Dunkle Kräfte - Dexter M. Frazer - E-Book

Dunkle Kräfte E-Book

Dexter M. Frazer

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Beschreibung

Vier Wissenschaftler sollen auf dem abgelegenen Planeten Caeruleum-alpha herausfinden, warum dieser ungleichmäßig rotiert. Doch was zunächst als Routinearbeit beginnt, verlangt ihnen bald alles ab. Konfrontiert mit seltsamen Vorkommnissen auf der Forschungsstation und belastet durch die völlige Isolation, eskalieren die persönlichen Spannungen zwischen den Wissenschaftlern. Gleichzeitig nähert sich ihnen langsam, aber unaufhaltsam und völlig unbemerkt eine tödliche Gefahr. Was die Wissenschaftler schließlich entdecken, verschlägt ihnen die Sprache. Ein gnadenloser Wettlauf gegen die Zeit beginnt.

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Für alle, die die Dose der Pandora geöffnet haben.

Mein Dank gilt neben meiner geliebten Familie für ihre Geduld und Unterstützung, Ulrike für ihre professionelle Beratung und ihr Lektorat, Thomas für sein inhaltliches Feedback, Christoph für sein Engagement bei formalen Fragen, sowie allen, die an den Erfolg dieses Werkes glauben.

Inhaltsverzeichnis

Prolog

Kapitel 1

Kapitel 2

Kapitel 3

Kapitel 4

Kapitel 5

Kapitel 6

Kapitel 7

Kapitel 8

Kapitel 9

Kapitel 10

Kapitel 11

Kapitel 12

Kapitel 13

Kapitel 14

Kapitel 15

Kapitel 16

Kapitel 17

Kapitel 18

Kapitel 19

Kapitel 20

Kapitel 21

Kapitel 22

Kapitel 23

Kapitel 24

Kapitel 25

Kapitel 26

Kapitel 27

Kapitel 28

Kapitel 29

Kapitel 30

Kapitel 31

Kapitel 32

Kapitel 33

Kapitel 34

Kapitel 35

Kapitel 36

Kapitel 37

Kapitel 38

Kapitel 39

Kapitel 40

Kapitel 41

Kapitel 42

Kapitel 43

Kapitel 44

Kapitel 45

Kapitel 46

Kapitel 47

Kapitel 48

Kapitel 49

Kapitel 50

Kapitel 51

Kapitel 52

Kapitel 53

Kapitel 54

Kapitel 55

Kapitel 56

Kapitel 57

Kapitel 58

Kapitel 59

Kapitel 60

Kapitel 61

Kapitel 62

Kapitel 63

Kapitel 64

Kapitel 65

Kapitel 66

Kapitel 67

Kapitel 68

Kapitel 69

Kapitel 70

Kapitel 71

Kapitel 72

Kapitel 73

Kapitel 74

Kapitel 75

Kapitel 76

Kapitel 77

Kapitel 78

Kapitel 79

Kapitel 80

Kapitel 81

Kapitel 82

Kapitel 83

Kapitel 84

Kapitel 85

Kapitel 86

Kapitel 87

Kapitel 88

Kapitel 89

Kapitel 90

Kapitel 91

Kapitel 92

Kapitel 93

Kapitel 94

Kapitel 95

Kapitel 96

Kapitel 97

Kapitel 98

Kapitel 99

Kapitel 100

Kapitel 101

Kapitel 102

Kapitel 103

Kapitel 104

Kapitel 105

Kapitel 106

Kapitel 107

Kapitel 108

Kapitel 109

Kapitel 110

Kapitel 111

Epilog

Prolog

„... und so kann das Ergebnis der ersten Phase der Operation Pandora auf Caeruleum-α nur zum Teil als Erfolg gewertet werden“, schloss der Bericht über das ultrageheime militärische Projekt. Der andere Teil, von dem in dem Bericht die Rede war, bezog sich auf ein Phänomen, das ebenfalls ein, wenn auch unerwartetes Ergebnis der Operation war, das die wissenschaftliche Welt bald sehr interessieren sollte. Dieser Umstand stellte das Militär vor schwierige Entscheidungen.

1

Hannah erwachte nachts durch ein Geräusch. In ihrem Schlafraum herrschte ein leichtes Dämmerlicht, das die Decke und Wände ihrer geräumigen Kabine abgaben. Sie stand auf und betrat das Bad, das sich rechts ihres Bettes befand.

Sie betrachtete sich im Spiegel. Sie hatte grüne Augen und ein ebenmäßiges und wohlproportioniertes Gesicht, das von braunem, lockigem Haar umrandet war, das ihr bis an das Kinn reichte. Hannah fand, dass man ihr ihre vierzig Jahre, von denen sie die letzten fünf auf der Station verbracht hatte, nicht ansah. Sie erfrischte sich mit kaltem Wasser, das sie sich über die Unterarme laufen ließ, und ging zurück in den Hauptraum.

Links des Bettes befand sich neben dessen Kopfende der Eingang zu ihrer Kabine – die Verschlussanzeige zeigte an, dass die Tür seit fünf Stunden und dreiundzwanzig Minuten nicht mehr geöffnet worden war. Gegenüber dem Eingang befand sich ein Fenster, das sich über fast die gesamte Breite des Raumes erstreckte. Hannah setze sich an ihren Schreibtisch, der vor dem Fenster stand und sah hinaus in den Sternenhimmel.

Die Raumstation Delta IX lag seit dreißig Standardtagen im Nachtschatten des Planeten und vermutlich würden weitere sieben Tage vergehen, bis die hellgrün leuchtende Sonne über dem Horizont aufging. Es konnte aber ebenso gut noch zehn oder nur noch fünf Tage dauern. Diese starken Unregelmäßigkeiten waren anscheinend chaotischer Natur und der Grund für den Bau der Raumstation auf Caeruleum-α gewesen, denn die Ursache für die Aberration war den Wissenschaftlern ein Rätsel und alle Versuche ihrer Erforschung mit den üblichen Messverfahren hatten keinerlei Anhaltspunkte geliefert. Auch die unbemannte Erkundung mit Sonden, die alle möglichen Daten gesammelt und zur nächstgelegenen Raumbasis übertragen hatten, war ohne Ergebnis geblieben.

Die Kräfte, die die Schwankungen der Geschwindigkeit der Eigenrotation bewirkten, mussten enorm sein, und man versprach sich, durch Untersuchung des Planeteninneren Erkenntnisse über vielleicht bislang unbekannte Formen von Energie und Mechanismen zu deren Umsetzung in bekannte Energieformen gewinnen zu können.

Nach einer Weile schaute Hannah auf die Borduhr, die 0250h anzeigte, doch sie fühlte sich nicht müde, obgleich sie nur etwa vier Stunden geschlafen hatte. Sie verließ ihre Unterkunft und ging den Korridor, der entlang der Innenseite des U-förmigen Baues verlief, der die Quartiere der Besatzung beherbergte, links herum entlang, was sie direkt zur Treppe in das Erdgeschoss führte.

Die Raumstation verfügte nur im Bereich der Unterkünfte über zwei Ebenen, so dass Hannah, um in das Laboratorium zu gelangen, zunächst in das untere Geschoss hinabgehen musste. Der U-förmige Komplex enthielt in der unteren Ebene Lagerräume. Der Gang, der die beiden Schenkel verband, führte links zunächst an der Küche vorbei und weiter zu der dahinterliegenden technischen Sektion mit den Lebenserhaltungssystemen und dem Stationscomputer. Dieser Sektion schloss sich der Kraftwerkskomplex mit dem die Station mit Energie versorgenden Fusionsreaktor an. Rechts herum passierte man zuerst den Eingang zum Biotop, das sich im Inneren des hufeisenförmigen Baues befand, dann die andere Treppe in die Sektion mit den Besatzungsunterkünften. Dieser Treppe gegenüber führte ein Gang zum Hangar, der durch eine Schleuse auf die Planetenoberfläche führte.

Hannah ging an der Treppe vorbei und gelangte in das Laboratorium, das der technischen Sektion am anderen Ende des Ganges gegenüber lag. Der Stationsrechner detektierte das Öffnen des Einganges und stellte dessen Verschlussanzeige zurück.

Im Laboratorium war es dunkel; man hörte nur das leise Summen elektrischer Geräte. Sie wandte sich nach rechts und durchschritt die Tür zur medizinischen Sektion der Raumstation. Diese war innerhalb des Laboratoriums in einem eigenen Bereich untergebracht und beherbergte neben einem komplett ausgestatteten OP auch ein medizinisches Labor und eine Quarantänestation. Auch hier war es dunkel bis auf die Kontrollleuchten der Geräte und des Lichtdimmers. Sie berührte ihn und der Stationsrechner erhellte den Raum allmählich, bis Hannah den Dimmer wieder losließ.

Sie wandte sich dem Gerät zur Blutanalyse zu und stellte befriedigt fest, dass das Ergebnis der Analyse ihrer Blutprobe, die der Stationsrechner vorgenommen hatte, bereits vorlag. Die Daten zeigten keinerlei Auffälligkeiten, womit sie auch nicht wirklich gerechnet hatte. Also schob sie den Grund für ihren gestörten Schlafrhythmus auf die psychischen Spannungen, denen sie ausgesetzt war, seit sie sich mehr und mehr zu Leonard hingezogen fühlte. Gleichzeitig hatte sich ihr Verhältnis zu David abgekühlt. Sie hielt es allerdings für besser, den wahren Grund für ihre Schlafstörungen weder David, noch Leonard oder Ljubow mitzuteilen, um innerhalb der Mannschaft keine weiteren Spannungen aufkommen zu lassen, als die, die sich durch die Isolation auf der Raumstation ohnehin aufbauten. Denn David ließ nicht erkennen, dass sein Interesse an ihr geschwunden wäre. Zudem war nicht zu sagen, ob Leonard ihre Zuneigung erwiderte.

Sie löschte das Licht und ging in die Küche. Dort traf sie zu ihrer Überraschung Ljubow, die sich gerade einen Tee zubereitet hatte. „Möchtest du auch einen?“, fragte Ljubow.

„Danke, ich bin schon wach“, erwiderte Hannah und dachte: „Ich könnte eher ein Sedativum vertragen.“ Sie nahm sich einen Becher mit Wasser und setzte sich zu Ljubow an den Tisch.

„Warst du vorhin schon mal hier?“, fragte Ljubow. „Die Küche war verschlossen, als ich kam, aber die Verschlussanzeige stand auf dreißig Sekunden und ich habe unterwegs niemanden gesehen.“

„Vielleicht ist sie defekt“, gab Hannah zurück.

„Muss wohl“, sagte Ljubow nachdenklich, „denn laut System sind Leonard und David in ihren Quartieren.“

„Die hat bestimmt einen Wackelkontakt.“

„Ich werde das am Vormittag mal überprüfen“, sagte Ljubow.

Hannah trank den Rest ihres Wassers aus, stand auf und stellte den Becher in den Reinigungsautomaten.

„Ich lege mich wieder hin, der Tag wird bestimmt anstrengend. Gute Nacht.“

„Schlaf gut.“

Hannah verließ die Küche und ging zurück zu ihrer Kabine.

Nachdem sich der Eingang zu ihrer Privatunterkunft leise mit dem typischen, pneumatisch klingenden Geräusch, das allen Türen der Station zu eigen war, geschlossen hatte, legte sie sich auf ihr Bett und schlief kurz darauf ein.

2

„Hier Raumbasis Kepler IV, schön euch wieder zu sehen!“, drang es aus dem Stationskommunikator. Es war 0625h und die Mannschaft hatte sich vor fünfzehn Minuten im zentralen Kommunikationsraum, der sich in der technischen Sektion befand, versammelt.

Der Planet war seit etwa einer Stunde aus dem Kommunikationsschatten zur Raumbasis getreten und würde zehn Stunden für diese erreichbar sein, ehe seine Umlaufbahn den Schwarzschildbereich des schwarzen Lochs wieder für 135 Standardtage zwischen sich und die Raumbasis bringen würde, was einen Datenaustausch unmöglich machte.

Die automatische Transmission der Protokolle sämtlicher technischer Systeme der Raumstation durch den Stationsrechner war gerade abgeschlossen.

„Dann lasst uns mal mit den Berichten beginnen“, sagte McEardon, der Kommandant von Kepler IV. Er war schottischer Abstammung, mittelgroß und hatte rotes Haar und rosige Wangen. „Dr. Alwin, möchten Sie vielleicht mit dem medizinischen Bericht beginnen?“

Hannah rückte ihren Sitz zentral vor die Videoeinheit des Kommunikationsgerätes und begann mit ihren Ausführungen.

„Die routinemäßigen Analyseergebnisse zu allen Mannschaftsmitgliedern liegen Ihnen ja laut Transmissionsprotokoll bereits vor. Am physischen Gesundheitszustand gibt es aus meiner Sicht unter Berücksichtigung der Umweltbedingungen vor Ort zurzeit keine Besorgnis erregenden Veränderungen.

Die leichte Erhöhung der Sauerstoffkonzentration und die Ausdehnung der Tagphase haben sich wie erwartet positiv ausgewirkt.“

„Sehr gut. Wie ist die Stimmung an Bord?“

„Ebenfalls ausgezeichnet“, log Hannah. Es gab keine offenen Reibereien, aber zumindest David und Hannah waren angespannt, was jedoch nach ihrer gemeinsamen Auffassung nichts für die Logbücher, sondern eine reine Privatangelegenheit war, mit der man in ihrem Beruf umgehen können musste, ohne die Mission zu belasten. „Ich sehe momentan keinen Handlungsbedarf hinsichtlich der Gesundheit der Mannschaft.“

„Gut, dann können wir zum Status der Raumstation kommen, Dr. Tscherakowa?“ Hannah und Ljubow wechselten die Plätze.

„Die ihnen vorliegenden Daten über den technischen Zustand laut unseres Zentralrechners geben keinen Grund zur Beanstandung. Wir haben in der Nacht eine Anomalie der Verschlussanzeige des Küchenbereiches registriert. Ich habe die Selbstdiagnose laufen lassen. Demnach war alles in Ordnung, allerdings erfasst die Selbstdiagnose laut Stationsrechner nicht die Anzeige selbst. Ich vermute, dass sie uns aus diesem Grunde auch nicht vom Computer gemeldet wurde. Können sie das bestätigen? Dann würde ich vorsichtshalber die Darstellungseinheit austauschen.“

„Ich werde das prüfen lassen; Sie erhalten innerhalb dieses Kommunikationsfensters noch eine Rückmeldung von uns.“

„Danke. Wir erwarten wie geplant mit der nächsten Versorgungssonde neues Fusionsmaterial und die Ersatzteile für den Hauptgenerator.“

„Die Versorgungssonde wird planmäßig in neun Tagen bei Ihnen eintreffen, Dr. Tscherakowa. Wie kommen Sie mit dem Forschungsprojekt weiter, Dr. Hilgert?“, wandte sich McEardon an David, der nun Ljubows Platz einnahm, um zu berichten.

„Wir arbeiten die Testszenarien bislang wie geplant durch, mir kommen allerdings langsam Zweifel, ob wir in der richtigen Richtung suchen“, begann er.

McEardon unterbrach ihn. „Was meinen Sie damit?“

„Nun, ich denke, dass wir von falschen Annahmen ausgehen, was die Quelle oder Art der Energie angeht, die die Frequenzschwankungen der Eigenrotation des Planeten bewirken. Wenn wir die Art der Energie oder deren Träger kennten, wüssten wir auch eher, nach welchem Absorbermaterial oder -mechanismus wir suchen müssen.“

„Haben Sie einen Ansatzpunkt?“

„Noch nicht, aber ich denke, das wäre eine Überlegung wert.“

„Ich werden das dem Planungsstab vorschlagen. Arbeiten Sie vorläufig bitte weiter wie geplant, bis Sie eine Entscheidung von uns erhalten.“

„Ja, gut“, sagte David nicht sonderlich begeistert, ließ sich aber nichts anmerken, denn auch wenn McEardon einen kollegialen Umgangston pflegte, war er, wie David aus Berichten anderer Wissenschaftler wusste, ein knallharter Militär, der keinen Widerspruch duldete. Er rechnete mit einer Entscheidung nicht vor dem nächsten Kommunikationsfenster.

„Nun bitte zu Ihrem Bericht, Dr. Clerveaux“, sagte McEardon.

Leonard begab sich vor den Kommunikationsschirm, die übrigen Mannschaftsmitglieder verließen wie üblich den Raum, bevor der Stationspsychologe seine Einschätzung hinsichtlich der psychischen Stabilität der Besatzungsmitglieder mit dem Kommandanten der Raumbasis teilte.

Nachdem sich die Tür geschlossen hatte, sagte Leonard: „Die Mannschaft ist nach wie vor in einem psychisch ausgezeichneten Zustand, bis auf die Beziehungsspannungen zwischen Dr. Alwin und Dr. Hilgert, die ich momentan aber noch nicht für bedenklich halte. Die Sicherheit der Mission ist nach meiner Auffassung in keiner Weise gefährdet.“

McEardon schien zufrieden zu sein: „Das freut mich zu hören, Dr. Clerveaux. Kepler IV Ende.“

„Delta IX Ende.“

3

Leonard ging in die Küche, wo die anderen bereits mit der Zubereitung des Frühstücks begonnen hatten. David stellt gerade die Marmelade auf den Tisch, als Leonard hereinkam.

„Na, das ging ja diesmal schnell, dann können wir ja loslegen, ich habe ziemlichen Hunger“, sagte Hannah. Leonard setzte sich Ljubow gegenüber an den Tisch.

„Haben wir dann alles?“, fragte David. Er setzte sich Hannah gegenüber auf den Stuhl und nahm sich ein Brötchen.

Obwohl die auf der Erde typische Art der Nahrung und deren Zubereitung für eine Raumstation anachronistisch und relativ teuer war, wollte man nicht darauf verzichten, weil dies einen positiven Einfluss auf die Psyche, der durch die Enge und Isolation gestressten Besatzung von Raumstationen hatte.

Hannah nahm sich ebenfalls ein Brötchen und beschmierte es mit Frischkäse und Marmelade. „Möchte noch jemand Tee?“, fragte sie in die Runde.

„Ich, bitte“, erwiderte Leonard und hielt seinen Becher in ihre Richtung. Er hatte sich ein Vollkornbrot mit Leberwurst und Zuckerrübensirup geschmiert, was die anderen Besatzungsmitglieder immer aufs Neue ziemlich befremdlich fanden, obwohl sie sich mittlerweile gut kannten, zumindest glaubten das alle.

„Ich hasse diese Bürokratie“, sagte David schlecht gelaunt.

„Wenn ihr mich fragt, suchen wir in der völlig falschen Richtung. Zumindest das sollte doch jedermann klar sein, der sich mit der Thematik beschäftigt. Seit fünf Jahren suchen wir nach der großen unbekannten Energieform und dem passenden Absorber“, fuhr er fort. „Dabei interessiert sich offenbar niemand dafür, dass die resultierende Gewichtskraft trotz der Schwankungen in der Rotationsfrequenz innerhalb der Messgenauigkeit absolut konstant bleibt – und das am Äquator.“

„Bist du denn weiter gekommen, was deine Theorie dazu angeht?“, fragte Ljubow, die das Thema ebenfalls interessierte.

„Ich habe da so eine Idee, muss das aber nochmal verifizieren, bevor ich darüber sprechen kann“, gab David zurück.

„Das klingt ja sehr geheimnisvoll“, zog Hannah ihn auf. Leonard hatte sein Brot aufgegessen und trank gerade seinen Tee aus, als David unvermittelt aufstand und mit den Worten: „Ihr werdet schon sehen“, den Raum verließ. Er ging die Treppe hinauf und in seine Unterkunft.

„Scheint etwas empfindlich zu sein, heute“, meinte Leonard.

„Das kann ich gut verstehen, schließlich ist das ganze schon seltsam. Die Messdaten deuten nicht gerade auf einen einfachen Energiewandel-Mechanismus hin“, verteidigte Ljubow David. Sie nahm sich noch einen Becher Tee, goss warme Milch hinein, und betrachtete nachdenklich die Milchwolken, bis sie sich aufgelöst hatten.

„Wenn das einer herausfinden kann, dann David“, stellte Leonard fest. „Was steht denn für heute auf dem Plan?“

„Oh, heute ist Gartenarbeit angesagt“, erwiderte Ljubow gut gelaunt, wohl wissend, dass Leonard die Arbeit im Biotop anwiderte.

Ein Biotop gehörte zu jeder Raumstation, um Informationen über die Anpassungsfähigkeit der verschiedenen Pflanzenund Tier-Mutanten an die Umwelt-, insbesondere die Bodenbedingungen des jeweiligen Planeten zu sammeln, die für das Fernziel der Besiedlung fremder Welten notwendig waren.

„Ich glaube, ich muss heute noch einige wichtige Berichte verfassen“, sagte Leonard und stand vom Tisch auf.

„Ein bisschen Bewegung wird dir bestimmt nicht schaden“, neckte Hannah ihn, denn tatsächlich fand sie ihn überaus attraktiv. Leonard war dreiundvierzig Jahre alt, groß, schlank, mit einem schmalen Gesicht, kobaltblauen Augen, graumeliertem Haar und er war in einer ausgezeichneten körperlichen Verfassung. Ihm war ihr Interesse an ihm nicht entgangen.

„Vielleicht haben Sie recht, Frau Doktor. Dann werde ich mal die Flora und Fauna begutachten“, sagte er zu Hannah.

„Bis später, Ljubow.“ Er verließ die Küche und strebte dem Biotop entgegen.

Ljubow trank einen Schluck Tee. Sie ahnte auch, dass Hannah an Leonard Gefallen gefunden hatte, wollte sie aber nicht darauf ansprechen.

„Nachricht für Dr. Tscherakowa“, tönte der Stationsrechner aus dem Lautsprecher.

„Das ist bestimmt die Rückmeldung bezüglich der Verschlussanzeige. Ich werde mal nachsehen“, sagte Ljubow. Sie stellte ihren Teller in den Reinigungsautomaten, nahm ihren halbvollen Becher, verließ ebenfalls die Küche, und betrat die technische Sektion. Nachdem sich die Tür zur Küche hinter ihr wieder geschlossen hatte, setzte der Stationsrechner die Verschlussanzeige zurück. Sie zeigte null Sekunden an, was Ljubow als völlig normal erachtete.

Hannah blieb allein in der Küche zurück und überlegte, ob sie mit David sprechen sollte. Sie hielt es aber für besser, das in einer entspannteren Stimmung zu tun, als sie momentan zwischen ihnen herrschte. Sie räumte die Überreste des Frühstücks auf und verließ ebenfalls die Küche, um ihre Kabine aufzusuchen.

4

Ljubow ließ sich die empfangene Nachricht ausgeben, die sich tatsächlich auf ihre Anfrage zur Darstellungseinheit bezog. Sie bestätigte, dass der Selbsttest der Verschlussanzeige die Darstellungseinheit nicht berücksichtigte. Die Datenbank des Stationsrechners enthielt eine komplette Beschreibung der Station. Hierin fanden sich neben Bauplänen, Teilebezeichnungen, Funktionsbeschreibungen, technischen Daten und detaillierten Reparaturanleitungen auch Beschreibungen zur Überprüfung der Funktionsfähigkeit annähernd aller Komponenten der Raumstation.

Ljubow ließ sich die Reparaturpläne für die Verschlussanzeige anzeigen. Im Unterabschnitt über die Darstellungseinheit fand sie die Teilenummer DR3SCD, eine Auflistung der zum Austausch erforderlichen Werkzeuge, und eine detaillierte Beschreibung der notwendigen Arbeitsschritte. Wie zu erwarten gab es keinen Abschnitt zur Überprüfung der Funktionsfähigkeit – weder war ein Selbsttest erwähnt, noch ein externes Prozedere.

Sie begab sich zum Lager unterhalb der Mannschaftsquartiere, das von beiden Seiten über Zugänge neben den Treppen erreichbar war, und nannte die gewünschte Teilenummer. Es waren laut Stationsrechner zwei Darstellungseinheiten vorhanden.

Das Lager war mehrreihig mit Regalen bestückt, die sich von Durchgängen unterbrochen, über das gesamte U-förmige Areal erstreckten. Die Darstellungseinheit DR3SCD war in Sektor 2, Gang 4, Regal 17, Ebene 2, Fach 9 zu finden. Ljubow ging zu Gang 4 und diesen entlang der U-Form bis zum nächsten Quergang, der die Sektoren 1 und 2 voneinander trennte, und dort die Stufen zur zweiten Ebene hinauf. Sie ging zum 17. Regal und griff in das erleuchtete Fach mit der Nummer 9, das neben der Darstellungseinheit auch den biometrischen Detektor DR3SCBAC-4 für die Verschlussanzeige enthielt, der die Zugangsberechtigungsprüfung und Aufenthaltskontrolle ermöglichte. Letztere hatte es dem Stationsrechner erlaubt, die Information über die für Ljubow bestimmte Nachricht in die Küche zu leiten, als sie sich dort beim Frühstück aufgehalten hatte. Sie entnahm eine Darstellungseinheit und der Stationsrechner glich die Lagerhaltungsdaten ab.

Als sie auf ihrem Rückweg am fünften Regal vorbeiging, hatte sie den Eindruck, als hätte sie etwas blitzen gesehen. Sie blickte durch den Laufrost der Ebene über ihr, sah aber nichts. Da sie sich aber ziemlich sicher war, dass es von oben gekommen war, ging sie weiter bis zur Sektorengrenze und stieg dort in die dritte Ebene hinauf. Sie blickte die Regale des Sektors 2 entlang – außer den Orientierungslichtern, die im Boden leuchteten, war es dunkel. Sie ging langsam zu Regal Nummer 5 – nichts.

Nachdem sie fünf Minuten gewartet hatte, ging sie zum Ausgang zurück. Sie fragte sich, ob sie, ohne dass es ihr bewusst wäre, vielleicht etwas abgespannt war und sich womöglich alles nur eingebildet hatte. Zuerst die Sache mit der Verschlussanzeige, nun das vermeintliche Aufblitzen im Lager – nichts davon war von einem der anderen beobachtet worden oder wiederholt aufgetreten. Sie beschloss, mit Leonard darüber zu sprechen, sobald sie die Darstellungseinheit ausgetauscht hätte. Zur Sicherheit ließ sie vom Stationsrechner die Selbstdiagnose der Lagerhaltung durchführen. Alle Systeme schienen einwandfrei zu arbeiten.

Sie ging mit der neuen Darstellungseinheit zurück zur technischen Sektion, entnahm dem Werkzeugschrank die zum Austausch notwendigen Werkzeuge, und las sich die erforderlichen Arbeitsschritte am Terminal durch. Die Reparatur war relativ einfach, da die fünfeckige Darstellungseinheit im Prinzip nur auf den Verschlussanzeige-Geber aufgesteckt und mit fünf Schrauben gesichert werden musste. Sie ging zurück zur Küchentür und kontrollierte die Anzeige – sechs Minuten, sieben Sekunden. Dann begann sie damit, die fünf Sicherungsbolzen herauszudrehen. Als sie die letzte Schraube gelöst hatte, erlosch die Anzeige, die sie nach dem Lösen der magnetischen Verriegelung des Kontaktblockes abzog. Sie setze die neue Darstellungseinheit ein, die selbsttätig arretierte, und verschraubte die Sicherungsbolzen. Sie las sieben Minuten dreizehn Sekunden ab – „Völlig in Ordnung“, dachte sie.

Der Stationsrechner registrierte den Wechsel anhand der fest kodierten, eindeutigen Identifikationsnummer und schrieb, wie zuvor für die Entnahme des Teiles im Lager, eine entsprechende Meldung in das Transmissionsprotokoll für den regelmäßigen automatischen Datenaustausch mit der Raumbasis.

5

Das Biotop einer Raumstation entsprach nicht dem, was man sich unter dem Begriff üblicherweise vorstellte. Keine Wiese mit Blumen, Bäumen, Sträuchern, einem Teich, Fischen, Vögeln und Mäusen. Kein Blätterrascheln, Quaken und Summen im goldenen Licht der Nachmittagssonne. Das Biotop von Delta IX war davon weit entfernt – es ähnelte eher einem Labor der Sicherheitsstufe 4 und war damit kein geeigneter Ort zur Erholung.

Vom Gang aus gelangte man über eine Druckschleuse zunächst in einen Vorraum, in dem die Schutzanzüge aufbewahrt wurden. Eine weitere Schleuse führte in die Entseuchungsstation, die wiederum durch eine Schleuse in das Labor führte. Von diesem aus betrat man durch eine letzte Schleuse schließlich das Biotop. Aus Sicherheitsgründen war der Luftdruck in den einzelnen Räumen vom Vorraum zum Biotop hin abnehmend, damit im Falle kleinerer Undichtigkeiten zwischen den Abschnitten keine Luft aus dem Biotop heraus in die anderen Bereiche der Station dringen konnte.

Leonard hatte innerhalb des Vorraumes den Überdruckanzug hermetisch versiegelt und die Luftversorgung abgeklemmt. Er durchschritt die Schleuse zur Entseuchungsstation und ging weiter durch das Labor hindurch, vorbei an dem Arbeitsplatz und dem kleinen Kühlraum. Im Biotop angekommen schloss er die Überdruck-Luftversorgung an seinen Anzug an.

Die Atemluft wurde innerhalb des Anzuges im Kopfbereich zugeführt und im Fußbereich wieder entnommen, so dass durch kleine Beschädigungen am Schutzanzug möglicherweise eintretende Viren oder Bakterien im Luftstrom vom Kopf weggeführt würden, um das Kontaminationsrisiko so gering wie möglich zu halten. Etwaige Luftverluste, und seien sie noch so gering, führten zu einem sofortigen Alarm und waren ein Grund zur unmittelbaren Rückkehr in den Entseuchungsbereich. Das war bislang allerdings glücklicherweise noch nicht vorgekommen.

Leonard standen fünf Stunden monotoner Arbeit bevor, zu der er das Biotop, das etwa die Ausmaße eines Baseball-Feldes hatte, systematisch abschritt und Proben der einzelnen Pflanzen und Tiere sowie Bodenproben exakt nach Vorschrift entnahm, in speziellen Behältnissen versiegelte und in der Tragetasche verstaute. Die Pflanzen zeigten teils Verkümmerungserscheinungen, teils Zeichen von Verbrennungen, aber auch ungewöhnlich gutes Gedeihen. Die Bodenverhältnisse hatten das bereits vermuten lassen und es überraschte Leonard nicht, obgleich er sich nicht im Detail mit den Voraussagen diesbezüglich auseinandergesetzt hatte. Was die Fauna anging, die sich ohnehin nur aus Kleinlebewesen zusammensetzte – Würmer und kleinere Insekten waren hier bereits Giganten – war nichts Auffälliges zu erkennen, und was die Mikroben anging würde ohnehin erst die Auswertung der labortechnischen Untersuchungen Klarheit über etwaige Veränderungen geben.

Leonard fand kein sonderliches Interesse an der Thematik, sah allerdings die Notwendigkeit des Unterfangens ein und so erledigte er die erforderlichen Arbeiten mit der gebotenen Sorgfalt. Das Biotop beherbergte 513 Pflanzen- und 1200 Tierarten, harmlose bis hochgiftige. Um keine bösen Überraschungen durch Mutationen zu erleben, die die Sicherheit der Station gefährden könnten, wurden die Screenings alle sieben Standardtage durchgeführt. Sieben Jahre zuvor hatte es einen Fall gegeben, in dem eine mutierte Pflanze eine Substanz abgesondert hatte, die den Schutzanzug des im Biotop Arbeitenden an einer winzigen Stelle im Kniebereich porös hatte werden lassen. So waren unbemerkt tödliche Viren, ebenfalls eine Mutation einer bis dahin eher harmlosen Art, ins Innere des Anzugs gelangt, als sich der Träger des Schutzanzuges auf die poröse Stelle gekniet hatte, wodurch das Ausströmen von Luft aus dem Inneren verhindert worden war. Die Viren wurden von dem Besatzungsmitglied eingeatmet und so in die Station transportiert. In der Folge wurde die komplette Besatzung kontaminiert und war binnen sechsunddreißig Stunden tot. Zwar war ein solches Zusammentreffen unglücklicher Umstände nicht besonders wahrscheinlich, aber um kein Risiko einzugehen, war die Zeitspanne zwischen aufeinanderfolgenden Probenentnahmen und -auswertungen seither halbiert worden und die entsprechenden Kontrollen waren streng. Auch hatte man die Schutzanzüge hinsichtlich Materials und Luftführung geändert und die Empfindlichkeit der Luftverlustmessungen erhöht.

Mittlerweile hatte Leonard etwa die Hälfte des Biotops hinter sich gebracht. Siebzig Pflanzen-, Insekten- und Bodenproben hatte er bereits gesammelt und sicher in der Tragetasche verstaut, etwa sechzig Proben fehlten noch. Er musste kurz innehalten, da sich seine anfänglich noch erträglichen Kopfschmerzen deutlich verschlimmert hatten und er sich nicht mehr konzentrieren konnte. Sein Magen fühlte sich zusammengeschnürt an und verursachte eine zunehmende Übelkeit, die er zu unterdrücken versuchte. Er atmete tief durch, doch die Übelkeit nahm nicht ab. Plötzlich wurde ihm schwindlig und er stürzte zu Boden, wo sein Kopf hart auf der Einfassung eines Pflanzbereiches aufschlug und er das Bewusstsein verlor.

6

Kepler IV war die letzte Bastion der interstellaren Konföderation innerhalb des bekannten Universums. Sie hatte die Form eines Rades mit acht Speichen, das etwa 80-mal pro Stunde komplett um sein würfelförmiges Zentrum rotierte, um im Außenbereich eine mit der Erdgravitation vergleichbare Beschleunigung zu erreichen. Der Torus, dessen äußerer Durchmesser 1000 Meter betrug, hatte einen quadratischen Querschnitt von 141 Metern.

Alle Bereiche der Raumbasis, in denen täglich gearbeitet wurde oder die der Unterkunft der 300-köpfigen Besatzung dienten sowie die Hangars für die Expeditions- und Frachtkreuzer, waren in einer der äußeren vier Ebenen des Torus untergebracht, während die übrigen 28 Ebenen und die Speichen des Rades im wesentlichen Lagerräume enthielten. Im Zentrum, das die Nabe des Rades bildete, war die zentrale Energieversorgung der Raumbasis gekapselt. Sie bestand aus einem hochleistungsfähigen Antimaterie-Reaktor sowie einem herkömmlichen Notfall-Fusionsreaktor.

Die Basis hatte hauptsächlich eine Versorgungsfunktion für die zehn Raumstationen, die in einem Umkreis von einem halben Lichtjahr um sie verteilt waren, darunter Delta IX auf Caeruleum-α, die sich etwa siebzig Standardlichttage von Kepler IV entfernt befand, sowie die Aufgabe der Errichtung weiterer acht geplanter Raumstationen innerhalb der nächsten drei Jahre.

Die Kommunikation der Basis mit den Raumstationen erfolgte über eine relativ neue Technik, die auf der Faltung der Raumzeit entlang einer Trägerwelle und dem Austausch von Gravitonen basierte, was eine nahezu verzögerungsfreie Kommunikation auch über größte Entfernungen ermöglichte.

Die Versorgung der Stationen erfolgte, soweit möglich, unbemannt über wiederverwendbare Versorgungssonden, wie gerade eine nach Delta IX unterwegs war. Diese Sonden wurden von der Raumbasis aus für diese rückstoßfrei beschleunigt und verfügten nur für die Landung am Zielort und den Rückflug über eine begrenzte Menge an Treibstoff. Das eingebaute Steuerungssystem wurde für den Landeanflug und den Start des Rückfluges von den Zentralrechnern am jeweiligen Zielort programmiert. Kleinere Korrekturen während des Fluges wurden von dem Regelungssystem selbsttätig vorgenommen.

Der Beratungsstab um den wissenschaftlichen Leiter von Kepler IV, Dr. Kovac, hatte beschlossen, die Untersuchungen auf Caeruleum-α von Dr. Hilgert nach dessen Ermessen weiterführen zu lassen. Einerseits konnte man sich die Messergebnisse ebenfalls nicht erklären, andererseits war David ein brillanter Wissenschaftler, der mit seinen auf den ersten Blick zuweilen abwegig scheinenden Ideen in der Vergangenheit oftmals erfolgreich Neuland betreten hatte. Man hoffte, dass dies auch diesmal der Fall sein würde, und wollte seine Kreativität nicht einschränken. Formal musste der Beschluss noch vom Kommandanten freigegeben werden, der dies im Fall Caeruleum-α freilich mit gemischten Gefühlen tat.

7

Als Dr. Kovacs positive Nachricht noch innerhalb des aktuellen Kommunikationsfensters auf Delta IX einging, das sich unmittelbar danach verschloss, war David mehr als erstaunt über die prompte Reaktion und seine Stimmung hellte sich schlagartig auf.

Er hatte allerdings nicht lange Grund sich zu freuen, weil kurz nach der Mitteilung über die Entscheidung hinsichtlich des weiteren geplanten Verlaufes der Forschungen auf Caeruleum-α eine Notfallmeldung aus den Kommunikationseinrichtungen innerhalb der Raumstation drang: „Störung in Sektion B1. Druckverlust im Überdruckanzug von Dr. Clerveaux; er ist bewusstlos. – Dr. Hilgert bitte sofort in Sektion B1. – Dr. Alwin bitte sofort in die Quarantänestation.“

David spurtete los. Hannah war sehr aufgeregt und ging sofort in die medizinische Sektion, wo sie sich den in der Quarantänestation vorgeschriebenen Überdruck-Schutzanzug anlegte. Vorher nahm sie ein Beruhigungsmittel ein, was der Stationsrechner in einer als streng geheim klassifizierten Code-Blau-Protokolldatei vermerkte. Hannah wusste, dass sie überreagierte, aber das führte ihr nochmals deutlich vor Augen, wie sehr sie sich um Leonard sorgte.

Derweil war David im Vorraum zum Biotop angekommen. Er zwängte sich schnellstmöglich in den Schutzanzug, während der Stationsrechner ihn mit allen messbaren Informationen zu Leonards Gesundheitszustand versorgte, verklebte den Anzug luftdicht und betrat die Entseuchungsstation. Als er schließlich in das Biotop gelangt war und die Luftversorgung angeschlossen hatte, hörte er über die Kommunikationseinrichtung des Anzuges die Sprachanweisungen des Stationsrechners, die ihn auf dem kürzesten Weg zu Leonard führten.

David bewegte sich mit äußerster Vorsicht, denn wenn auch er seinen Schutzanzug beschädigen sollte, hätten sie ein ernstes Problem. Er benötigte etwa eine Minute, um die Stelle, an der Leonard bewusstlos in der Bepflanzung lag, mit der Trage im Schlepptau zu erreichen. Er arretierte die Trage und versuchte Leonard aus der Kakteenpflanzung zu befreien, ohne dessen Schutzanzug ernsthaft zu beschädigen, denn ab einer gewissen Größe waren Löcher an sich bereits ein schwerwiegendes Problem, weil der Überdruck dann nicht mehr ausreichte, um ein Eindringen von Außenluft in den Schutzanzug zu verhindern. Glücklicherweise lag Leonard ab der Hüfte abwärts im Gang. Es gelang David, ihn am linken Arm, der oben lag, nach oben und zu sich hin zu ziehen, ohne dass größerer Schaden am Anzug entstand. Er ließ das eine Ende der Trage herab und zog Leonard die so entstandene Schräge mit dem Kopf voran hinauf. Dann betätigte er den Schalter, der die Liegefläche wieder in die Waagerechte brachte und schob seinen Kollegen zurück bis zur Entseuchungsstation.

Er setzte sie beide den physikalischen und chemischen Dekontaminationsprozessen aus, was exakt drei Minuten in Anspruch nahm. Das war auch für Leonard kein Problem, denn der Überdruck in seinem Anzug war ausreichend, nichts von den aggressiven Substanzen in den schützenden Anzug gelangen zu lassen. Der Stationsrechner gestattete den Zugang zum Vorraum aufgrund der Beschädigung des Anzuges allerdings erst, nachdem Leonard in einem speziell für solche Fälle konzipierten Sack eingehüllt, dieser versiegelt und mit Luft aufgepumpt worden war.

Als David Leonard, der immer noch bewusstlos war, in die medizinische Sektion schob, standen Hannah Schweißtropfen auf der Stirn.

„Was ist los, geht es dir nicht gut, Schatz?“ fragte David.

„Oh doch, es ist nur ein bisschen warm hier in dem Anzug. Ich glaube, die Lufttemperaturregelung der Überdruckversorgung ist verstellt. Ich werde Ljubow bei Gelegenheit bitten, das zu prüfen“, log sie – die Temperatur war völlig normal.

„Lass mal, ich mache das schon. Du wirst ja hier erst einmal eine Weile beschäftigt sein. Kann ich dir irgendwie helfen?“

„Ich glaube nicht, ich muss mit ihm gleich in die Quarantänestation und ihn aus dem Frischhaltebeutel holen, damit er uns nicht verdirbt“, versuchte sie wenig überzeugend locker zu wirken. Aber David schluckte die Erklärung, ohne Verdacht zu schöpfen und sagte: „OK, dann bis später“, und kehrte in das Labor zurück.

8

Hannah überprüfte nochmals die Blutanalyse und verließ die Quarantänestation. Es waren vier Tage seit Leonards Sturz im Biotop vergangen. Ein Stachel einer Kaktee hatte seinen Schutzanzug durchbohrt und seine Haut im Bereich des rechten Oberarmes punktiert. Seither hatte Hannah Leonard regelmäßig unter größten Schutzvorkehrungen Blutund Speichelproben entnommen und von den Laborgeräten analysieren lassen. Zur Sicherheit hatte sie auch Luftproben untersuchen lassen. Weder zeigte Leonard Anzeichen einer Krankheit, noch waren Bakterien, Pilze oder Viren in der Luft nachweisbar. Dennoch war er nach wie vor bewusstlos und sie war erschöpft, weil sie seither kaum geschlafen hatte.

Ljubow holte sie mittags zum Essen ab; David hatte sich in die Ausarbeitung seiner Theorie vertieft und seine Mahlzeit mit in das Laboratorium genommen. Hannah folgte Ljubow mit besorgtem Gesicht in die Küche. Beim Essen erkundigte sich Ljubow nach dem Stand Hannahs Untersuchungen.

„Ich mache mir Sorgen“, sagte sie, „Leonard ist immer noch bewusstlos und ich weiß nicht, ob und wenn ja, wann er in welchem Zustand wieder aufwachen wird.“

„Vielleicht solltest du dich ein wenig ausruhen“, unternahm Ljubow einen vorsichtigen Versuch, Hannah zum Sprechen über ihre Gefühle zu bewegen. Sie hoffte, dass Hannah dadurch wieder in ihr seelisches Gleichgewicht zurückfinden würde. Doch Hannah löffelte nur uninteressiert in ihrer Suppe, während sie in Gedanken bei Leonard war.

Ljubow startete einen neuen Versuch, ein Gespräch mit Hannah zu beginnen. „Wir haben Leonard alle sehr gern. Ich hoffe, dass er bald wieder gesund wird, aber dazu musst du dich etwas ausruhen. Warum schläfst du nicht einfach ein paar Stunden? Mir kommen die besten Ideen meist, wenn ich über ein Problem schlafe.“

„Du hast gut reden“, entfuhr es Hannah. Sie wusste allerdings nicht, ob sie es bereuen sollte oder nicht. Sie konnte sich schließlich nicht ewig verstellen; nicht David gegenüber, obwohl er am wenigsten bemerkt zu haben schien und nicht Leonard gegenüber, der es aber vermutlich schon ahnte. Aber am wenigsten konnte sie es vor Ljubows weiblicher Intuition verbergen. Sie schien genau zu wissen, was sie bewegte; sollte sie sich ihr anvertrauen? Sie war im Augenblick zu müde, um sich hierüber auch noch Gedanken machen zu können und beschloss, ihrer Bemerkung mit den Worten: „Das ist eine medizinische Herausforderung und wir können es uns nicht leisten, ein Mitglied unserer Mannschaft zu verlieren“, einen professionellen Charakter zu verleihen.

Ljubow spürte, dass Hannah noch nicht so weit war und wechselte das Thema. „Ich habe die Prüfung durchgeführt, um die du mich gebeten hattest. Der Stationsrechner hatte ebenfalls eine Temperaturerhöhung der Überdruckversorgung für den Quarantäne-Schutzanzug protokolliert. Allerdings bin ich bei der Ursachenforschung nicht weitergekommen. Die Selbstdiagnose für die Temperaturregulierung, die sofort vom Zentralrechner durchgeführt wurde, war fehlerfrei durchgelaufen. Es scheint sich also um einen temporären Effekt gehandelt zu haben.“

„Hm, vielleicht habe ich mich getäuscht und es war die ungewohnte Enge in dem Anzug“, gab Hannah zurück. Sie war sehr überrascht, dass der Stationsrechner eine Anomalie registriert hatte; ihr war die Temperatur völlig normal erschienen. „Schließlich habe ich ihn seit der Übung vor zwei Jahren nicht mehr angehabt. Und das war auch keine Stresssituation, wie sie ein realer Notfall darstellt“, schloss sie ihre Überlegungen ab.

„Leider haben wir ja momentan keine Kommunikationsmöglichkeit mit der Raumbasis, so dass ich nachfragen könnte, ob ich die Steuerung austauschen soll. Die würde ich mir schon gerne mal im Detail ansehen“, sagte Ljubow.

„Was empfiehlt denn der Stationsrechner diesbezüglich?“, erkundigte sich Hannah.

„Ihm zufolge sollten wir gar nichts tun. Andernfalls hätte er uns auch benachrichtigt. Ich glaube, dass die Station so langsam ein Alter erreicht hat, in dem die ersten Ausfallerscheinungen auftreten“, witzelte Ljubow, wohl wissend, dass das unter den Bedingungen auf Caeruleum-α frühestens nach 15 Jahren zu erwarten wäre.

Sie waren mittlerweile beim Nachtisch angekommen, als eine Meldung aus dem Kommunikator drang: „Dr. Alwin bitte in die Quarantänestation. Dr. Clerveaux ist wieder bei Bewusstsein.“

Hannah und Ljubow sahen sich erstaunt an, Hannah sprang auf und lief den Gang Richtung Laboratorium entlang. Ein Gefühl der Erleichterung durchflutete sie und sie wischte sich hastig eine Träne aus dem Augenwinkel. In der medizinischen Sektion angelangt, konnte sie Leonard durch das Beobachtungsfenster bereits sehen – er bewegte sich, soweit die Fixatoren um seinen Bauch, die Arme und Beine das zuließen. Hannah stieg in den Schutzanzug und betrat die Quarantänestation. Sie stand vor Leonards Bett und sie sahen sich an.

„Schön, dich wiederzusehen, Hannah“, begrüßte Leonard sie mit schwacher Stimme.

„Ja, das finde ich auch“, entgegnete sie, den Tränen nahe. „Du musst dich jetzt ausruhen, ich sehe dann später wieder vorbei. Wenn du etwas brauchst, sag bitte Bescheid.“

„Jawohl, Frau Doktor“, antwortete er und schloss erschöpft die Augen.

Hannah blieb noch einen Augenblick neben ihm stehen und verließ dann die Station. Sie ging müde in ihre Unterkunft hinauf, um etwas auszuruhen, denn Leonard würde sicherlich noch zehn Stunden schlafen. Sie betrat ihre Kabine, dimmte das Licht auf ein Minimum und legte sich auf ihr Bett, wo sie sofort einschlief.

9

David liebte es, mit Papier und Bleistift zu arbeiten, musste sich auf der Raumstation aber freilich mit elektronischem Papier und einem ebensolchen Stift begnügen. Er arbeitete fieberhaft an seiner Theorie, worüber er Raum und Zeit vergaß. Er konnte zwar immer noch nicht glauben, dass man ihm so schnell völlig freie Hand gelassen hatte, kümmerte sich aber um die Gründe hierfür wenig.

Ihm machte immer noch die Frage zu schaffen, wieso die Gravitationsbeschleunigung an den drei Messpunkten auf dem Äquator von Caeruleum-α innerhalb der Messungenauigkeiten zeitlich konstant war. Man hätte erwartet, dass die resultierende Beschleunigung proportional zum Quadrates der Rotationsfrequenz war und daher entsprechend ebenso schwankte. Die einzige Erklärung war daher, dass sich die Masse des Planeten selbst entsprechend änderte. David hatte alle Messungen mehrfach durchgeführt und die Lage der Messpunkte in der äquatorialen Ebene zueinander dabei geändert, doch immer hatte sich dasselbe Bild ergeben. Die Detektoren waren allerdings in Ordnung, denn wenn er sie vom Äquator aus in Richtung einer der Pole verschob, zeigte der Stationsrechner wie erwartet geringere Beschleunigungen an. Er sortierte noch einmal die Fakten und beschloss, sich etwas Ruhe zu gönnen, um einen freien Kopf für Ideen, die das Phänomen erklären konnten, zu bekommen.

Er aß den Rest seines mittlerweile erkalteten Mittagessens und trug das Tablett mit dem Geschirr darauf zurück in die Küche, wo er Ljubow in Gedanken versunken antraf. Er begrüßte sie und setzte sich zu ihr an den Tisch.

„Na Ljubow, was gibt es Neues in unserer kleinen Welt?“, eröffnete er die Unterhaltung.

Ljubow dachte an Hannah und sah ihn ernst an. „Leonard ist wieder bei Bewusstsein, Hannah schien mir ziemlich erleichtert“, begann sie vorsichtig.

David sagte unbekümmert: „Oh, das freut mich! Davon hat sie mir ja gar nichts erzählt. Wahrscheinlich wollte sie mich nicht beim Theoretisieren stören, sie ist ja immer sehr rücksichtsvoll.“

Ljubow konnte nicht glauben, dass er tatsächlich nichts bemerkt haben sollte und sagte nur: „Wenn du meinst. Was macht denn deine Theorie?“

„Ich habe noch einmal die Fakten sortiert und versuche gerade, einen freien Kopf zu bekommen. Ich bin ehrlich gesagt ziemlich überrascht, dass man mir ohne große Diskussionen freie Hand gelassen hat. Aber lass uns über etwas anderes sprechen, wenn es dir recht ist.“

Sie lenkte das Gespräch nochmals auf Leonard. „Das ist doch komisch, dass Leonard vier Tage lang bewusstlos ist, ohne dass die Messdaten auch nur irgendeinen Hinweis auf die Ursache geben, findest du nicht?“

„Tja, da musst du wohl Hannah fragen, die kennt sich da am besten aus. Ich würde auch denken, dass in der Fülle der Messdaten ein klarer Hinweis darauf steckt. Vielleicht muss Hannah sich die Daten nur noch einmal in Ruhe ansehen. Wo steckt sie eigentlich?“

„Sie wollte sich etwas ausruhen – sie hat sich bestimmt hingelegt und schläft.“

„Das ist eine gute Idee, ich denke, das werde ich auch tun. Bis später“, sagte David und ging zu seiner Unterkunft, die zwischen Ljubows und Leonards lag.

Die Verschlussanzeige signalisierte, dass Hannah seine Kabine vor zwanzig Minuten verlassen hatte. Er wunderte sich, dass Hannah nicht auf ihn gewartet hatte, schließlich hätte sie auch bei ihm schlafen können. Die naheliegendste Erklärung schien ihm zu sein, dass sie mit ihm hatte sprechen wollen und nach einer Zeit des Wartens dann doch zu müde gewesen wäre und sich hatte ausschlafen wollen. Dennoch beschloss er, sie darauf anzusprechen. Er setzte sich in seinem Wohnraum in einen bequemen Sessel und hörte Tristan und Isolde von Richard Wagner – ihre gemeinsame Musik. So verging der Nachmittag.

David fühlte sich durch das Abtauchen in die Musik erfrischt und beschloss, einen starken Kaffee zu trinken. Er betrat die Küche, entnahm dem Geschirrschrank seinen Becher und orderte einen Kaffee mit Milch am Nutrimaten, der Speisen aller Art aus den Lagerbeständen bereitstellte. Er setzte sich an den Tisch und nahm einen Schluck.

Wie sich die Masse des Planeten verändern konnte, leuchtete ihm sofort ein. Offensichtlich wurde vom Planeten Energie aufgenommen, was nach Einsteins Äquivalenzrelation einer Massenzunahme entsprach. Was David beschäftigte, begann mit der Art und der enormen Menge an Energie, die erforderlich war, um die durch die veränderte Rotationsfrequenz bedingte Gravitationsbeschleunigung auszugleichen. Dann stellte sich die Frage, wie die Energie gespeichert und zurückgewandelt wurde, wodurch das initiiert wurde und schließlich noch, wie innerhalb dieses gesamten Prozesses zudem eine gerichtete Rotationsbewegung entstand. Es gab also genügend Forschungsbedarf.

Als David die Küche mit dem halbvollen Becher verlassen und das Laboratorium gerade betreten hatte, fiel ihm ein, dass er am nächsten Morgen mit Ljubow zusammen eine Expedition im Gleiter unternehmen wollte, um einige Apparaturen zur Analyse tieferer Bodenschichten zu installieren und dazu hatte er noch einige Vorbereitungen zu treffen. Er machte sich umgehend an die Arbeit, die Apparate mithilfe des Stationsrechners zu eichen.

10

Der Boden gab unter dem Druck einer der Messstationen zur Bestimmung der Gravitationsbeschleunigung nach. Die Station fiel seitlich um und versank im blauen Staub. Sie schwamm in diesem mit auf eine tiefe Spalte zu und verschwand darin. Unmengen des blauen Staubs folgten ihr, bevor eine Platte, die schräg über der Spalte gestanden hatte und die durch die massenhafte Bewegung des sie umgebenden Mediums destabilisiert worden war, ebenfalls umkippte und die Spalte auf einer Länge von siebenhundert Metern abdeckte; die Messstation wurde unter dem gewaltigen Druck zermahlen. Der Stationsrechner registrierte den Verlust des Kontaktes zur Messstation, löste aber keinen Alarm aus.

11

Das Protokollmaterial der medizinischen Untersuchungen, die der Stationsrechner bereitstellte, war sehr umfangreich, aber Hannah hatte beschlossen, die Rohdaten selbst auszuwerten, um mögliche Anhaltspunkte für Leonards Bewusstseinsverlust zu erhalten. Sie hatte sofort damit begonnen, die Daten abzurufen, nachdem sie um 0236h aufgewacht war. Sie fühlte sich erfrischt und voller Tatendrang. Der Stationsrechner hatte ihr auf ihre Anfrage hin mitgeteilt, dass Leonard noch schlief und so beschloss sie, die Zeit bis zum gemeinsamen Frühstück bestmöglich zu nutzen.

Sie ließ sich sämtliche Messdaten hinsichtlich Leonards Gesundheitszustand in chronologischer Reihenfolge in graphischer Form anzeigen, ab dem Zeitpunkt, zu dem er den Schutzanzug im Vorraum zum Biotop angelegt hatte, bis zu seinem Erwachen. Sie konnte unmittelbar die physiologischen Veränderungen, die zur Bewusstlosigkeit geführt hatten, erkennen, erhielt aber wiederum keinen Hinweis darauf, warum sie bei der vergleichsweise geringen Verletzung des Hirns durch den Sturz, so lange angehalten hatte. Sie rief noch etliche Statistiken zu dem Themenbereich ab, konnte aber absolut nichts herausfinden, was ihre Fragen beantwortet hätte.

Es war mittlerweile 0645h und sie rief sich in Erinnerung, dass man zwar bereits sehr viel, aber lange noch nicht alles über den menschlichen Organismus und dessen Mechanismen kannte, und beschloss, das Geschehene hierunter zu verbuchen. Hannah hätte allerdings sofort eine Erklärung für dieses Ereignis gehabt, wenn sie Zugang zu der streng geheimen Code-Blau-Protokolldatei des Zentralrechners gehabt hätte. Sie wies diesen an, sie zu benachrichtigen, sobald Leonard erwachte, duschte ausgiebig und verließ ihre Unterkunft, um zum Frühstück zu gehen.

David hatte die Vorbereitungen gegen 2300h abgeschossen und sich erschöpft zur Ruhe begeben. Er hatte einen eigenartigen Traum, an den er sich unmittelbar nach dem Erwachen noch bruchstückhaft erinnern konnte:

Er befand sich im Laboratorium. Es war dunkel, bis auf einen rötlichen Lichtschein, der aus der medizinischen Sektion drang. Er sah aus dem Fenster auf die blaue Planetenoberfläche, die leicht zu pulsieren schien. Er hörte hinter sich ein Geräusch und drehte sich um. Auf halber Strecke zwischen sich und dem Eingang zur medizinischen Sektion sah er eine Falltür im Boden, die geöffnet war und aus der das Geräusch, das ihn an eine gewaltige Dampfmaschine erinnerte, drang. Er ging zu der Falltür hinüber und blickte hinein, konnte aber außer einer flachen Treppe, die sich im Dunkeln verlor, nichts erkennen.

Ljubow kam aus der medizinischen Sektion und stieg die Treppe hinab, ohne ihn zu bemerken. Er folgte ihr vorsichtig und rief nach ihr, woraufhin sie sich zu ihm umdrehte und sagte: „Komm mit, ich zeige dir ein Geheimnis.“ Sie gingen schweigend die Treppe hinab, es wurde immer wärmer und das Geräusch immer leiser. Die Treppe endete in einer runden, flachen Halle, die grün erleuchtet war. Es war absolut still. In die Wand der Halle waren drei Türen eingelassen, die alle gleich aussahen. „Entscheide dich, David“, sagte Ljubow, mit einem teuflischen Grinsen. David stand der Schweiß auf der Stirn. Er öffnete eine der Türen; es schlug ihm eine feuchte Hitze entgegen, er fühlte sich, als sei er erblindet. Ljubow schob ihn mit ungeheurer Kraft durch die Tür und folgte ihm. Die Tür fiel krachend hinter ihnen zu.

Er konnte nun erkennen, dass er sich in einem gigantischen, kuppelförmigen Raum befand. Mächtige Taue hingen vom höchsten Punkt der Kuppel, der im Dunkel verschwand. Sie waren im Boden auf Winden gewickelt. Ein Mann in roter Uniform gab Befehle und von irgendwoher drang ein dumpfes Trommeln, wie auf einer Galeere. Nun erkannte er viele Männer mit nackten, schweißbedeckten Oberkörpern, die die gewaltigen Winden betätigten. Das Bauwerk ächzte unter dem Zug der Taue und blauer Staub fiel von oben herab und bildete einen Schleier, auf dem er Hannahs Gesicht erkannte. Sie sah ihn an und schien etwas zu sagen, aber er konnte es nicht verstehen. Ihr Gesicht hatte einen versteinerten Ausdruck. Dann verstummte sie und lachte höhnisch auf, bevor ihr Antlitz vor seinen brennenden Augen verschwamm und er schweißgebadet erwachte.

Er stieg aus dem Bett,wusch sich und versuchte die Traumfetzen, die ihm in Erinnerung geblieben waren, zu verstehen, konnte sich aber keinen Reim darauf machen. Was wollte Ljubow ihm sagen, oder stand sie nur stellvertretend für jemand oder etwas anderes, oder ging es um Hannah. Doch diese Deutung, die ihm nicht sonderlich behagte, schien ihm zu einfach, um richtig sein zu können, aber vielleicht hatte der Traum ja auch gar nichts zu bedeuten und spiegelte nur seine Ängste wider. „Vielleicht werde ich mit Leonard darüber sprechen“, dachte er.

Nachdem er sich angezogen hatte verließ er seine Unterkunft Richtung Küche und traf Hannah, als sie gerade die Treppe herabsteigen wollte. Sie waren allein.

„Schade, dass du gestern Mittag nicht auf mich gewartet hast“, sagte er.

„Gewartet? Wo? Du hattest dein Mittagessen doch mit in das Laboratorium genommen. Ich war hundemüde und habe mich nach dem Essen gleich hingelegt und bis halb drei morgens geschlafen.“

„Aber du warst doch in meiner Kabine. Die Verschlussanzeige zeigte an, dass du gegen 1400h mein Quartier verlassen hast“, gab David erstaunt zurück.

„Ich sage dir doch, dass ich nicht in deiner Kabine war. Vielleicht ist ja deine Verschlussanzeige auch defekt, so wie die an der Küche neulich.“

„Das scheinen mir doch ein paar Zufälle zu viel“, sagte David leicht verärgert. Entweder belog sie ihn, wofür er keinen Grund erkennen konnte, oder die Verschlussanzeige war tatsächlich defekt, was er zwar für ausgeschlossen hielt, sich aber leicht nachprüfen lassen sollte. Im Zweifelsfalle aber bedeutete es, dass sie ihn tatsächlich nicht hatte treffen wollen, um ihre Probleme mit ihm zu besprechen. Und das schmerzte ihn, weil sie das früher immer getan hatte und es einen weiteren Schritt in ihrer Abkehr von ihm bedeutete, deren Beweggründe er nicht verstand und über die Hannah nicht sprechen wollte. So gingen sie gemeinsam die Treppe hinab.

„Schade“, sagte David in der Hoffnung, dass sie darauf einging, aber sie erwiderte nichts.

Das Frühstück zu dritt war entsprechend für alle Beteiligten ein notwendiges Übel. David setzte sich Ljubow gegenüber und besprach mit ihr die Details der für 0800h geplanten Expedition. Hannah sah er nicht an und sie schwieg gedankenverloren. Ohne ein Wort räumte er nach dem Frühstück sein Geschirr weg und verließ die Küche.

12

Im Hangar wartete der mittelschwere Expeditionsgleiter vom Typ Expeditor bereits beladen auf seinen Einsatz. Das Schiff gehörte zur Crow-Klasse, die für wissenschaftliche Untersuchungen ausgelegt war. Der Gleiter war aus einer ultraleichten Metalllegierung hergestellt, die zwei Decks umschloss. Das untere Deck beherbergte die Frachträume und eine Toilette, das obere das Cockpit, zwei Schlafgelegenheiten und einen Arbeitsplatz. Das Schiff maß dreißig Meter in der Länge, sieben in der Breite und erhob sich auf seinen drei gefederten Beinen sechs Meter in die Höhe.

Ljubow und David stiegen vom Hangar aus über den als Schleuse ausgeführten Personeneinstieg in das Schiffsinnere und schlossen das Schott hinter sich. Da sie aus einem geschützten Bereich kamen, öffnete sich das inneren Schott automatisch, ohne den Abschluss der sonst obligatorischen Dekontaminationsprozeduren zu erfordern. Sie gingen nach vorn zum Cockpit und Ljubow, als die weitaus Erfahrenere an den Steuerinstrumenten, nahm den Platz des Piloten ein, David den des Co-Piloten.

Sie legte den Hauptschalter um und die Instrumente um sie herum flammten rot auf. Der Check der Systemfunktionen lief automatisch ab und dauerte ca. zwanzig Sekunden, wobei die Beleuchtung der an einer Funktion beteiligten Komponente nach erfolgreicher Prüfung auf ein gedecktes Weiß wechselte. „Alle Systeme operieren gemäß Spezifikation“, meldete der Bordcomputer nach der erfolgreichen Prüfung.

Der Gleiter war für das autarke Operieren ausgelegt, wurde also nicht vom Stationscomputer gesteuert, da eine Kommunikation nicht immer gewährleistet werden konnte und auch in unbekannter Umgebung operiert werden können musste. Ljubow rief die Koordinaten der einzelnen Ziele ihres heutigen Fluges vom Stationsrechner ab und ließ sie in den Bordrechner übertragen. Die Navigationseinheit bestätigte den Empfang durch ein blaues Blinken der Kontrollleuchten und errechnete anhand der kartographischen Daten der Planetenoberfläche eine visuelle Darstellung des empfohlenen Kurses, die in das vordere Sichtfenster des Gleiters eingeblendet werden konnte. Ljubow war eine begeisterte Fliegerin und forderte die manuelle Steuerung an, weil ihr das eigenhändige Steuern des Gleiters immer ein Gefühl der Ursprünglichkeit vermittelte. „Na, dann mal los“, sagte sie.

Sie startete die Antriebsaggregate, die mit einem leichten Summen ihre Arbeit aufnahmen und forderte beim Stationsrechner die Starterlaubnis an, die umgehend erteilt wurde. Sie ließ den Gleiter vom Boden abheben und wartete darauf, dass sich das innere Schott der Hangarschleuse zur Planetenoberfläche öffnete. Das Bewegen der Schiffe innerhalb des Hangars war aus Sicherheitsgründen der automatischen Steuerung vorbehalten, die den Gleiter nun langsam in die Schleuse flog, die sich hinter ihm schloss. Die Luft wurde abgepumpt und das äußere Schott öffnete sich. Ljubow konnte es kaum erwarten, dass die automatische Steuerung das Schiff aus dem kritischen Bereich manövriert hatte und die Kontrolle an die Handsteuerung übergab. Da immer noch Nacht herrschte, musste Ljubow nach Instrumentenanzeigen fliegen.

Caeruleum-α besaß eine relativ dünne gasförmige Atmosphäre, durch die man sehr schnell fliegen konnte, ohne Hitzeschäden am Gleiter zu riskieren, der aus Gewichtsgründen anders als schwerere Schiffe nicht mit einem schützenden Kraftfeld umgeben war. Ljubow beschleunigte den Expeditor langsam und die Aggregate sprachen mit einem leichten Fauchen verzögerungsfrei an. Ihr erstes Ziel waren die drei Messpunkte für die Gravitationsbeschleunigung am Äqua tor. Das Schiff glitt in einer Höhe von etwa zwanzig Metern in Rotationsrichtung des Planeten in einer Art Spiralbahn Richtung Äquator über die Oberfläche.

Nach etwa einer halben Stunde dämmerte es am Horizont und sie konnten nun mehr und mehr die schemenhafte Struktur der Planetenoberfläche erkennen. Alles war viele Meter von einem blauen Staub bedeckt, dem der Planet seinen Namen verdankte und der von der Atmosphäre beständig leicht bewegt und verwirbelt wurde, so dass sich die starke Strukturierung der darunterliegenden Schichten nur durch Messverfahren, die die Staubschicht durchdrangen, erschloss. Die Oberflächenstruktur der obersten dieser Schichten war überraschend bizarr, gemessen an der durch die dicke Staubschicht verhältnismäßig glatten Oberfläche. Tiefe Spalten, Felsblöcke und aufrecht oder schräg aus dem Grund ragende Platten, die an Monokristalle erinnerten, wechselten einander ab, wohin man auch sah. Das machte die Untersuchungen darunterliegender Schichten nicht einfacher. Die unbemannten Erkundungssonden waren aber bereits vorher gescheitert, denn die Standardverfahren zur Darstellung der tieferliegenden Schichten des Planeten versagten, da die unter dem Staub liegende Schicht ein idealer Reflektor für die hierbei verwendete Strahlung war. Eine der Aufgaben im Rahmen der Forschungsarbeiten auf Caeruleum-α bestand dementsprechend darin, ein geeignetes Verfahren hierfür zu entwickeln.

Ljubow und David glitten im Expeditor weiter über die sanfte Dünenlandschaft, der Tag-Nacht-Linie entgegen. Die Sonne schien langsam über den Horizont auf sie zuzukriechen und warf mit ihrem kühlen Licht gespenstische Schatten auf die Planetenoberfläche. Sie hatten noch etwa zwanzig Minuten bis zur Ankunft.

Davids Gedanken waren zu Hannah geschweift und ihn beschäftigte wieder die Frage, ob sie in seiner Kabine gewesen war oder nicht.

„Ich glaube, die Verschlussanzeige meines Quartiers ist defekt. Könntest du das bei Gelegenheit mal überprüfen?“, fragte er.

„Wie kommst du darauf, dass sie defekt ist?“, wollte Ljubow wissen.

„Sie hat mir gestern Nachmittag angezeigt, Hannah habe zwanzig Minuten zuvor meine Kabine verlassen. Als ich sie heute Morgen traf und darauf ansprach, sagte sie mir, dass sie vom Mittagessen aus gleich in ihre Kabine gegangen sei und dort bis zum frühen Morgen geschlafen habe“, entgegnete David, ohne seine Zweifel an Hannahs Aufrichtigkeit in dieser Angelegenheit zu äußern. Er wollte vielmehr, ohne das Thema selbst anzuschneiden, herausfinden, was Ljubow als Frau darüber dachte.

Sie konnte sich einerseits gut vorstellen, dass Hannah mit David hatte sprechen wollen, sich dann aber zu müde für eine sich vermutlich als anstrengend herausstellende Auseinandersetzung gefühlt und zur Ruhe begeben hatte. Andererseits sah sie keinen Grund dafür, dass sie daraus ein Geheimnis hätte machen sollen. Dass die Verschlussanzeige an Davids Unterkunft ebenfalls defekt sein sollte, klang für sie eher unwahrscheinlich. Falls es jedoch zutraf, dass auch diese Anzeige falsche Informationen lieferte, war das ein Grund zu ernster Sorge, denn das wären zu viele Ausfälle und würde eine aufwendige Generalüberprüfung notwendig machen.

„Ich werde mir das morgen mal ansehen“, sagte sie schließlich nur.

Das war nicht gerade das, was David sich als Antwort erwartet hatte, also fragte er: „Hältst du das denn für plausibel?“

„Nun ja, plausibel würde ich vielleicht nicht gerade sagen, aber möglich wäre es schon“, wich sie seinem Versuch aus.

Er sah ein, dass er momentan nicht mehr erfahren würde und lenkte seine Gedanken auf die bevorstehenden Arbeiten. Für das Einsammeln und Neupositionieren der Beschleuni gungsmesser würden sie etwa vier Stunden benötigen und weitere zwei für das Installieren der Tiefenbohrautomaten, die Aufschluss über die Dicke, Struktur und Zusammensetzung der Schicht direkt unterhalb der Staubschicht des Planeten geben sollten.

„Das ist die Position der ersten Messstation“,sagte Ljubow, nachdem sie den Expeditor gestoppt hatte.

„Bist du sicher? Ich kann sie nicht sehen“, fragte David.

„Vielleicht ist sie unter der Staubschicht. Ich schalte mal den Empfänger für den Peilsender an.“

„Das bringt doch nichts“, sagte David ungehalten. „Die Staubschicht verschluckt das Peilsignal bereits ab einer Dicke von einem Zentimeter. Lass uns mal das Echolot anschmeißen, damit wir sehen können, was wir im Staub so finden.“

Doch die Messstation war nicht zu entdecken. „Überprüfe doch bitte noch einmal die Koordinaten, Ljubow.“ David kannte sie natürlich auswendig, konnte sich das scheinbare Verschwinden aber nicht anders erklären, als dass die Navigationseinheit des Gleiters nicht die vom Stationsrechner als erstes Ziel übermittelte Position anzeigte, sie sich also gar nicht dort befanden, wo die erste Messstation aufgestellt worden war. Ljubow hielt es zwar für unnötig, verglich die Angaben aber dennoch. Die von der Navigationseinheit angezeigten und die vom Stationsrechner übermittelten Koordinaten stimmten exakt überein.

„Ich möchte dich ja nicht beunruhigen, aber so eine Messstation verschwindet nicht einfach. Kann es nicht sein, dass die Navigationseinheit vielleicht defekt ist?“, sagte er.

„Es muss eine andere Erklärung geben. Der Check war in Ordnung, sonst wären wir nicht abgeflogen“, sagte Ljubow entschieden. Sie hoffte, dass sie recht damit hatte, hatte aber keine Idee, warum die Messstation nicht aufzufinden war.

Sie startete eine Anfrage beim Stationsrechner über deren Verbleib. Dieser legte daraufhin einen Protokolleintrag über den Abbruch der Kommunikation mit der Messvorrichtung an, datierte ihn eine Stunde zurück und übermittelte sie in den Gleiter.

„Laut Stationsrechner ist die Kommunikation vor einer Stunde abgerissen. Lass uns zur nächsten Position fliegen, vielleicht bringt das Licht in die Sache“, schlug sie vor.

„Einverstanden. Wie lange brauchen wir?“

„Eine Stunde und siebenundzwanzig Minuten.“

„Dann lass uns keine Zeit verlieren.“

Sie erreichten die nächste Messstation in exakt der angegebenen Zeit. Die Koordinaten der Navigationseinheit stimmten mit den vom Stationsrechner übermittelten überein.

„Komisch, die erste Messstation scheint tatsächlich verschwunden zu sein. Das kann nicht sein, es gibt auf Caeruleumα keine seismische Aktivität, die das bewirkt haben könnte“, sagte David.

Ljubow war ebenso ratlos wie David. Sie beschlossen, wie geplant fortzufahren und den Fall zu untersuchen, wenn sie zur Station zurückgekehrt wären. Sie kamen gut voran und erreichten Delta IX nachmittags wieder, wo sie sich gleich in die technische Sektion begaben, in der sie sich Antworten auf ihre Fragen zu erhalten versprachen.

13

Leonard ging es sechs Tage nach seinem Unfall wieder bedeutend besser. Er musste noch zwei Tage auf der Quarantänestation verbringen, vorausgesetzt es gab keine weiteren Messergebnisse, die dagegen sprachen. Hannah war ganz froh darüber, ihn in sicherem Gewahrsam zu haben, konnte sie ihn doch unter medizinischem Vorwand so oft sehen, wie es ihr unter normalen Umständen nicht vergönnt war.

Auch Leonard war ihre ständige Nähe alles andere als unangenehm, er musste aber auch die Konsequenzen für ihre Mission bedenken. Als Psychologe wusste er nur zu gut, dass Menschen unter Bedingungen, wie sie auf einer Forschungsstation, die praktisch isoliert ist, herrschen, ohnehin starkem Stress ausgesetzt sind und dass sich unter den gegebenen Umständen leicht ein nicht mehr zu kontrollierender Zustand ergeben könnte, wenn er sich mit Hannah einließe und David das mitbekäme. Und dass das früher oder später der Fall sein würde, stand für ihn außer Frage.

Er glaubte, dass David trotz seiner anscheinenden Kühle und Beherrschtheit durchaus zu einer Kurzschlusshandlung fähig wäre, die die gesamte Mannschaft gefährden könnte. Daher musste er Hannah auf Distanz halten, ohne sie zu verletzen, schließlich gab es auch eine Zeit nach dem Aufenthalt auf der Forschungsstation und da konnte er sich ein Zusammenleben mit ihr gut vorstellen. Das Problem war indes, dass er ihr das nicht sagen konnte, da sich allein durch das Wissen ihr Verhalten ändern würde und das wollte er nicht riskieren. Also begegnete er ihr freundlich, aber unverbindlich, um sich alle Optionen offen zu halten. Sowohl ihm als auch Hannah würde das auf Dauer auch nicht gut bekommen, aber viel leicht würde sich die Situation bald wieder entspannen, so dass sie doch noch früher als erwartet zusammenkämen.

„Na, wie geht es uns denn heute“, neckte sie ihn, als sie in ihrem Schutzanzug die Station betrat.

„Oh, ich fühle mich noch sehr schwach, Frau Doktor“, sagte er mit leidender Miene. Sie lachten beide.

„Sie können froh sein, überhaupt noch zu leben, mein Lieber. Das war eine medizinische Glanzleistung, wenn ich das in aller Bescheidenheit sagen darf. Sie waren einer Spontanheilung teilhaftig, wie sie nur den wenigsten vergönnt ist, die dem Tode geweiht sind“, witzelte sie weiter, bevor sie sagte: „Nein, mal im Ernst; ich habe keine Ahnung, wieso du so lange bewusstlos warst. Und das macht mich schon nachdenklich“.

„Du bist eine verdammt gute Medizinerin, Hannah, aber es gibt so viele Phänomene, die zwar erforscht und statistisch beschrieben, deren zugrundeliegende Mechanismen aber gar nicht oder nicht vollständig verstanden sind. In der Psychologie ist das trotz allen technischen Fortschritts sogar immer noch in den meisten und vor allem den grundlegendsten Bereichen so. Und nach meinem Verständnis sind es gerade die, die auch hier von Interesse sind. Du solltest dir nicht zu viele Gedanken darüber machen“, versuchte er sie aufzubauen und sie sah ihn dankbar an.

„Wahrscheinlich hast du recht, ich versuche immer zu perfekt zu sein. Hast du übrigens schon gehört, dass eine von Davids Messstationen verschwunden ist?“

„Guter Witz“, sagte Leonard, der ihr kein Wort glaubte, amüsiert.

„Du glaubst mir wohl nicht. Es stimmt aber, David und Ljubow waren ganz aufgeregt, als sie heute Nachmittag von ihrer Exkursion zurückkamen. Sie sind direkt in die technische Sektion geeilt, um sich genauere Informationen zu beschaffen. Ich habe David so noch nie erlebt.“ Letzteres stützte Leonards Ansicht über David als unberechenbaren Faktor.

„Wieso sollte die Messstation verschwunden sein? Das kann nicht sein. Oder hast du je etwas davon gehört, dass es auf Caeruleum-α Plattenbewegungen oder Beben gegeben hätte?“, sagte Leonard, der nun sichtlich überrascht war.

„Nicht, dass ich wüsste, aber ich kenne mich in diesen Themen auch nicht wirklich aus und Davids Arbeit interessiert mich auch nicht übermäßig“, versuchte sie einen ersten ernsthafteren Vorstoß auf ihre Beziehung zueinander zu sprechen zu kommen.

„David wird schon wissen, was er tut“, versuchte Leonard eine Diskussion ihrer Gefühle füreinander zu entgehen. Sie wagte es nicht, in ihn zu dringen und verabschiedete sich mit den Worten:

„Du hast wohl recht. Am besten ruhst du dich noch ein wenig aus, ich sehe später wieder nach dir.“

„OK, ich freue mich darauf, Hannah“, bemühte er sich, ihre sichtliche Verärgerung zu dämpfen, doch sie verließ die Quarantänestation ohne ein weiteres Wort.

14