

Eine Kamera.

Sie zeichnet alles auf. Aber anders als bei den restlichen Überwachungskameras werden ihre Bilder nicht direkt in die Security-Zentrale übertragen. Genau wie dieser Tunnel taucht sie in keinem Plan und keinem Sicherheits-Dokument auf, in die sich Boyboy reingehackt hat. Seit wann gibt es sie? War sie vor fünf Jahren schon da? Eine Kamera. Ich bin wie gelähmt bei dem Gedanken, was sie aufgezeichnet haben könnte.

Michael klickt ein bisschen herum und schon haben wir auch Ton. Eine der Wachen beim Schreibtisch kommt so dicht an die Kamera heran, dass sein Gesicht den Bildschirm komplett ausfüllt. Ich höre den Typen atmen. Wird er die Tür öffnen? Das Gesicht zieht sich nichts ahnend zurück. Eine Weile lang stehen die Männer nur mit verwirrten Gesichtern herum, dann spricht einer in sein Funkgerät, irgendwas von einem Fehlalarm, und winkt die anderen nach draußen.

»Hierher kommen sie nicht?«, frage ich.

»Nein.«

Michael scrollt sich durch den Film und stoppt an der Stelle, als er mich erwischt hat. Wieder tippt er auf ein paar Schaltflächen, bis auf dem Screen die Frage erscheint: SINDSIESICHER, DASSSIEALLESLÖSCHENWOLLEN? Sein Finger schwebt kurz in der Luft, dann klickt er auf