Codename Corvus - Claudia Bouvier - E-Book

Codename Corvus E-Book

Claudia Bouvier

0,0

Beschreibung

Ein Thriller, wie kein Clancy ihn sich zu schreiben traut – die wahren Kriegstreiber sitzen nicht in Afghanistan, sondern an den Schaltstellen der Macht in Washington und Brüssel. Wehe dem, der es wagt, ihre Kreise zu stören … Während eines Einsatzes in Afghanistan wird eine französische Einheit von einer bisher unbekannten Terrorgruppe angegriffen. Bei dem Versuch, die Verletzten zu bergen, überleben nur die Bundeswehrärztin Carla Rossi und der französische Kampfschwimmer Kérmovan. Sie geraten in die Gefangenschaft der Terroristen, deren geheimnisvoller Chef ein Amerikaner ist. Als der Unbekannte ihre Hinrichtung befiehlt, können die beiden im letzten Augenblick entkommen. Auf ihrer abenteuerlichen Flucht nach Pakistan wird aus ihnen ein eingespieltes Team. Zurück in Europa, landen Rossi und Kérmovan bei einer Sondereinheit aus französischen und deutschen Geheimdienstmitarbeitern, die den Drahtzieher hinter dem Anschlag in Afghanistan aufspüren soll. Schnell stoßen die beiden auf eine Spur, die bis in höchste NATO-Kreise führt, und geraten in ein tödliches Dickicht aus CIA-Intrigen, Geheimdienst-Operationen, Terror-Finanzierung und islamistischen Anschlägen. Und bald steht Carla selbst auf der Abschussliste, denn sie kennt als Einzige das Gesicht des Mannes, der die Fäden zieht.

Sie lesen das E-Book in den Legimi-Apps auf:

Android
iOS
von Legimi
zertifizierten E-Readern
Kindle™-E-Readern
(für ausgewählte Pakete)

Seitenzahl: 754

Das E-Book (TTS) können Sie hören im Abo „Legimi Premium” in Legimi-Apps auf:

Android
iOS
Bewertungen
0,0
0
0
0
0
0
Mehr Informationen
Mehr Informationen
Legimi prüft nicht, ob Rezensionen von Nutzern stammen, die den betreffenden Titel tatsächlich gekauft oder gelesen/gehört haben. Wir entfernen aber gefälschte Rezensionen.

Beliebtheit



Sammlungen



CLAUDIA BOUVIER

CODENAMECORVUS

DIE ISKANDER-VERSCHWÖRUNG

Dieser Roman ist ein fiktionales Werk, auch wenn er reale Gegebenheiten aufgreift. Die Personen und die Handlung sind frei erfunden, sodass etwaige Ähnlichkeiten mit lebenden oder verstorbenen Personen zufällig wären. Das gilt auch, wenn die Namen der fiktiven Personen und Institutionen den Namen realer Personen und Institutionen ähnlich sein oder mit diesen übereinstimmen sollten.

1. eBook-Ausgabe 2019

© 2019 Europa Verlag GmbH & Co. KG, München

Umschlaggestaltung: © Guter Punkt unter Verwendung von Motiven von Shutterstock

(©faestock, © Olena Yakobchuk), istock (©ianyaberkut, ©christophe cerisier) und gettyimages (©c1a1p1c1o1m1)

Redaktion: Silwen Randebrock

Layout & Satz: Danai Afrati & Robert Gigler

Konvertierung: Bookwire

ePub-ISBN: 978-3-95890-267-1

Das eBook einschließlich aller seiner Teile ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung außerhalb der engen Grenzen des Urheberrechtsgesetzes ist ohne Zustimmung des Verlags unzulässig und strafbar. Das gilt insbesondere für Vervielfältigungen, Übersetzungen, Mikroverfilmungen und die Einspeicherung und Verarbeitung in elektronischen Systemen. Der Nutzer verpflichtet sich, die Urheberrechte anzuerkennen und einzuhalten.

Alle Rechte vorbehalten.

www.europa-verlag.com

»Und im Anbeginn waren diese beiden Geister, die Zwillinge, die nach ihrem eigenen Worte das Gute und das Böse im Denken, Reden und Tun heißen. Zwischen ihnen haben die Guthandelnden richtig gewählt.«

(Auszug aus dem Buch der Könige – Schâhnâme von Abû al-Qâsim Firdausî)

Inhalt

PROLOG

TEIL 1

ERSTES KAPITEL

ZWEITES KAPITEL

DRITTES KAPITEL

VIERTES KAPITEL

FÜNFTES KAPITEL

SECHSTES KAPITEL

SIEBTES KAPITEL

ACHTES KAPITEL

NEUNTES KAPITEL

ZEHNTES KAPITEL

ELFTES KAPITEL

ZWÖLFTES KAPITEL

TEIL 2

ERSTES KAPITEL

ZWEITES KAPITEL

DRITTES KAPITEL

VIERTES KAPITEL

FÜNFTES KAPITEL

SECHSTES KAPITEL

ACHTES KAPITEL

NEUNTES KAPITEL

ZEHNTES KAPITEL

ELFTES KAPITEL

TEIL 3

ERSTES KAPITEL

ZWEITES KAPITEL

DRITTES KAPITEL

VIERTES KAPITEL

FÜNFTES KAPITEL

SECHSTES KAPITEL

SIEBTES KAPITEL

ACHTES KAPITEL

NEUNTES KAPITEL

ZEHNTES KAPITEL

ELFTES KAPITEL

ZWÖLFTES KAPITEL

EPILOG

ANMERKUNGEN DER AUTORIN

GLOSSAR

Abkürzungsverzeichnis

PROLOG

Afghanistan – Provinz Zabul

Mehrere Granaten flogen übers Tor und explodierten im Innenhof. Kleine Steine zischten wie Geschosse durch die Gegend, ohne dabei Schaden anzurichten, denn die rund zweieinhalb Meter hohen Lehmmauern waren fast einen Meter dick. Das Tor war die einzige Öffnung, die sie ernsthaft sichern mussten. Die Soldaten aus der Spezialeinheit hatten es mit zwei stabilen Leitern, einer Schubkarre und einer großen Holzbank verrammelt. Wie bei allen befestigten Bauernhöfen dieser Gegend gruppierten sich kleine Wirtschaftsgebäude, ein Stall und ein Wohnhaus mit einem Flachdach um einen Innenhof. Das Ganze hatte die Form eines U und war im Fall eines Angriffs einfach zu sichern. Der gestampfte Lehm hatte den Vorteil, nicht zu brennen.

Die Soldaten hatten die Bewohner natürlich sofort vom Grund vertrieben. Bei dem Ausbruch, bei dem es ihnen gelungen war, ihren Gegnern die Panzerfäuste und Granaten abzunehmen, hatten sie die Schafe und Rindviecher durchs Tor getrieben und scheu gemacht, um mit dem wilden Durcheinander in dem kleinen Dorf für Aufregung zu sorgen und die Russentruppe zu verwirren. Das war auch gelungen. Was die Russen nicht bemerkt hatten, war die schmale Pforte zwischen dem Ziegenstall und einem Pferch.

Der Agent hatte sie im Schutz der Nacht zufällig entdeckt. Dieser Durchlass war sinnvoll, denn hinter dem Anwesen erstreckten sich Obstgärten und Weideflächen, und niemand würde sich die Mühe machen, die Schafe und Ziegen um den ganzen Besitz herumzutreiben, damit sie grasen konnten.

Der Agent hoffte, dass er richtig kalkuliert hatte. Für die Überlebenden aus der Spezialeinheit war das enge stinkende Loch der einzige Ausweg aus ihrer Misere. Sie hatten kaum noch Munition. Drei Männer waren im Kampf gefallen. Die beiden Schwerverletzten hatten vielleicht noch eine kleine Chance zu überleben, falls der Rettungshubschrauber es schaffte, sie innerhalb der nächsten Stunde zu evakuieren. Peret war nur leicht am Bein verwundet. Er würde durchhalten.

Mit einer gereizten Handbewegung wischte der Agent sich Schweiß, Blut und Dreck von der Stirn. Er fühlte sich hilflos und er hasste sich dafür, obwohl er wusste, dass er alles Menschenmögliche getan hatte. Die Medical Task Force kannte die exakten Zielkoordinaten. Irgendwie hatten seine eigenen Leute zu Hause in Frankreich mitgehört und begriffen. Und irgendwer hatte umgehend dem ISAF-Hauptquartier in Kandahār die Hucke voll gelogen und den Flugauftrag für seinen MedEvac erbettelt. »Sie« hatte ohne viele Worte verstanden, dass es einen Grund gab, warum er keine CSAR von OEF haben wollte. Die bewaffneten Such- und Rettungsmissionen der Anti-Terror-Koalition Operation Enduring Freedom (OEF) wurden immer von amerikanischen Hubschraubern und amerikanischen Besatzungen geflogen.

Die ganze Situation war dem Agenten unheimlich. Die Erinnerung an ein anderes Desaster verdrängte für einen kurzen Augenblick das aktuelle Horrorszenario aus seinen Gedanken: der unglückliche Befreiungsversuch der Journalistin Florence Delmas und ihres Fotografen vor drei Jahren im Osten Afghanistans. Unweit des berüchtigten Höhlenlabyrinths von Tora-Bora waren es nicht die Taliban gewesen, die ihnen zum Verhängnis geworden waren, sondern genau die gleichen Männer, die heute im Hauptquartier der Special Operations Forces auf der Bagram-Airbase das Sagen hatten: Amerikaner! Angehörige einer Special Operation Group aus der Special Activities Division des US-Geheimdienstes CIA hatten damals einer mit ihnen verbündeten Truppe afghanischer Kämpfer befohlen, die lästige Mitarbeiterin des französischen Nachrichtensenders France-Inter und ihren genauso lästigen Pressefotografen, nachdem sie sie zuvor entführt hatten, umzubringen. Die amerikanischen Operators wollten um jeden Preis verhindern, dass ein Einsatzkommando französischer Special Forces ihre Landsleute befreiten und sie nach Hause zurückbrachten. Delmas und der Mann, der für die Fotoagentur Sipa Press arbeitete, waren Zeugen eines blutigen Zwischenfalls geworden, den die CIA verheimlichen wollte. Für den Agenten hatte diese Mission damals fast in einer Katastrophe geendet: Damit die Special Forces-Soldaten vom Commande- ment des Opérations Spéciales – COS – überhaupt eine Chance hatten, mit den beiden befreiten Journalisten die Landezone ihres Evakuierungshubschraubers zu erreichen, hatte er seine Gruppe tadschikischstämmiger Kämpfer opfern müssen und sich dabei selbst eine Kugel in der linken Schulter eingefangen: Mit den beiden überlebenden Tadschiken waren sie verletzt und geschwächt fünf Tage lang durch die Berge geflohen – das von den Amerikanern gesponserte paschtunische Killerkommando im Nacken – bis sie endlich die relative Sicherheit von Ahmed Shah Massouds ehemaliger Heimat, das Pandschschir-Tal, erreichten. Der Agent erinnerte sich an frühmittelalterliche Chirurgie in einem schlecht ausgestatteten Krankenhaus in der Provinzhauptstadt Bazarak, Riesenprobleme, in seinem angeschlagenen Zustand heimlich wieder aus Afghanistan zu verschwinden, einen absoluten Höllentrip durch die zentralasiatischen ehemaligen Sowjetrepubliken und einen dreimonatigen Rekonvaleszenz-Urlaub. Zurück geblieben waren eine hässliche Narbe an seiner linken Schulter und eine gigantische Allergie gegen die Amerikaner und ihre gedankenlose Hoppla-jetzt-komme-ich-Politik. Die Narbe an der Schulter zog gerade wieder einmal heftig. Er wusste natürlich, dass das nur Phantomschmerzen waren. Doch die kamen immer dann, wenn er fühlte, dass sich eine neue Katastrophe anbahnte.

Es kostete den Agenten Überwindung, seine schwarzen Gedanken zu verdrängen. Er musste sich auf das Hier und Jetzt konzentrieren, wenn sie alle überleben wollten. Der Landeplatz für den Helikopter war vorbereitet. Er hatte die Lasermarkierungen für die Piloten aktiviert. Seit seinem Notruf waren fünfundvierzig Minuten vergangen. Der MedEvac konnte nicht mehr weit sein. Er rechnete kurz im Kopf: Es waren vielleicht hundertsechzig Kilometer Luftlinie. Bei einer Geschwindigkeit von hundertfünfzig Knoten waren fünfzig bis sechzig Minuten Flugzeit realistisch. Die ganze Rettungsaktion war natürlich ein Spiel mit dem Feuer, doch ihre Gegner hatten nichts bemerkt. Sie waren zu sehr damit beschäftigt, die Satellitenverbindungen und Radiofrequenzen der Special Forces zu stören. Sie waren nicht auf die Idee gekommen, dass man Hilfe auch über zivile Systeme herbeirufen konnte. Eine der Bodenstationen stand in Toulouse und der CSAR-Code-Satz für seine Leute im Fort de Noisy im Hauptquartier der Division Action des französischen Auslandsnachrichtendienstes DGSE hatte funktioniert.

Der Agent schloss für einen kurzen Augenblick die Augen und schickte ein Stoßgebet gen Himmel: »Saint Michel Archange, Lieutnant de la Sainte Mère Marie, protégez-nous dans çe combat!« Die Notärzte aus der ISAF Medical Task Force Kandahār hatten einen ausgezeichneten Ruf. Vielleicht hatten die beiden Schwerverletzten aus der Spezialeinheit, LeGoff und Durand, doch noch eine Chance zu überleben. Wie als Antwort auf sein Stoßgebet knatterte plötzlich ein Maschinengewehr los. Der Agent hörte im gleichen Augenblick das typische Motorengeräusch. Es wurde immer lauter und deutlicher. Der Black-Hawk-Rettungshubschrauber war endlich da. Ein gellender Schmerzensschrei gefolgt von mehreren Wutschreien übertönte den Lärm. Peret, der unverletzte Special-Forces-Soldat hatte wenig Munition. Er schoss nur noch, wenn er sicher war zu treffen.

Der Agent huschte an der Mauer entlang zum Wohngebäude.

»Wenn wir dieses jämmerliche Drecksnest lebend verlassen sollten, dann werde ich herausfinden, welche miese, kleine Ratte mit den Kryptoschlüsseln meiner Männer, dem OPLAN und den Q-Comms hausieren gegangen ist«, fluchte er leise. In einem früheren Leben hatte er in einer der fünf Spezialeinheit der französischen Kriegsmarine gedient. Damit waren die Verletzten und die Toten der Spezialeinheit auch »seine« Kameraden. Er schwor sich, dass der Verräter bezahlen würde. Wer auch immer es gewesen war, er würde ihn töten.

TEIL 1

ERSTES KAPITEL

Afghanistan – südwestlich von Kandahār – Bergdorf Rustam Kalay

Der als MedEvac umgerüstete Black-Hawk-Hubschrauber war die Strecke von Kandahār in die Provinz Zabul in Rekordzeit geflogen. Erst während der letzten zehn Minuten hatten die Piloten Gas weggenommen und sie manövrierten im Tiefflug durch die bergige Landschaft.

Oberstabsarzt Carla Rossi spürte die Spannung im Inneren des Helikopters. De Ruijters, der holländische Militärarzt, hatte den MP3-Player weggelegt. Er starrte neben ihr gebannt durch die Seitentür. Die Bordschützen hingen vornübergebeugt in ihren Sicherungsgurten, die Maschinengewehre im Anschlag. Jason Higgins versteckte sich immer noch in der hintersten Ecke des Hubschraubers. Der kanadische Sanitäter war leichenblass. Als das rote Alarmlicht in der Kabine losging, übertönten die Abschüsse der Flare Dispensers den Lärm der Rotoren. Der MedEvac kippte zur Seite, beschleunigte und ging tiefer. Rossis rechte Hand umklammerte den Metallrahmen einer Pritsche. Sie kämpfte gegen den brutalen Druck der Gs, die sie in den Boden zu rammen drohten. Für einen kurzen Augenblick schloss die Bundeswehrärztin die Augen, als sie das unverkennbare Zischen eines MANPADS registrierte. Knapp neben dem Hubschrauber explodierte eine gegnerische Boden-Luft-Rakete. Rossi atmete auf und rappelte sich hoch. Mechanisch überprüfte ihre linke Hand die Einsatzweste und den Sitz des Helms, während die rechte nach der Tasche mit der Notausrüstung griff. Dann streckte sie den Daumen in die Luft und bedeutete de Ruijters, dass sie bereit war. Der holländische Militärarzt schien zumindest äußerlich genauso gelassen, wie sie selbst. Er machte eine abfällige Handbewegung in Richtung des kanadischen Rettungssanitäters, der sich immer tiefer in seinem Versteck verkroch. Sie würden die Situation auch ohne den dritten Mann in den Griff bekommen. Plötzlich fluchte einer der beiden Bordschützen und hämmerte eine Salve nach unten. Im gleichen Augenblick zogen die beiden amerikanischen Piloten den Rettungshubschrauber noch einmal kurz hoch. Dann sank er in einer gigantischen Staubwolke zu Boden.

Die beiden Bordschützen hatten in einer einzigen Bewegung ihre Sicherheitsgurte gelöst und waren, ihre Schnellfeuerwaffen im Anschlag, nach draußen gesprungen. Die Rotorblätter beruhigten sich. Durch die Staubwolke erkannte das Rettungsteam von der ISAF Medical Task Force Kandahār, dass der Kampf auf der anderen Seite der Mauer tobte. Obwohl die von Aprikosen- und Granatapfelbäumen gesäumte Landezone sicher schien, war es riskant, den Hubschrauber vollständig zum Stillstand zu bringen. Mehrere Granaten explodierten in kurzer Folge. Mit einem gewaltigen Krachen flog im Hintergrund etwas Großes in die Luft und knallte wieder zu Boden. Rossi versuchte, das aufgeregte Geschrei auszublenden und klare Sicht zu bekommen. Ihr holländischer Kollege war bereits aus der Seitentür gesprungen, bevor die Kufen des MedEvac Bodenkontakt hatten. Der durchtrainierte breitschultrige Endvierziger konnte mit vielen jüngeren Berufssoldaten problemlos mithalten. Rossi, ihre Ausrüstung in der Rechten und eine Stoffrolle mit fertig aufgezogenen Morphin-Spritzen in der Linken, wollte ihm nachfolgen. Doch de Ruijters, der einen deutlichen Vorsprung auf die Mauer hatte, schien etwas wahrzunehmen, das ihr noch entging. Mit einer knappen Handbewegung bedeutete er ihr, am Helikopter zu bleiben. Dann sah sie es auch: Jemand legte dem holländischen Militärarzt vor der Kulisse eines Infernos aus Feuer und Rauch etwas Dunkles und Schlaffes auf die Schulter. De Ruijters sprintete zum Helikopter zurück.

Die beiden Schwerstverletzten lagen nicht auf Tragebahren geschnallt zur Evakuierung bereit, sondern direkt neben einer kaum sichtbaren Pforte in der Mauer auf dem blanken Boden. Ein Kamerad, der offensichtlich auch verletzt, aber noch auf den Beinen war, hatte de Ruijters dabei geholfen, den ersten Mann aufzuladen. Jetzt hievte er sich mühsam den zweiten über die Schultern und folgte deutlich langsamer nach. Es schien ihn seine letzte Körperkraft und Willensstärke zu kosten. Er humpelte zum Erbarmen.

De Ruijters schmiss seine Last wie einen nassen Sack auf die erste Pritsche. Rossi bemerkte nicht, dass der Holländer noch einmal ausstieg, um dem humpelnden Soldaten seinen Kameraden abzunehmen. Als erfahrener Notfallmediziner handelte sie instinktiv, tat, was getan werden musste: Der Mann war bewusstlos, der Druckverband über seinem Brustkorb durchgeblutet, eine etwas tiefer liegende Thoraxverletzung war ordentlich mit einem Bolin Seal abgedichtet. Rossi fixierte eine Sauerstoffmaske über Mund und Nase des Verletzten. Seine Atmung besserte sich. Das dumpfe Rasseln hörte auf. Sie schnitt den Ärmel der Kampfjacke auf und suchte die Vene. Es dauerte nur Sekunden, bis das Plasma begann, den Blutverlust des Mannes auszugleichen. Neben ihr kümmerte sich de Ruijters um den anderen Verletzten. Higgins hatte sich aufgerappelt und ging ihm zur Hand. Der Holländer fluchte leise, zischte dem Kanadier zu. »Scheiße! Adrenalin! Schnell!« De Ruijters stach direkt ins Herz. Der Soldat fuhr kurz hoch, ein gurgelnder Laut entwich seiner Kehle. Der leichter verletzte dritte Soldat diskutierte noch mit den amerikanischen Piloten und den kanadischen Bordschützen. Rossi hatte das Gefühl, dass es sich bei den Geretteten nicht um gewöhnliche Soldaten handelte, sondern um Mitglieder einer obskuren Special-Forces-Einheit. Sie waren nicht einheitlich gekleidet, und ihre Uniformen hatten ein seltsames Tarnmuster. Es waren keine Hoheits- oder Rangabzeichen aufgenäht, und der schwerverletzte Soldat, den sie stabilisierte, trug keinen Dog Tag am Hals. Noch bevor Rossi sich die Frage stellen konnte, warum solche geheimnisvollen Typen ausgerechnet einen auffälligen MedEvac bei der ISAF Medical Task Force Kandahār bestellen, anstatt ihren eigenen, diskreten OEF-CSAR-Helikopter herbeizufunken, hatte auch schon einer der Bordschützen den Leichtverletzten mit der Beinwunde in den Helikopter bugsiert, und sie hoben in einer gewaltigen Staubwolke ab.

Als der Agent sah, dass der MedEvac langsam anstieg, hob er die Panzerfaust auf die Schulter. Es war eine russische RPG-7, in sechsstelligen Stückzahlen produziert und auf der ganzen Welt verbreitet. Er hatte sich die beiden Brandstoff-Granaten bis zuletzt aufgehoben. Um dieses verdammte Drecksnest am Ende der Welt lebend zu verlassen, brauchen wir jetzt einen ganz gewaltigen Knall, ging es ihm durch den Kopf. Die beiden feindlichen Boden-Luft-Raketen vom Typ Stinger – steinalter und verlotterter Kriegsschrott aus den Tagen von US-Senator Charlie Wilsons Privatkrieg gegen die Sowjetunion – hatten den ISAF-Rettungshubschrauber im Landeanflug nur knapp verfehlt. Dank der geradezu unglaublichen Reaktion der Piloten waren alle heil dem Schlamassel entkommen, aber der MedEvac hatte dabei seinen gesamten Vorrat an Abwehrmaßnahmen verpulvert. Jetzt war er schutzlos, und die Russen, die sich hinter den Mauern der kleinen Moschee in der Dorfmitte verschanzt hatten, waren erfahren, knallhart, gut ausgebildet und sehr nervenstark. Profis, die genau wussten, was sie taten. Sie verfügten über eine exzellente Bewaffnung und spielten nicht nach den offiziellen Regeln. Es waren eindeutig SpezNaz. Der Auftrag der Russen war es, um jeden Preis zu verhindern, dass der Agent und die Soldaten aus der französischen Spezialeinheit das Dorf lebend verließen. Die, die sie achtundvierzig Stunden lang heimlich beobachtet hatten, bevor eine Ziege und ein Hirtenjunge ihnen zum Verhängnis wurden, würden Himmel und Hölle in Bewegung setzen, um das finstere Geheimnis zu wahren.

Nach dreitägigem Kampf ähnelte alles einer Ruinenlandschaft: Zwischen reglosen Körpern in afghanischer Landestracht und zerfetzten Nutztieren – Kollateralschäden – lagen Leichen in Uniform. Drei trugen einen Mix aus Hightech-Tarnanzügen und lokalen Kleidungsstücken, die anderen Camouflage-Uniformen mit dem BDU MARPAT Desert Pattern der Amerikaner. Ein paar streunende Hunde, die sich von dem Feuergefecht nicht stören ließen, steckten ihre Schnauzen bis zum Anschlag in die blutigen Wunden der toten Körper. Knapp fünfzig Meter vor dem Tor des Anwesens erkannte der Agent die brennenden Reste zweier Geländewagen. Seine Augen fanden, wonach sie gesucht hatten. Er zielte ruhig. Sekunden später explodierte die erste Brandgranate direkt im Eingang der Moschee. Er lud nach und feuerte die zweite Granate ab. Lebende Fackeln stürzten in kopfloser Panik aus dem Gotteshaus auf den Dorfplatz, wo sie inmitten der anderen Opfer des blutigen Kampfes zusammenbrachen. Er atmete tief ein, ließ die Panzerfaust fallen und sprintete bis zu einer Stelle, von der aus er auf das flache Dach des Wohngebäudes springen konnte. Der MedEvac dümpelte im Standflug. Die Piloten waren wirklich gut. Sie verstanden genau, was er vorhatte. Das Kabel der Winde baumelte in Griffhöhe. Er packte es, vollführte einen unmöglichen Klimmzug und schob einen Fuß in die Schlinge. Ein kurzer Ruck. Einer der Bordschützen hielt das Kabel mit der Hand auf Abstand, warf dann die Seilwinde an und zog den Agenten nach oben. Der Helikopter senkte die Nase und nahm Fahrt auf. Er drehte sich einmal um die eigene Achse und schoss auf die Berge zu.

Commandant Gwénaël Kérmorvan knallte schmerzhaft mit der linken Schulter gegen die Kufe, anschließend mit der Hüfte. Noch ehe der Einsatzagent des Service Action der DGSE reagieren konnte, packten ihn zwei kräftige Hände und zerrten ihn in den Hubschrauber. Kérmorvan schnappte ein paar Sekunden nach Luft. Sein Herz hämmerte wild gegen die gepanzerte Bodenplatte. Schwarze und goldene Sterne flimmerten vor seinen Augen. Seine behandschuhte Rechte ertastete die Spitze eines Kampfstiefels, während die Linke in einer abrupten Bewegung die Maschinenpistole wegschob, die ihn in Brust und Magen drückte. Als Kérmorvan endlich wieder Luft bekam, rollte er sich auf den Rücken. Der leichtverletzte Special-Forces-Mann Peret hockte wie ein Untoter blutbefleckt und mit teilnahmslosen Augen neben einer Bahre. Seine Hand hielt eine andere blutige Hand umklammert, die unter einer grauen Decke hervorlugte. Es schien Durand. Er hing am Tropf und schlief. Gegenüber waren drei Gestalten um eine zweite Bahre versammelt und sprachen leise miteinander. Kérmorvan sah Schläuche herunterhängen. Am Boden lagen die beiden Thoraxpflaster und der Notverband, den er selbst kaum eineinhalb Stunden zuvor angelegt hatte, hoffend, dass der Soldat LeGoff nicht erstickte oder verblutete. Kérmorvan nickte dem kanadischen Bordschützen zu, der ihn in den Helikopter gezogen hatte. Dann verkroch er sich mit seiner Waffe in eine Ecke des Hubschraubers. Kérmorvan empfand nichts als Leere: keine Trauer um die drei toten Soldaten aus der Spezialeinheit, die er auf dem Dorfplatz zurücklassen musste, keine Erleichterung, dass wenigstens drei der Männer mit ihm zusammen das Drecknest im Distrikt Shinkay lebend verlassen hatten. Nicht einmal die dumpfen Schmerzen in seiner linken Schulter und Hüfte nahm er wahr.

Afghanistan – Provinz Zabul – Bergdorf Rustam Kalay – nordöstlich von Qalat

Tolja Zabelev verfolgte den Rettungshubschrauber mit seinem Fernglas, bis er hinter einem Hügel verschwand. Sie hatten versagt! Diese verdammten Kerle hatten es geschafft, sie auszutricksen. Mindestens drei der Männer waren entkommen. Einen hatte er gerade bei seiner spektakulären Flucht beobachtet. Er zögerte einen Augenblick, dann zog er das Funkgerät aus der Tasche. Die kleine Gruppe, die Matveev am Pass von Kashani zurückgelassen hatte, um den Eindringlingen den Rückzug abzuschneiden, würde den Helikopter vielleicht noch erwischen. Rowan und Erin hatten die französische Boden-Luft-Rakete dabei, die ihr Auftraggeber Mr. Jones einem serbischen Mittelsmann in Damaskus abgekauft hatte. Mistral war eine der besten Boden-Luft-Raketen der Welt. Sobald man sie auf ein Ziel abschoss, war die Sache gelaufen. Fire and Forget!

Tolja Zabelev bezweifelte natürlich, dass Matveevs Partner wirklich »Jones« hieß. Dafür hatte er zu viel Bares in der Tasche und zu viele Möglichkeiten, schnell und unproblematisch an Ausrüstung heranzukommen, von der normale Söldner nur träumen konnten. Nach dem Geiseldrama im Moskauer Dubrowka-Theater hatten sie alle die Schnauze vollgehabt: von den verdammten Tschetschenen, von Wladimir Putin und von ihrer eigenen, russischen Armee, die mit dem erbärmlichen Sold auch noch monatelang im Rückstand war. Ihr Vorgesetzter Major Arkadij Alexewitsch Matveev hatte sein gesamtes SpezNas-Team überredet, auszusteigen und sich zusammen freelance meistbietend zu verkaufen. Nach 9/11 war das Geschäft der privaten Kriegsdienstleistungen richtig angelaufen, denn der amerikanische Präsident hatte dem internationalen Terrorismus den Krieg erklärt. Die Welt wurde gefährlicher, und es gab überall gut bezahlte Contractor-Jobs, wo Männer wie er zwischen sechshundert und achthundert Dollar am Tag verdienen konnten. Man übernahm den bewaffneten Personenschutz für Wirtschaftsbosse oder bewachte Unternehmen im Ausland. Unglücklicherweise hatte es ihre ganze Truppe am Ende genau dorthin verschlagen, wo keiner von ihnen jemals wieder hingewollt hatte: nach Afghanistan!

Tolja sprach kurz mit Richard O’Shaughnessy, dem Anführer der Gruppe am Pass. Abschließend gab er die Flughöhe und Flugrichtung des Helikopters an Rowan und Erin durch, die das Mistral bedienten. Daraufhin schmiss der Russe das Funkgerät auf den Boden und zertrümmerte es mit einem gezielten Tritt seines Kampfstiefels. Er hatte sich entschieden. Major Matveev konnte ihn nicht mehr davon abhalten, alles hinzuschmeißen. Den fraßen nämlich gerade die halbwilden afghanischen Straßenköter in der Dorfmitte von Rustam Kalay auf. Gegrilltes Frischfleisch war rar in dieser Gegend. Seine anderen Kameraden waren entweder bereits tot oder würden im Lauf der nächsten Stunden erbärmlich krepieren. Im Gegensatz zu ihren Gegnern, die es fertiggebracht hatten, trotz intensivster elektronischer Störmaßnahmen einen Rettungshubschrauber anzufordern, konnten sie niemanden zu Hilfe rufen, und er hatte nicht den Mut, ihnen den erlösenden Gnadenschuss zu geben. Tolja trat unbarmherzig nach einem Köter, der sich an den Eingeweiden eines Mannes labte, den er noch vor Kurzem seinen Freund genannt hatte. Das räudige Vieh quietschte, wich ein paar Meter zurück und legte sich auf den Boden. Mit hochgezogenen Lefzen und boshaft glänzenden bernsteingelben Augen beobachtete es den Russen aufmerksam.

Petja würde seine gefüllten Magazine, die taktische Weste mit Feldration, Wasser und Thermodecke und die Pistole nie wieder brauchen. Eines ihrer Fahrzeuge hatte das Wüten der nicht identifizierten Special-Forces-Einheit, mit der sie sich drei Tage herumgeprügelt hatten, verhältnismäßig unbeschadet überstanden. Nach Qalat waren es querfeldein nur etwa sechzig Kilometer. Das waren zwei Tage Fahrt, doch mit ein bisschen Glück konnte er sich von dort aus auf der Ring Road nach Kabul durchschlagen und dann irgendwie diskret aus Afghanistan verschwinden. Tolja hatte genug. Er pfiff auf das Geld, das Jones ihm noch schuldete. Er hatte genug. Das Geschäft wurde einfach zu gefährlich. Dieser blutige Kampf war nicht ihre erste Begegnung mit Soldaten von der Operation Enduring Freedom gewesen. Doch all die anderen Male hatte man sie rechtzeitig gewarnt. Sie hatten im Hinterhalt gelegen, ihre Gegner überrascht und waren dabei immer ohne eigene Verluste davongekommen. Abgesehen von der widerlichen Drecksarbeit, hinterher die Leichen der Opfer mithilfe von Explosivstoffen endgültig aus der Welt zu schaffen, waren diese Einsätze ein absolutes Kinderspiel gewesen und hatten mit ehrlichem Kampf Mann gegen Mann nichts zu tun gehabt. Doch dieses eine Mal war alles ganz anders gelaufen … Er fluchte und zwang sich, den Geruch nach brennendem Fleisch zu verdrängen.

ZWEITES KAPITEL

Afghanistan – Provinz Zabul

Rossi und de Ruijters hatten es sich in den Kopf gesetzt, ihre Patienten um jeden Preis lebend nach Kandahār zu bringen. Der leichtverletzte Mann mit dem kaputten Bein hatte sie weggewinkt und dabei mit einer flehenden Geste und verzweifelten Augen auf seine beiden Kameraden gedeutet. Dann hatte er seine Wunde selbst notdürftig versorgt und sich mit dem Autoinjektor einen Schuss Morphium gesetzt. Der zweite Schwerverletzte war schnell stabilisiert. Nach der Adrenalinspritze ins Herz hing er am Tropf mit Schmerzmitteln und Plasma und hatte seinen relativ schmerzfreien Kameraden an seiner Seite, der ihm die Hand hielt und leise auf ihn einzureden schien. Obwohl der Helikopter sich im Tiefflug durch eine Gebirgsregion schlängelte, wollte Jaap bei dem dritten Verwundeten eine Not-Thorakotomie versuchen und dann den Durchschuss des rechten Vorhofes mit zwei Gore-Tex-Patches übernähen. Die Chancen ihres Patienten, Kandahār ohne diese gewagte Notoperation lebend zu erreichen, standen gleich null. Der Soldat war vor seiner Evakuierung außergewöhnlich gut versorgt worden. Dadurch war ihm der gefährliche Spannungspneumothorax erspart geblieben. Und der Nasopharyngealtubus hatte für ein gutes Atmungsmanagement des Angeschossenen gesorgt und so seine Aussichten zusätzlich verbessert. Rossis Blick kreuzte für einen kurzen Augenblick den des unverletzten Special-Forces-Soldaten. Er saß in seiner Ecke und beobachtete sie aufmerksam. Sie vermutete, dass er es gewesen war, der die beiden Kameraden unter Feuer notversorgt hatte. Vielleicht war er ein Kollege, ein sogenannter SOCM oder Special Operations Combat Medic, wie sie von den Special Forces der NATO-Mitgliedsstaaten und auch denen der Russen ausgebildet wurden, um den Soldaten bei ihren lebensgefährlichen Einsätzen hinter feindlichen Linien im Falle einer Verwundung zumindest eine minimale Überlebenschance zu gewähren. Durch seinen dichten, schwarzen Bart schenkte der Special-Forces-Operator ihr ein müdes, aber dankbares Lächeln. Als Rossi ihn zum ersten Mal bemerkt hatte, hockte er noch wie ein verstörtes, wildes Tier in einer Ecke und klammerte sich zitternd und schwer atmend an seiner Waffe fest, als ob sie sein letzter Halt im Leben war. Zwischenzeitlich schien er sich wieder gefangen zu haben und wirkte nicht mehr ganz so aggressiv wie unmittelbar nach seiner gewagten Flucht. Er verstand offenbar auch, was sie und de Ruijters planten. Dies, gepaart mit einem Hauch von Bewunderung, hatte sie in seinen dunklen Augen gelesen, während ihre Blicke sich gekreuzt hatten. Sie war insgeheim froh, dass sie neben zwei Schwerstverletzten bei diesem riskanten Einsatz unter feindlichem Feuer nicht auch noch eine unberechenbare und traumatisierte Raubkatze im Helikopter hatten.

Rossi schluckte. Silbern glänzten die Klammern in de Ruijters Händen. Er hob kurz die Augen von der Thoraxverletzung und fixierte sie.

»Es wird gut gehen«, formten seine Lippen auf Deutsch durch den Lärm der Rotorenblätter, »wir werden diesen Mann retten!«

Rossi nickte energisch und wiederholte laut die Worte ihres holländischen Kollegen, um sich Mut für den gewagten Eingriff zu machen.

»Wir schaffen das, Jaap!«, rief sie de Ruijters zu. »Du und ich, wir sind ein unschlagbares Team! Wir schaffen das …«

Dann führte sie ihre Sonde so vorsichtig wie möglich in den Schusskanal ein.

Afghanistan – Provinz Zabul – Kashani-Pass

Die Gruppe verfolgte fasziniert den Flug der Boden-Luft-Rakete. Das französische Mistral war eines der besten Fire-and-Forget-Flugabwehrsysteme der Welt. Obwohl sie nur das ältere Model Mistral 1 mit einer maximalen Bekämpfungshöhe von drei Kilometern und einer Geschwindigkeit von Mach 2,5 zur Verfügung hatten, war es doch beeindruckend: Erin, der Operator, konnte den Growl des Infrarotsuchkopfs in seinem Headset hören. Den Dauerton, als die Mistral sich wenig später wie ein bösartiger Pitbull in den Rettungshubschrauber verbiss, hörten sie alle.

Ein glücklicher Zufall hatte gewollt, dass sie das sündhaft teure Ding überhaupt mitgenommen hatten. Jones war unterwegs, um Geschäfte zu erledigen. Der Professor kümmerte sich nicht um die Sicherheit der Grabungsstätte. Es war Matveevs Job gewesen, die neugierigen Typen zu jagen, die versucht hatten, sich durch den Fluss und über den Pass ins Hochtal zu schleichen. Dadullahs ältester Sohn hatte sie zufällig entdeckt, als er versuchte, eine Ziege einzufangen, die seinem Großonkel ausgebüchst war.

Der Infrarotsuchkopf hatte endlich sein Ziel gefunden, nachdem er sich kurzfristig von einem Ausweichmanöver des MedEvac hatte ablenken lassen. Doch ein Rettungshubschrauber war kein Kampfhubschrauber, auch wenn er einen eindrucksvollen Namen trug … und ein Black-Hawk-MedEvac, der all seine Abwehrmaßnahmen verpulvert hatte, war so hilflos wie eine Tontaube.

»Bingo!« jubelte Erin.

Richard O’Shaughnessy schmunzelte, als der elegante Helikopter sich mit einem Mal in eine lahme Ente verwandelte. Er gab seinen Männern Zeichen, die übriggebliebene Rakete und die Abschussvorrichtung wieder einzupacken. Der überlebende Russki Zabelev hatte ihm mitgeteilt, dass sich mindestens drei der Männer, die sie jagten, an Bord des ISAF-Rettungshubschraubers befanden. Und es war immer möglich, dass jemand einen Absturz überlebte. Für ihren Auftraggeber wäre es fatal, wenn ein Überlebender es zurück zu den NATO-Truppen schaffte. Niemand durften je erfahren, was in dem Bergdorf Rustam Kalay geschehen war.

Afghanistan – Provinz Zabul – unweit des Kashani-Passes

Kérmorvan rieb sich den Kopf. Der Einschlag war hart, plötzlich und unerwartet gekommen. Augenblicke zuvor hatte er noch die Bundeswehr-Ärztin beobachtet, wie sie ihre Sonde vorsichtig in den Einschusskanal unter dem rechten Rippenbogen von Durand einführte. Er wollte sich aufrappeln, doch der Helikopter schlingerte furchterregend. Schließlich gelang es ihm mit der Rechten, den fest im Boden verschraubten Metallfuß einer Pritsche zu fassen. Aus dem Augenwinkel sah er einen der beiden Bordschützen. Er hing in seinem Sicherheitsgurt über dem Rand der offenen Seitentür. Der Mann war tot. Aus seinem Rücken ragte ein zersplittertes Stück Holz. Kérmorvan drehte den Kopf. Der holländische Arzt und der kanadische Sanitäter lagen blutig und wie seltsame Marionetten verrenkt über LeGoff, der keinen Kopf mehr hatte. Die Außenwand des Helikopters beulte sich nach innen wie eine leere Cola-Dose. Peret lag über der Leiche von Durand. Der Aufprall hatte den Rahmen der oberen Pritsche aus ihrer Verankerung gerissen und musste dem Mann dabei das Genick gebrochen haben.

Kérmorvan versuchte, die Beine zu bewegen. Er spürte sie bis hinunter in die Zehen. Auch ansonsten war er im Großen und Ganzen unbeschädigt. Doch irgendetwas klemmte ihn ein. Er zwang sich zur Ruhe. Es war nicht sein erster Absturz mit einem Helikopter. Für einen Panikanfall war später noch Zeit: am besten zu Hause in Frankreich, wo es keinen störte, wenn er die Nerven verlor. Nach ein paar erfolglosen Versuchen gelang es ihm endlich, das rechte Knie hochzudrücken. Er hörte ein leises Wimmern. Mithilfe des Metallfußes zog er sich in eine aufrechtere Position. Er atmete auf. Was ihn einklemmte, war kein Wrackteil, sondern nur die zierliche, kleine Bundeswehr-Ärztin. Sie lag bäuchlings auf ihm. Kérmorvan angelte vorsichtig nach dem Rückenträger ihrer Funktionsweste und erwischte ihn gerade noch mit zwei Fingern. Zum Glück war die Frau ein echtes Leichtgewicht. Er spürte instinktiv, dass er weder den Metallfuß loslassen noch irgendeine ruckartige Bewegung machen durfte. Langsam zog er sie zu sich hoch. Er lächelte, als er den kräftigen Schlag ihres Herzens fühlte. Sie lebte! Und sie schien bis auf eine blutige Schramme über dem Auge genauso unverletzt wie er selbst.

Eine seltsame Schwingung, wie von einem großen, flachen Stein, der ins Wasser geworfen absank, trieb ihm den kalten Schweiß auf die Stirn. Noch bevor er den panischen Schrei aus dem Cockpit des Helikopters hörte, wusste er ganz genau, was jetzt geschehen würde. Er schlang den linken Arm so fest wie möglich um den Oberkörper der Bundeswehr-Ärztin, schloss die Augen und betete inständig zu seinem Schutzpatron:

»Saint Michel Archange, rempli de la sâgesse de Dieu … – Heiliger Erzengel Michael, voll der Weisheit Gottes …«

Noch bevor Kérmorvan mit seinem Gebet zu Ende war, spürte er einen zweiten Schlag, um vieles härter als der erste und von einem rätschenden, kehligen Geräusch begleitet. Er atmete tief durch, und konzentrierte sich auf den Metallfuß. Egal wie, wenn sie leben wollten, dann musste er jetzt ihrer beider Gewicht halten!

Der Helikopter überschlug sich in der Luft und ihm wurde schwarz vor Augen. Es war, als ob jemand mit aller Gewalt seinen Arm aus dem Schultergelenk reißen wollte. Er biss die Zähne zusammen. Der Schmerz war fast unerträglich. Erleichtert hörte er das Krachen, als Metall endlich auf harten Felsen schlug. Er spürte kalte, frische Luft auf der Haut. Dann raubte ihm ein gnadenloser Schlag ins Kreuz den Atem. Zuerst wurde es ganz still und er hatte das Gefühl, neben seinem eigenen, geschundenen Körper zu stehen, bis plötzlich dröhnend eine rote Lanze aus Feuer an ihnen vorbeischoss, hinauf in den Himmel.

Als ihm durchdringender Kerosingeruch und der Gestank von brennendem Fleisch in die Nasenlöcher stieg, wusste Kérmorvan, dass er diesmal noch nicht vor seinen Schöpfer treten musste. Er dankte dem Erzengel Michael aus tiefstem Herzen, würgte den Ekel hinunter und zwang sich zur Ruhe. Eine Zeile aus der Apokalypse ging ihm durch den Kopf:

»Et il se fit un silence dans le ciel lorsque l’Archange Michel combattait le dragon. – Und es wurde still im Himmel, als der Erzengel Michael mit dem Drachen kämpfte.«

Kérmorvan öffnete die Rechte und ließ den nutzlosen Metallfuß fallen. Seine Schulter hatte durchgehalten. Sie tat zwar entsetzlich weh, aber war nicht ausgekugelt. Die kleine Bundeswehr-Ärztin war zum Glück noch immer bewusstlos und hielt still. Sie hatte nichts von dem ganzen Drama mitbekommen. Er atmete flach. Sein Rücken brannte wie flüssiges Feuer. Vorsichtig drehte er den Kopf zur Seite. Bei jedem Atemzug senkte und hob sich der Untergrund. Er hatte den Eindruck, dass sie wie zwei Fliegen in einem klebrigen Spinnennetz gefangen hingen. Allerdings zwei immer noch lebendige Fliegen!

Kérmorvan hob den rechten Arm und fing an vorsichtig zu tasten: stachelige dünne Äste, stachelige dickere Äste, glatte dicke Wurzeln, schließlich rauer griffiger Stein. Er fasste wieder Mut: Sie waren in ihrem Fall von einem dornigen Busch aufgehalten worden, der aus dem blanken Felsen wuchs. Und nach den Wurzeln zu urteilen, war das Ganze eine ziemlich stabile Sache. Wenn es ihm jetzt noch irgendwie gelang sich umzudrehen, ohne dabei abzustürzen, dann konnte er sich die Kleine auf den Rücken packen und klettern.

Kérmorvan tauchte seine blutigen, aber wieder dornenfreien Hände ins kalte Wasser des Gebirgsflusses. Es war eine Wohltat! Am liebsten hätte er sich ausgezogen, um den ganzen Dreck der letzten Tage abzuwaschen; den Schweiß, das Blut, den Staub und die Angst, versagt zu haben. Doch er wollte die Kleine nicht so lange in der Höhle allein lassen, die er als sicheren Unterschlupf für sie gefunden hatte. Sie hatte vermutlich eine leichte Gehirnerschütterung und würde ziemlich verwirrt sein, sobald sie aus ihrer Bewusstlosigkeit erwachte. Aber wenigstens hatte sie weder den Horror des zweiten Absturzes in die Schlucht noch die Explosion des Hubschraubers mitbekommen … oder das brennende Fleisch. Er biss die Zähne zusammen, schloss die Augen und schluckte. Dann atmete er ein paar Mal tief durch. Sobald seine Schutzbefohlene und er in Sicherheit waren, würde er in aller Ruhe die Nerven verlieren.

Bevor er sich um seine eigenen Verletzungen gekümmert hatte, hatte er ihre Schnittwunde über dem Auge gesäubert und ordentlich geklammert. Er hoffte, dass er sie kompetent versorgt hatte und sie keine Narbe zurückbehalten würde. Dies war nicht ihr Krieg! Dann hatte er es ihr so angenehm wie möglich gemacht und sie warm in sämtliche Kleidungsstücke gehüllt, die er entbehren konnte, und mit einer federleichten Mikrofaser- und einer Rettungsdecke zugedeckt. Seine Pistole lag geladen unter ihrer rechten Hand, zusammen mit zwei vollen Magazinen und seinem Kampfmesser. Falls sie doch aufwachte, während er noch unterwegs war, würde sie sich wenigstens nicht schutzlos fühlen.

Kérmorvan hatte eine wage Idee, wo sie sich befanden. Das Kaff, in dem sie mit den russischen Söldnern gekämpft hatten, lag in Luftlinie etwa zwölf bis fünfzehn Kilometer östlich. Der Highway A01, der Kandahār mit Kabul verband, lag im Westen. Das waren ungefähr sechzig Kilometer Luftlinie. Dort befand sich bei Qalat ein Vorposten der OEF. Auf der Forward Operating Base FOB Lagman waren Amerikaner und ein paar Rumänen stationiert. Er zog es vor, den Amerikanern aus dem Weg zu gehen. Was er während der letzten Tage beobachtet und erlebt hatte, war ihm unheimlich. Er verstand es noch nicht, doch er hatte einen furchtbaren Verdacht. Und der Abschuss des MedEvac war das traurige Finale gewesen. Wenn er recht hatte, dann musste er auf Tauchstation gehen und diskret aus Afghanistan verschwinden. Und er musste verhindern, dass die Bundeswehr-Ärztin Kontakt zu Amerikanern bekam, bevor er mit seinen Vorgesetzten in Paris gesprochen hatte.

Damit blieb ihnen als sicherster Ausweg, sich irgendwie durch die Berge bis nach Spin Boldak und zum Grenzübergang von Chaman durchzuschlagen. Der Weg über die grüne Grenze und durch die Berge war schwierig und anstrengend. Nachts wurde es bereits empfindlich kalt. Er war hundemüde, abgekämpft, grauenhaft hungrig und jeder Knochen im Leib tat ihm weh. Es half nichts, er musste zum Wrack des Helikopters hinunterklettern. Während ihrer spektakulären Rutschpartie mit dem MedEvac durch die Felswand hatte er seine einzige sichere Kommunikationsmöglichkeit mit Madame le Juge und dem Hauptquartier in Romainville verloren. Es handelte sich dabei um ein speziell von Astrium für den französischen Geheimdienst DGSE entwickeltes Spielzeug, das wie ein aufgemotzter Blackberry funktionierte, dabei aber hundertprozentig stör-, abhör- und ortungssicher war und sogar filmen und Fotos schießen konnte. Das Ding war noch in der Experimentierphase, eine Kreuzung zwischen Telefon und Tablet-Computer. Es eignete sich im Gegensatz zu dem neuen zivilen Apple-Smartphone auch nicht besonders gut zum ganz banalen Telefonieren, aber man konnte schnell und sicher über die militärischen Satelliten des Syracuse-III-Programms der französischen Generaldirektion für Rüstung SMS-Textmitteilungen sowie E-Mails senden und empfangen und sogar ziemlich große Bild- und Tondateien anhängen.

Die Entwickler von Astrium hatten ihm den Prototypen erst vor ein paar Wochen anvertraut, weil sie unbedingt ausprobieren wollten, ob das Teil im wirklichen Leben eines Special-Forces-Soldaten auch so arbeitete, wie sie es sich vorgestellt hatten, und Kérmorvan hatte es begeistert mitgenommen. Er verstand auf Anhieb, wie nützlich dieses ganz spezielle Kommunikationsmittel als Teil einer künftigen Standardausrüstung sein konnte. Und das nicht nur für normale Special Forces, sondern auch für Männer in seinem Gewerbe. Außerdem war es für Madame le Juge und die IT-Equipe in Romainville möglich, ihn so lange zu lokalisieren, wie sich Batterien im Gerät befanden, selbst wenn das seltsame kleine Spielzeug ausgeschaltet war. Falls er sein wasserdichtes Smartphone wiederfand, waren seine eigenen Probleme und die der kleinen Deutschen von der Bundeswehr gelöst. Er würde versuchen, zu Hause anzurufen, und wenn das nicht funktionierte, einfach eine SMS schicken, damit ein französischer Hubschrauber aus Jalalabad sie diskret abholte. Falls nicht, dann gab es vielleicht am Wrack des MedEvac ein paar andere brauchbare Dinge, die ihnen den Marsch aus der Gefahrenzone zurück in eine sicherere, freundlichere Gegend leichter machten.

Kérmorvan fluchte leise. Er hatte schon seit Tagen nicht mehr richtig geschlafen und kaum gegessen. Da er sich standhaft weigerte, die beliebten, aber ausgesprochen ungesunden Amphetamine zu schlucken, mit denen viele seiner Kollegen sich im Einsatz hochpuschten, waren seine Reflexe ziemlich bei null angekommen. Jedes verstörte Karnickel konnte ihn jetzt problemlos überraschen. Und in der Nähe trieben sich die unheimlichen Kerle herum, die den MedEvac abgeschossen hatten. Er hoffte, dass die Bundeswehr-Ärztin in der Lage war, zu laufen, denn er wusste nicht, ob er es schaffen würde, sie fünfzig oder sechzig Kilometer weit auf dem Rücken durch die Berge zu schleppen.

Afghanistan – Provinz Zabul – unweit der Absturzstelle des MedEvac

Während seine Männer rasteten, suchte Richard O’Shaughnessy mit dem Feldstecher die Schlucht und den Flusslauf ab. Als der MedEvac taumelte, war er knapp zwei Kilometer Luftlinie von ihrer Position entfernt gewesen. Er vermutete, dass der Helikopter gegen einen der Berghänge geprallt und erst dann abgestürzt war. Die Boden-Luft-Rakete hatte ihn sauber in den Heckrotor getroffen, genau dort, wo bei manchen dieser Hubschrauber eine verräterische Blackbox saß. Im Verlauf der letzten Stunden war allerdings kein Suchhelikopter aufgetaucht. Alles war viel zu schnell gegangen, um einen Notruf abzugeben. Schließlich fanden O’Shaughnessys Augen, wonach er suchte: Es war absolut unmöglich, dieses Wrack zu bergen und höchstwahrscheinlich sogar unmöglich, es aus der Luft zu finden. Der ausgebrannte MedEvac lag zwischen Felsbrocken eingeklemmt wie ein gestrandeter Walfisch in einem Flussbett. Der Gebirgsfluss staute sich bereits. Noch ein paar Stunden, dann würde die Natur den Kampf gegen die Maschine gewinnen und das Wrack würde endgültig zerbrechen. Irgendwann würde die ISAF dann vielleicht irgendwo stromabwärts, drüben in der Provinz Kandahār im Argandab, ein paar Teile des Helikopters finden.

O’Shaughnessy wollte den Professor bitten, dem Taliban-Warlord Dadullah auszureden, diesen speziellen Abschuss für seine Publicity auszuschlachten. Ein unbestimmtes Gefühl sagte ihm, dass es für alle Beteiligten am besten war, wenn die ISAF und die NATO einen tragischen Unfall bei einem besonders schwierigen Rettungsflug vermuteten.

Die einsame, dunkle Gestalt, die sich mühsam aus dem Wrack quälte, faszinierte den Briten. Er hatte es für unmöglich gehalten, dass jemand diesen Absturz überleben konnte. Doch sehen hieß glauben. Der Typ hatte es sogar geschafft, zwei Leichen aus dem Wasser zu ziehen und irgendwelchen Krempel zu bergen. Unter den gegebenen Umständen gehörte ein unglaublicher Wille dazu, so etwas zu tun. Die Leichen lagen nebeneinander am Ufer. Der Verrückte hatte trotz seiner verzweifelten Situation den Anstand besessen, sich neben sie zu knien und ein kurzes Gebet zu sprechen. O’Shaughnessy hatte sich angesichts dieser pathetisch und mittelalterlich anmutenden Geste ein Grinsen nicht verkneifen können.

Ein bisschen Material hatte den Absturz überlebt: Ein Rucksack mit medizinischer Notausrüstung, Wasserflaschen, eine kleine, undefinierbare Metallkiste, Klamotten. Und die einsame Gestalt hatte noch etwas erbeutet: Es gefiel O’Shaughnessy gar nicht, mit anzusehen, wie der Überlebende eine kurze, handliche Schnellfeuerwaffe ans Ufer brachte, bevor er sich erneut entschlossen in die eiskalten Fluten stürzte, um noch einmal zu dem Wrack zurückzuschwimmen. Der Mann war sichtlich unverletzt und er schien eine Konstitution wie ein Ackergaul zu haben.

Er gab seinen Männern ein Zeichen, dass die Pause zu Ende war. Es war unmöglich zu sagen, ob es sich bei dem Beobachteten um einen Überlebenden der MedEvac-Besatzung oder um einen der Männer handelte, die sie gejagt hatten. Von seiner Uniform waren lediglich eine Flecktarnhose und ein khakifarbenes T-Shirt übrig. Egal, um wen es sich handelte, sie mussten den Kerl erwischen, bevor er sich mit der Waffe und der restlichen Beute aus dem Staub machte. Bis zum Highway A01 waren es rund sechzig Kilometer Luftlinie. Ein entschlossener und gut trainierter Mann mit Erfahrung legte diese Strecke in zwei, höchstens drei Tagen zurück. Ein Soldat ohne Erfahrung, der überleben wollte, würde vielleicht eine Woche brauchen, doch auch er würde es irgendwie schaffen. Und wenn das passierte, war es nur noch eine Frage von Stunden, bis Kampfhubschrauber der Antiterror-Koalition über ihrem Gebiet auftauchen und ihrem einträglichen Geschäft ein Ende machen würden.

DRITTES KAPITEL

Afghanistan – Provinz Zabul – Absturzstelle des MedEvac

Rossis Atem stockte und sie wich instinktiv zurück. Unten beim Hubschrauberwrack bewegte sich etwas. Sie erspähte eine kleine Gruppe von bis an die Zähne bewaffneten Männern in Tarnanzügen, die plötzlich wie aus dem Nichts aufgetaucht waren. Weder auf den ersten noch auf den zweiten Blick konnte sie diese seltsamen Tarnanzüge, die mit der Umgebung zu verschmelzen schienen, einem der in Afghanistan vertretenen Truppenkontingente zuordnen. Und es waren gewiss keine Afghanen, weder Taliban noch Mudschaheddin noch irgendeine Miliz, dazu waren sie viel zu gut und einheitlich ausgerüstet. Rossi überlegte ein bisschen. Die Kerle waren ganz eindeutig Europäer und die Mündungen ihrer Waffen richteten sich auf das Wrack, in dem sich der Special-Forces-Soldat befand. Der Flecktarn sah irgendwie aus wie der US-MARPAT oder der neue kanadische Flecktarn CADPAT. Glücklicherweise kam niemandem die Idee, nach oben zu blicken oder gar in die Felsen zu klettern, um nachzusehen, ob sich vielleicht noch andere Überlebende herumtrieben. Rossi entschied sich für US-MARPAT. Sie als Ärztin machte nie einen solchen Aufstand um Tarnkleidung, sondern lief in der klassischen, kochfesten deutschen Standardware herum. Sie wollte sich in ihrem Feldhospital ja auch nicht verstecken. Aber die Kerle in der modischen Tarnkluft hatten eine sehr präzise Idee von dem, was sie wollten.

Rossi war etwa eine halbe Stunde zuvor mit grauenhaften Kopfschmerzen aufgewacht. Zunächst hatte sie gar nichts verstanden, dann waren langsam ein paar Erinnerungen zurückgekehrt; der fürchterliche Schlag, das Blut in ihrem Gesicht, die Hand, die sie nach oben gezogen und festgehalten hatte, der unverletzte Soldat aus der obskuren Special-Forces-Einheit, ruhige dunkelbraune Augen, die sie angelächelt hatten, ein einlullender beruhigender Singsang in einer Sprache, die ihr wage bekannt vorkam.

Der Mann hatte sich trotz der schlimmen Lage, in der sie waren, rührend um sie gekümmert. Sie war in einem weichen warmen, wenn auch übelriechenden Nest aus verschwitzten Kleidungsstücken aufgewacht. An ihrem rechten Handgelenk, Zifferblatt nach unten, bemerkte sie an einem khakifarbenen Zulu-Strap eine robuste, etwas altertümlich wirkende Taucheruhr. Unter ihrer rechten Hand hatte sie eine geladene halbautomatische Glock 17, ein paar mit 9-mm-Parabellum gefüllte Ersatzmagazine und ein gefährlich wirkendes, schlankes Kampfmesser gefunden. Direkt vor ihren Augen standen eine Wasserflasche, ein Dreißigerpäckchen Ibuprofen 400 mg und ein komplettes RCIR, eine jener heiß begehrten französischen Kampfrationen, um die alle in Afghanistan stationierten Truppen sich stritten, und für die man auf dem schwarzen Markt der ISAF mindestens fünf amerikanische MREs oder drei deutsche EPAs hinlegen musste. Im Gegensatz zu allen anderen militärischen Einmann-Futterpackungen enthielt die französische auch einen Esbit-Kocher, auf dem man sich zu den selbstwärmenden Mahlzeiten noch diskret einen heißen Tee oder Kaffee kochen konnte.

Die seltsame kleine Inszenierung hatte Rossi berührt und gleichzeitig beruhigt: Sie befand sich zwar im Niemandsland in den Bergen zwischen den Provinzen Kandahār und Zabul, doch sie war nicht allein und ihre Lage war nicht aussichtslos. Der Special-Forces-Soldat hatte seine sieben Sinne offensichtlich beisammen und wusste, was er tat. Selbst der Schnitt über ihrem rechten Auge war professionell versorgt. Sie hatte sich noch gewundert, woher er an einem solchen Ort Klammerpflaster und Ibuprofen-Tabletten bekam, und was im Kopf eines Mannes vorging, der in ihrer üblen Situation Zeit darauf verschwendete, die Bildung einer Narbe an einer belanglosen Stelle zu verhindern.

Noch leicht benommen nahm sie die Tabletten, das Wasser und die Pistole und kroch aus ihrem Versteck. Dann setzte sie sich eine Weile in die Sonne und wartete, bis das Gefühl der Übelkeit verschwand. Nach ein paar Schlucken Wasser und zwei Ibuprofen hörte ihr Kopf schließlich auf zu dröhnen. Es war still. Außer dem Rauschen des Flusses und ein paar Vögeln hörte sie nichts. Lediglich der widerliche Gestank nach verbranntem Fleisch und Treibstoff störte das afghanische Bergidyll.

Als sie sich besser fühlte, wurde sie unternehmungslustiger und erkundete ihre direkte Umgebung. Es gab nicht viel zu sehen; die Höhle lag gut versteckt auf einer Anhöhe direkt neben einem kleinen Wasserfall, der sich über graue Felsen und verstreutes Geröll hinunter in eine tiefergelegene Schlucht stürzte. Unten in der Schlucht hatte sie sofort den zerstörten Hubschrauber entdeckt und ihren schwarzhaarigen, bärtigen Schutzengel.

Er war dabei, mühselig irgendwelche Dinge aus dem Wrack zu bergen. Sie setzte sich hin und beobachtete ihn. Einmal sah er zu ihr hoch, bemerkte sie, winkte ihr zu und bedeutete ihr durch eine Geste, zu bleiben, wo sie war. Helfen konnte sie ihm in ihrem leicht benommenen Zustand sowieso nicht, und obwohl sie sportlich und durchtrainiert war, wäre sie nie so unbefangen wie er in das eiskalte Wasser gesprungen, um gegen die wilde Strömung bis zu dem Wrack des Hubschraubers zu schwimmen. Ihre Welt waren die Berge.

Und dann, als der Special-Forces-Soldat gerade in das Wrack gekrochen war, hatte sie die anderen Männer bemerkt. Im ersten Reflex wollte Rossi aufstehen und ihm ihre Entdeckung zurufen. War es möglich, dass Rettung so unglaublich nahe sein konnte? Doch sie besann sich und hielt inne. Gleich darauf beglückwünschte sie sich zu diesem weisen Entschluss, als sie beobachtete, wie die sechs unbekannten Männer ihre Maschinengewehre auf ihren Retter richteten, als dieser mit frischer Beute in den Armen wieder aus dem Wrack herauskroch. Rossi stockte kurz der Atem während ihr Herzschlag sich beschleunigte. Wenn das keine Irregulären, sondern wirklich Amerikaner waren? Vielleicht stammten sie ja aus einer dieser berüchtigten Special Operations Groups der Special Activities Division des US-Geheimdienstes CIA, über die auf der Kandahār-Airbase immer wieder die haarsträubendsten Stories erzählt wurden.

Pakistan – Provinz Khyber Pakhtunkhwa – Peshāwar

Der Mann wusste, dass ein Hotel der Luxusklasse wie das Pearl Continental immer die beste Garantie für Anonymität war, selbst in einem Dreckloch wie Peshāwar. Er bezahlte sein Zimmer in bar und verließ das Hotel im Zentrum der Stadt. Ein großer, schwarzer Geländewagen mit getönten Scheiben erwartete ihn. Kurze Zeit später bog der gepanzerte Chevrolet in die Ringstraße ein. Der Verkehr war in Peshāwar wie überall in Pakistan eine wilde Mischung aus kompletter Anarchie und normalem Chaos. Rund zwanzig Minuten später hatten sie den Schlagbaum und die Polizeikontrolle am südlichen Stadtrand passiert und befanden sich auf dem Weg nach Kohat. Die kugelsichere Trennscheibe zwischen der Fahrerkabine und dem Passagier wurde heruntergelassen. Der Mann hatte den Beifahrer bereits am Pearl Continental bemerkt.

»Es tut mir leid, dass ich Sie nicht früher begrüßen konnte, Sir.«

Jones steckte sein Satellitentelefon weg und drehte sich um. Der Anruf von der anderen Seite der Grenze verdarb ihm die Laune, doch er ließ sich nichts anmerken. Sein Freund Arkadij Matveev war tot und die Truppe ehemaliger SpezNas bis zum letzten Mann ausgelöscht! Das Dorf Rustam Kalay ein Trümmerhaufen! Dazu erhebliche Verluste in der Zivilbevölkerung! Jones kochte. Die Situation war verfahren. Keiner wusste, wer die Angreifer gewesen waren. Und ihr Versuch, heimlich in die Grabungsstätte einzudringen, war durch eine wanderlustige Ziege und Dadullahs ältesten Sohn rein zufällig vereitelt worden. In Anbetracht der Tatsache, dass sie erhebliche Geldmittel in hochmoderne Technologien zur Sicherung der Grabungsstätte investiert hatten, war dies ein schwaches Bild. Es war natürlich nicht der erste Zwischenfall dieser Art, und es würde gewiss auch nicht der letzte sein, doch ohne jegliche Vorwarnung hatte es bislang noch niemand fertiggebracht in ihre Nähe zu kommen, nicht einmal Aufklärungsdrohnen. Zabul war ein Hexenkessel und eine Hochburg der Taliban. Und die Taliban in Zabul gehorchten Dadullah. Dadullah herrschte mit eiserner Faust über die Provinz. Daran änderten auch die fast übermenschlichen Anstrengungen der Anti-Terror-Koalition OEF nichts. Dank der Nähe zu Pakistan mangelte es dem Warlord nie an Kämpfern: Tausende arbeits- und perspektivloser junger Paschtunen in den Stammesgebieten standen bereit, die Ränge des berüchtigten Warlords aufzufüllen. Und Dutzende junge Verblendete, die von islamischen Emigranten in Europa abstammten und davon überzeugt waren, nur wegen ihres Glaubens von der ganzen Welt benachteiligt zu werden, gesellten sich zu ihnen, um an diesem fernen Ende der Welt einen völlig sinnlosen Tod zu sterben.

»Es hat vor Ort ein Problem gegeben!«, erklärte Jones knapp seinem Auftraggeber.

»Aber Sie haben es gelöst und alles ist wieder unter Kontrolle?«, erwiderte der Mann genau so kurz angebunden. Er blickte Jones prüfend an.

Der Söldner schüttelte den Kopf. Sie kannten sich schon viel zu lange, um einander noch zu belügen: Ihre Beziehung war zwar nicht freundschaftlich, doch sie beruhte auf gegenseitiger Wertschätzung, ehrlichem Respekt und absolutem Vertrauen. Seitdem ihre Wege sich 1982 zum ersten Mal gekreuzt hatten, arbeiteten sie ausgezeichnet zusammen.

»Ein Teil des Problems hat sich sozusagen in Luft aufgelöst, Boss«, bemerkte Jones lakonisch in Anspielung auf die Boden-Luft-Rakete, die den MedEvac vom Himmel geholt hatte. »Was den Rest anbetrifft – wir werden sehen, sobald wir vor Ort sind. Im Augenblick kann ich Ihnen einfach nicht mehr sagen.«

Der Mann im Fond nickte. »Ich vertraue Ihnen, Jones. Sie wissen, was Sie tun müssen. Berichten Sie mir jetzt lieber von der Grabung.«

Jones atmete auf. Das unangenehme Thema war vorerst vom Tisch. Er wollte dem Boss auch nicht unqualifizierten Unfug erzählen, ohne genaue Kenntnis der Gesamtsituation zu haben. Sein sonnengebräuntes, kantiges Gesicht verzog sich zu einem breiten Grinsen. Aus der Brusttasche fingerte er eine Memory-Flash-Card, die er in sein Mobiltelefon schob. Der Professor hatte Jones vorsorglich ein paar ausgezeichnete Fotos mitgegeben. Sein Auftraggeber betrachtete die Bilder eingehend.

»Waren Sie auch unten?« In der Stimme des Manns schwang eine unverhohlene Neugier. Er bemühte sich nicht im Geringsten, seine Freude zu verbergen.

Jones schmunzelte. »Ich würde lügen, wenn ich behaupten würde, Ihr Interesse an dieser Sache zu teilen, Boss. Doch ja, ich war unten und ich war beeindruckt. Und der Professor ist euphorisch. Alles ist außergewöhnlich gut erhalten … ganz so, als ob die Gewölbe erst vor ein paar Tagen verschlossen worden wären.«

Der Mann war genauso euphorisch wie seine beiden Freunde vor Ort. Sie hatten bereits über Skype lange darüber gesprochen. Die Freunde hatten ihm triumphierend eine der kleineren Steintafeln gezeigt. Er hatte die Inschrift problemlos lesen können.

Dreißig Jahre hatte es gedauert, aber am Ende hatten sie es doch geschafft. Trotz aller Probleme und Schwierigkeiten, trotz der Sowjets, trotz der beiden Kriege und des Bürgerkrieges. Nicht einmal 9/11, die Twin Towers und der amerikanische Krieg gegen den Terrorismus hatten sie entzweit oder ihre uralte Freundschaft auch nur ins Wanken gebracht. Keiner von ihnen hatte je aufgegeben oder gezweifelt. Und jetzt ging ihr gemeinsamer Traum endlich in Erfüllung. Sie hatten diesen spektakulären und in seinen Ausmaßen gewaltigen Fund gemacht, als sie noch Studenten gewesen waren, am Ende ihres zweiten Studienjahres. Es war wahrscheinlich der Fund ihres Lebens. Sie hatten es geschafft, eines der größten Rätsel der Geschichte der Antike zu lösen, auch wenn niemand das je erfahren würde.

Afghanistan – Provinz Zabul – Shinkay Distrikt – Absturzstelle des MedEvac

O’Shaughnessy beobachtete seinen Gefangenen nachdenklich. Der saß mit gefesselten Händen und Füssen gegen einen Felsbrocken gelehnt etwas abseits ihrer Gruppe. Er ähnelte einem dieser halbverhungerten Köter, die man überall in Afghanistan herumlungern sah: struppiges, schwarzes Haar, ein struppiger Bart, feindselige dunkle Augen, zäh, dünn und dreckig. Ein paar Fliegen krabbelten über das verkrustete Blut auf seinen Armen und Händen, doch er machte keine Anstalten, sich zu bewegen, um die Quälgeister zu verscheuchen. Allerdings hatte diese Reglosigkeit nichts mit Resignation zu tun. Angesichts ihrer durchgeladenen und entsicherten Waffen hatte der Mann sich ohne viel Aufhebens gefangen nehmen lassen. Er hatte wohl verstanden, dass seine einzige Alternative dazu ein Schicksal wie das seiner toten Kameraden aus dem Helikopter war. Außer ihrem Gefangenen und den beiden Leichen am Ufer hatten O’Shaughnessy und sein Trupp noch die beiden Piloten und die beiden Bordschützen gefunden, vier schwer verbrannte Leichen, die man unmöglich aus dem Wrack hätte bergen können.

O’Shaughnessy ging davon aus, dass Zabelevs Information richtig war. Es fehlten somit mindestens zwei, vielleicht sogar drei Personen, die sich im Augenblick des Abschusses in diesem Rettungshubschrauber befunden hatten. Er zog die Handvoll ID-Tags, die er dem Gefangenen abgenommen hatte, aus einer Tasche seiner Funktionsweste und ließ sie nachdenklich durch die Finger gleiten. Beide Piloten, die zwei Bordschützen und eine der Leichen am Ufer waren Kanadier, die andere Leiche hatte noch ihren holländischen ID-Tag um den Hals getragen. Ihr Gefangener behauptete steif und fest ebenfalls Kanadier zu sein und seine Erkennungsmarke bei dem Versuch verloren zu haben, die toten Kameraden aus dem Wrack zu bergen. Sie hatten ihm eine ordentliche Tracht Prügel verpasst, aber alles, was sie aus ihm herausbekommen hatten, waren Name, Vorname, Geburtsdatum, Dienstgrad und die Personenkennziffer. Er war stur wie ein Maultier und pochte gebetsmühlenartig auf den völkerrechtlichen Schutz von medizinischem Personal als Nichtkombattanten. Er sei Arzt!

Angesichts der Tatsache, dass ihr Gefangener sehr genau mitbekommen hatte, dass sie weder Taliban noch irgendeine afghanische Miliz waren, sondern eine Truppe, die zu hundert Prozent aus Angelsachsen bestand und sogar US-amerikanische Tarnkluft trug, war diese Sturheit vielleicht auch nicht verwunderlich. Der Typ unterstellte ihnen ganz offensichtlich, dass sie sich aus diesem Grund auch an die Spielregeln halten würden, vielleicht sogar Reguläre waren. Und da weder O’Shaughnessy noch einer seiner Männer auch nur ein Wort Französisch sprachen, konnten sie die Geschichte mit Kanada auch nicht überprüfen. Der Kerl selbst sprach exzellentes Englisch mit einem leichten Akzent, der nicht Amerikanisch war und selbst ihn als Briten nicht befremdete.

Trotzdem störte O’Shaughnessy etwas. Er konnte es nur noch nicht greifen oder in Worte fassen. Es war ein Bauchgefühl, eine innere Stimme. Dieser angebliche kanadische Militärarzt nahm seine verfahrene Situation viel zu gelassen hin. Er hatte vom ersten Augenblick an alles richtiggemacht: Als sie ihn – mit auf ihn gerichteten Waffen – gestellt hatten, hatte er keine Angst gezeigt. Er hatte einfach dagestanden, die Augen geschlossen, durchgeatmet und sie machen lassen. Damit hatte er verhindert, versehentlich zu sterben oder – schlimmer noch – versehentlich schwer verletzt zu werden, weil einer seiner Fänger durchdrehte und schoss. Gehorsam war er ihnen gefolgt und hatte sich widerstandslos hingekniet und fesseln lassen. Auch ihre rauen Befragungsmethoden hatten ihn nicht beeindruckt. Die Prügel hatte er weggesteckt wie jemand, dem man beigebracht hatte, ein Verhör durchzustehen. Jetzt saß er an einen Felsbrocken gelehnt; trotzig, dreckig, blutig und zerschlagen. Er hatte geschrien, gejammert und geklagt, doch er trug den Kopf erhoben, und er bat um nichts; nicht um Wasser, nicht um Essen oder darum, dass irgendeine mitfühlende Seele seine Fesseln lockerte, die ihm inzwischen schmerzhaft ins Fleisch schneiden mussten. Und dann waren da noch seine Augen; furchtlos und aufmerksam beobachteten sie seine Peiniger wie ein Raubtier die Beute. O’Shaughnessy beschloss, mit einem seiner Männer zu tauschen. Diskret entsicherte er seine Waffe.

Die Nacht hatte sich schon vor Stunden langsam über ihr Felsenversteck und die Absturzstelle des Helikopters gesenkt. Trotzdem beobachtete Rossi angespannt weiter. Ihre Verwirrtheit und Schwäche vom frühen Nachmittag waren wie weggeblasen, genauso ihre Unsicherheit. Sie hatte die Typen in den seltsamen Tarnanzügen beobachtet, wie sie ihren Special-Forces-Soldaten zuerst gestellt und anschließend brutal verhört hatten. Sie erinnerte sich nicht daran, wie lange das abstoßende Schauspiel gedauert hatte. Zehn Minuten? Eine Stunde? Den ganzen Nachmittag? Der Mann hatte trotz der Schläge und Tritte geschwiegen. Nach einer halben Ewigkeit prügelten sie endlich ein paar zusammenhängende Worte in englischer Sprache aus ihm heraus. Im Gebirge trugen Stimmen, Rossi hatte alles mitangehört. Er besaß den Nerv, die Kerle auch noch nach Strich und Faden zu belügen. Dabei wanderte sein Blick kein einziges Mal in Richtung der Felsen und des Wasserfalls. Erst kurz vor Einbruch der Dämmerung, als die Typen mit Diskussionen abgelenkt waren, sah er einmal kurz zu ihr hoch. Einer – wohl ihr Anführer – verschwand mit seinem Satellitentelefon. Rossi begriff genau, was die Kopfbewegung des Soldaten bedeutete: Sie sollte verschwinden, solange die sonderbaren Kerle mit ihm beschäftigt waren, laufen, so schnell sie ihre Füße trugen, weg, irgendwohin. Nur nicht hierbleiben. Sie hatte warme Kleidung, seine Waffen und seine gesamte Ausrüstung. Sie hatte eine gute Chance durchzukommen. Doch eine innere Stimme flüsterte ihr zu, dass das falsch wäre. Er hatte ihr das Leben gerettet. Sie konnte sich jetzt nicht umdrehen und ihn einfach seinem Schicksal überlassen.

Rossi war zur Höhle zurückgeschlichen, um Bestandsaufnahme zu machen. Sie selbst besaß nicht viel: Eine handliche, kleine Taschenlampe mit nagelneuen Batterien, ein Päckchen Kaugummi, das uralte Stethoskop, das sie seit Unizeiten immer als Glücksbringer mit sich herumschleppte, und einen Stadtplan von Kandahār. Ganz anders der Special-Forces-Soldat: Sie hatte systematisch sämtliche Taschen seiner zahlreichen zurückgelassenen Kleidungsstücke durchsucht. Ihre Funde ähnelten mehr einem Trödelmarkt als einem Combat-Outfit: ein kleiner Kompass, ein kleines Nachtsichtfernglas, ein Feuerzeug und eine Überlebensdecke. Dazu ein komplettes medizinisches Notfallset nach NATO-Standard. Der Mann hatte wirklich an alles gedacht. Nicht einmal die berüchtigten Go-Pills fehlten; das Päckchen mit den Amphetaminen war nagelneu.

Sie fand auch ein paar Dinge, die sie verwirrten: Ein kleines Lederetui, in dem sich Plastikröhrchen mit einer Auswahl homöopathischer Globuli befanden, alle in englischer Sprache von Hand beschriftet, 500-mg-Kapseln der nichtessentiellen Aminosäure L-Tyrosin, einer natürlichen Alternative zum chemischen Amphetamin, 500-mg-Magnesium-Kautabletten, ein Plastikdöschen mit deutschen Traumeel-Tabletten gegen Muskelschmerzen, ein Fläschchen Bachblüten »Emergency Rescue Remedy« für Schockzustände, Baldriankapseln und eine alkoholische Flüssigkeit, die sie vom Geruch her stark an traditionellen Franzbranntwein erinnerte. Der Soldat hatte offensichtlich kein allzu großes Vertrauen in die Schulmedizin. Aber er hatte auch ausreichend Munition in den Taschen, um den Dritten Weltkrieg vom Zaun zu brechen und sogar zwei kleine Portionen C4-Plastiksprengstoff. Die Sprengschnur fand Rossi neben einer Drahtschlinge, die man sowohl als Säge als auch als Mordwerkzeug verwenden konnte. Dazu schleppte er einen spektakulären Vorrat an Bonbons mit sich herum, der bei jedem deutschen Zahnarzt einen akuten Herzinfarkt ausgelöst hätte.

Mit ihren Schätzen war sie am Ende wild entschlossen zum Felsenversteck zurückgekrochen. Sie hatte zwar noch keine Idee, was sie tun konnte, aber sie hatte immerhin, neben Hahnemanns vollständiger homöopathischer Haus- und Reiseapotheke eine Waffe, Munition, etwas Verpflegung und ein bisschen Sprengstoff. Und außer dem gefangenen Special-Forces-Soldaten wusste niemand, dass sie existierte. Mit den vielen Kleidungsschichten ähnelte Rossi dem Michelin-Männchen »Bibendum«, aber ihr war wenigstens nicht kalt. Sie knabberte am Nougatriegel aus der Kampfration und beobachtete weiter. Sie war bereit, umgehend aufzubrechen, sobald die Typen unten in der Schlucht sich in Bewegung setzten. Vielleicht ergab sich ja eine Gelegenheit, an ihren Retter heranzukommen oder wenigstens herauszufinden, was die sonderbaren Typen mit ihm vorhatten. Immerhin hatten sie ihn am Leben gelassen und nicht einfach über den Haufen geschossen.

Kérmorvan beschloss, sich auszuruhen und zu schlafen. Er war im Augenblick einfach zu müde und zu zerschlagen, um Fluchtpläne zu schmieden. Außerdem hatten sie ihn mit dünnen Kabelbindern gefesselt, und selbst für einen Mann wie ihn, dem man sorgsam alle nur erdenklichen Tricks beigebracht hatte, sich aus den übelsten Situationen zu befreien, war es fast unmöglich, diese Dinger loszuwerden. Je mehr man sich wehrte, desto fester zogen sie sich zusammen. O’Shaughnessy, der Anführer der Truppe, traute ihm nicht über den Weg. Der Brite beobachtete ihn, die entsicherte Waffe im Anschlag, wie ein Kaninchen die Schlange. Er gab dem Mann sogar recht. Er würde sich selbst auch nicht über den Weg trauen. Nachdem er allerdings noch am Leben und relativ unbeschädigt war, vermutete Kérmorvan, dass der eigentliche Plan darin bestand, ihn am nächsten Morgen zu diesem geheimnisvollen Camp im Hochtal zu schaffen, um ihn dann dort nach allen Regeln der Kunst auszuquetschen. Diese Aussicht begeisterte ihn nicht. Er hatte seine kleinen Schwächen, aber masochistische Tendenzen zählten nicht dazu. Andererseits war das vielleicht eine einzigartige Gelegenheit, diesen sonderbaren Ort und seine unorthodoxe Bevölkerung einmal genauer in Augenschein nehmen zu können. Er musste herausfinden, was in dem Hochtal wirklich vor sich ging.