Claire - Dexter M. Frazer - E-Book

Claire E-Book

Dexter M. Frazer

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Beschreibung

Burgund, Anfang des 20. Jahrhunderts. Claire lebt alleine auf dem Landgut, das sie von ihren Eltern geerbt hat. Als alleinstehende junge Frau ist sie finanziell abgesichert, aber doch ganz auf sich gestellt und versucht, anders als die meisten Frauen dieser Zeit, ihre Bestimmung zu finden und ihren eigenen Weg zu gehen. Schweiz, Mitte des 21. Jahrhunderts. Viktor forscht zusammen mit seinem langjährigen Weggefährten Leif-Erik in Lausanne an Technologien, die es Menschen, die auf Prothesen angewiesen sind, gestattet, diese als eigene Körperteile spüren zu lassen. Obwohl mehr als 100 Jahre Claire und Viktor voneinander trennen, verbindet sie doch ein dunkles Geheimnis, was ungeahnte Folgen hat.

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Den künftigen Generationen

Keep calm and carry on

Mein Dank gilt meiner geliebten Familie und all denen, die mich auf die unterschiedlichste Weise bei meiner Tätigkeit unterstützen.

Inhaltsverzeichnis

Prolog

Besuch von Sophie

Im Wirtshaus

Gegenwart und Vergangenheit

Sackgasse mit Ausweg

Auf zu neuen Ufern

Schatten der Vergangenheit

Pläne schmieden

Den Neuanfang wagen

Die Spitze des Eisberges

Déjà-vu

Tiefe Wasser

Erste Schritte

Finsternis

Ein Lichtblick

Wie Feuer und Wasser

Picknick am See

Das Fundament ist gelegt

Ort der Stille

Spannungen

Im Trockendock

Offenbarung

Vergebliche Liebesmüh

Stapellauf

Initiation

Reflexion

Ungewissheit

Suche

Innehalten

Erwachen

Eine Vorahnung

Unverhoffte Hilfe

Jungfernfahrt

Verborgene Botschaft

Erster Erfolg

Va banque

Ein Juwel

Eine schöne Bescherung

Debüt

Zweifel

Ein großes Ereignis

Neue Wege

Das Weihnachtsfest

Veränderungen

Die Abschiedsfeier

Eine Brieffreundschaft

Ein Stück Klarheit

Alles auf einer Karte

Unheimliche Begegnung

Dunkelheit

Transparenz

Unerwartete Wendung

Ein folgenschwerer Entschluss

Eine böse Überraschung

Spurensuche

Der Prozess

Epilog

Prolog

Er riss sich die Unterschenkelprothese vom Bein und schleuderte sie quer durch den Behandlungsraum. Die Schmerzen waren unerträglich. „Aua, mein Fuß! Er brennt!“, schrie der Junge.

Der Arzt betrachtete den Stumpf, der sich entzündet hatte. Er konnte die Wut und den Schmerz, den der Junge empfinden musste verstehen, auch wenn er das nicht aus eigener Erfahrung kannte. Aber Phantomschmerzen mussten irritierend sein und das Gefühl, dass man nicht vollständig war, sicher noch verstärken.

„Ich verstehe dich, du musst ganz schön wütend sein. Ich werde dir einen Salbenverband machen und wenn die Entzündung abgeklungen ist, kommst du noch einmal zur Anpassung vorbei, einverstanden? Bis dahin verwendest du die Unterarmgehstützen“, sagte der Arzt versöhnlich.

„Sie können das scheiß Roboterbein behalten, das ist sowieso nicht mein eigenes!“ Damit humpelte der Junge aus dem Behandlungsraum.

Der Arzt fühlte sich hilflos. Er blieb mit dem Gefühl zurück, den hippokratischen Eid, wie er ihn verstand, nicht erfüllen zu können.

Besuch von Sophie

Der Wind wehte den aufgewirbelten Staub vom entfernten Weg über das Feld. Es war ein schöner Tag im Spätsommer; Claire stand am Fenster und versuchte zu erkennen, ob es der Wagen des Arztes der Familie war, den sie zu sich gebeten hatte. Doch nach einiger Zeit wurde ihr klar, dass es Sophie sein musste, die sie mit dem Fahrrad besuchen kam, um ihrer Freundin Gesellschaft zu leisten.

Seit dem frühen Vormittag hatte Claire ein starkes Ziehen im linken Oberarm verspürt, das nicht nachgelassen hatte. Sie machte sich aber keine allzu großen Sorgen, weil der Arzt immer einen Rat wusste.

Der Punkt auf dem Weg wurde langsam größer und Claire konnte nun sehen, dass es tatsächlich ein Fahrrad war, auf dem offenbar eine Frau saß, deren Kleid im Wind wehte. Das musste Sophie sein. Claire ging vom Wohnraum in die Küche, um Getränke bereitzustellen. Ihre Freundin war nach der langen Fahrt über den staubigen Weg sicherlich durstig. Sie stellte die Karaffe mit Orangenlimonade und Gläser sowie einen Gebäckteller mit einigen selbstgebackenen Keksen auf das Tablett und trug es zu dem kleinen Tisch im Garten hinter dem Haus.

Die Sonnenstrahlen brachen sich in dem geschliffenen Glas und zauberten tanzende Lichter auf Claires buntes Kleid. Sie fühlte sich in ihre Kindheit zurückversetzt; damals hatte sie gedankenversunken gefühlt stundenlang durch ihr Kaleidoskop schauen können und sich Geschichten zu den sich wandelnden Mustern ausgedacht. Das Kaleidoskop hatte sie beim Stöbern auf dem Dachboden in einer Kiste gefunden, in der Spielsachen ihrer Eltern aufbewahrt waren. Sie hatte stets die immerwährende Symmetrie trotz der sich ständig wandelnden Muster der farbigen Glasstückchen fasziniert. Gedankenverloren ging sie zum Haus zurück.

Als sie wieder in die Küche kam, sah sie Sophie bereits auf den Fahrweg einbiegen, der zum Herrenhaus des Landgutes führte, auf dem Claire lebte. Sie ging in die Eingangshalle und öffnete die schwere hölzerne Eingangstür, um ihre Freundin zu empfangen.

Als Sophie Claire erblickte, winkte sie ihr zu. Der Fahrweg war etwa hundert Meter lang und seitlich durch perfekt gestutzten Rasen begrenzt, der durch prächtige Blumenbeete aufgelockert wurde. Ein Großteil der Blumen war allerdings mittlerweile verwelkt und die betreffenden Blüten waren sorgfältig herausgeschnitten worden. Die Steine knirschten unter den Reifen ihres Fahrrades, als Sophie vor den Stufen, die zur Eingangstür führten, abbremste.

„Hallo Claire, das Wetter ist herrlich um Fahrrad zu fahren“, begrüßte sie ihre Freundin gut gelaunt.

Claire war froh, sie zu sehen – Sophie hatte meist gute Laune und schaffte es oft, ihre manchmal trüben oder melancholischen Gedanken aufzuhellen. Sie umarmten sich zur Begrüßung und gingen dann in das Haus.

„Du bist sicherlich durstig, ich habe im Garten unter unserem Lieblingsbaum eine kühle Limonade bereitgestellt.“

Im Haus war es recht frisch und Sophie bekam eine Gänsehaut, als sie eintrat. Sie durchschritten die Empfangshalle und gelangten durch die Bibliothek in den Garten.

„Die Limonade tut gut“, sagte Sophie, nachdem sie einen großen Schluck aus dem Glas, das Claire für sie gefüllt hatte, getrunken hatte. Sie saßen auf kleinen, aber bequemen Stühlen an dem schmiedeeisernen Bistrotisch unter der Linde, die im parkähnlichen Garten nahe dem Landhaus stand. „Möchtest du ein Fahrrad-Picknick machen?“, fragte Sophie. „Das Wetter ist heute ideal dafür und unser letztes Picknick liegt schon so lange zurück.“

„Dazu hätte ich schon Lust, aber ich erwarte für heute Nachmittag noch den Besuch meines Arztes, weil ich so ein unangenehmes Ziehen im linken Oberarm verspüre.“

„Oh, ist es sehr schlimm?“

„Nein, aber unangenehm, und ich möchte ausschließen, dass es etwas Ernstes ist.“

„Ja, da ist Vorsicht besser als Nachsicht.“ Sie nahm einen Keks von dem Gebäckteller und biss hinein; er schmeckte wunderbar nach Haselnuss.

„Wusstest du übrigens, dass Marie sich für gestern mit Jacques verabredet hatte?“

„Nein, sag bloß!“

„Ja, wenn ich es doch sage.“

„Das hätte ich nun nicht erwartet, sie hatte doch immer Stéphane schöne Augen gemacht.“

„Ich habe mich auch gewundert, aber vielleicht erfahre ich morgen mehr, wenn ich sie sehe.“

„Na, da bin ich aber gespannt.“

So verging der Vormittag mit Plaudereien.

Gegen Mittag verdichteten sich die Wolken, die am späten Vormittag nur vereinzelt über den, bis dahin in makellosem Blau erstrahlenden, Himmel gezogen waren, zu einem dunklen Grau und türmten sich bedrohlich auf.

Sophie blickte besorgt nach oben und dachte daran, dass sie mit dem Fahrrad zurückfahren musste. „Das sieht aber sehr nach Gewitter aus“, meinte sie.

Claire konnte von ihrem Platz aus nicht sehen, was Sophie beunruhigte, weil ihr das Blätterdach die Sicht versperrte. „Was meinst du?“, fragte sie daher.

Sophie deutete auf eine Stelle im Himmel, die hinter Claire lag. „Sieh mal dort die Wolken, die sehen ziemlich bedrohlich aus.“

Claire stand auf und ging um den Tisch herum, bis sie neben ihrer Freundin angelangt war. Jetzt verstand sie, was Sophie beunruhigte. „Du meine Güte, da braut sich aber etwas zusammen. Das zieht direkt auf uns zu.“

„Sollen wir die Sachen ins Haus bringen?“

„Ja, das sollten wir in der Tat“, sagte Claire.

Während sie zusammenpackten, kam ein lebhafter Wind als Vorbote des nahenden Gewitters auf. Schnell brachten sie alles ins Haus und schlossen die Tür zum Garten hinter sich.

„Oje, ich habe heute Morgen überall die Fenster geöffnet, um durchzulüften. Kannst du mir bitte helfen und hier unten alle Fenster schließen und verriegeln?“

„Natürlich, soll ich auch die Fensterläden schließen?“

„Ich denke, das wird nicht nötig sein; ich gehe nicht davon aus, dass es hageln wird.“ Damit lief sie, begleitet vom ersten bedrohlichen Donnergrollen, in das Obergeschoss und schloss eilends alle Fenster und Balkontüren. „Hoffentlich schlägt der Blitz nicht ein“, dachte sie, als sie wieder unten angekommen war, sagte aber nichts, um ihre Freundin nicht unnötig zu beunruhigen. Tatsächlich war das jedoch durchaus eine reale Gefahr, denn in weitem Umkreis stand kein anderes Gebäude und die Blitzableiter am Landgut hätte sie im letzten Jahr schon Instand setzen lassen müssen. Das würde sie gleich morgen beauftragen.

Für den Augenblick hoffte sie, dass der Kelch an ihr vorüberging. Claire hatte noch gut in Erinnerung, als vor drei Jahren das Nachbargehöft vom Blitz getroffen worden und bis auf die Grundmauern abgebrannt war. Die Winzer, denen das landwirtschaftliche Gut gehört hatte, waren mitten in der Nacht im Dachgeschoss vom Feuer überrascht worden, das, vom Wind angefacht, rasend schnell um sich gegriffen hatte. Sie wurden vom Feuer eingekreist; jede Rettung kam zu spät - eine Tragödie.

Die Ruinen standen immer noch unverändert dort, weil es keine Erben gab, die sich des Wiederaufbaus hätten annehmen können. Zwar hatte der Regen den Ruß mittlerweile zum größten Teil abgewaschen, aber jeder in der Gegend wusste natürlich, was geschehen war und den religiös geprägten Menschen vom Land schien das Gemäuer ein Mahnmal zu sein, Gott nicht zu lästern. Claire hingegen glaubte nicht an Gott oder eine andere höhere Macht.

Ein Blitz schlug in das geöffnete Tor der Einfahrt ein, gefolgt von einem ohrenbetäubenden Donner, der Claire aus ihren Gedanken riss und sie zusammenfahren ließ. Sophie stieß reflexartig einen spitzen Schrei aus, um gleich darauf verschämt zu Boden zu blicken. Der Regen hatte unvermittelt eingesetzt und es ergossen sich Sturzbäche schwerer Regentropfen über das Land. Die Tropfen, die auf das Dach einzuhämmern schienen, verursachten einen Lärm, bei dem man sein eigenes Wort nicht mehr verstehen konnte.

Claire ging in die Küche, nahm einige Kerzen und Streichhölzer aus einer der Schubladen und ging damit zurück in den Wohnraum. Sophie hatte es sich bequem gemacht, Claire stellte die Kerzen in Ständer, die sie vom Kaminsims nahm, und platzierte sie auf dem niedrigen Tisch vor dem Sofa.

„Das sieht draußen ja aus, als ginge die Welt unter“, meinte Sophie, aus dem großen Fenster blickend. Es war so dunkel, als wäre es bereits Abend.

„Ja, so einen Regen hatten wir hier schon länger nicht mehr. Hoffentlich gibt es keine Überschwemmung, denn der Boden ist zu trocken um viel Wasser in kurzer Zeit aufnehmen zu können.“

„Hoffentlich regnet es sich nicht ein“, sagte Sophie besorgt, „schließlich bin ich mit dem Fahrrad hier.“

„Ich denke, dass das Gewitter bald durchgezogen sein wird.“

„Hoffentlich hast du recht.“

„Ganz bestimmt“, erwiderte Claire zuversichtlich.

Draußen war es nun beträchtlich kühler als zuvor, aber durch die geschlossenen Fenster bemerkte man dies hinter den dicken Mauern des Hauses nur daran, dass die Fensterscheiben beschlugen. Erneut wurde es draußen für einen Augenblick taghell, als ein weiterer Blitz irgendwo weiter entfernt einschlug. Claire zählte still die Sekunden bis zum Donner, der nicht mehr so laut wie der vorhergehende war. „Das Gewitter zieht ab“, sagte sie schließlich erleichtert. Und tatsächlich prasselte der Regen schon nicht mehr so stark, wie zuvor, auf das Dach. Langsam wurde es auch wieder heller draußen.

„Ja, ich glaube, wir haben es überstanden. Komm lass uns mal an der Eingangstür schauen, wie es draußen aussieht“, schlug Sophie vor. Sie hoffte, dass nicht alles knöcheltief unter Wasser stand.

„Ja, ist gut.“

Sie gingen durch die Eingangshalle bis zur schweren Holztür und öffneten sie. Es regnete, aber der Boden hatte das Wasser offensichtlich aufnehmen können, jedenfalls sah es nicht anders aus, als nach jedem anderen gewöhnlichen Regen.

Eine Stunde später, als die Freundinnen in der Küche vor den Überresten des Salates saßen, den Claire als leichtes Mittagsmahl zubereitet hatte, war der Regen vollständig abgezogen und Dampfschwaden stiegen von den Wiesen und Feldern auf. Der Himmel zeigte sich wieder ungetrübt, als wenn nichts geschehen wäre.

Im Wirtshaus

Es war wieder spät geworden und Viktor war noch keinen Schritt weiter gekommen. Er beschloss, die Arbeit für heute ruhen zu lassen und sich für morgen mit Leif-Erik zu verabreden. Er verließ das Institut, das um diese Zeit menschenleer war, und machte noch einen kleinen Umweg auf dem Weg nach Hause, da er sehr hungrig war. Viktor hoffte, in der Gaststätte noch eine Kleinigkeit zu Essen zu bekommen und ein kühles Bier. Als er die Gaststätte erreicht hatte, sah er durch die niedrigen Fenster, dass es ziemlich voll zu sein schien. Viktor öffnete die Tür und ein Stimmengewirr schlug ihm entgegen. Es waren vornehmlich junge Leute, die ausgelassen zu feiern schienen. Erst jetzt erinnerte er sich, dass das Semester zu Ende gegangen war und die fröhliche Truppe Studenten sein mussten. Noch vor zwei Jahren hatte er selbst regelmäßig Vorlesungen gehalten, aber der Rhythmus des Studierens war ihm abhandengekommen, seit er sich vollkommen auf seine Forschung konzentrieren konnte.

Als er eintrat wurde er vom Wirt begrüßt, der ihm von der Theke aus zuwinkte und ihm bedeutete, dass ein Platz für ihn frei war. Er ging durch den Schankraum in die Richtung, in die der Wirt gedeutet hatte, vorbei an Tischen, um die die Studenten dicht gedrängt saßen, sich zuprosteten und unterhielten oder Karten spielten. Er sah den Tisch, an dem noch ein Platz frei war, und hielt darauf zu. „Guten Abend, ich sehe, dass dieser Platz noch frei ist. Haben Sie etwas dagegen, wenn ich mich zu Ihnen setze?“

„Guten Abend, Herr Professor, natürlich nicht, bitte nehmen Sie Platz, dürfen wir Sie zu einem Bier einladen?“, wurde Viktor begrüßt. Jetzt, bei näherem Hinsehen, erkannte er tatsächlich einen der Studenten wieder. Er war Zuhörer in seiner Vorlesung zur Entgrenzung von Mensch und Prothetik gewesen, seinem Spezialgebiet.

„Ja, danke, Herr Markowic, ich erinnere mich an Sie, was treiben Sie denn so?“

„Sofort, Herr Professor.“ Er gab dem Wirt ein Zeichen, dass Sie etwas zu bestellen wünschten. „Er wird sicherlich gleich kommen.“

„Nun erzählen Sie schon. Ich glaube, es ist drei Jahre her, dass ich Sie in meiner Vorlesung gesehen habe. Studieren Sie noch?“

„Selbstredend, Herr Professor, mein Kommilitone Gunnar hier und ich hören gerade eine Vorlesung zum aktuellen Stand der Forschung bei Cochlea-Implantaten. Das ist erstaunlich, welche Fortschritte es auf diesem Gebiet gegeben hat. Was halten Sie denn davon?“

Viktor hatte Gunnar zugenickt, aber sein Gesicht sagte ihm nichts. „Nun, wie Sie erahnen können, wenn Sie meine Vorlesung gehört haben, bin ich recht verhalten ob solcher Erfolgsmeldungen. Verstehen Sie mich nicht falsch, aber solange der Patient nur eine unvollständige Wiederherstellung seiner Empfindungen erfährt, kann ich dies nicht als substantiellen Erfolg werten.“

In diesem Moment kam der Wirt mit einer Speisekarte und einem Bestellblock in der Hand an ihren Tisch. „Na, die Herrschaften, was darf es denn sein?“ Viktor kam die Unterbrechung sehr recht und er hoffte die Unterhaltung danach in eine andere Richtung lenken zu können, weil er für solche Diskussionen heute viel zu müde war.

„Für den Herrn Professor bitte ein schönes kühles Helles und für uns beide noch einmal das Dunkelbier bitte.“

„Sehr gerne. Möchten Sie auch etwas essen, Herr Professor?“

„Ja, sehr gerne. Was können Sie denn heute empfehlen?“

„Heute haben wir unsere Spezialität – Saure Nierchen mit Kartoffelpüree und Rosenkohl – im Angebot.“

„Ich fürchte, dass mir mein Magen das zu dieser fortgeschrittenen Stunde übel nähme. Können Sie mir vielleicht etwas Leichteres anbieten?“

„Ich kann Ihnen auch gerne eine französische Zwiebelsuppe bringen und danach ein Sandwich.“

„Das klingt sehr gut, danke.“

Der Wirt notierte die Bestellung und zog wieder von dannen. Viktor rieb sich die Augen.

„Sind Sie erschöpft, Herr Professor?“

„Ich bin in der Tat recht müde, meine Forschung nimmt mich sehr in Anspruch.“

„Entschuldigen Sie, Herr Professor, aber wie muss ich mir Ihre Forschung eigentlich vorstellen?“

Viktor überlegte, wie er die Neugier des Studenten mit möglichst vagen Ausführungen befriedigen konnte. Schließlich war sie recht komplex, interdisziplinär und sehr technisch, manchmal verstand er die Technik ja selbst kaum. Nur gut, dass er Leif-Erik kannte.

„Stellen Sie sich vor, dass eine Prothese so beschaffen und mit Sensoren, Aktuatoren und Signalleitungen versehen ist, dass eine vollständige Synthese zwischen dem Menschen und seiner Prothese entsteht. Er soll die Prothese nicht von dem was sie ersetzt, unterscheiden können.

Da ich mir nicht alle Gliedmaßen abtrennen kann und will, muss ich andere Wege finden, um das beurteilen zu können. Wie sieht es mit Ihnen beiden aus, wollen Sie sich etwas Geld dazuverdienen? Wir brauchen haufenweise Freiwillige.“ Dabei sah er die Studenten mit einem diabolischen Blick an.

Die Freunde wichen entsetzt zurück. „Sie experimentieren mit Menschen?“, fragte Markowic angsterfüllt.

„Haben Sie eine bessere Idee?“, erwiderte Viktor leichthin, was die beiden noch mehr verunsicherte. Sie rutschten unruhig auf ihren Stühlen hin und her.

In diesem Moment kam der Wirt mit den Biergläsern, die er auf einem Tablett balancierte, zurück. „So, die Herren, ein Helles für den Herrn Professor und zwei Dunkle für die Herren Studenten.“ Er legte drei Bierdeckel vor sie und stellte die Gläser darauf. „Zum Wohl!“

Sie erhoben die Gläser und prosteten sich zu. Viktor nahm einen großen Schluck von seinem Bier und wischte sich mit dem Handrücken den Mund ab.

Markowic überlegte, was er davon halten sollte. Gewiss war der Professor etwas schrullig, aber als gewissenlosen Psychopathen konnte er sich ihn beim besten Willen nicht vorstellen. Daher sagte er: „Nun mal im Ernst, Herr Professor, wie stellen Sie es an, herauszufinden, ob Ihre Prothesen Ihren Anforderungen genügen?“

Schade, dass das nicht funktioniert hatte, dachte Viktor, leicht amüsiert über die anfängliche Reaktion der Studenten.

„Ist das nicht offensichtlich?“, sagte er gedehnt, als sei dies eine Prüfungsfrage. Die Kommilitonen sahen sich ratlos an.

„Ich sehe schon, dass ich Sie nicht für meine Forschung begeistern kann“, wechselte Viktor nun endgültig das Thema. „Was halten Sie denn von dem neuen Dekan der Fakultät, meine Herren?“ Viktor hatte dieses Thema mit Bedacht gewählt, weil er wusste, dass es den Studenten unangenehm sein würde, schlecht über den Dekan zu sprechen. Allerdings gab es Viktors Meinung nach nichts Gutes über ihn zu sagen. Dementsprechend zierten sich die beiden darauf einzugehen und waren dankbar, dass der Wirt in diesem Moment mit der Zwiebelsuppe für den Professor nahte. Eine günstige Gelegenheit, sich zu empfehlen. Schnell tranken sie ihr Bier aus.

„Wie ich gerade bemerke, ist es schon recht spät geworden und Zeit für uns zu gehen. Wenn Sie gestatten, Herr Professor?“

„So, Herr Professor, Ihre Suppe. Vorsicht, die Suppe und die Tasse sind sehr heiß, da sie gerade erst aus dem Ofen kommen. Ich wünsche Ihnen einen guten Appetit.“ Damit stellte er die Suppentasse auf dem Servierteller vor Viktor auf den Tisch.

„Besten Dank!“

Das kam Viktor sehr recht, da er lieber in Ruhe speisen und über seine Forschung nachdenken wollte. „Das ist wohl wahr, Sie müssen auch sicherlich noch Ihre Studien weiter treiben. Lassen Sie sich von mir bitte nicht aufhalten. Ich wünsche Ihnen einen guten Abend.“

Erleichtert erhoben sich die beiden Studenten, verabschiedeten sich von Viktor und gingen zum Wirt, um zu zahlen.

Viktor blickte in den Dampf, der aus der Suppentasse aufstieg und verwirbelte, und dachte nach.

Gegenwart und Vergangenheit

Es läutete an der Tür.

„Das wird der Arzt sein“, sagte Claire.

„Soll ich gehen?“

„Oh nein, bleib bitte, es wird nicht lange dauern.“ „Gut, ich warte hier.“

Claire ging vom Wohnzimmer, wohin sie sich nach dem Mittagessen zum Kaffeetrinken zurückgezogen hatten, in die Halle und öffnete die Tür. Tatsächlich war es der Arzt. Er war etwa 60 Jahre alt, trug einen Ziegenbart und einen altmodischen Anzug mit Zylinder. In der Hand hielt er eine Arzttasche.

„Herr Dr. Duchamps, schön, dass Sie so schnell kommen konnten.“

„Ich bitte Sie, Claire, das ist doch selbstverständlich.“

„Kommen Sie bitte herein. Kann ich Ihnen einen Kaffee oder eine Limonade anbieten?“

„Danke nichts, ich habe leider nicht viel Zeit. Was fehlt Ihnen denn, Claire?“ Er nahm seinen Zylinder ab und stellte ihn auf den kleinen Tisch, der in der Nähe der Tür stand.

Sie ging in Richtung der Bibliothek voran, der Arzt folgte ihr. „Ich habe seit dem Erwache heute Morgen ein Stechen und Ziehen im linken Oberarm.“ Sie deutet auf die Stelle, an der sie den Schmerz verspürte.

Der Arzt tastete den Oberarm an verschiedenen Stellen ab und wollte von Claire wissen, wo der Schmerz stärker und wo weniger stark war. „Aha!“, sagte er schließlich. „Ich werde Ihnen eine Spritze zur Muskelentspannung geben und morgen sollten Sie keine Beschwerden mehr haben. Machen Sie bitte den linken Oberarm frei.“ Er entnahm seiner Tasche eine Spritze, eine Injektionsnadel und eine Ampulle und zog die Spritze auf. Dann desinfizierte er die Haut und injizierte das Medikament.

„So, Claire, morgen sollten Ihre Beschwerden verschwunden sein, ansonsten melden Sie sich bitte wieder.“

„Ja, das werde ich tun, Dr. Duchamps. Vielen Dank. Aber was verursacht denn diese Beschwerden?“

„Das ist nichts, vermutlich haben Sie sich im Schlaf den Arm abgeklemmt.“

„Dann bin ich beruhigt. Ich bringe Sie zur Tür.“

„Sehr freundlich, aber ich finde allein hinaus. Guten Tag, Claire.“

„Wie Sie wünschen. Guten Tag, Dr. Duchamps.“

Der Arzt nahm seine Tasche und seinen Zylinder und verließ das Haus.

Claire ging zurück in das Wohnzimmer des Landsitzes, in dem sie aufgewachsen war. Sie hatte ihn von ihren Eltern zusammen mit einigen Ländereien in der Bourgogne geerbt, nachdem diese bei einem Zugunglück ums Leben gekommen waren. Damals war Claire erst zwei Jahre alt gewesen und von ihrer Großmutter mütterlicherseits aufgezogen worden. Sie konnte sich daran erinnern, dass es eine überschaubare Anzahl von Bediensteten gegeben hatte, die aber mittlerweile alle im Ruhestand oder verstorben waren, ebenso wie ihre Großmutter, die vor drei Jahren morgens nicht mehr erwacht war.

Claire schüttelte die unangenehmen Gedanken ab. Sie hatte keinerlei Erinnerung an ihre Eltern, aber natürlich an ihre Großmutter, die sie sehr geliebt hatte. Aufgrund des großen Vermögens, das ihr hinterlassen worden war, konnte sie nun zwar ohne Geldnöte leben, fühlte sich aber ansonsten zuweilen sehr verloren in dem großen Haus und ohne die Gegenwart ihrer Großmutter.

„Da bist du ja wieder. Das ging aber schnell. Ist alles in Ordnung?“, frage Sophie, als sie Claire auf sich zukommen sah.

„Es drückt noch ein bisschen, aber morgen sollten die Beschwerden abgeklungen sein.“

„Das ist sehr schön. Ich habe das Kartenspiel aus dem Salon geholt, möchtest du ein paar Runden spielen?“

„Oh ja, das ist eine gute Idee, das habe ich lange nicht gemacht!“

Claire war froh, in Sophie ihre beste Freundin gefunden zu haben. Sie hatten sich zufällig bei einer Lesung zum Thema Naturschilderungen der Romantik kennengelernt und waren sich vom ersten Moment an sympathisch gewesen. Seitdem besuchten sie sich regelmäßig und unternahmen Ausflüge, oder saßen einfach nur zusammen und erzählten oder spielten Karten oder Brettspiele. Außer Sophie hatte Claire zwar ein paar gute Bekannte, aber sonst nicht sehr viele Kontakte. Sie war mit ihren Gedanken meist gerne alleine.

„Sollen wir Canasta spielen?“, schlug Sophie vor, die das Spiel sehr mochte.

„Ja, gerne, ich mische die Karten.“

„Hast du eigentlich noch Erinnerungen an deine Eltern?“, wollte Sophie von ihrer Freundin wissen, die sehr selten über ihre Kindheit sprach.

Claire überlegte, was sie dazu sagen konnte. „Nein, nicht wirklich, ich war ja auch erst zwei Jahre alt, als sie starben. Die frühesten Erinnerungen habe ich an meine Großmutter, wie sie im Garten Verstecken mit mir spielt und wir gemeinsam Kuchen backen. Erinnerst du dich an deine frühe Kindheit?“

„Nur daran, dass sie nicht besonders schön war. Meine Eltern stritten sich sehr oft. Mein älterer Bruder hatte dann immer versucht mich zu trösten, aber ich hatte oft geweint. Als ich 16 war, lief ich von zu Hause fort zu meiner Tante, die mich in ihre Obhut nahm.“

Claire sah sie überrascht an. „Oh, das hast du ja noch nie erwähnt.“

„Ich spreche nicht gerne darüber“, gab Sophie einsilbig zurück und Claire fragte nicht weiter.

Sie überlegte, ob sie versuchen sollte, in der Bibliothek des Ortes, in dem Sophie wohnte, mehr über ihre eigene Familie, ihr Landgut und seine Geschichte zu erfahren. Von außen betrachtet, so wie ein Vogel es wohl sehen musste, war es mit seiner mittleren Größe sicherlich sehr malerisch anzusehen. Es war inmitten von Feldern, Wäldern und Weinbergen in einer leicht hügeligen Landschaft auf einer kleinen Anhöhe mit wunderbarer Aussicht gelegen, ohne auf dieser zu thronen. Im Grunde schmiegte es sich eher in die Landschaft, so als sei es ein natürlicher Bestandteil von ihr. Eigentlich war es zu schön um wahr zu sein, dachte Claire manchmal.

Sackgasse mit Ausweg

„Ich muss den Sensor 3571 nachkalibrieren, dafür wird mir noch ein Wert unter 95% angezeigt.“ Leif-Erik saß mit Viktor in dessen Büro im Institut und schaute auf das Dashboard, das im Monitor dargestellt wurde.

Auf dem Tisch lag die Prothese, die an das Auswertungssystem angeschlossen war. Es war ein ständiger Adaptionsprozess, der sich länger hingezogen hatte, als Viktor das erwartet hatte. Immer wieder musste dem System möglichst genaues Feedback gegeben werden, anhand dessen es lernen konnte, wie sich eine Prothese anfühlen mochte. Und das war auch nicht für alle Personen oder zu ersetzenden Körperfunktionen gleich. Hier müssten sie noch einen anderen Weg finden, was noch mehr Zeit verschlingen würde, aber Viktor war gewillt, das für all diejenigen zu tun, die unter den Missempfindungen, die das Tragen einer Prothese mit sich brachte, litten.

Als Leif-Erik die Anpassungen durchgeführt hatte, trennte er die Prothese vom System. „Dann probier einmal, ob es so besser ist“, sagte er und reichte Viktor dessen Unterschenkelprothese.

Viktor zog die perfekt angepasste Prothese über seinen Beinstumpf und spürte, wie sich die Schnittstellen verbanden. Vorbei waren die Zeiten, als die Passform noch ein großes Problem dargestellt hatte, mittlerweile waren sie glücklicherweise auf einem anderen Niveau angekommen. Der erste Eindruck war gut, jetzt musste er im Laufe des Tages sehen, ob die Anpassung helfen würde. „Das fühlt sich ganz gut an. Aber wir müssen uns dringend Gedanken darüber machen, wie wir das Komplexitätsproblem in den Griff bekommen können.“

„Ja, in der Tat, darüber habe ich auch schon nachgedacht, gib mir noch ein paar Tage, dann kann ich dir vielleicht eine Lösung vorschlagen.“

„Das wäre wunderbar, denn die Beherrschbarkeit des Systems und der Aufwand, der damit verbunden ist, würde bei einer flächendeckenden Nutzung explodieren“, gab Viktor seinem Freund zu bedenken.

„Ja, ich weiß“, sagte Leif-Erik nur. Er wusste besser als sein Freund, dass dies entscheidend für den Erfolg war und er hatte Vorbereitungen getroffen, um das Problem nachhaltig zu lösen. Schon bei dem ersten Patienten neben Viktor hatte sich die Unzulänglichkeit des bislang gewählten Ansatzes gezeigt.

Für heute allerdings wollte er lieber über etwas anderes nachdenken. Er zog zwei Konzertkarten aus seiner Hemdtasche und fragte: „Hast du für heute Abend schon Pläne?“, wohl wissend, dass Viktor seit dem Tod seiner Frau nicht viel herauskam und meist im Institut oder alleine zu Hause verbrachte.

„Oh, du hast Karten. Für ein Konzert?“

„Ja, 20 Uhr. Mahler.“

Viktor schaute auf die Uhr, eine Stunde noch - das würde reichen. „Sehr gerne!“

„Na, dann mal los, wir treffen uns um fünf vor acht am Eingang.“

„Wunderbar, bis gleich dann“, sagte Viktor erfreut. Zusammen verließen sie gut gelaunt das Büro, das Viktor hinter sich abschloss.

Um zehn vor acht stand Viktor im Smoking vor der Oper und hielt nach seinem Freund Ausschau. Er erkannte ihn nicht direkt, weil Leif-Erik die Kleidung nicht gewechselt hatte und nach wie vor eine beige Chino zu braunen Lederschuhen und ein kariertes Hemd trug, was Viktor mit viel Wohlwollen als gehobene Freizeitkleidung einstufte, aber für einen Besuch der Oper, auch wenn nur ein Konzert gegeben wurde, für völlig unangemessen hielt. Aber da Viktor wusste, dass er selbst als altmodisch angesehen wurde, sagte er nichts, als er seinem Freund schließlich gegenüberstand.

„Hallo Leif-Erik, was wird heute eigentlich gespielt?“

„Erwähnte ich das nicht? Mahlers 5. Symphonie unter Ashkiew.“ Glücklicherweise hatte Ashkiew nach einer langen Phase der Krankheit vor zwei Jahren mit neuer Kraft seine Arbeit wieder aufgenommen.

Viktor war überrascht. „Wie bitte? Wie bist du denn an Karten dafür gekommen, das Konzert war doch sicherlich vor Beginn des offiziellen Vorverkaufs bereits ausverkauft. Die Karten müssen dich ja ein Vermögen gekostet haben.“

Leif-Erik lächelte geheimnisvoll. „Ich habe so meine Kontakte“, sagte er verschwörerisch.

„Kontakte“, sagte Viktor nur.

„Ich habe einen guten Bekannten bei einer der Vorverkaufsstellen, der mir, sagen wir, einen Gefallen schuldete.“

„Einen Gefallen.“

„Ja.“

„Unser Dialog erinnert mich stark an Mario Puzo.“

Leif-Erik musste lachen, denn niemand war weiter davon entfernt, mafiöse Methoden anzuwenden, als er. Aber er musste zugeben, dass ihre Unterhaltung bei Personen denen sie unbekannt waren, den Eindruck erwecken könnte, dass er der Pate von Lausanne war.

Der Gong ertönte, der den Besuchern signalisierte, dass es Zeit wurde, sich ins Innere zu begeben. Sie gingen direkt in den Konzertsaal, da sie bei dem warmen Wetter keine Überjacken trugen, die sie an der Garderobe hätten abgeben müssen.

Langsam füllte sich der Saal und nach etwa fünf Minuten war fast jeder Platz besetzt. Viktor und Leif-Erik hatten sehr gute Plätze in der Mitte, leicht oberhalb des Orchesters. Der Saal war, ebenso wie die Fassade des Gebäudes, ganz im Art-Deco-Stil ausgeführt und erinnerte Viktor an die Villa des Protagonisten der Verfilmung des Romans Der große Gatsby mit Robert Redford in der Titelrolle. Viktor mochte diese, auf ihn aufdringlich und zuweilen klotzig wirkende Stilrichtung nicht besonders, aber schließlich würde der Raum bald bis auf die Bühne abgedunkelt sein, und der Musik lauschte er ohnehin am liebsten mit geschlossenen Augen. Er studierte gerade die hohe Decke, als Applaus aufbrandete. Das Orchester zog ein, die Musiker nahmen ihre Plätze ein und begannen mit der Stimmung ihrer Instrumente.

„Hast du Ashkiew schon mal live erlebt?“, wollte Leif-Erik mit gedämpfter Stimme wissen.

„Nein, nur im Fernsehen habe ich einmal ein Konzert mit ihm gesehen.“

Weiter kam Viktor nicht, weil erneut Applaus ertönte, diesmal jedoch ungleich stärker, als der Maestro die Bühne betrat und sich verbeugte, bevor er auf das Podest des Dirigenten stieg. Es herrschte absolute, erwartungsvolle Stille, als der Dirigent den Taktstock hob, der kaum länger als ein Finger war, und mit unmerklichen Bewegungen begann, das Orchester auf dem Weg durch die Partitur zu lenken. Die Musiker hingen förmlich an dem Gesicht des Dirigenten und setzten jede noch so kleine Regung des Meisters um. Viktor und Leif-Erik tauchten ganz in den Zauber der Musik Mahlers ein und genossen jeden Augenblick.

Es war schon kurz vor zehn, als sie die Oper verließen. „Möchtest du noch ein kleines Nachtmahl, Leif-Erik?“

„Sehr freundlich von dir, aber ich bin nicht hungrig, nur müde. Morgen wird ein langer Tag.“

„Gut, dann trennen sich unsere Wege hier für heute. Ich danke dir nochmals für diesen wunderbaren Konzertabend, mein Freund. Gute Nacht.“

„Gerne, Viktor, gute Nacht.“

Auf zu neuen Ufern

Leif-Erik hatte den Prototypen des Systems für Viktor seinerzeit geschaffen, um die Forschung seines Freundes zu unterstützen, vor allem aber deshalb, weil er wusste, wie sehr sein Freund an dem Gefühl litt, unvollständig zu sein und die Prothese als Fremdkörper zu empfinden. Er hatte dies über die gesamte Zeit, die sie sich kannten, aus nächster Nähe miterlebt und hatte nun ebenfalls das Bedürfnis, Viktors bahnbrechende Arbeit auf eine neue Stufe zu heben. Er wusste, dass der bisherige Prototyp durch ein selbstlernendes System ersetzt werden musste, das sich im Lauf der Zeit automatisch an alle Anforderungen anpassen konnte. Dazu gehörten sämtliche Körperteile, die man prinzipiell durch Prothesen oder aber auch durch Transplantate aus künstlichen Materialien ersetzen konnte. Folglich mussten dem System im Prinzip alle denkbaren Sinneseindrücke ersatzweise durch die aus den Prothesen oder Transplantaten stammenden vorgespiegelt werden können.

Das Problem war weit vielschichtiger, als er zunächst angenommen hatte. Er musste faktisch ein programmatisches Ebenbild eines fast vollständigen menschlichen Körpers schaffen. Es musste außerdem dafür gesorgt werden, dass das System, um seine Arbeit bestmöglich erledigen zu können, sich in gewisser Weise menschlich fühlte. Das hatte der Prototyp in keiner Weise gekonnt und es stellte unzweifelhaft die größte Schwierigkeit seines Vorhabens dar.

„Sam, wie geht es dir?“, tönte es aus dem Telefonhörer.

„Leif-Erik, altes Haus! Gut, ich kann nicht klagen und dir?“

„Ich habe in der Presse gelesen, dass dein neuestes Spiel für die wirklichkeitsgetreuen VR-Effekte ausgezeichnet wurde. Meinen Glückwunsch!“

„Danke. Ja, das war wirklich ein gelungenes Stück Arbeit, mein Freund.“

Sam und Leif-Erik waren zwar befreundet, hatten aber nur losen Kontakt. Hin und wieder trafen sie sich, um bei einem Bier zu reden. Sie ließen die Vergangenheit Revue passieren, sponnen aber auch Zukunftspläne.

„Vielleicht könntest du mir dein Spiel mal zeigen.“

„Klar, aber seit wann interessierst du dich für Computerspiele?“, fragte Sam sichtlich überrascht, denn Leif-Erik hatte im Gegensatz zu Sam, der seine Leidenschaft zum Beruf gemacht hatte, nie solche Spiele gespielt.

Leif-Erik hatte Bioinformatik mit dem Schwerpunkt Kognitionstheorie studiert. Sein Vater war Philosoph und Kognitionsforscher und hatte auf