Coaching und Beratung in der Praxis - Alica Ryba - E-Book

Coaching und Beratung in der Praxis E-Book

Alica Ryba

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Beschreibung

Wie kann ich meine Klienten dabei unterstützen sich dauerhaft zu verändern? Welche Methoden sind aus neurobiologischer Sicht wirksam? Wie kann integrative Beratung gelingen? Mit diesen grundlegenden Fragen beschäftigen sich die Autoren dieses praxisorientierten Werkes. Führende Experten aus den Bereichen Coaching und Psychotherapie stellen ihre aus neurobiologischer Sicht wirksamen Methoden vor. Dieses Buch versteht sich als praxisorientierte Fortsetzung des erfolgreichen Grundlagenwerks »Coaching, Beratung und Gehirn«. Die dort dargelegten theoretischen Grundlagen werden hier für die praktische Arbeit umsetzbar gemacht. Dadurch entsteht ein erstes integratives Coachingmodell, welches neurobiologische Grundlagenkenntnisse mit hohem Praxisbezug verbindet. Unter anderem erläutert das Buch folgende Punkte anschaulich: • Diagnostik in der Beratung • Beziehungsgestaltung mit dem Klienten • Coachingansätze und ihre Wirkungsweisen • Wirksamkeit und Wirkfaktoren von Coaching • Integratives Beratungsmodell • Zahlreiche Tools, Übungen und Fallbeispiele

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Seitenzahl: 695

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Alica Ryba, Gerhard Roth (Hrsg.)

Coaching und Beratung in der Praxis

Ein neurowissenschaftlich fundiertes Integrationsmodell

Klett-Cotta

Impressum

Das Werk einschließlich aller seiner Teile ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung ist ohne Zustimmung des Verlags unzulässig. Das gilt insbesondere für Vervielfältigungen, Übersetzungen, Mikroverfilmungen und die Speicherung und Verarbeitung in elektronischen Systemen.

Klett-Cotta

www.klett-cotta.de

© 2019 by J. G. Cotta’sche Buchhandlung

Nachfolger GmbH, gegr. 1659, Stuttgart

Alle Rechte vorbehalten

Cover: Rothfos und Gabler, Hamburg

Datenkonvertierung: Dörlemann Satz, Lemförde

Printausgabe: ISBN 978-3-608-96215-4

E-Book: ISBN 978-3-608-11095-1

PDF-E-Book: ISBN 978-3-608-20396-7

Dieses E-Book basiert auf der aktuellen Auflage der Printausgabe.

Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek

Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.d-nb.de abrufbar.

Inhalt

Einleitung

Teil 1 – Theorie

1.1 Coaching, Beratung und Gehirn: Neurobiologische Grundlagen wirksamer Veränderungskonzepte

Gerhard Roth und Alica Ryba

1.2 Das Unbewusste im Coaching

Alica Ryba und Gerhard Roth

1.3 Ohne Integration ist alles nichtsSkizze einer Metatheorie der Psychodynamik

Klaus Eidenschink

1.4 Das Zürcher Ressourcen Modell in Theorie und Praxis

Maja Storch und Julia Weber

1.5 Kommentar zum Aufsatz »Das Zürcher Ressourcen Modell in Theorie und Praxis« von Maja Storch und Julia Weber

Gerhard Roth

1.6 Spielstand 1:0 – Die Wirksamkeit von Coaching

Hansjörg Künzli

Teil 2 – Praxis

2.1 

OPD

-basierte Diagnostik im Coaching

Cord Benecke und Heidi Möller

2.2 Die Beziehung als Wirkfaktor

Alica Ryba, inklusive eines Interviews mit Frank-M. Staemmler

Coachingansätze

2.3 Einführung und Orientierung für das Hauptkapitel »Coachingansätze«

Alica Ryba und Gerhard Roth

2.4 Einführung in den psychoanalytischen Ansatz

Alica Ryba

2.5 Psychodynamisches Coaching

Heidi Möller und Thomas Giernalczyk

2.6 Kommentar zur Einführung in den psychoanalytischen Ansatz und zum Beitrag von Heidi Möller und Thomas Giernalczyk

Gerhard Roth

2.7 Einführung in den Hypnotherapeutischen Ansatz

Alica Ryba

2.8 Generatives Coaching

Eva Wieprecht, interviewt von Alica Ryba

2.9 Kommentar zur Einführung in den Hypnotherapeutischen Ansatz und zum Interview mit Eva Wieprecht zum Generativen Coaching

Gerhard Roth

2.10 Einführung in den Verhaltenstherapeutischen Ansatz

Alica Ryba

2.11 Schemacoaching

Anke Handrock und Maike Baumann

2.12 Kommentar zur Einführung in den Verhaltenstherapeutischen Ansatz und zum Beitrag von Anke Handrock und Maike Baumann

Gerhard Roth

2.13 Einführung in die Humanistischen Ansätze

Alica Ryba

2.14 Der Hintergrund der Transaktionsanalyse

Ulrich Dehner

2.15 Emotionsfokussiertes Coaching

Claas-Hinrich Lammers

2.16 Kommentar zur Einführung in die Humanistischen Ansätze und zu den Beiträgen von Ulrich Dehner und Claas-Hinrich Lammers

Gerhard Roth

2.17 Körperzentriertes Coaching

Alica Ryba und Gerhard Roth, mit einer Übung von Jörg Dierkes

2.18 Einführung in den Systemischen Ansatz

Alica Ryba

2.19 Personzentrierte Systemtheorie im Coaching

Jürgen Kriz

2.20 Lösungsfokussiertes Coaching

Marco Ronzani

2.21 Kommentar zur Einführung in den Systemischen Ansatz und zum Beitrag von Jürgen Kriz

Gerhard Roth

Teil 3 – Modell und Gesamtfazit

3.1 Die Grundlagen des integrativen, neurobiologisch fundierten Coaching

Gerhard Roth und Alica Ryba

3.2 Überblick der Interventionen im Buch und Abschlussbemerkung

Alica Ryba und Gerhard Roth

Verzeichnis der Autorinnen und Autoren

Einleitung

Coaching erlebt seit Jahren einen weltweiten Aufschwung und ist aus vielen Bereichen unseres beruflichen und privaten Lebens nicht mehr wegzudenken. Seit 2002 hat in Deutschland eine Phase vertiefter Professionalisierung eingesetzt, um dem Container-Begriff des Coaching ein seriöses Fundament zu geben (Böning, 2005). Im Rahmen der diesbezüglich geführten Debatte kommt der Wirksamkeitsforschung eine wichtige Rolle zu. Nach Auswertung von vier Metaanalysen kommen Kotte et al. (2016) zu dem Schluss: »Coaching insgesamt wirkt, aber es wirkt nicht immer.«

Die meisten Coaches gehen eklektisch vor und kombinieren verschiedene Methoden aus unterschiedlichen Psychotherapieschulen. Ziel dabei ist, die Wirksamkeit und Effizienz ihrer Intervention zu erhöhen, indem der Klient ein auf seine Bedürfnisse zugeschnittenes Beratungsangebot erhält. Dies wird von ihnen als ein erfolgsorientiertes und flexibles Vorgehen betrachtet. Der Eklektizismus wird jedoch häufig als ein konzeptloses Herausnehmen und Vermischen unterschiedlicher Techniken kritisiert, dem weder ein theoretischer Hintergrund noch ein Menschenbild zugrunde liegt.

So erscheinen dem nüchternen Betrachter viele Coaching-Angebote weder konzeptbasiert noch empirisch überprüft. Manche Angebote können zwar durchaus Wirksamkeit vorweisen, besitzen aber kein wissenschaftlich fundiertes Konzept einschließlich eines Erklärungsmodells für den Erfolg ihrer Interventionen. Wünschenswert ist beides – eine wissenschaftliche Fundierung und ein Wirkungsnachweis, der internationalen Standards genügt.

Vor diesem Hintergrund haben wir, Alica Ryba und Gerhard Roth, im Jahr 2016 unser Buch »Coaching, Beratung und Gehirn – Neurobiologische Grundlagen wirksamer Veränderungskonzepte« vorgelegt, in dem wir nach Analyse gängiger Coaching- und Psychotherapiekonzepte die Grundlagen eines integrativen und wissenschaftlich fundierten Coaching zu umreißen versuchten (vgl. Kapitel 1.1 – Zusammenfassung). Im Zentrum standen dabei unser »Vier-Ebenen-Modell« von Gehirn und Psyche und das Modell der sechs psychoneuralen Grundsysteme, die zusammen von uns inzwischen »Transformationsmodell« genannt werden (siehe Kapitel 3.1), und die entsprechenden Schlussfolgerungen für das Coaching.

Unser Buch hat in den zwei Jahren nach seinem Erscheinen eine sehr günstige Aufnahme erfahren, aber es besteht die Notwendigkeit einer weiteren positiv-kritischen Diskussion. Wir sehen die für wirksames Coaching zentrale Herausforderung darin, eine effektive Integration der verschiedenen Interventionen auf Basis einer kohärenten Theorie zu entwickeln. Hierfür bieten sich neurowissenschaftliche Erkenntnisse hervorragend an.

Ein solcher integrativer Ansatz wird nicht nur im Coaching, sondern auch in der Psychotherapie in Überwindung »schulischen« Denkens seit längerem gefordert, z.B. von Klaus Grawe (2004), ist aber nur mit erheblichem kritischen Aufwand zu erreichen. Eine wissenschaftliche Fundierung besteht in einem konsistenten Erklärungsmodell für die Ursachen und Gründe der Probleme, die durch Coachingmaßnahmen behoben werden sollen, sowie für die genauen Wirkungsweisen der Maßnahmen. Grundaussage unseres Buches war und ist, dass Coaching-Maßnahmen einen hohen Grad an Passung hinsichtlich der Persönlichkeit des Klienten, der Art und Stärke seiner Defizite sowie seiner Ressourcen und deren Vorgeschichte haben müssen. Kurz gesagt: Vieles wirkt, aber nicht bei jeder Person und bei allen Problemen. Coaching muss deshalb in seinen Maßnahmen stets sehr flexibel vorgehen.

Ein wichtiger Diskussionspunkt betrifft die Frage, wie Coaching sich von Psychotherapie unterscheidet. Manche Coaches vertreten die Auffassung, Coaching sei etwas für Gesunde und ziele vornehmlich auf berufliche Probleme und Tätigkeiten ab. Psychotherapie habe hingegen mit Belastungen und Störungen von Persönlichkeit und Psyche zu tun. Eine solche scharfe Abgrenzung nach Gesundheit und Krankheit trifft jedoch auf zahlreiche begriffliche und praktische Schwierigkeiten. De facto zeigt sich, dass es einen großen Überschneidungsbereich der beiden Beratungsverfahren gibt. Thematisch rücken im Coaching die Wechselwirkungen zwischen Personen und ihrer Professions- und Organisationswelt in den Fokus. Genau dies macht den besonderen Mehrwert dieses Beratungsformates aus. Rein geschäftliche Themen werden in diesem Rahmen somit selten bearbeitet, ebenso wenig wie schwere psychische Störungen. Aber das große Kontinuum der arbeitsbezogenen Probleme zwischen diesen beiden Polen ist Thema des Coaching. Die Persönlichkeit des Klienten spielt dabei eine große Rolle, auch wenn andere Faktoren auf individueller, Team- und Organisationsebene relevant sein können.

In Unternehmen und Verwaltungen haben scheinbar rein organisatorische Probleme nahezu immer auch mit Personen und Persönlichkeiten zu tun, mit den Einstellungen, Verhaltensweisen und Motiven der Vorgesetzten sowie Mitarbeitern. Jede soziale Interaktion und Kommunikation wird bestimmt von der Persönlichkeit der Beteiligten. Selbst beim Wunsch einer Leistungssteigerung kommt der Coach nicht umhin, sich mit der Persönlichkeit, der Befindlichkeit und Motivationslage des Klienten hinreichend zu befassen. Natürlich kann die Persönlichkeit im Coaching stärker oder weniger deutlich im Vordergrund stehen, aber ganz ohne ihre Berücksichtigung kommt kein Coaching aus.

Es ist deshalb für ein fundiertes Coaching-Konzept erforderlich, hinreichend Kenntnisse darüber zu haben, wie sich Persönlichkeiten in ihrer Vielfalt entwickeln, von welchen wichtigen Faktoren dies abhängt und wie und in welchem Maße man die Persönlichkeit eines Menschen als Privatperson und als beruflichen Partner ändern kann.

In den vergangenen zwei Jahrzehnten haben sich Neurowissenschaftler bemüht, in enger Zusammenarbeit mit Persönlichkeits-, Entwicklungs- und Sozialpsychologen, Psychiatern und Psychotherapeuten die neurobiologischen Grundlagen der Entwicklung der Persönlichkeit und Psyche und damit auch die Möglichkeiten und Grenzen der Veränderbarkeit des Fühlens, Denkens und Handelns zu erkennen. Dazu liegt inzwischen eine kaum mehr überschaubare und oft schwer verständliche Fachliteratur vor, was erklärt, dass diese Erkenntnisse bisher nur wenig Eingang in das Coaching gefunden haben. Bisherige Versuche eines »Neuro-Coaching« wurden fast ausschließlich von Nicht-Neurobiologen vorgenommen und können deshalb kaum einer wissenschaftlichen Fundierung des Coaching dienen.

Ein damit zusammenhängender Diskussionspunkt ist der Rückgriff auf Erklärungsmodelle und Verfahren der Psychotherapie. Diese wurden hinsichtlich ihrer Wirksamkeit in den vergangenen zwei Jahrzehnten einer rigorosen Überprüfung unterzogen. Die Wirksamkeitsstudien betreffen folgende Punkte:

(1)Psychotherapie wirkt, allerdings weniger, als jeweils angegeben. Über alles hinweg wirken psychotherapeutische Maßnahmen bei einem Drittel der Patienten gut und langfristig, bei einem weiteren Drittel nur mäßig bzw. nicht langfristig, und beim letzten Drittel überhaupt nicht. Dies ist im Übrigen bei der Pharmakotherapie genauso. (2)Zwischen den unterschiedlichen Richtungen gibt es über alles hinweg keinerlei Wirksamkeitsunterschiede, d.h. je nach Patient, Störung und Lebensumständen ist das eine Verfahren im Vergleich zu anderen wirksamer oder weniger wirksam bis unwirksam. (3)Psychotherapeutische Verfahren müssen auf unterschiedlichen Ebenen ansetzen, nämlich auf der Ebene des subjektiven Erlebens, des Verhaltens und der Körperbefindlichkeit. (4)Ein wichtiger Wirkungsfaktor – und oft der wichtigste – ist das Vertrauensverhältnis zwischen Patient und Therapeut, »therapeutische Allianz« genannt. In diesem Zusammenhang ist anstelle von rein kognitiven und rein gesprächsorientierten Verfahren die Ausrichtung auf Emotionen, Bindung und Empathie zentral.

Für das Coaching sind diese Erkenntnisse sehr bedeutsam, denn sie stellen ein starkes Plädoyer dar für ein integratives und individualisiertes Vorgehen auf den unterschiedlichen Ebenen, auf denen sich die Defizite und Störungen manifestieren (Erleben, Verhalten, Körper). Wir haben den Eindruck, dass das vorliegende Buch einen wichtigen Schritt in diese Richtung darstellt. Dabei ist uns bewusst, dass unser Fokus auf die Persönlichkeitsentwicklung des Klienten gerichtet ist.

Das Entwickeln einer integrativen Theorie ist ein anspruchsvoller und kontinuierlicher Prozess – wir möchten uns bedanken bei all denjenigen Denkern, auf denen unsere Arbeit aufbaut, und um Nachsicht bitten bei all jenen, deren Theorien wir nicht verarbeitet haben.

Wir haben uns entschlossen, verschiedene CoachingexpertInnen zu Wort kommen zu lassen, um einen integrativen Diskurs mit neurowissenschaftlichem Bezugsmodell anzuregen. Außerdem war es uns ein Anliegen, neben einer theoretischen Weiterentwicklung auch eine erste »Übersetzung« in praktische Interventionen zu liefern. Das Buch gliedert sich somit grob in einen schwerpunktmäßig theoretischen Einführungsteil und einen praxisorientierten Teil, in dessen Zentrum die verschiedenen Coachingansätze stehen, welche aus neurowissenschaftlicher Perspektive kommentiert werden.

Der Einführungsteil startet mit einer kurzen Zusammenfassung der wesentlichen Konzepte aus unserem Buch »Coaching, Beratung und Gehirn«. Das von uns vertretene Grundkonzept eines neurobiologisch fundierten Coaching, das Transformationsmodell, umfasst die psychodynamische Grundüberzeugung, dass dem bewussten Erleben und Tun unbewusste und vorbewusste Geschehnisse zugrunde liegen. Deswegen schließt sich an den Einführungstext ein Beitrag von uns, der den Begriff des Unbewussten beleuchtet und verschiedene Zugänge aufzeigt. Dieser dient darüber hinaus als Orientierung, um den Begriff des Unbewussten in den folgenden Beiträgen der anderen Autoren besser einordnen zu können.

Wir freuen uns, dass Klaus Eidenschink im Anschluss seine integrative Metatheorie der Veränderung darstellt. Diese identifiziert veränderungswirksame Faktoren in den jeweiligen Coaching- und Psychotherapieansätzen vor dem Hintergrund einer psychodynamisch-systemtheoretischen Konzeption der Psyche.

Das Zürcher Ressourcen Modell, welches vor 25 Jahren als Selbstmanagement-Training entwickelt wurde, gilt als wichtige Theorie im Coaching, die nicht nur psychologische, sondern auch neurowissenschaftliche Erkenntnisse einbezieht. Wir schätzen es, dass Maja Storch und Julia Weber das ZRM in unserem Buch vorstellen und uns um eine kritische Stellungnahme gebeten haben.

Der Beitrag von Hansjörg Künzli gibt einen wertvollen Überblick über den Forschungsstand der Wirksamkeit des Coaching und liefert somit wichtige Hinweise für Theoretiker und Praktiker.

Als grundlegend für jede Coaching-Praxis betrachten wir die Diagnostik und das Beziehungsangebot des Coachs. Deswegen startet der praxisorientierte Teil mit einem Beitrag von Cord Benecke und Heidi Möller zum Thema OPD-basierter Diagnostik im Coaching. Die Operationalisierte Psychodynamische Diagnostik (OPD) ist in unserem Konzept insofern von Bedeutung, als sie eine Anregung für das Vier-Ebenen-Modell der Persönlichkeit gegeben hat (siehe Kapitel 3.1).

Der Beitrag von Alica Ryba beleuchtet den Wirkfaktor Beziehung und versucht Praktikern erste Hinweise zu der Frage zu liefern, wie genau eine gute Beziehung im Coaching gefördert werden kann. Besonderer Dank gilt hier dem Gestalttherapeuten Frank Staemmler, der sich als Interviewpartner zur Verfügung gestellt und Einblick in seine Arbeit gewährt hat.

Kernstück des Buches ist die Darstellung und neurowissenschaftliche Kommentierung von unterschiedlichen Coachingschulen. Dazu haben wir VertreterInnen verschiedener Ansätze gebeten, ihre Vorgehensweise darzustellen und diese einer Stellungnahme durch uns auszusetzen. Dies erfordert Offenheit und Mut, weshalb wir den im vorliegenden Buch vertretenen AutorInnen außerordentlich dankbar für ihr Mitwirken sind! Selbstverständlich hatten sie Gelegenheit, unsere Stellungnahmen ihrerseits kritisch zu überprüfen.

Wir haben uns bemüht, die großen Entwicklungslinien der Psychotherapie- und Coachingansätze vorzustellen. So findet sich vor jedem dargestellten Coachingansatz eine kurze und systematische Einordnung in seine Historie durch Alica Ryba. Erst dann stellt der oder die jeweilige VertreterIn des Ansatzes diesen dar, wobei die praktischen Veränderungsmethoden einen besonderen Stellenwert einnehmen. Die jeweiligen Beiträge werden schließlich aus neurowissenschaftlicher Perspektive durch Gerhard Roth betrachtet. Folgende Coachingansätze werden auf diese Weise behandelt:

Psychodynamisches Coaching: Heidi Möller und Thomas Giernalczyk

Generatives Coaching: Eva Wieprecht interviewt von Alica Ryba

Schemacoaching: Anke Handrock und Maike Baumann

Transaktionsanalyse: Ulrich Dehner

Emotionsfokussiertes Coaching: Claas-Hinrich Lammers

Körperzentriertes Coaching: Alica Ryba und Gerhard Roth

Personzentrierte Systemtheorie: Jürgen Kriz

Lösungsfokussiertes Coaching: Marco Ronzani

Praktisch alle Beiträge zeigen eine deutliche Tendenz zu einem »schulenübergreifenden« Ansatz, was das traditionelle Schubladendenken bereits teilweise überwindet. Die Verbindung der jeweils dargestellten Konzepte mit den Erkenntnissen der Hirnforschung ist dort leichter, wo diese Konzepte, z.B. verhaltenstherapeutischer oder psychodynamischer Art, bereits über Brücken zu den Bio- und Neurowissenschaften verfügen. Schwieriger wird es bei den als wirksam nachgewiesenen Coachingverfahren, die eher geisteswissenschaftlich und/oder rein praxisorientiert sind, wie etwa die humanistischen Theorien (personzentrierte Therapie oder Gestalttherapie), die Hypnotherapie oder die körperzentrierte Therapie. Hier geht es darum, die jeweiligen Wirkungsweisen in möglichst plausibler Weise mit Prozessen im Nervensystem und Körper in Verbindung zu bringen. Insofern betreten wir hiermit Neuland.

Unser Buch schließt mit einer zusammenfassenden Weiterentwicklung unserer theoretischen Überlegungen sowie den Beiträgen der verschiedenen Autoren, welche in die Darstellung unseres Transformationsmodells münden. Mit diesem Modell möchten wir Coaches eine neurowissenschaftlich fundierte Grundlage für integratives, professionelles Handeln bieten. Jeder Coach kann damit seine eigene Praxis reflektieren und überprüfen, inwiefern er die drei Interventionsebenen Erleben, Verhalten und Körper in seine Beratung einbezieht. Die im Buch dargestellten Ansätze und Methoden liefern Anregungen, um den eigenen Methodenkoffer zu erweitern sowie das als wichtiger Wirkfaktor identifizierte Arbeitsbündnis zu fördern. Wir möchten zu einer vertieften Auseinandersetzung mit den einzelnen Ansätzen im Rahmen von Coaching-Weiterbildungen ermuntern, denn auch aus neurowissenschaftlicher Sicht gilt »Übung macht den Meister«. Das integrative Handeln ist anspruchsvoll und bedarf neben dieser mannigfaltigen Methodenkompetenz auch ein kohärentes theoretisches Modell, dessen Grundzüge wir in unseren beiden Büchern dargestellt haben. Wir wünschen unseren Lesern eine inspirierende Lektüre und freuen uns über Lob, Kritik und Anregungen.

Alica Ryba und Gerhard Roth

Literatur

Böning, U. (2005): Coaching: Der Siegeszug eines Personalentwicklungs-Instruments – Eine 15-Jahres-Bilanz. In: C. Rauen (Hrsg.), Handbuch Coaching (S. 21–54), 3., überarb. und erw. Aufl., Göttingen: Hogrefe

Grawe, K. (2004): Neuropsychotherapie. Göttingen: Hogrefe

Kotte, S., D. Hinn, K. Oellerich und H. Möller (2016): Der Stand der Coachingforschung: Kernergebnisse der vorliegenden Metaanalysen. Organisationsberatung – Supervision – Coaching 1: 5–23

Teil 1 – Theorie

1.1 Coaching, Beratung und Gehirn: Neurobiologische Grundlagen wirksamer Veränderungskonzepte

Gerhard Roth und Alica Ryba

In dieser Einführung fassen wir wichtige Erkenntnisse und Konzepte aus unserem Buch »Coaching, Beratung und Gehirn« in komprimierter Form zusammen, um eine Grundlage für die folgenden Ausführungen bereitzustellen.

Welche Interventionen wirken und welche nicht? – Ergebnisse der Psychotherapie-Wirkungsforschung

Im Coaching findet eine Vielzahl von Interventionen Anwendung, die – wie eingangs erwähnt –, von Ausnahmen abgesehen, hinsichtlich ihrer Wirkung bisher nicht hinreichend empirisch überprüft worden sind. In dieser Situation empfehlen viele Coaching-Experten, sich an Interventionsformen anerkannter Psychotherapieverfahren zu orientieren, weil bei ihnen sowohl ein wissenschaftlich fundiertes Konzept als auch der Nachweis der tatsächlichen Wirksamkeit vorzuliegen scheint. Dabei muss allerdings gefragt werden, wie wissenschaftlich fundiert und in ihrer Wirkung belegt die psychotherapeutischen Richtlinienverfahren tatsächlich sind. Dies betrifft die Ergebnisse der Psychotherapie-Wirksamkeitsforschung, die inzwischen international einen hohen Standard erreicht hat. Diese beziehen sich allerdings nur auf Verfahren, die vom »Wissenschaftlichen Beirat Psychotherapie« als »wissenschaftlich nachgewiesene Verfahren« anerkannt wurden, nämlich die Verhaltenstherapie und die psychoanalytisch und tiefenpsychologisch fundierte Psychotherapie. Man nennt sie deshalb auch »Richtlinien-Verfahren«.

Zusammengefasst zeigt sich ein recht differenziertes und ziemlich kritisches Bild (ausführlich in Roth und Strüber, 2018):

Die verschiedenen Richtlinien-Psychotherapien geben für sich selbst offiziell hohe Wirksamkeitsraten an und ziehen gleichzeitig die Wirksamkeit der jeweils anderen Verfahren in Zweifel.

Unabhängige internationale Untersuchungen zeigen jedoch: Die unterschiedlichen Richtlinienverfahren weisen im Gesamtvergleich die gleiche Wirksamkeit auf, die zudem viel geringer ist, als offiziell behauptet und ungefähr dem »Drittelgesetz« folgt, d.h., bei einem Drittel der Patienten zeigt sich eine deutliche längerfristige Wirkung, bei einem weiteren Drittel ist die Wirkung nur mäßig oder nicht dauerhaft und beim restlichen Drittel ist keine Wirkung feststellbar.

Die jeweiligen Wirksamkeitsmodelle weisen trotz nachweislicher Wirksamkeit der Verfahren aus neurowissenschaftlicher Sicht Mängel auf.

Wirksamkeitsstudien deuten auf einen gemeinsamen Wirkfaktor hin, die »therapeutische Allianz« bzw. das »Arbeitsbündnis«. Dieser Faktor kann bereits einen großen Teil der Wirkung eines Psychotherapieverfahrens erklären.

Die »Manualtreue« der Therapeuten, d.h. dass ein Therapeut auch den Richtlinien seiner Schulzugehörigkeit entsprechend arbeitet, ist bei allen Richtungen oft gering und wird auch nicht kontrolliert. Ob beispielsweise ein kognitiver Verhaltenstherapeut tatsächlich nach dem entsprechenden und vom Beirat als »wissenschaftlich fundiert« anerkannten Modell der KVT arbeitet, geht also nicht in die offiziellen Wirksamkeitskriterien ein. Ist dieser Therapeut erfolgreich, so wird dies gegebenenfalls in unzulässiger Weise seiner Therapierichtung als Erfolg zugeschrieben und nicht der Qualität seiner Beziehung zum Patienten.

Besonders bemerkenswert ist, dass es zwischen den z.T. heftig miteinander konkurrierenden Richtlinien-Verfahren über alle Krankheiten, Patienten und Therapeuten und Behandlungen hinweg keine signifikanten Unterschiede gibt. Dies kann man folgendermaßen erklären:

Es gibt starke unspezifische und damit allen Heilverfahren zugrunde liegende Wirkmechanismen, früher etwas despektierlich »Placebo-Effekt« und heute besser »therapeutische Allianz« oder »Arbeitsbündnis« genannt, wie bereits erwähnt.

Die enorme Streuung der verschiedenen Variablen, die bei den verschiedenen Therapieverfahren hinsichtlich der Auswahl der Patienten, des tatsächlichen therapeutischen Tuns, der unterschiedlichen Erfolgskriterien höchst unterschiedlich sind, ist so hoch, dass sie tatsächlich vorhandene Wirksamkeitsunterschiede verdeckt.

Es kommt auf die individualisierte Passung zwischen Patient, Störung und Therapie an, und zwar bei jeglicher Therapie- oder Behandlungsrichtung.

Jedes Verfahren verfügt über Elemente und Techniken, die eine Wirkung zeigen, sowie über Elemente und Techniken, die keinerlei nachweisbare Wirkung haben.

Zahlreiche Untersuchungen zur Effektivität von Psychotherapien zeigen, dass bei allen Behandlungsweisen 30–70 %, zuweilen 100 % der Wirkung auf einen gemeinsamen und unspezifischen Faktor zurückzugehen. Nach Ansicht des Pioniers auf diesem Gebiet, des amerikanischen Psychiaters J. D. Frank (1961), kann man in diesem Zusammenhang drei Grundelemente einer erfolgreichen Behandlung erkennen:

Vertrauen des Behandelten in den Behandelnden;

Überzeugung des Behandelnden, dass er dem Behandelten helfen kann;

Vertrauen beider in die Methode.

Metaanalysen zur Wirksamkeit von Coaching zeigen ganz ähnliche Ergebnisse.

Der bekannte, 2005 verstorbene Psychotherapie-Forscher Klaus Grawe hat angesichts dieser kritischen Situation fünf Wirkfaktoren guter Psychotherapie herausgearbeitet, was auch vielen Beratungs- und Coaching-Theoretikern als Vorbild diente, aber leider bisher kaum in die Praxis einging, geschweige denn zu einem schulenübergreifenden Beratungsmodell geführt hat. Die entscheidenden Bestandteile sind folgende:

(

1

)

Therapeutische Allianz:

Die Qualität der Beziehung zwischen Patient und Psychotherapeut trägt wesentlich zum Therapieverlauf und -ergebnis bei.

(

2

)

Ressourcenaktivierung:

»Unter dem Begriff ›Ressourcen‹ werden alle Möglichkeiten subsumiert, die einem Menschen zur Befriedigung seiner Grundbedürfnisse zur Verfügung stehen« (Smith und Grawe, 2003, S. 111). Ressourcen beschreiben also die positiven Persönlichkeitsmerkmale und -erfahrungen eines Klienten, seine Entwicklungsmöglichkeiten, Motivationen und Fähigkeiten. Hierbei geht es etwa um Selbstwertgefühl, Orientierung und Sinnhaftigkeit des eigenen Lebens, um Problembewältigung, Impulskontrolle, Selbstwirksamkeit, Erkennen der eigenen Motive und Ziele sowie um Bindungserfahrung.

(

3

)

Problemaktualisierung:

Die Probleme, die in der Therapie verändert werden sollen, sollten unmittelbar erfahrbar sein. Therapeut und Patient suchen daher reale Problemsituationen auf oder aktualisieren erlebnismäßig die Probleme durch besondere Techniken wie intensives Erzählen, Imaginationsübungen, Rollenspiele.

(

4

)

Motivationale Klärung:

Die Therapie erreicht mit geeigneten Maßnahmen, dass der Patient ein Bewusstsein der Ursprünge und Hintergründe sowie der aufrechterhaltenden Faktoren seines problematischen Erlebens und Verhaltens gewinnt – allerdings als

Ermutigung

und nicht als doktrinäre »Aufklärung«.

(

5

)

Problembewältigung:

Die Behandlung unterstützt den Patienten direkt oder indirekt mit problemspezifischen Maßnahmen darin, wiederholt positive Bewältigungserfahrungen im Umgang mit seinen Problemen zu machen. Dabei handelt es sich überwiegend um prozedurales, d.h. auf Einübung beruhendes Lernen. Dadurch werden alte Gewohnheiten zugeschüttet und neue Gewohnheiten entstehen.

Welche Faktoren bestimmen aus neurowissenschaftlicher Sicht unsere Persönlichkeit und Psyche?

Bei jedem Coaching und jeder Psychotherapie muss die Persönlichkeit der Menschen bei der Intervention berücksichtigt werden – gleichgültig, ob es sich um private oder berufliche Dinge handelt. Eine wissenschaftlich fundierte Kenntnis über die bedingenden Faktoren unserer Persönlichkeit und Psyche und ihre Veränderbarkeit ist deshalb dringend erforderlich.

Über lange Zeit war in Philosophie, Psychologie und den Verhaltenswissenschaften die Frage danach heftig umstritten. Es standen sich zwei Lager gegenüber, die entweder die »Anlagen« oder die »Umwelt« als entscheidende Faktoren ansahen. Dieser Streit hat sich zumindest im Prinzip erledigt, denn es hat sich herausgestellt, dass bei unterschiedlichen Bereichen der Persönlichkeit und der Psyche eine unterschiedliche Wechselwirkung von Anlage- und von Umweltfaktoren vorliegt. Es handelt sich dabei um folgende Faktoren:

Genetische und epigenetische, d.h. genregulatorische Mechanismen. Während Erstere sich nur über Tausende von Jahren ändern, können epigenetische Änderungen von einer Generation zur anderen spontan auftreten oder durch bestimmte Umwelteinflusse vorgeburtlich oder nachgeburtlich hervorgerufen sein. Unter bestimmten Bedingungen können sie auch vererbt werden.

Vorgeburtliche physiologisch-hormonale Beeinflussungen des Gehirns und Körpers des Fötus durch Gehirn und Körper der werdenden Mutter. Der Fötus ist über Blutbahn, Plazenta und Nabelschnur mit dem Kreislauf und dem Gehirn der Mutter verbunden. Hierüber gelangen bestimmte hormonale Signale, z.B. Stress- und Sexualhormone, vom mütterlichen Gehirn in das des Fötus und können dessen Entwicklung verändern. Dabei kann es im negativen Fall zu tiefgreifenden Störungen der fötalen Entwicklung kommen, etwa wenn die Mutter während der Schwangerschaft oder vorher schwer traumatisiert wurde. Auch dies kann unter Umständen vererbt werden.

Frühe nachgeburtliche Einwirkungen der Umwelt, insbesondere hinsichtlich der Qualität der frühen Bindungserfahrungen und der frühen Sozialisierung. Diese greifen über das Verhalten der primären Bezugsperson tief in die Hirnentwicklung des Säuglings und Kleinkindes ein und können entscheidende Weichen der Persönlichkeitsentwicklung stellen.

Umwelteinflüsse und Erfahrungen in späterer Kindheit, Jugend und im Erwachsenenalter. Solche Einflüsse kommen aus der Familie, dem Kindergarten und der Schule sowie der sozialen Umgebung im Jugend- und Erwachsenenalter. Diese Einflüsse sind weniger prägend als die vorgeburtlichen und früh nachgeburtlichen Einflüsse.

Das »Vier-Ebenen-Modell« und das Modell der sechs psychoneuralen Grundsysteme

Aufgrund psychiatrischer und neurobiologischer Erkenntnisse haben G. Roth und der leider viel zu früh gestorbene M. Cierpka vor einigen Jahren ein psycho-neurobiologisches »Vier-Ebenen-Modell« der Persönlichkeit und Psyche entwickelt (s. Roth und Ryba, 2016; Roth und Strüber, 2018). Die oben genannten Faktoren wirken auf unterschiedlichen Ebenen des Gehirns, und zwar auf drei »limbischen« Ebenen und einer kognitiven Ebene. Dieses Modell in Tabelle 1.1-1 ist ein Kernstück unseres »Transformationsmodells«, das wir in Kapitel 3.1 ausführlicher darstellen.

Tabelle 1.1-1: Vier-Ebenen-Modell von Psyche und Persönlichkeit

Ebene

Funktionen

Entwicklung

Untere limbische Ebene

(primär unbewusst)

limbisch-vegetative Grundachse

biologische Funktion,

basale affektive Erlebens- und Verhaltensweisen, Temperament

genetische oder epigenetisch-vorgeburtliche Einflüsse; nur wenig beeinflussbar

Mittlere limbische Ebene

(sekundär unbewusst, d.h. nicht erinnerungsfähig aufgrund der infantilen Amnesie)

Amygdala, mesolimbisches System

unbewusste Grundlage der Persönlichkeit

(emotionale Prägung)

erste drei Lebensjahre; frühkindliche (Bindungs-)Erfahrungen; nur über starke emotionale Einwirkungen veränderbar

Obere limbische Ebene

(bewusst; kann ins tiefe Vorbewusste absinken)

limbische Areale der Großhirnrinde

Einbettung der Kernpersönlichkeit in die soziale Welt

Die Entwicklung beginnt mit ca. vier Jahren und ist frühestens im Alter von 18 bis 20 Jahren ausgereift; ist nur sozial-emotional veränderbar

Kognitiv-sprachliche Ebene

(bewusst; kann ins Vorbewusste absinken)

linke Großhirnrinde

rationaler Ratgeber (Ratgeber ist nicht Akteur; hat nur geringen Einfluss!)

Die Entwicklung beginnt mit ca. drei Jahren und verändert sich ein Leben lang

Auf den im Modell genannten drei limbischen Ebenen entwickeln sich Persönlichkeit und Psyche. Dies geschieht im Rahmen der Funktionen von sechs psychoneuralen Grundsystemen (Roth und Ryba, 2016; Roth und Strüber, 2018). Auch diese werden wir als wichtigen Bestandteil unseres »Transformationsmodells« in Kapitel 3.1 ausführlicher darstellen.

Diese sechs Systeme stehen im Dienste der Erfüllung der Grundbedürfnisse des Menschen, nämlich Bindung/Anerkennung, Selbständigkeit/Autonomie, Kontrolle, Lusterwerb, Leistung und Selbstwert. Voraussetzung für seelische Gesundheit ist die Erfüllung dieser Grundbedürfnisse. Die damit verbundenen unbewussten Motive und bewussten Ziele können jedoch in Widerspruch zueinander geraten, wenn die Erfüllung eines Grundbedürfnisses auf Kosten der Erfüllung eines anderen geschieht, z.B. Geborgenheit vs. Autonomie, Ruhe vs. Aktivität/Leistung, Sicherheit vs. Neugier usw. Dies wurde von Klaus Grawe ausführlich im Rahmen seiner Konsistenztheorie dargestellt (Grawe, 2004).

Relevanz für das Coaching

Was bedeuten diese Erkenntnisse für das Coaching? Die erste Erkenntnis lautet, dass die Persönlichkeit eines Menschen aus bestimmten funktionalen Ebenen aufgebaut ist, die sich zu unterschiedlichen Zeiten der Individualentwicklung, unterschiedlich lange entwickeln und eine unterschiedliche Dynamik bzw. Plastizität aufweisen und somit auch unterschiedliche Coaching-Maßnahmen erfordern. Tabelle 1.1-2 gibt einen Überblick.

Tabelle 1.1-2: Die Veränderbarkeit der vier Ebenen der Persönlichkeit durch die Art der Intervention

Ebene

Art der Intervention

Nachhaltigkeit

unbewusste, untere limbische Ebene

körperlich-affektive Interventionen, prozedurales Einüben

langfristig am nachhaltigsten

unbewusste, mittlere limbische Ebene

emotionale Interventionen, prozedurales Einüben

langfristig am nachhaltigsten

bewusste, obere limbische Ebene

Interventionen, die nichtverbal-kommunikativ und intuitiv wirken

relativ nachhaltig

bewusste, kognitiv-sprachliche Großhirnrinde

verbal-kommunikative Interventionen

wenig nachhaltig

Es gibt auf der unteren limbischen Ebene einen vegetativ-affektiven »Sockel« der Persönlichkeit, der das Temperament enthält, mit dem wir auf die Welt kommen. Dies bedeutet nicht unbedingt, dass dieser Sockel rein genetisch bedingt ist; vielmehr lassen sich auch schon hierbei Einflüsse der »Umwelt« erkennen, die vom Körper und Gehirn der Mutter gebildet werden. Dies alles geschieht völlig unbewusst und ist später kaum oder nur sehr schwer zu beeinflussen.

Darauf baut sich auf der mittleren limbischen Ebene die erste Sozialisation auf, und zwar in der Regel in der Herkunftsfamilie im Rahmen der frühkindlichen Bindungserfahrung, innerhalb derer wir auf die Persönlichkeit der primären Bezugsperson bzw. Bezugspersonen, z.B. Vater und Mutter, geprägt werden. Hierbei vollzieht sich auch die Weitergabe positiver und negativer Erfahrungen von einer Generation auf die andere einschließlich traumatischer Erfahrungen (»transgenerationeller Transfer von Traumata«). Diese frühen Prägungserlebnisse unterliegen der »infantilen Amnesie« und sind nicht erinnerbar, auch wenn sie vom Kleinkind bewusst erlebt wurden, da es noch kein ausgereiftes episodisch-autobiographisches Gedächtnis gibt. Defizite negativer Art auf dieser Ebene sind für Psyche und Persönlichkeit oft schwerwiegend.

Beide Ebenen zusammen bilden den unbewussten Rahmen für die weitere Entwicklung der Persönlichkeit auf der oberen limbischen Ebene, auf der sich unsere Sozialisation im gängigen Sinne vollzieht, d.h. die Einpassung unserer kindlichen Persönlichkeit in die gesellschaftlichen Strukturen und Normen. Dies betrifft selbstverständlich auch alle Umgangs- und Kommunikationsformen und Verhaltensweisen, die wir für ein erfolgreiches Berufsleben benötigen. Hierbei kommt es entscheidend darauf an, in welchem Maße wir Selbstvertrauen, Selbstwirksamkeit, Selbstmotivation entwickeln und welchen Grad an Anpassungsfähigkeit wir haben – ob und in welchem Ausmaß wir fähig sind, uns zu ändern, Kompromisse einzugehen, uns neu zu orientieren, zu kommunizieren, Informationen aufzunehmen und zu beurteilen, andere Menschen in ihren Befindlichkeiten und Motiven zu erkennen usw.

Diese obere limbische Ebene ist die bevorzugte Einsatzebene von Coaching-Interventionen, und zwar dann, wenn die Entwicklungen auf den beiden unteren Ebenen relativ normal verlaufen sind, d.h. wenn nicht starke genetisch-epigenetische Vorbelastungen vorliegen und es nicht zu schwereren Traumatisierungen gekommen ist. Das bedeutet aber nicht, dass im Coaching nicht auch primär unbewusste und sekundär unbewusste (d.h. nicht erinnerbare) Anteile der Persönlichkeit angesprochen werden sollten. Dies geschieht vornehmlich im Rahmen nichtverbaler Kommunikation einschließlich der »Körpersprache«, die im Wesentlichen von der unteren und mittleren limbischen Ebene bestimmt wird.

Die kognitiv-sprachliche Ebene ist das »Vehikel« der sozialen Interaktion, sie hat aber allein für sich genommen kaum eine Wirkung. Anders ausgedrückt: Durch reines Reden und Erklären und den bloßen Appell an die Einsicht lassen sich das Denken, Fühlen und Handeln eines Menschen nicht ändern – es müssen immer die limbischen Ebenen und damit die Emotionen, die verhaltenswirksamen und die körperbezogenen Anteile angesprochen werden, wie noch zu erläutern sein wird. Coaching auf rein kognitiver Ebene bedeutet also den »rationalen Ratgeber« zu coachen, nicht aber den eigentlichen Akteur! Das relativiert die Wirksamkeit der als zentral eingeschätzten ergebnisorientierten Selbst- und Problemreflexion (Greif, 2008) im Coaching. Dies heißt nicht, dass Reflexion keine Rolle mehr spielen sollte, sondern dass sie allein nicht alle Problemstellungen lösen kann.

Wie kann ein Coach einen Klienten nun bei der Weiterentwicklung unterstützen? Es gibt sehr unterschiedliche Probleme und folglich verschiedene Ansatzpunkte zu deren Lösung. Zu beachten ist, wie stark ein Thema in der Persönlichkeit eines Menschen verwurzelt ist und welche Ebene des Vier-Ebenen-Modells im Fokus stehen sollte. Für den Klienten kann ein Fortschritt bereits in einem veränderten Erleben oder Verhalten bestehen, ohne dass sich seine Persönlichkeit tiefgreifend verändert hat. In unserem ersten Buch haben wir die in Tabelle 1.1-3 dargestellten unspezifischen (d.h. hier grundlegenden) und spezifischen Ansatzpunkte für Coaching und Therapie identifiziert. Diese ordnen wir dem Vier-Ebenen-Modell zu, um ihre Tiefe und Veränderbarkeit darzustellen.

Tabelle 1.1-3: Unspezifische und spezifische Ansatzpunkte für Coaching und Therapie

Ansatzpunkt

Erläuterung

Neurowiss. Ebene

Unspezifische Ansatzpunkte

Zielklärung

Konkrete und genaue Beschreibung von Zielen und möglichen Problemlösungen

KE, OLE

Ressourcenaktivierung

Hinweis auf Stärken des Klienten/Patienten und die Möglichkeit, sich in dieser Weise zu erleben und zu verhalten

KE, OLE

Problemaktualisierung und Erlebnisaktivierung

Aktivierung derjenigen neuronalen Netzwerke, die am Problem beteiligt sind

KE, OLE, MLE

Spezifische Ansatzpunkte

Umgehung des Problems

Vermeidung des Problems oder Veränderung von Rahmenbedingungen dergestalt, dass das Problem nicht mehr auftritt

OLE, MLE

Symptom- oder Problembeseitigung

Beseitigung eines Symptoms oder Problems, das im Laufe der Zeit seine ursprüngliche Funktion verloren hat

OLE, MLE

Kognitiv-motivationaler Perspektivwechsel

Vermittlung der Einsicht in die Hintergründe des Erlebens und Verhaltens durch ergebnisorientierte Selbst- und Problemreflexion

KE, OLE

Emotionen und Körperempfindungen

Vergegenwärtigung und Nacherleben von Emotionen sowie Abschwächung und Selbstberuhigung von überschießenden Affekten. Überwindung einer »neuromuskulären Blockade«

OLE, MLE, ggf. ULE

Prozedurales Einüben besser angepasster Verhaltensweisen

Vollzieht sich bei leichteren Belastungen in kortikalen limbischen, bei schwereren, »strukturellen« Defiziten in subkortikalen limbischen Strukturen. Neu eingeübte Verhaltensweisen löschen nicht die vorhandenen, sondern überdecken sie

OLE, MLE

Aufbau von neuen Fähigkeiten und wichtigen Erfahrungen

Systematische Weiterentwicklung »unreifer« Fähigkeiten, Nachholen wichtiger Erfahrungen

OLE, MLE

Umstrukturierung der Inneren Landkarte

(siehe dazu Kapitel 2.4 »Hypnotherapie«)

Verlassen des bisherigen zu engen Bezugsrahmens und Neuorganisation der Inneren Landkarte. Eine Reihe von Untersuchungen zeigt, dass das Umlernen und Neuerleben unter Hypnose erleichtert zu sein scheint

KE, OLE, MLE

Entscheidungs- und »Loslass«prozesse

Trennung von dysfunktional gewordenen Vorstellungen und Phantasien

KE, OLE

Umsetzungsunterstützung und Evaluation

Förderung der Umsetzung der Ziele im Alltag, Aktions- oder Zeitpläne, Durchdenken von Realisierungsmöglichkeiten, Antizipation möglicher Hindernisse, Einplanen von Belohnungen usw. Kontrolle des Erfolgs der Interventionen und ggf. Nachbessern

KE, OLE, MLE

Für den Coach gilt, das Problem des Klienten differenziert einzuschätzen und den angemessenen Ansatzpunkt zur Lösung auszuwählen. Er hat zwischen eher »oberflächlichen« Problemen und hartnäckigen Erlebens- und Verhaltensmustern zu unterscheiden, denen meist emotionale Konflikte zugrunde liegen. Bei tiefliegenden Problemen ist eine Kombination aus verschiedenen Ansatzpunkten geboten, z.B. Umstrukturierung der Inneren Landkarte, Förderung von Entscheidungs- und Loslassprozessen sowie Aufbau und Einübung neuer Fähigkeiten. Dazu braucht es neben der vornehmlich lösungsorientierten Haltung im Coaching auch Kenntnisse in Psychodynamik und unbewussten Prozessen.

Schlussbemerkung

Es sollte deutlich geworden sein, warum auch im Coaching ein Verständnis des Aufbaus und der Entwicklung der Persönlichkeit und Psyche sowie der Störungsmöglichkeiten dieser Prozesse von großer Bedeutung ist. Nur aus diesen Erkenntnissen ergibt sich die Einsicht in die Möglichkeiten und Grenzen des Coaching, und zwar gleichgültig, um welchen Anwendungsbereich es sich handelt – im Betrieb, im Team, in der Führung oder im Einzelcoaching. Jede Organisation ist eine Organisation von Individuen mit einer spezifischen Persönlichkeit, die wiederum eine bestimmte Entwicklungsdynamik aufweist. Wie vor diesem Hintergrund ein neurowissenschaftliches und integratives Coaching aussehen kann, soll in einem weiteren Beitrag zu diesem Buch dargestellt werden.

Literatur

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Greif, S. (2008): Coaching und ergebnisorientierte Selbstreflexion. Göttingen/Bern: Hogrefe

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Luborsky, L. und B. Singer (1975): Comparative studies of psychotherapies: is it true »everyone has won and all must have prizes«? Archives of General Psychiatry 32: 995–1008

Roth, G. und A. Ryba (2016): Coaching, Beratung und Gehirn: Neurobiologische Grundlagen wirksamer Veränderungskonzepte. Stuttgart: Klett-Cotta

Roth, G. und N. Strüber (2018): Wie das Gehirn die Seele macht. 7., erweiterte Aufl., Stuttgart 2018: Klett-Cotta

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Wampold, B. E. (2001): The Great Psychotherapy Debate: Models, Methods, and Findings. New York: Lawrence Erlbaum

1.2 Das Unbewusste im Coaching

Alica Ryba und Gerhard Roth

Einführung

Ein für das Coaching besonders wichtiges, aber noch wenig beachtetes Forschungsergebnis der Neurowissenschaft ist die Erkenntnis, dass menschliches Erleben und Verhalten maßgeblich durch unbewusste und vorbewusst-intuitive Prozesse bestimmt wird. Lange Zeit galt das bewusste Ich als oberste Kontrollinstanz von Denken, Planen und Handeln. So verwundert es nicht, dass auch heute im Coaching die (kognitive) Selbstreflexion als ein wesentliches Merkmal professionellen Handelns angesehen wird (DBVC, 2017). In den letzten Jahren hat die aktuelle neurowissenschaftliche und psychologische Forschung allerdings gezeigt, dass Menschen sich nur bedingt per Selbstreflexion verstehen und entwickeln können (Roth, 2018). Das Ich hat nämlich weit weniger Einfluss auf das tatsächliche Verhalten einer Person, als diese subjektiv empfindet (Roth, 2003). Um Wahrnehmung, Erleben und Verhalten nachhaltig und wirksam zu beeinflussen, wie es das Ziel von Coaching ist, bedarf es daher einer Berücksichtigung des Unbewussten.

In diesem Beitrag werden die vorliegenden Erkenntnisse zum Unbewussten aus Psychologie, Neurowissenschaft und Psychotherapie vorgestellt und auf das Coaching übertragen, so dass ein umfassendes Verständnis von unbewussten Prozessen vermittelt wird.

Der Begriff des Unbewussten

Die Ideengeschichte des Unbewussten hat eine lange Tradition. In der Philosophie werden drei Konzeptlinien unterschieden (Gödde und Buchholz, 2011):

Das kognitive Unbewusste, das Anfang des 18. Jahrhunderts von Gottfried Wilhelm Leibniz (1646–1716) begründet wurde und bis zur heutigen Kognitionspsychologie reicht. Leibniz ging nicht von einem Unbewussten aus, das dem Bewusstsein gegenübersteht, sondern vielmehr von einem Bewusstseinskontinuum mit verschiedenen Klarheits- und Intensitätsgraden. Nach dieser Denktradition können unbewusste psychische Prozesse eine hohe Wirksamkeit entfalten.

Das romantisch-vitale Unbewusste, das in der Philosophie der Romantik begründet liegt, die sich Ende des 18. Jahrhunderts in Abgrenzung zur Aufklärung entwickelt hat und das Irrational-Gefühlshafte aufwertete. Hier besteht eine wichtige Schnittstelle zum Animalischen Magnetismus (nach Franz Anton Mesmer; eine auf der Idee magnetischer Lebensenergie beruhende Heilmethode, die auch hypnotische Techniken anwendet) und der Hypnose. Eduard von Hartmanns (1842–1906) »Philosophie des Unbewußten« griff die romantischen Vorstellungen des Unbewussten systematisch auf und trug damit zur Popularisierung des Begriffs bei (Peter, 2009).

Das triebhaft-irrationale Unbewusste, das vornehmlich durch Schopenhauer und Nietzsche repräsentiert wird und später Freuds Auffassung des Unbewussten hinsichtlich des Sitzes unberechenbarer, düsterer Triebe prägte.

In der Psychotherapie hat sich der Begriff des Unbewussten im Spannungsfeld zwischen Hypnose und Psychoanalyse entwickelt. Ausgangspunkt ist der 1775 bekannt gewordene animalische Magnetismus, der im Grunde ein Hypnosephänomen darstellt und sich in den Folgejahren weiterentwickelte, aber auch immer wieder in Vergessenheit geraten ist. Auch Freud hat sich in seinen frühen Jahren zunächst mit Hypnose beschäftigt, bevor er diese Methode aufgab und die Psychoanalyse entwickelte. Sie wird als Lehre vom Unbewussten aufgefasst und dominierte viele Jahre das Begriffs- und Psychotherapieverständnis. 1978 hat die Hypnose eine Renaissance durch Milton Ericksons kreative therapeutische Vorgehensweisen erfahren, und das Unbewusste erhielt in dieser Konzeption wieder eine romantisch-vitale Konnotation als positive Ressource.

In der akademischen Psychologie hat das Unbewusste aufgrund der Popularität der Gestaltpsychologie und des Behaviorismus lange Zeit eine untergeordnete Rolle gespielt, bis die Kognitionspsychologie und die Neurowissenschaften in den 1980er Jahren die Aufmerksamkeit auf dieses Thema lenkten. 1976 wurde schließlich der Begriff des kognitiven Unbewussten von Paul Rozin in die Diskussion eingeführt (Kihlstrom, Barnhardt und Tataryn, 1992). In der akademischen Psychologie wird weniger vom »Unbewussten« als Substantiv gesprochen, sondern vielmehr von »unbewussten Prozessen« (Norman, 2010). In den zahlreichen Studien zum Thema wird der Begriff jedoch unterschiedlich operationalisiert. Daher wird von vielen Autoren die mangelnde definitorische Klarheit beklagt.

Erkenntnisse der Psychologie und Neurowissenschaft zum Unbewussten

Aus neurowissenschaftlicher Sicht ist zwischen dem Bewusstsein, dem Vorbewussten und dem Unbewussten zu unterscheiden.

Das Bewusstsein

Das Gehirn neigt zu Automatisierung. Bewusstsein ist aufgrund begrenzter Kapazität und hohen Aufwandes nur für besondere Funktionen reserviert. Der »Strom des Bewusstseins« wird wesentlich durch das Arbeitsgedächtnis ermöglicht (Roth und Strüber, 2018). Dieses wird teils im vorderen (dorsolateralen präfrontalen) Cortex und teils im hinteren (parietalen) Cortex lokalisiert. Es hält Teile der Wahrnehmung und damit verbundene Gedächtnisinhalte für einige Sekunden im Bewusstsein. Aktuell bewusste Zustände des Erlebens können mit unterschiedlichen Inhalten verbunden sein (Roth und Ryba, 2016). Eine grundsätzliche Unterscheidung ist die zwischen Aktualbewusstsein und Hintergrundbewusstsein (siehe Tabelle 1.2-1).

Tabelle 1.2-1: Bewusste Erlebnisinhalte (nach Roth und Ryba, 2016, S. 189f.)

Bewusste Erlebnisinhalte

Hirnanatomie und -physiologie

Aktualbewusstsein:

Sinneswahrnehmungen von Umweltereignissen und des Körpers

Mentale Zustände wie etwa Denken, Vorstellen und Erinnern

Emotionen, Affekte und Bedürfniszustände

Assoziative Großhirnrinde, insb. vorderes und hinteres Arbeitsgedächtnis

Hintergrundbewusstsein:

Erleben der eigenen Identität und Kontinuität

»Meinigkeit« des Körpers, also das Gefühl, dass mein Körper zu mir gehört

Autorschaft der eigenen mentalen Zustände und Handlungen

Verortung des Selbst und des Körpers in Raum und Zeit

Unterscheidung zwischen Realität und Vorstellung

Die Großhirnrinde verfügt über assoziative, sensorische und motorische Areale. Damit bedeutungshafte Wahrnehmungsinhalte und mentale Zustände (wie etwa Denken, Vorstellen und Erinnern) bewusst werden, müssen die assoziativen Areale der Großhirnrinde aktiv sein (Roth und Strüber, 2018). In diesen werden sensorisch-motorische Informationen und Gedächtnisinhalte zu einem bedeutungshaften Gesamtbild integriert (Roth und Ryba, 2016). Der Thalamus wird als das »Tor zum Bewusstsein« bezeichnet, weil er mit der Großhirnrinde über auf- und absteigende Bahnen verbunden ist (Walter und Müller, 2012, S. 657). Reize werden zunächst unbewusst in Zentren außerhalb der Großhirnrinde verarbeitet. Sie gelangen dann zu den sensorischen Arealen des Cortex und sind auch hier noch unbewusst (Roth, 2004). Nur ein unbekannter und potentiell wichtiger Reiz gelangt zur detaillierten Verarbeitung in das Bewusstsein (Roth und Strüber, 2018). In den assoziativen Arealen, in denen sich das deklarative Gedächtnis befindet, trifft der Reiz auf kognitive und emotionale Gedächtnisinhalte (Roth, 2004). Dadurch wird ein bedeutungshafter Zustand hergestellt (Roth, 2004). Bewusstsein dient also zur Verarbeitung neuer, wichtiger und bedeutungshafter Informationen (Roth und Strüber, 2018).

Das bewusste Ich kann den starken Einfluss der unbewussten, subcorticalen Ebenen nicht erkennen und leugnet ihn daher (Roth und Strüber, 2018). Stattdessen schreibt es sich die Erlebens-, Denk- und Handlungsweisen selbst zu und liefert für diese meist »Pseudoerklärungen«, die auch als Konfabulation bezeichnet werden (Roth und Strüber, 2018). In aller Regel werden solche Erklärungen gefunden, die dem Selbstwertgefühl und den sozialen Erwartungen möglichst gut gerecht werden.

Das Unbewusste

Aus neurobiologischer Sicht sind alle subcorticalen Hirnvorgänge, also solche, die außerhalb der Großhirnrinde ablaufen, unbewusst (Roth und Ryba, 2016). Es gibt jedoch auch viele Prozesse innerhalb der Großhirnrinde, insbesondere in den primären und sekundären sensorischen und motorischen Arealen, die ebenfalls unbewusst stattfinden. Unterschieden wird zwischen dem primär Unbewussten und dem sekundär Unbewussten. Bei Ersterem handelt es sich um Inhalte, die niemals bewusst waren; bei Letzterem um Inhalte, die vermutlich bewusst waren, aber nicht erinnerungsfähig sind. Dazu gehören Inhalte, die ein Kleinkind in den ersten 1 bis 3 Lebensjahren bewusst erlebte, die aber später nicht erinnerbar sind, weil es noch kein leistungsfähiges deklaratives Langzeitgedächtnis gibt. Freud nannte diese Periode »infantile Amnesie«. Tabelle 1.2-3 gibt einen Überblick hierzu.

Tabelle 1.2-3: Primär und sekundär unbewusste Inhalte (nach Roth und Ryba, 2016, S. 187)

Unbewusste Inhalte

Hirnanatomie und -physiologie

Primär unbewusst (waren niemals bewusst):

Prozesse, die nicht in einem »bewusstseinsfähigen Format« vorliegen:

Wahrnehmungsprozesse, die in den Sinnesorganen, den subcorticalen Hirnzentren und den sensorischen corticalen Arealen ablaufen

Prämotorische und motorische Vorgänge, die eine Bewegungsintention in eine konkrete Bewegung umsetzen

Alle subcorticalen vegetativen und limbischen Funktionen

Prozesse, die grundsätzlich bewusstseinsfähig sind, aber aktuell nicht bewusst werden:

Wahrnehmungsprozesse, die die Bewusstseinsschwelle nicht überschreiten

Sekundär unbewusst (waren bewusst, sind aber nicht mehr erinnerungsfähig):

Wahrnehmungen, die nicht in das Langzeitgedächtnis gelangen

Alle perzeptiven, kognitiven und emotionalen Prozesse, die im Gehirn vor Ausreifung des Langzeitgedächtnisses ablaufen (infantile Amnesie)

Hirnvorgänge, die außerhalb der Großhirnrinde, also subcortical ablaufen

Viele innerhalb der Großhirnrinde stattfindende Prozesse laufen auch unbewusst ab, insbesondere in den sensorischen und motorischen Arealen

Grundsätzlich gilt, dass sich das Unbewusste nicht im Inhalt der Worte, sondern eher nonverbal ausdrückt. Daher ist es für einen Coach wichtig, auf die Inkongruenzen zwischen verbaler und nonverbaler Kommunikation zu achten. Auch der Unterschied zwischen dem, was jemand sagt und was er tatsächlich tut, ist aufschlussreich, da hier implizite Motive oder unbewusste/vorbewusste Erlebens- und Verhaltensmuster steuernd wirksam werden.

Fazit

Die Forschung hat gezeigt, dass unbewusste Prozesse im menschlichen Gehirn vorherrschen, während Bewusstsein vorwiegend zur Verarbeitung neuer und wichtiger, d.h. bedeutungshafter Informationen eingesetzt wird. Somit bestimmt das Unbewusste das Bewusstsein stärker als umgekehrt, und Letzteres hat nur eine geringe Einsicht in die unbewussten Determinanten des Erlebens und Verhaltens.

Das Zusammenspiel der unbewussten, vorbewusst-intuitiven und bewussten Prozesse greift sehr stark ineinander, so dass man sagen kann, Bewusstsein habe einen höchst integrativen Charakter. Aus diesem Grund ist es nicht leicht, die Ausdrucksformen der jeweiligen »Instanzen« klar voneinander zu unterscheiden. Tendenziell gilt, dass das Unbewusste sich eher in der Art ausdrückt, wie jemand etwas sagt, als in dem, was er inhaltlich sagt, wie jemand handelt und wie sich sein Körper verhält. Bedeutend für Coaching und Psychotherapie sind die Inkongruenzen, die deutlich werden, also der Unterschied zwischen Wort und Tat sowie verbaler und nonverbaler Kommunikation einschließlich der körperlichen Signale.

Das Unbewusste in Psychotherapie und Coaching

Um die Persönlichkeitsentwicklung des Klienten zu fördern, greifen Coaches häufig auf Methoden der verschiedenen Psychotherapieformen zurück. Die einzelnen therapeutischen Ansätze weisen unbewussten Prozessen einen unterschiedlichen Stellenwert zu, wie Tabelle 1.2-4 zeigt. Die verschiedenen Psychotherapieformen haben sich historisch bedingt jedoch weitgehend unabhängig von den modernen neurowissenschaftlich-psychologischen Forschungserkenntnissen entwickelt, so dass auch hier einige Konzepte nicht mehr dem heutigen Erkenntnisstand entsprechen. Hier bedarf es einer Überprüfung dieser Konzepte, bevor sie für das Coaching übernommen werden (siehe dazu Ryba, 2018).

Tabelle 1.2-4: Therapie- und Coachingansätze und die Rolle des Unbewussten/Vorbewussten in ihnen

Ansatz

Rolle des Unbewussten/Vorbewussten

Psychoanalyse

(Freud)

Psychoanalyse als Lehre vom Unbewussten

Topisches Modell: Unterscheidung Unbewusst, Vorbewusst und Bewusst

Inhalte des Unbewussten: Repräsentanzen der (sexuellen oder aggressiven) Triebwünsche; Triebabkömmlinge, die in das Unbewusste verdrängt wurden (Letztere sind also dynamisch unbewusst).

Ziel: Unbewusstes bewusst machen und damit dessen Einfluss entkräften.

Nutzung von Übertragung und Gegenübertragung

Hypnotherapie

(Erickson)

Das Unbewusste hat bei Erickson einen zentralen Stellenwert und im Gegensatz zur Psychoanalyse eine positive Konnotation

Bewusster Geist beinhaltet die gelernten Limitierungen; wirkt als erfahrungsbedingter Bezugsrahmen/Filter

Unbewusstes als Gegenstück zu den gelernten Limitierungen; autonom, Reservoire von Lernerfahrungen, ungenutzte Potentiale, ist klüger als der bewusste Verstand usw.

Trance ermöglicht die Ablösung von rigiden Haltungen und ermöglicht eine Neustrukturierung und Reorganisation

Kognitiv/Verhaltenstherapeutisch

Die Psyche und das Unbewusste wurden zunächst als irrelevant betrachtet.

Starke kognitive Orientierung.

In neueren Konzeptionen findet sich zunehmend eine Berücksichtigung von emotionalen und auch unbewussten Prozessen.

Humanistisch

(Rogers/Perls)

Für beide ist die Bewusstheit im Hier und Jetzt zentral

Personzentrierte Therapie: das Selbst ist ein wichtiges Konzept, also die Bewusstheit eines Menschen hinsichtlich seines Seins und Funktionierens. Das Auftreten einer Erfahrung im Bewusstsein ist nach dieser Theorie vom Selbstkonzept abhängig. Allerdings: keine Unterscheidung zwischen dem unbewusst-impliziten und dem bewusst-expliziten Selbstkonzept. Annahme: Der Klient kann seine Abwehr aufgeben, wenn er vom Therapeuten Echtheit, Wertschätzung und Empathie erfährt.

Gestalttherapie: Figur-Grund-Modell, wobei die Figur dem Bewusstsein und der Grund dem Unbewussten entspricht. Bewusstheit: Wahrnehmen des Selbst, Wahrnehmen der Welt, Wahrnehmen des Zwischenreichs der Phantasie, also kognitive Prozesse. Es geht vor allem um das Spüren von Körperempfindungen, Gefühlen und Bedürfnissen. Arbeit an den Vermeidungsmechanismen (entspricht einer nichtkognitiven Widerstandsanalyse, weil Gestalten erfahrbar gemacht werden.

Körpertherapeutisch/

Bioenergetik

(Lowen)

Im Fokus der Bioenergetik stehen das primär Unbewusste und die Arbeit mit dem Körper über die limbisch-vegetative Grundachse

Der Charakter- und Muskelpanzer wird als unbewusstes Abwehrmuster verstanden

Der Begriff der Verdrängung ins Unbewusste bekommt durch den Körperbezug eine neue Bedeutung

Ziel: Lösung der vegetativen Energien aus den Muskelverkrampfungen.

Systemischer Ansatz

Definitorisch weist der Begriff des Selbst in der Systemischen Therapie auf unbewusste Anteile hin.

Es wird vor allem mit dem Vorbewussten gearbeitet.

Das weitgehend sprachlich-dialogische Vorgehen hat einen hohen kognitiven Anteil.

Zugang zum Unbewussten

Einige Therapie- und Coachingansätze haben Zugänge und Methoden entwickelt, um das Unbewusste nutzbar zu machen (siehe dazu Ryba, 2018). Aus neurowissenschaftlicher Sicht gibt es drei Zugänge zum Unbewussten: zum ersten die Beobachtung der paraverbalen und der nonverbalen Kommunikation des Klienten. Paraverbale Signale umfassen die Art, wie der Klient sich sprachlich ausdrückt, nämlich schnell und glatt, was auf vorbereitete Antworten schließen lässt, oder suchend, fahrig, widersprüchlich, was Konflikte im Umgang mit den berichteten Inhalten verrät usw. Solche Signale sind allerdings nicht sehr verlässlich, denn sie können sowohl im Vorbewussten als auch im Unbewussten ihre Ursprünge haben. Bei den nonverbalen kommunikativen Signalen handelt es sich um solche der Gestik, Mimik, Blicksteuerung und Stimmtönung, der Körperhaltung und unwillkürlicher Bewegungen, die primär von subcorticalen limbischen Zentren gesteuert werden und uns in aller Regel nicht oder nicht im Detail bewusst sind. Allerdings gelingt es in Grenzen, bestimmte Bestandteile der nonverbalen Kommunikation willentlich zu steuern. Dies ist aber mit erheblicher psychischer Anstrengung verbunden und versagt, sobald die Konzentration nachlässt (es sei denn, man hat dies jahrelang trainiert), wenn man abgelenkt ist oder unter Stress gerät. Allerdings setzt eine willentliche Kontrolle dieser Signale erst nach rund 500 Millisekunden ein, und ein trainierter Beobachter kann sich dies zunutze machen. Überdies ist die Aktivität des Augenringmuskels keiner willentlichen Kontrolle unterlegen, und Augen und Blick »verraten« den augenblicklichen Gemütszustand am klarsten.

Wie Forschungen zeigen, ist der »erste Eindruck«, der über diese Signale vermittelt wird, in dem Sinne längerfristig wirksam, als er oft noch nach einem Jahr oder länger vorhanden ist. Allerdings ist die Deutung solcher nonverbalen Signale ein schwieriges Geschäft, wie jeder erfahrene Psychotherapeut weiß, und keineswegs so verlässlich, wie es populärwissenschaftliche Darstellungen glauben machen wollen (vgl. Ekman, 2016). Ethnologen konnten bei einigen nonverbalen kommunikativen Signalen eine gewisse Kulturabhängigkeit zeigen, zum Beispiel beim »Naserümpfen«. Innerhalb derselben Kultur enthüllen sie wegen ihrer momentanen Nichtkontrollierbarkeit aber relativ gut die vorliegende Befindlichkeit des Klienten wie auch Aspekte seiner Persönlichkeit, denn sie werden von limbischen Zentren gesteuert, die in die Organisation der Persönlichkeit direkt eingebunden sind.

In subcorticalen ebenso wie corticalen limbischen Arealen unseres Gehirns werden die genannten Signale registriert, und wir nehmen sie in weniger als einer Sekunde entweder unbewusst oder intuitiv wahr, d.h. als Zeichen für Sympathie und Glaubwürdigkeit. Sie legen relativ hartnäckig den Rahmen der weiteren kommunikativen Interaktion fest und sträuben sich dann ebenso hartnäckig gegen alternative Erfahrungen. Es ist zu vermuten, dass solche Prozesse dem für die Psychoanalyse zentralen Vorgang der Übertragung und Gegenübertragung zugrunde liegen.

Ein zweiter Zugang zum Unbewussten des Klienten sind die Körperhaltung und die vegetativen Reaktionen (Augenblinzeln, Hautleitwiderstandsänderungen, Muskelanspannungen, Tics usw.). Sie werden von denselben limbischen und vegetativen subcorticalen Zentren gesteuert wie die nonverbalen Signale und vom Gegenüber auf dieselbe Weise aufgenommen. Sie sind Äußerungen des Körpergedächtnisses, das ein Teil des eigenständigen emotionalen Gedächtnisses ist. Diese körperlich-vegetativen Signale können weiter bestehen, wenn der Betroffene berichtet, es gehe ihm schon wieder ganz gut. Von seinen »verräterischen« körperlich-vegetativen Signalen merkt er selbst meist gar nichts.

Ein dritter Zugang zum Unbewussten des Klienten besteht über dessen Verhalten. Bei jeglichem Verhalten hat das Zusammenwirken der im dorsalen Striatum lokalisierten Verhaltensdispositionen und der bewertenden subcorticalen Zentren (Amygdala, Nucleus accumbens, VTA usw.) das letzte Wort darüber, ob dasjenige, was bewusst geplant wurde, auch jetzt und so, wie geplant, stattfinden soll. Dies ist der »Zensor« des Unbewussten, der über unser Verhalten wacht. Seit der Antike wird geraten, bei der Beurteilung eines Menschen weniger auf das zu achten, was er sagt, sondern was er tut. Diese alte Weisheit kann aus neurobiologischer Sicht voll bestätigt werden, denn das, was wir tun, entspricht ebenso wie die para- und nonverbalen Signale und körperlichen Reaktionen viel eher den unbewussten Antrieben als das, was wir sagen.

Allerdings muss bei aller »Ehrlichkeit« des Tuns akzeptiert werden, dass auch das Verhalten eines Menschen oft schwer zu deuten ist. Wir könnten zwar feststellen, dass jemand etwas anderes tut, als er vorher verkündet hat (und nachher berichtet), aber wir können oft nicht genau sagen, warum er sich anders verhält. Die Deutung des Verhaltens ist genauso schwer wie die Deutung nonverbaler Kommunikation, und deshalb sind Aussagen des Therapeuten oder Coachs über Inhalte des Unbewussten beim Klienten immer Hypothesen.

Literatur

Deutscher Bundesverband Coaching (DBVC) (2017): Definition Coaching. Verfügbar unter: http://www.dbvc.de/der-verband/ueber-uns/definition-coaching.html

Ekman, P. (2016): Gefühle lesen. Heidelberg: Springer Spektrum

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Kihlstrom, J. F., T. M. Barnhardt und D. J. Tataryn (1992): The Psychological unconscious: Found, lost and regained. In: American Psychologist 47 (6): 788–791

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Schacter, D. L. (1996): Searching for Memory. The Brain, the Mind, and the Past. New York: Basic Books

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1.3 Ohne Integration ist alles nichtsSkizze einer Metatheorie der Psychodynamik

Klaus Eidenschink

Integration – was ist das?

Man traut sich im Kontext von psychologischer Theorie kaum noch von Integration zu sprechen. Zu abgenutzt, zu häufig, zu hülsenhaft, zu nichtssagend wurde und wird der Begriff verwendet. Dabei ist er mehr als nötig, da die Geschichte der psychologischen Theoriebildung geprägt ist von ideologischen Grabenkämpfen und der Neigung vieler psychologischer Forschung, anderen Denk- und Handlungssystemen die Achtung zu entziehen und sich mit Abwertungen zufrieden zu geben.

Einen integrativen Rahmen zu haben, der das Nebeneinander von psychologischen »Verfahren« in einem Gesamtkontext verortet, wäre daher von großer Attraktivität. Ein solches – allgemein anerkanntes – Konzept gibt es nicht. Da tut es schon mal gut, wenn sich durch die Forschungsergebnisse der Neurowissenschaften eine Art Bezugspunkt gebildet hat, den alle psychologischen Richtungen ernst nehmen und ernst nehmen müssen. So setzen sich seit geraumer Zeit alle psychotherapeutischen Richtungen mit der Hirnforschung auseinander.

Die Idee von Roth und Ryba – quasi mit frischem Blick und neuen Kategorien –, die Richtung umzudrehen und sowohl bestehendes psychologisches Wissen als auch psychotherapeutische Vorgehensweisen aus neurowissenschaftlicher Sicht zu analysieren und einzuschätzen, imponiert und könnte die Diskussion um Integration bereichern und neu beleben.

Sie skizzieren am Ende ihres Buches (Roth und Ryba, 2016, S. 347ff.) den eigenen Ansatz und listen aus neurowissenschaftlicher Sicht die Wirkfaktoren auf, die für Beratung – Coaching wie Psychotherapie – relevant sind. Damit wird implizit die Aufmerksamkeit darauf gelenkt, dass Psychotherapie wie Coaching nicht primär an einem Mangel an wirksamen Techniken und Vorgehensweisen leiden. Was fehlt, ist ein theoretischer Referenzrahmen, der die unterschiedlichen Ansätze durch integrative Prinzipien verortet und genauer nutzbar macht.

Unseren eigenen Überlegungen, wie solch eine Integration aussehen könnte, haben wir die Überschrift »Metatheorie der Veränderung« gegeben (siehe www.metatheorie-der-veraenderung.info). Dort wird im Bereich Psychodynamik versucht, wesentliche psychologische Schulen – verhaltenstherapeutische, tiefenpsychologische, gestalttherapeutische, gesprächstherapeutische, körpertherapeutische, transaktionsanalytische, systemische und hypnotherapeutische Verfahren – auf ihre jeweiligen veränderungswirksamen Faktoren hin abzutasten. All dies fußt auf einer systemtheoretischen (nicht systemischen!) Konzeption der Psyche.

Unser Ausgangspunkt besteht darin, sich von der herrschenden Vorstellung zu lösen, »die Psyche« als eine Art »Ding«, als feste Instanz, als ein fixes Selbst anzusehen. Diese – im Grunde auf dem Menschenbild der platonisch-aristotelischen Psychologie basierende – Vorstellung ist hierarchisch konzipiert. Die Seele steuert den Menschen wie der Schöpfergott den Kosmos. Die Vernunft ist das, was dann den Menschen zum Menschen macht. Bricht man mit dieser Steuerungsidee und greift systemtheoretische Konzepte der Selbstregulation (Luhmann, 2017; Fuchs, 2005; 2011) für die Psychologie auf, ergeben sich konzeptionelle Möglichkeiten, die mit der Komplexität von Körper, Geist, Affekt, Wille, Motiv und Handlung sehr viel besser zurechtkommen.

Versteht man systemtheoretisch die Seele als Selbstregulationsvorgang, dann verabschiedet man sich von der Idee eines wesenhaften »Selbst« mit definierenden Eigenschaften. Stattdessen kommt man zur theoretischen Vorstellung von »Es selbstet«! Schon an der im Deutschen eigentlich nicht vorgesehenen Wortwahl zeigt sich, wie unvertraut diese Denkweise ist. In einer systemtheoretischen Konzeption erscheint »die« Psyche – auf hier nur andeutbare Weise – als ein Vorgang, ein Werden, ein Geschehen, das sich selbst erzeugt, erhält und stabilisiert, und deren Outputs zum ständigen Input werden (siehe dazu auch Greenberg, 2016, S. 56ff.; Staemmler, 2015, S. 18ff.; Clam, 2005, S. 233ff.). So gewinnt man eine denkerische Basis, auf der Verhalten und Erleben, Körper und Seele, Inhalt und Form des Gesagten, von Person und (systemischer) Umwelt oder Kognition und Emotion integriert werden können. Vor allem aber lässt sich dann darstellen, dass alle oben genannten psychotherapeutischen Schulen nur bei einer Auswahl dessen ansetzen, was hier mit Hilfe acht psychischer Leitprozesse dargestellt wird. So überrascht es dann auch nicht, dass die Interventionsstrategien vieler Schulen begrenzt sind und man immer wieder auf die Idee kommt, für unterschiedliche Anliegen oder »Störungen« wären unterschiedliche Therapieformen geeignet.

Wenn man jedoch metatheoretisch untersucht, auf welche seelischen Prozessmuster sich die jeweiligen psychotherapeutischen Schulen beziehen, dann lässt sich erklären, warum mit unterschiedlichen Vorgehensweisen unterschiedlichen Menschen geholfen werden kann bzw. wann diese ungünstig behandelt und beraten werden. Könnte man die seelischen Prozesse genau beschreiben, die für das Aufrechterhalten dysfunktionaler Verhaltensweisen oder ungünstigen inneren Erlebens »verantwortlich« sind, könnte man alle Interventionsstrategien, die entwickelt wurden, gezielt nutzen bzw. begründet ablehnen. So könnten unterschiedliche Interventionsstrategien in der Beratung eingesetzt werden, ohne dass dies beliebig und eklektisch wird. Diesem Ansinnen hat sich unser metatheoretisches Veränderungskonzept verschrieben. Die aus dieser Sicht definierten psychischen Leitprozesse werden im Folgenden nun knapp skizziert und dabei immer mal wieder mit einigen der von Roth und Ryba (2016) benannten neurowissenschaftlich begründbaren Wirkfaktoren in Beziehung gesetzt.

Die Acht psychischen Leitprozesse im Überblick