Codename Emma. Du kannst niemandem trauen - Ava Glass - E-Book

Codename Emma. Du kannst niemandem trauen E-Book

Ava Glass

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Beschreibung

In London wird ein MI6-Agent ermordet in seiner Wohnung aufgefunden: getötet mit Nervengift. Er hatte gegen zwei russische Oligarchen ermittelt, die verdächtigt werden, mit chemischen Waffen zu handeln. Emma Makepeace, Agentin der geheimen Regierungsorganisation Agency, erkennt sofort, dass der Mörder ein Profi war – und dass es einen Maulwurf in der britischen Regierung geben muss. Um die Wahrheit herauszufinden, wird Emma undercover auf die Superjacht eines der Oligarchen eingeschleust. Die Operation führt sie von Luxusvillen an der Côte d'Azur zu den mondänen Hotels von Barcelona. Kurz bevor sie herausfindet, was die Russen planen, wird Emma enttarnt und gerät in tödliche Gefahr. Jetzt kann sie niemandem mehr trauen, auch nicht ihrem engsten Umfeld ...

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Buch

In London wird ein MI6-Agent ermordet in seiner Wohnung aufgefunden: getötet mit Nervengift. Er hatte gegen zwei russische Oligarchen ermittelt, die verdächtigt werden, mit chemischen Waffen zu handeln. Emma Makepeace, Agentin der geheimen Regierungsorganisation Agency, erkennt sofort, dass der Mörder ein Profi war – und dass es einen Maulwurf in der britischen Regierung geben muss. Um die Wahrheit herauszufinden, wird Emma undercover auf die Superjacht eines der Oligarchen eingeschleust. Die Operation führt sie von Luxusvillen an der Côte d’Azur zu den mondänen Hotels von Barcelona. Kurz bevor sie herausfindet, was die Russen planen, wird Emma enttarnt und gerät in tödliche Gefahr. Jetzt kann sie niemandem mehr trauen, auch nicht ihrem engsten Umfeld …

Autorin

Informationen zu Ava Glass und den lieferbaren Titeln der Autorin finden Sie am Ende des Buches.

Ava Glass

Codename Emma

Du kannst niemandem trauen

Thriller

Aus dem Englischen

von Andrea Brandl

Die Originalausgabe erschien 2023 unter dem Titel »The Traitor« bei Penguin Books, an imprint of Penguin Random House UK, London.

Der Verlag behält sich die Verwertung der urheberrechtlich geschützten Inhalte dieses Werkes für Zwecke des Text- und Dataminings nach § 44 b UrhG ausdrücklich vor. Jegliche unbefugte Nutzung ist hiermit ausgeschlossen.

Der Inhalt dieses E-Books ist urheberrechtlich geschützt und enthält technische Sicherungsmaßnahmen gegen unbefugte Nutzung. Die Entfernung dieser Sicherung sowie die Nutzung durch unbefugte Verarbeitung, Vervielfältigung, Verbreitung oder öffentliche Zugänglichmachung, insbesondere in elektronischer Form, ist untersagt und kann straf- und zivilrechtliche Sanktionen nach sich ziehen.

Deutsche Erstveröffentlichung Februar 2024

Copyright © der Originalausgabe 2023 by Ava Glass

Copyright © der deutschsprachigen Ausgabe 2024

by Wilhelm Goldmann Verlag, München,

in der Penguin Random House Verlagsgruppe GmbH,

Neumarkter Str. 28, 81673 München

Umschlaggestaltung: UNO Werbeagentur, München

Umschlagmotiv: © Mark Owen / Trevillion Images

Redaktion: Friederike Arnold

BH · Herstellung: ik

Satz: KCFG – Medienagentur, Neuss

ISBN 978-3-641-29919-4V001

www.goldmann-verlag.de

Für Jack. Immer.

Er schreibt, Mut sei ein Kapital, das durch ständige körperliche Verausgabung verringert wird.

Ian Fleming,

007 James Bond jagt Dr. No

TEIL 1

LONDON

Er war erschöpft. Am liebsten würde er weitermachen, doch die Ziffern auf dem erhellten Bildschirm verschwammen vor seinen Augen und wollten sich nicht länger in klaren, militärischen Kolonnen aneinanderreihen, damit er das Muster erkennen konnte, das sich irgendwo darin verbergen musste.

Dabei war er so nahe dran. Könnte er doch nur noch eine Weile am Ball bleiben, dann fände er, wonach er suchte. Doch es war bereits nach zwei Uhr morgens, und wenn er die Augen schloss und sich mit den Fingerknöcheln die Stirn massierte, sah er immer noch die Zahlen, die sich regelrecht in seine Netzhaut gebrannt hatten.

Er würde ein paar Stunden schlafen und dann von Neuem anfangen.

Seine Hände vollführten die allabendlichen Routinegriffe: Laptop herunterfahren. Umdrehen und den Akku herausnehmen. WLAN-Router vom Netz nehmen, alle Kabel ordentlich aufrollen.

Eigentlich war es sinnlos. Um gehackt zu werden, musste er auffliegen, und aufzufliegen würde bedeuten …

Er stand so abrupt auf, dass die Stuhlbeine protestierend über den Holzfußboden scharrten, und ließ das zurück, was ihm Angst bereitete. Er durchquerte das Wohnzimmer des nahezu leeren Apartments. Außer einem Sofa, einem Bett und einem Stuhl gab es praktisch kein Mobiliar. Mehr brauchte er auch nicht. Alles andere wäre überflüssig gewesen.

Er überprüfte die drei Schlösser an der Tür und gab den achtstelligen Code der Alarmanlage ein, dann knipste er das Licht aus, woraufhin der Raum in Dunkelheit versank. Am liebsten hätte er es sofort wieder eingeschaltet. Es kostete ihn Überwindung, in der Finsternis zu verharren.

Die Arbeit machte ihn paranoid. Wo er ging und stand, sah er Schatten. Den ganzen Tag lang fühlte er sich verfolgt, und nun war das Gefühl, nicht allein zu sein, beinahe überwältigend.

Auf dem Weg ins Schlafzimmer sagte er sich, dass niemand wissen konnte, wer er war und wo er wohnte. Er war immer vorsichtig gewesen. Als er ins Bett stieg, glaubte er es beinahe selbst. Er schloss die Augen. Sofort sah er die Zahlenreihen wieder vor sich, die wie tropische Fische hinter seinen geschlossenen Lidern vorbeitrieben.

Er musste seine Arbeit fertigmachen, ehe sie ihn fertigmachte.

»Morgen. Morgen ist Schluss«, sagte er laut. Es klang wie ein Versprechen.

Er konnte nicht lange geschlafen haben, als ein Geräusch ihn hochschrecken ließ. Angestrengt lauschte er im Dunkel, hörte jedoch nur seine eigenen Atemzüge, schnell und panisch.

Vielleicht war er auch davon aufgewacht. Doch dann hörte er es wieder. Einen leisen Atemzug, beinahe wie ein Seufzer.

Das Licht ging an, blendete ihn. Er hob die Hand, um die Augen abzuschirmen.

Sie waren zu zweit. Einer stand neben der Tür, einen großen schwarzen Koffer neben sich. Der andere beugte sich grinsend über das Bett.

In diesem Moment wurde ihm bewusst, dass er sich in jeglicher Hinsicht geirrt hatte.

Sie wussten sehr wohl, wer er war. Und was er getan hatte.

Und sie waren hergekommen, um dafür zu sorgen, dass er damit aufhörte.

1

»Zielperson nähert sich.«

Emma Makepeace saß auf ihrem Posten in der beeindruckenden marmornen Lobby und blickte durch die kugelsichere Scheibe auf den Verkehr vor dem Bankgebäude.

Während der letzten Viertelstunde hatte sie durch den Mini-Hörer in ihrem rechten Ohr immer wieder Updates zu dem jungen Mann bekommen, der durch London fuhr, ohne zu ahnen, dass jede seiner Bewegungen beobachtet wurde.

Sie tat so, als studiere sie etwas auf dem Computer, als ein signalroter Bugatti heranrollte und mitten auf der gelben Doppellinie vor der Privatbank anhielt. Der Bus direkt dahinter – dessen Rot im Vergleich zu dem hochglänzenden Lack des Sportwagens geradezu schäbig wirkte – manövrierte um das unerwartete Hindernis herum. Die Wagentür wurde aufgerissen, und ein schlanker junger Mann mit dunklem Haarschopf stieg mit einer ledernen Reisetasche in der Hand aus.

Sergei Gorodin war zweiundzwanzig Jahre alt, glatt rasiert und von Kopf bis Fuß in Gucci gekleidet. Ohne sich auch nur nach dem Bus umzudrehen, steuerte er mit dem typischen Selbstvertrauen eines Milliardärssohns auf die Eingangstür zu, die ihm ein livrierter Portier eilfertig aufhielt.

»Little Bear ist eingetroffen«, murmelte Emma in das im Revers ihres schwarzen Blazers eingenähte Mikrofon.

Ein dünner Mann in einem marineblauen Maßanzug trat neben sie. »Kann ich Ihnen irgendwie helfen, Miss Davies?«, fragte er leise, während sie weiter den Blick auf die Tür gerichtet hielt.

Craig Reece war einer der Investmentmanager des Hauses. Alle beschrieben ihn als stets höflichen Mann mit einer natürlichen Gabe, aus viel Geld noch mehr Geld zu machen. Bei den zahlreichen russischen Kunden des Bankhauses erfreute er sich enormer Beliebtheit, wobei natürlich keiner ahnte, dass er auch für MI5 tätig war.

Reece hatte Emma für heute angefordert, um Beweise gegen Sergei Gorodin und seinen Vater zu sammeln, einen Immobilienhai, dessen Vermögen sich als sehr schwer nachzuverfolgen entpuppt hatte. Die anderen Bankmitarbeiter glaubten, Emma sei eine auf internationalen Devisenhandel spezialisierte Beraterin, die Reece bei einer komplexen Transaktion zur Seite stand.

»Ich bin gleich so weit«, sagte sie mit einem knappen Nicken als Bestätigung, dass sie Gorodin bereits zur Kenntnis genommen hatte.

»Hervorragend.« Reece trat den Rückzug an. »Wenn Sie noch etwas brauchen …«

Emma konzentrierte sich auf den jungen Russen, der zielstrebig an ihrem Schreibtisch vorbei und auf eines der verglasten Büros im hinteren Teil zuging.

»Nur ein Detail muss ich noch überprüfen.« Sie erhob sich und lächelte Reece zu. »Zwei Sekunden.«

Ihre Absätze klapperten auf dem Marmorboden, als sie Gorodin folgte, der die Bürotür öffnete, ohne anzuklopfen. Emma sah, wie der Bankmanager sich erhob und ihn begrüßte.

Die beiden schüttelten sich die Hand, dann schloss der Manager die Jalousien.

Scheinbar beiläufig blieb Emma neben einem Aktenschrank stehen, zog eine Schublade auf und nahm eine Akte heraus.

Die Jalousien reichten nicht bis ganz hinunter. Durch den Spalt sah sie, wie der Manager einen Safe öffnete, mehrere dicke Bargeldbündel herausnahm und hinter sich auf dem Schreibtisch stapelte.

Emma zog einen Stift heraus, richtete die Spitze auf den Spalt und drückte seitlich auf die winzige Taste.

»Bargeld wechselt den Besitzer«, flüsterte sie.

»Verstanden. Verfolgung eingeleitet«, ertönte Adams Stimme im Ohrhörer.

Im Glasbüro reichte der Manager Gorodin ein Blatt Papier, das dieser mit einem flüchtigen Kritzeln unterschrieb, ehe er die Bargeldstapel nahm und in die Reisetasche warf. Emma drückte ein weiteres Mal die Taste.

Gorodin verabschiedete sich nicht einmal. Kaum war das Geld verstaut, zog er den Reißverschluss der Tasche zu und wandte sich zum Gehen.

Eilig schloss Emma den Aktenschrank und ging in Richtung ihres Schreibtischs.

»Bereithalten«, sagte sie in ihr Mikro. »Little Bear ist im Anmarsch.«

Reece erhob sich mit fragender Miene, als sie näher kam. »Ich bin dann fertig«, sagte sie und drehte sich so hin, dass er sehen konnte, wie Gorodin mit weit ausholenden Schritten die Lobby durchquerte.

»Natürlich. Vielen Dank für Ihre Hilfe«, erwiderte Reece gelassen, als der Russe an seinem Schreibtisch vorbeiging.

Emma lächelte. »War mir ein Vergnügen. Ich melde mich.«

Sie folgte Gorodin, vorbei am Portier und hinaus auf The Strand.

Nach der lastenden Stille in der Bank war das rege Treiben auf der Straße irritierend – kreischende Bremsen, schrilles Hupen, ratternde Züge von der nahegelegenen Charing Cross Station. Alles wirkte so viel lauter. Gorodin schien nichts davon zu bemerken. Zielstrebig marschierte er zu dem knallroten Wagen und warf die lederne Reisetasche auf den Beifahrersitz.

Emma konnte nur staunen, wie lässig er mit einer halben Million Pfund in bar umging.

Der Motor des Bugattis erwachte mit einem kehlig-ungezähmten Röhren zum Leben, dann schoss der Wagen davon.

»Zielperson unterwegs«, sagte sie.

»Habe ihn im Visier«, sagte Adam in ihrem Ohrhörer.

Ein schwarzer BMW fuhr vorbei. Emma erhaschte einen Blick auf Adams niedrige Stirn und sein drahtiges Haar, ehe beide Fahrzeuge mit dem dichten Stadtverkehr verschmolzen und aus ihrem Sichtfeld verschwanden.

Er würde Gorodin quer durch die Stadt folgen, obwohl sie sein Ziel bereits kannten. Die vergangenen drei Wochen war er jeden Mittwoch in der Bank aufgetaucht, stets mit der Reisetasche, die beim Verlassen deutlich schwerer gewirkt hatte, und anschließend auf dem direkten Weg ins Büro seines Vaters gefahren. Nun hatten sie den Beweis, was sich in der Ledertasche befand. Im nächsten Schritt galt es herauszufinden, wofür das Geld verwendet wurde.

Das Läuten ihres Handys riss Emma aus ihren Überlegungen. Die Notfallnummer der Agency leuchtete auf dem Display auf.

Sie ging sofort ran. »Makepeace.«

»Ich habe eine Nachricht von R. an Sie. Sind Sie an einem sicheren Ort?« Es war eine Frauenstimme, emotionslos wie eine Maschine.

Stirnrunzelnd schloss sich Emma dem Strom der Passanten an. »Ja. Fahren Sie fort.«

»Die Nachricht lautet folgendermaßen: ›Sie sind vom Gorodin-Fall abgezogen. Ich brauche Sie anderweitig. Die Adresse wird Ihnen übermittelt. Begeben Sie sich unverzüglich dort hin.‹«

Die monotone Stimme hielt inne. »Damit endet die Nachricht. Soll ich sie wiederholen?«

»Nein, ich habe verstanden«, sagte Emma.

Die Leitung war tot. Sekunden später erschien eine Zeile auf dem Display. 75 Thames Mansions, Wohnung 652, W6.

Emmas Herz begann zu rasen. Das Gorodin-Projekt war gerade ins Rollen gekommen. Wenn die Agency sie jetzt schon abzog, musste etwas Wichtiges passiert sein.

Sie steckte das Handy ein und beschleunigte ihre Schritte.

Emma gehörte einer kleinen Spezialeinheit an, die so geheim war, dass sie nicht einmal einen Namen besaß. Die Agency tauchte in keiner Regierungsliste auf, stand bei niemandem im Telefonbuch. Lediglich eine Handvoll sehr ranghoher Beamte wusste überhaupt von ihrer Existenz. Der Grund dafür lag auf der Hand, denn die Hauptarbeit der Agency bestand darin, russische Spione zu identifizieren und jegliche Tätigkeit auf britischem Boden zu unterbinden.

In letzter Zeit war genau das zur Daueraufgabe geworden. Die Spannungen zwischen London und Moskau waren auf einem Höhepunkt angelangt. Die Gefahr lauerte überall. Es schien, als sei die ganze Welt entflammbar geworden und jede einzelne Nation halte ein brennendes Streichholz in der Hand.

In dieser explosiven Grundstimmung ging die Arbeit der Agency diskret über die Bühne. Unsichtbar. Und sie war absolut unerlässlich.

Mit achtundzwanzig Jahren war Emma die jüngste Nachrichtenoffizierin. Sie gehörte erst seit drei Jahren zum Team, doch nach einer Undercover-Operation letzten Herbst, bei der sie im Alleingang ein russisches Tötungskommando ausgeschaltet hatte, ging ihr beruflicher Stern allmählich auf. Man betraute sie mit größeren Operationen, und als sie vor dem Apartmentkomplex aus Glas und Stahl stehen blieb, in dessen Fensterscheiben sich das blaugraue Wasser spiegelte, ahnte sie, dass dies so eine Operation sein könnte.

Es waren nirgendwo Einsatzfahrzeuge der Polizei zu sehen. Und auch keine Krankenwagen. Nur ein einzelner Wachmann stand an der Tür, und der neutrale schwarze Transporter des Spurensicherungsteams der MI5 war an der Ecke geparkt.

Abgesehen davon wirkte alles normal.

Was auch immer hier passiert sein mochte: Die Agency wollte nicht, dass jemand es mitbekam.

Es war Juni, trotzdem kühl und feucht, deshalb musste Emma ihre Jacke zuknöpfen.

Vor Juli herrschte in England niemals richtig Sommer, so als müsste man ihn regelrecht dazu zwingen, Einzug zu halten.

Der Beamte der Londoner Sicherheitspolizei vor der Eingangstür musterte sie argwöhnisch.

»Emma Makepeace«, sagte sie. »Ich werde erwartet.«

Er scannte ihren Fingerabdruck mit einem kleinen, glänzend schwarzen Gerät, dann zog er eine Atemmaske aus einer Tasche zu seinen Füßen.

»Setzen Sie die hier auf«, sagte er. »Die Aufzüge sind sicher.«

Emma blickte auf die Maske und spürte, wie sie nervös wurde, als ihr ihre Bedeutung bewusst wurde.

»Können Sie mir sagen, was hier los ist?«

Der Polizist schüttelte den Kopf. »Die erklären Ihnen alles drinnen.«

Hineinzugehen war ihr auf einmal nicht mehr geheuer. Trotzdem setzte Emma die Maske auf, zog die Gummis straff und trat durch die Tür.

Ihre Atemzüge hörten sich rau und angestrengt an, als sie vorsichtig die leere, in kunstvoll dezenten Farbtönen gehaltene Eingangshalle mit den hohen Decken, dem steinernen Fußboden und den modernen Ledersesseln durchquerte. Alles wirkte sehr teuer.

Zwar schlug ihr das Herz bis zum Hals, doch ihre Hand war ruhig, als sie den Aufzugknopf drückte.

Das sechste Stockwerk empfing sie mit demselben edlen Interieur und völliger Stille. Ihre Schritte hallten auf dem Fußboden, als sie vor die Tür von 652 trat. Kurz zögerte sie und wappnete sich, ehe sie die Tür öffnete und hineinging.

Die Wohnung war klein und von weichem gräulichem Licht erfüllt, das durch die hohen Fenster hereinströmte. Die Wände waren weiß gestrichen und kahl, das Wohnzimmer mit Ausnahme eines Sofas unmöbliert. In der Luft hing ein unangenehmer Geruch, den sie nur schwach durch die Atemmaske wahrnahm, widerlich süß.

»Ah, da sind Sie ja. Hervorragend.« Charles Ripley kam aus einem Flur im hinteren Wohnbereich und nahm seine Maske ab.

Mit seinem ergrauenden Haar, dem marineblauen Anzug und der dezenten Krawatte hätte man den großen, schlanken Ripley ohne Weiteres für einen Immobilienmakler halten können. Das war natürlich Absicht. Für jemanden im Spionagegeschäft gibt es nichts Besseres, als gewöhnlich auszusehen.

Niemand wusste so viel über russische Agenten wie Ripley, und es gab niemanden, dem Emma größeres Vertrauen entgegenbrachte. Der Ausdruck auf seinen hageren Zügen ließ darauf schließen, weshalb sie herzitiert worden war.

»Es ist etwas diffizil«, sagte er. »Wie Sie sich wahrscheinlich vorstellen können.«

In diesem Moment traten drei Techniker der Spurensicherung mit ihren Ausrüstungskoffern aus einem Raum und wollten in den Wohnbereich gehen, doch Ripley stellte sich ihnen in den Weg.

»Entschuldigung«, sagte die Frau, deren südostenglischer Akzent durch die Maske gedämpft wurde.

»Oh, bitte verzeihen Sie.« Ripley trat zur Seite.

»Kein Problem.« Im Wohnraum blieb die Frau stehen, zog die Kapuze ihres Overalls herunter und nahm ihre Schutzbrille ab. Feuchte Haarsträhnen klebten an ihrem verschwitzten geröteten Gesicht.

Emma kannte sie: Caroline Wakefield, eine auf chemische Waffen spezialisierte Wissenschaftlerin, die für das Innenministerium tätig war.

»Wir sind so weit fertig. Es dürfte eigentlich nichts passieren, dennoch würde ich an Ihrer Stelle weiterhin da drinnen Schutzkleidung tragen. Nur für alle Fälle.« Sie hielt kurz inne. »So was Widerliches habe ich schon lange nicht mehr gesehen«, fügte sie mit einem Blick auf Emma vielsagend hinzu. »Ich wünsche Ihnen beiden viel Glück.«

Damit verließ das Ermittlerteam mit klappernden Ausrüstungskoffern und raschelnden Schutzanzügen den Tatort.

Emma warf ihrem Chef einen fragenden Blick über den Rand ihrer Maske zu. »Erzählen Sie mir, was hier los ist?«

»Ich habe einen besseren Vorschlag«, antwortete er und trat einen Schritt zurück. »Ich zeige es Ihnen.«

Mit einer auffordernden Geste zog er seine Maske wieder hoch und ging den Flur entlang in ein großes Schlafzimmer, das ebenso minimalistisch eingerichtet war wie die restliche Wohnung. Es gab lediglich einen Stuhl, eine Kommode und ein Doppelbett, dessen Bettdecke zurückgeschlagen war, als wäre jemand soeben herausgesprungen.

Obwohl die Fenster weit offen standen, war der widerwärtig süße Geruch hier noch deutlicher wahrnehmbar.

Spuren von Fingerabdruckpulver bedeckten die Türen und Fenster. Die niedrige Kommode war von der Wand weggezogen und mehrere der fünf Schubladen geöffnet worden. Die wenigen darauf liegenden Gegenstände – eine Flasche Eau de Cologne und ein ledernes Tablett – waren ebenfalls mit Fingerabdruckpulver bestäubt.

Ansonsten wirkte der Raum unberührt. Nichts war zerbrochen oder umgeworfen worden, stattdessen herrschte eine fast unnatürliche ordentliche Sauberkeit.

Seltsam war nur der Koffer auf dem Boden. Er war dunkel und sehr groß, einer von der Sorte, wie man sie für eine lange Reise verwendete. Oder eine, von der man nicht zurückzukehren beabsichtigte.

Der Koffer war aufgeklappt und der Anblick so unerwartet, dass Emmas Gehirn einen Moment lang brauchte, um ihn einordnen zu können.

Ein Mann, nackt, auf Knien, nach vorn gebeugt, die Hände hilflos an den Seiten herabhängend. Seine Haut war weiß wie Papier.

Ripley deutete auf die Leiche. »Stephen Garrick. Er hat für die Nachbarn gearbeitet.«

Emma sog scharf den Atem ein. Die Nachbarn, so bezeichnete Ripley MI6.

»Was um alles in der Welt ist passiert?«, fragte Emma.

»Genau auf diese Frage suchen wir eine Antwort«, antwortete Ripley tonlos.

Emma überlegte. Offensichtlich wurde der Einsatz chemischer Waffen vermutet, sonst wäre Caroline nicht gerufen und das Tragen der Schutzmaske nicht angeraten worden.

Vorsichtig trat Emma näher und umrundete den Koffer. »Wer hat ihn so gefunden?«

Ripley zog ein antikes schwarzes Zigarettenetui heraus, öffnete es jedoch nicht. »Eine Reinigungskraft, die regelmäßig hier sauber macht, kam heute Morgen, doch Garrick schien nicht da zu sein. Der Koffer stand an derselben Stelle wie jetzt, war allerdings verschlossen. Sie wollte ihn zur Seite schieben, schaffte es aber nicht. Sie rief Garrick an. Sein Handy war abgeschaltet, was ihr seltsam vorkam, deshalb hat sie seinen Vater eingeschaltet. Ihm gehört die Wohnung.« Ripley hielt inne und blickte auf die kalten, bleichen Schultern des Toten, die über den Rand des Koffers ragten. »Der Vater ist hergekommen und hat versucht, den Koffer zu öffnen, aber er war mit einem Vorhängeschloss versehen. Letztlich hat er die Polizei gerufen, die auf seine Anweisung hin das Schloss aufgebrochen hat. Mit diesem Ergebnis.«

»Großer Gott.« Emma beugte sich vor.

»Gehen Sie nicht so nahe ran!«, warnte Ripley sie mit scharfer Stimme.

Sofort wich Emma zurück, doch der kurze Moment hatte genügt, um zu sehen, dass Garricks Gesicht aufgedunsen und verzerrt war und ihm die Zunge grotesk aus dem Mund hing. Seine Arme und Schultern waren glatt und makellos wie die eines Kindes, sein Gesicht hingegen erzählte eine andere Geschichte. Eine von Schmerz und Angst.

Sie sah ihren Vorgesetzten an. »Was haben sie mit ihm gemacht?«

»Wir gehen von einem Nervengift aus, wissen aber noch nicht, welches.«

Emma erschauderte. Sie wollte nicht in diesem Zimmer sein, in dieser Wohnung, in diesem Gebäude. Russische Spione waren berüchtigt für ihren Einsatz von Nervengiften, und sollte Stephen Garrick durch Nowitschok getötet worden sein, könnten selbst minimale Spuren davon irreversible Schäden verursachen, wenn man ihm ausgesetzt war.

Schweißperlen standen ihr auf der Stirn. Sie zwang sich, ruhig dazustehen und sich im spärlich möblierten Zimmer umzusehen, alle Details aufzunehmen. Sie spürte, wie sich ihre Atmung etwas beruhigte.

»Das fühlt sich alles falsch an«, sagte sie langsam. »Beinahe wie eine Inszenierung. Wieso der Koffer? Wie lautet die Botschaft?«

»Genau das habe ich mir auch gedacht.« Ripley deutete in Richtung Wohnzimmer. »Es gibt keine Einbruchspuren. Die Wohnungstür ist der einzige Zugang und war mit drei Schlössern gesichert.«

Emma trat zum geöffneten Fenster und blickte nach unten, wobei sie tief Atem schöpfte. Es gab keinen Balkon, unter und über ihr befand sich lediglich die glatte, nicht erklimmbare Fassade aus Glas und Stahl.

»Auf diesem Weg sind sie nicht hereingekommen«, stellte sie fest und nahm das Fingerabdruckpulver in Augenschein. »Hat die Spurensicherung etwas gefunden?«

»Keine Fingerabdrücke. Keine DNA«, erklärte Ripley. »Sondern nur Spuren des verwendeten Nervengifts.«

Also handelte es sich um einen gezielten Anschlag, sorgfältig geplant und perfekt ausgeführt. Aber warum? Normalerweise behielten die Russen diese Art von Tötungsdelikten jenen vor, die sie für Verräter hielten. Und um einen Verrat zu begehen, musste man erst einmal dazugehören.

Man musste auf derselben Seite stehen.

»Welche Funktion hatte Gerrick bei Six?«, fragte sie.

»Er war Zahlenanalyst.«

Emma hob die Brauen. Zahlenanalysten waren Beamte in der zweiten Reihe – im Grunde kaum mehr als Buchhalter.

»Weshalb sollten die Russen einen Zahlenanalysten töten?«, fragte sie verwirrt.

»Ich glaube, das liegt auf der Hand. Entweder hat er von den Russen Geld kassiert, aber nicht geliefert, was er zugesichert hatte, oder aber er ist auf etwas gestoßen, das er nicht hätte finden dürfen.« Ripley warf einen düsteren Blick auf den Koffer mit der wie zum Gebet vorgeneigten Leiche. »Eines kann ich jedenfalls sagen: Wenn die Russen bereit sind, einen britischen Nachrichtenoffizier in seinem Zuhause zu töten, ist keiner von uns mehr sicher. Wer weiß, welche Geheimnisse er vor seinem Tod gelüftet hat?« Er sah sie an. »Wir müssen diejenigen schnappen, die das getan haben. Und zusehen, dass sie dafür bezahlen.«

2

Emma Makepeace war die geborene Spionin. Es lag ihr im Blut.

In den chaotischen Jahren nach dem Zusammenbruch der Sowjetunion hatte ihr Vater als Agent für Großbritannien gearbeitet und Informationen weitergegeben, von denen er geglaubt hatte, sie könnten einen Atomkrieg verhindern. Doch dann war er aufgeflogen, und mit Verrätern kannte Russland keine Gnade.

Emmas Mutter war nichts anderes übrig geblieben, als aus Russland zu fliehen und ihren Mann zurückzulassen, um sich und ihr ungeborenes Kind zu retten.

Emma war erst wenige Monate alt gewesen, als zwei britische Nachrichtenoffiziere in ihr neues Zuhause in Südengland gekommen waren, um ihrer Mutter mitzuteilen, dass ihr Vater kurzerhand exekutiert worden war, bevor er aus Russland hatte fliehen können.

Russland verzeiht nicht. Genauso wenig wie Emma.

Das hatte ihre Mutter in ihrer Trauer und Verzweiflung, weil ihre kleine Tochter ihren Vater niemals kennenlernen würde, sie gelehrt.

Mit ihrem kehligen Akzent hatte sie ihr von der Tapferkeit von Emmas Vater erzählt; davon, wie sehr er sich danach gesehnt hatte, sie zu sehen. »Er wird immer über dich wachen, ganz egal, was du tust«, hatte sie versprochen.

Zwar hatte Emma als Kind nicht geglaubt, ihr Vater könne sehen, wenn sie ihre Algebra-Aufgaben nicht hinbekam oder Probleme in Geschichte hatte, doch an Rache hatte sie sehr wohl geglaubt. Und sie hatte sich dem Ziel verschrieben, die russische Regierung dafür bezahlen zu lassen, dass sie ihrer Mutter das Herz gebrochen hatte.

Zuerst absolvierte sie in kürzester Zeit ihr Studium und trat dann der Armee bei, wo sie sich einer militärischen Nachrichteneinheit anschloss. Dank ihrer fließenden polnischen, russischen und deutschen Sprachkenntnisse galt sie als besonders vielversprechend.

Genau dort hatte Ripley sie als potenzielle Agentin entdeckt und ihr am Tag ihrer Entlassung aus dem Militärdienst einen Job angeboten.

Im Lauf der Jahre hatte sich ihre Vorstellung von Rache verändert. Mittlerweile war es nicht länger ihr oberstes Ziel, denjenigen zu finden, der den Abzug getätigt hatte (oder sogar die Person, die ihren Vater verraten hatte), stattdessen rächte sie sich, indem sie eine Operation nach der anderen erfolgreich absolvierte und es den russischen Spionen sehr viel schwerer machte, in ihrer zweiten Heimat ihrer Tätigkeit nachzugehen.

Sie verließ Stephen Garricks Wohnung und fuhr durch die Stadt bis zu einem kleinen, bewachten Parkplatz in der Nähe der Houses of Parliament. Von dort aus ging sie ein kurzes Stück in die entgegengesetzte Richtung bis zu einer halbmondförmigen Straße mit viktorianischen Ziegelbauten. Hier, mitten im Herzen des politischen Londons, beherbergten die meisten Gebäude Expertenkommissionen, Lobbyisten und regierungsnahe Firmen und Organisationen. An den Gebäuden hingen schlichte Holz- oder Messingschilder mit ominösen Namen, die so gut wie nichts darüber verrieten, was sich hinter den Mauern abspielte. The Vernon Institute stand auf einem dieser Schilder. Emma öffnete die schlichte Tür und ging hinein.

In dem kleinen Entrée befanden sich bloß weitere Türen, modern und aus kugelsicherem schwarzem Glas. Emma trat vor und blickte direkt in das kleine elektronische Lesegerät, worauf ein grünes Lämpchen aufleuchtete und die Türen mit einem Klicken aufsprangen.

Gedämpfte Bürogeräusche empfingen sie.

Der Hauptraum war lang und schmal und führte in einen Korridor mit weiteren kleineren Büros. Links von ihr befand sich eine Treppe mit Eichenholzgeländer in die obere Etage, wo weitere Räume für die Mitarbeiter lagen.

Emma warf die Wagenschlüssel in ein Kästchen neben der Tür mit einem handgeschriebenen Schild: Bitte Fahrzeug vor der Rückgabe reinigen.

Esther, die für die Kommunikation der Agency zuständig war, bemerkte sie und nahm ihr Headset ab. »Ripley will, dass Sie gleich nach oben kommen.« Ihr gehörte die monotone Stimme vom Vormittag.

»Danke«, sagte Emma, doch statt die steile Treppe hinaufzusteigen, ging sie daran vorbei und betrat einen kleinen fensterlosen Raum mit Metallregalen voll elektronischer Geräte. Es roch intensiv nach frisch gebrühtem Espresso.

»Hi, Zach«, sagte sie und zog die Stiftkamera heraus, die sie beim Einsatz in der Bank am Morgen verwendet hatte. »Ich habe hier etwas für dich.«

Der magere Endzwanziger mit dem wirren dunklen Lockenkopf blickte von dem Set aus vier Computerbildschirmen auf, die wie ein Schutzwall vor ihm aufgestellt waren. Unter seinem Jackett trug er ein Metallica-Shirt, und seine Füße steckten in hellblauen Converse-Turnschuhen.

»Super. Wie ist es gelaufen?«, fragte er und nahm den Stift entgegen. Das Wort PEACE war auf seine Fingerknöchel tätowiert.

Die Überwachungsoperation in der Bank schien bereits eine halbe Ewigkeit zurückzuliegen. »Es hat alles reibungslos geklappt«, antwortete Emma nur.

»Das ist ein erstklassiges kleines Ding.« Zach schraubte die Kappe am Ende des Stifts ab, nahm den Mikrochip heraus, kaum größer als ein Stückchen Glitzerstaub, und legte ihn in ein Gerät auf seinem Schreibtisch. »Ein bisschen oldschool, aber es tut, was es tun soll. Mehr kann man nicht verlangen.«

Er drehte einen der Bildschirme in ihre Richtung. Ein Dutzend Aufnahmen zeigten den jungen Russen, wie er Bargeld in die lederne Tasche steckte.

»Sehr schön.« Zach scrollte durch die Fotos. »Glasklar. Wem soll ich die schicken?«

»Schick sie an Adam. Ich bin von der Operation abgezogen worden.«

»Oh, haben die dich dem MI6-Mann zugeteilt?« Zach musterte Emma interessiert. »Caro von der Spurensicherung hat vorhin ein paar Fotos von dem Koffer-Szenario abgeliefert. Echt krank.«

Beim Gedanken an die bleichen, aus dem Koffer ragenden Schultern überlief Emma ein Schauder.

»Eines verstehe ich allerdings nicht«, fuhr Zach fort. »Wie zum Teufel haben die Mörder herausgefunden, dass er bei Six arbeitet? Diese Spione setzen doch alles daran, ihre Identität zu verschleiern.«

»Gib mir ein bisschen Zeit«, antwortete Emma und wandte sich zum Gehen, »dann sage ich dir genau, was passiert ist.«

Ripleys eichenvertäfeltes Büro war lediglich mit einem großen Schreibtisch, zwei Ledersesseln und einem Beistelltisch möbliert. Im Raum hing der schwache süßliche Geruch seiner Dunhill-Zigaretten. Auf dem Schreibtisch lag nichts, was Hinweise darauf gab, wem das Büro gehörte oder welche Arbeit hier verrichtet wurde, trotzdem schien Ripleys Persönlichkeit aus sämtlichen Ritzen zu dringen.

Ihr Chef war am Telefon, als Emma eintrat, und bedeutete ihr, sich zu setzen.

»Ja«, sagte er in den Hörer. »Schicken Sie ihn hoch, sobald er kommt.«

Durch ein Bogenfenster hinter dem eindrucksvollen Eichenschreibtisch bot sich ein Blick auf die roten Ziegeldächer Westminsters und den graublauen Himmel.

Während Ripley seinem Gesprächspartner weiter lauschte, schob er ihr eine mit einem VERTRAULICH-Stempel versehene Akte über den Schreibtisch zu.

Auf der ersten Seite war ein Foto eines schlanken Mannes mit großen blauen Augen angeheftet, der nur vage Ähnlichkeit mit der bleichen, malträtierten Leiche vom Vormittag besaß. Auf diesem Foto strotzte er vor Gesundheit, sein glattes strohblondes Haar fiel ihm in die faltenlose Stirn, und um seine Mundwinkel spielte der Anflug eines Lächelns.

Ripley beendete das Telefonat, nahm eine Zigarette aus dem schlanken schwarzen Etui, das er stets bei sich trug, und zündete sie an.

Irgendwann hatte er Emma erzählt, woher er es hatte: Während des Kalten Krieges hatte er für MI6 in Russland gearbeitet. Damals hatten ihn etliche verbitterte Ex-KGB-Agenten benutzt, um sich über ihn an ihrer eigenen Regierung zu rächen, indem sie ihm wertvolle Informationen anvertrauten, die sie jahrelang für sich behalten hatten.

Vor allem einer hatte ihn überrascht. Der Mann war darauf angesetzt gewesen, Ripley zu beschatten und Beweise dafür zu finden, dass er ein Spion und kein Nachwuchsdiplomat war, wie seine Tarnung vorspiegelte. Ripley hatte sich einen Spaß daraus gemacht, den Mann im berüchtigten Moskauer Verkehr abzuhängen oder sich in irgendwelchen dunklen Gassen zu verstecken und sich dann zu erkennen zu geben. Gleichzeitig hatte er zugegeben, dass sein Schatten ihn mehrfach ausgetrickst hatte. Einmal war er Ripley zuvorgekommen und hatte ihm fröhlich vor dem Haus zugewinkt.

Für Ripley war der Mann ein hervorragender Spion, nur leider auf der falschen Seite, und wie sich herausstellte, vertrat der Agent, dessen Namen er niemals herausgefunden hatte, dieselbe Meinung. Eines Tages hatte er Ripley einen Stapel Unterlagen zugeschoben, was ihn das Leben hätte kosten können, wäre er dabei beobachtet worden. Darin war im Detail die Struktur seiner Abteilung beschrieben – wer welchem Büro vorstand, wo diese Leute wohnten und wie er über sie dachte. Die reinste Goldmine.

Als Ripley ihn fragte, weshalb er das tue, gab der Agent ihm sein Zigarettenetui.

»Sie haben mir mein Land und meine Überzeugungen genommen. Deshalb können Sie genauso gut alles nehmen«, hatte er mit einem bitteren Lachen erwidert.

Später hatte Ripley das Etui geöffnet, das neben fünf russischen Zigaretten auch eine Rasierklinge enthielt. Diese Klinge befand sich noch heute darin, zusammen mit seinen Dunhill-Blue-Zigaretten.

»Man braucht immer eine Waffe in Griffnähe«, hatte er Emma damals erklärt. »An einer Stelle, an der sie wohl nicht danach suchen.«

Emma spürte das Messer mit der kurzen Klinge in ihrem rechten Stiefel, während sie in dem hochlehnigen Sessel saß und Stephen Garricks Akte durchblätterte. Bisher hatte sie das Messer erst ein einziges Mal gebraucht – in jener Nacht hatte es ihr das Leben gerettet.

Die Akte umfasste nur zwanzig Seiten, was ziemlich wenig für einen MI6-Agenten war, doch Garrick war erst seit zwei Jahren dabei gewesen, noch dazu in einer untergeordneten Funktion. Emma arbeitete sich eilig durch die Unterlagen.

»Sein Gehalt war überschaubar«, bemerkte sie, »die Wohnung dagegen ziemlich luxuriös. Niedrig kann die Miete wohl nicht gewesen sein.«

»Wie gesagt, das Apartment gehört seinen Eltern«, erwiderte Ripley und griff nach seinem Feuerzeug. »Sein Vater ist steinreich. Und bedauerlicherweise politisch gut vernetzt.«

Stirnrunzelnd blätterte Emma zur ersten Seite zurück. »Garrick … Moment mal. Sein Vater ist Lord Garrick?«

Ripley nickte knapp. »Der Fall wird weit größere Aufmerksamkeit bekommen, als uns lieb ist.«

Dem konnte Emma nicht widersprechen. John Edward Garrick war ein berühmter Investor und Immobilienbesitzer, der nicht nur in Firmen investierte, sondern auch Politiker unterstützte. Er hatte sämtlichen Parteien hohe Summen zukommen lassen, im Gegenzug hörte man sich an, was er zu sagen hatte.

Dieser Fall würde unweigerlich in den Medien landen und dort für einigen Wirbel sorgen.

Ehe sie ihre Vermutung äußern konnte, klopfte es.

»Herein«, rief Ripley in einer Wolke aus Zigarettenqualm.

Ein stämmiger Mann mit einem runden, freundlichen Gesicht trat ein.

»Andrew.« Ripley winkte ihn heran. »Ich briefe gerade Emma zum Garrick-Fall.«

»Oh, hervorragend.« Andrew stellte seine Laptoptasche ab, ließ sich im Sessel neben ihr nieder und strich sich seufzend mit der Hand über sein schütteres Haar. »Ich gebe zu, ich bin froh, Sie bei der Operation dabeizuhaben, Emma. Das ist ein sehr hässlicher Fall. Wir brauchen unsere besten Leute.«

Mit seinem grauen Anzug und der Laptoptasche über der Schulter hätte Andrew Field ein gewöhnlicher Büroangestellter in der Londoner Innenstadt mit einem vollen Terminkalender sein können, doch in Wahrheit war nichts gewöhnlich an ihm. Er war ein erstklassig ausgebildeter Russland-Experte innerhalb des MI6 mit einem enzyklopädischen Wissen über den Geheimdienst dieses Landes.

»Gibt es Neues von der Spurensicherung?«, fragte Ripley.

»Ich habe Caroline gebeten, uns auf den neuesten Stand zu bringen. Sie sollte jeden Moment hier sein.«

»Haben Sie schon eine Idee, wer dahintersteckt?«, fragte Emma.

»Noch nicht«, antwortete Field. »Aktuell überprüfen wir das Material aus den Überwachungskameras rund um das Gebäude, allerdings bezweifle ich, dass wir etwas finden werden. Wenn der Mord auf das Konto der GRU geht, sind sie viel zu professionell, um sich erwischen zu lassen.«

Die GRU war der militärische Nachrichtendienst Russlands und für die meisten im Ausland verübten Attentate im Namen der Regierung verantwortlich.

Ripley stieß eine Rauchwolke aus. »Haben Sie in Garricks E-Mails etwas Brauchbares gefunden?«

»Stephen hat nie an vorderster Front gearbeitet. Soweit wir wissen, hat er nie wissentlich einen russischen Agenten getroffen. Sein gesamtes Team wurde inzwischen an einem sicheren Ort untergebracht, bis wir klarer sehen.« Field hielt inne und sah Ripley an. »Ich hatte C schon an der Strippe, der wissen wollte, was zum Teufel da passiert ist, allerdings konnte ich die Frage leider nicht beantworten.«

C war der Leiter von MI6.

»Verdammt, genau das hatte ich befürchtet.« Ripleys Miene verdüsterte sich. »Bald haben wir sie alle am Hals. Abgeordnete. Das Innenministerium. Wir werden die Tür verrammeln müssen.« Wieder stieß er eine Qualmwolke aus. »Ich nehme an, Ihre Leute haben die offensichtlichen Fakten schon geprüft? Neue Freundin aus Russland? Neuer Kumpel, der sich plötzlich auffallend für seine Vergangenheit interessiert?«

»Wir arbeiten uns schon den ganzen Nachmittag durch Stephens Kontakte«, erklärte Field. »Er hatte nur ganz wenige enge Freunde. Und auch kein Mädchen am Horizont. Seine letzte Beziehung ging vor acht Monaten in die Brüche, die Trennung verlief aber offensichtlich freundschaftlich. Seitdem gab es anscheinend niemanden.«

»Vermutlich müssen wir die Möglichkeit in Betracht ziehen, dass er seine politischen Überzeugungen vor uns verborgen hat«, sagte Ripley. »Er war ein überaus kluger junger Mann und könnte uns bei der Überprüfung seines Hintergrunds ohne Weiteres hinters Licht geführt haben.«

»An seiner Loyalität bestehen keine Zweifel«, bemerkte Field. Seine Miene blieb ungerührt, es schlich sich nur ein Anflug von Schärfe in seine Stimme. »Er wurde auf Herz und Nieren überprüft. Hätte er heimlich mit Russland sympathisiert, hätten wir es gewusst.«

Ripley zog die Brauen zusammen. »Nicht unbedingt, Andrew.«

Die Temperatur im Raum kühlte merklich ab. Sie alle wussten, was hier auf dem Spiel stand. Sollte Andrew sich irren und Garrick tatsächlich ein Doppelagent gewesen sein, wäre Andrews Job gefährdet.

Emma war beinahe erleichtert, als es neuerlich klopfte.

»Herein.« Ripleys Stimme hallte wie ein scharfer Gewehrschuss durch den Raum.

Die Tür ging auf, und Caroline Wakefield trat ein. Die Miene der Forensikerin war zwar betont neutral, dennoch entging Emma der warnende Ausdruck in ihren blauen Augen nicht, als sie die Tür schloss.

»Wir haben die Ergebnisse der Substanz, mit der Stephen Garrick getötet wurde«, sagte sie. »Es ist etwas ungewöhnlich, deshalb haben wir zweimal nachgeprüft. Wir sind sicher, dass es sich um VX handelt.«

»VX?« Ripley sah sie verblüfft an.

Emmas Mund wurde trocken.

VX. Vollständiger Name: Venomous Agent X. Sie war mit dem Kampfstoff während ihrer Tätigkeit für die militärische Nachrichteneinheit in Berührung gekommen. Bei dem Nervengift handelte es sich um einen im Zuge des Kalten Krieges in den 1950er Jahren in Porton Down entwickelten chemischen Kampfstoff, der bei einer Aufnahme selbst von geringsten Mengen über die Haut oder die Atemwege eine Lähmung der Muskulatur hervorruft, sodass das Opfer nicht einmal mehr Atem schöpfen kann. Die Folge ist eine Atemlähmung innerhalb kürzester Zeit.

Der Einsatz des Gifts wurde durch die Vereinten Nationen zwar offiziell verboten, allerdings bezweifelte Emma stark, dass dieses Verbot auch tatsächlich eingehalten wurde.

Ripley wandte sich an Andrew. »War uns bekannt, dass sie über VX-Bestände verfügen?«

»Schätzungsweise sollten wir davon ausgehen, dass sie Vorräte von so ziemlich allem besitzen«, entgegnete Field.

»Einen Kampfstoff einzusetzen, den wir entwickelt haben, besitzt eine gewisse Finesse«, bemerkte Ripley.

»Das gibt dem Ganzen eine persönliche Note«, bestätigte Field.

Emma registrierte die sarkastischen Bemerkungen der beiden kaum. Stattdessen musste sie an Stephen Garricks vor Schmerz bis zur Unkenntlichkeit verzerrtes Gesicht denken. Mit Finesse hatte dieser Gesichtsausdruck nichts zu tun.

Field wandte sich wieder Caroline Wakefield zu. »Wurde noch etwas anderes in der Wohnung gefunden? Andere Substanzen?«

»Die letzten Tests sind noch nicht abgeschlossen, aber bislang nicht«, antwortete sie. »Sieht nach einer sauberen Sache aus.«

»Sollten Sie etwas finden, geben Sie mir umgehend Bescheid«, befahl Ripley. »Und sorgen Sie dafür, dass das Gebäude sicher ist, bevor die anderen Bewohner zurückkehren. Was hat man ihnen denn erzählt?«

»Gasleck. Das Übliche«, antwortete Wakefield. »Bisher ist noch nichts an die Presse durchgesickert.«

Ripley nickte. »Gute Arbeit, Caroline.«

Nachdem die Forensikerin gegangen war, tauschten Ripley und Field einen Blick. »Dann war es nicht die GRU«, sagte Field. »VX ist zu altmodisch für sie.«

Ripley schien nicht überzeugt zu sein. »Sie hätten es als Vorwand benutzen können, um es abzustreiten.«

»Aber warum dann der Koffer?« Field runzelte die Stirn. »Es war doch klar, dass der Mord Aufmerksamkeit erregen würde.«

Emma griff erneut nach Garricks Akte. »Vielleicht finden wir ja heraus, wer es war, wenn wir das Warum verstehen. Die Antwort muss irgendwo in seiner Akte sein.«

»Genau mein Gedanke.« Field blickte sie aus seinen kleinen Augen durchdringend an. »Das Problem ist, dass Stephens Fähigkeiten ziemlich … einzigartig waren. Es ist schwer zu erklären, aber ich bin nicht sicher, ob jemand bei mir im Büro seine Berichte wirklich versteht.«

»In seiner Akte taucht mehrfach der Begriff ›genial‹ auf«, sagte Emma.

»Das ist keine Übertreibung, das kann ich Ihnen versichern.« Field zog seinen Laptop aus der Tasche, klappte ihn auf und tippte eilig. »Das hier stammt aus einem Bericht, den er vor zwei Monaten über einen Funktionär verfasst hat, der russische Regierungsgelder über Dubai nach London geschleust hat.« Er drehte den Laptop so hin, dass Emma und Ripley das Schriftstück sehen konnten, eine aus endlos langen, komplexen Formeln bestehende Seite, die jeden Millimeter davon ausfüllten. »Das Innenministerium war absolut ratlos, deshalb musste Stephen ihnen alles erst erklären, aber als sie begriffen haben, was sie da vor sich sehen, haben sie eine lebenslange Einreisesperre über die Zielperson nach Großbritannien verhängt und die Akte an Interpol weitergeleitet.«

Ripley deutete mit seiner Zigarette auf den Laptopbildschirm. »Wer war diese Person? Hat sie womöglich herausgefunden, was Garrick über sie gesammelt hat, und sich gerächt?«

»Nur wenn einer meiner Leute es den Russen gesteckt hätte, was aber völlig ausgeschlossen ist.« Wieder fiel Emma Fields scharfer, angespannter Tonfall auf. So angefasst hatte sie ihn noch nie erlebt. Normalerweise zeigte er nur selten eine Regung.

Auch Ripley musste es bemerkt haben, denn er fuhr eilig fort. »An welchen Fällen hat Garrick sonst noch gearbeitet?«

»Was ist denn hiermit?« Emma zog eine Seite aus Garricks Akte heraus. »Er hat Ermittlungen über die Tochter eines russischen Regierungsbeamten angestellt, die angeblich in London für eine internationale Wohltätigkeitsorganisation tätig war, aber Garrick hat Gelder nachverfolgt, die von dieser Organisation direkt an den russischen Geheimdienst geflossen sind, deshalb wurde auch sie ausgewiesen.«

Ripley gab einen abfälligen Laut von sich. »Von diesen Fällen bearbeiten wir gut und gern fünf im Jahr. Was noch?«

»Es gibt nur noch einen anderen«, sagte Emma und schlug die letzte Seite in Garricks Akte auf. »Eine Ermittlung zu zwei russischen Oligarchen. Allerdings ist offenbar nichts dabei herausgekommen. Sieht so aus, als wäre der Fall zu den Akten gelegt worden, bevor die Ermittlungen abgeschlossen wurden.«

Field verzog das Gesicht. »Das war eine ziemlich unschöne Angelegenheit. Die Ermittlung lief über Monate, ohne konkretes Ergebnis. Dann gab es Budgetkürzungen, und man befand den Fall als für nicht wichtig genug, um weitere Kosten dafür zu verwenden.« Er warf Ripley einen Blick zu. »Sie wissen ja, wie das immer ist.«

»Nur zu gut«, bekräftigte Ripley düster.

Emma blätterte zum Anfang der Akte zurück. »Nichts, woran Garrick gearbeitet hat, scheint einen Anlass zu bieten, weshalb die Russen so etwas tun sollten. Offenbar wollten sie ein Statement setzen. Aber warum?«

»Das ist die Frage, auf die Sie eine Antwort finden sollen«, sagte Ripley. »Finden Sie heraus, was wir übersehen. Gehen Sie Stephen Garricks letzte Tage noch einmal genau durch. Hat er sich mit jemandem getroffen, von dem wir nichts wissen? Hat er Dinge versprochen, die er nicht halten konnte?« Er deutete auf Field. »Wir arbeiten mit Ihnen gemeinsam daran, allerdings haben wir nicht viel Zeit. Von oben wird es Druck geben, und zwar gewaltig. Deshalb müssen wir schnellstmöglich wissen, wer ihn getötet hat und warum. Vor allem aber müssen wir verflucht noch mal dafür sorgen, dass nicht noch jemand umkommt.«

3

Den Rest des Tages vergrub sich Emma in Stephen Garricks Leben. Field schickte ihr einen Link mit verschlüsselten Dokumenten zu jedem Fall, an dem der Tote gearbeitet hatte. Doch es zeigte sich nirgendwo ein Beweis für ein Fehlverhalten. Garrick hatte seine Arbeit akribisch, geradezu obsessiv erledigt. Hier war kein Verräter oder ein Dummkopf am Werk gewesen, sondern jemand mit einer tiefen Liebe zur Wahrheit.

Als sie die Dokumente durchgearbeitet hatte, war es draußen dunkel geworden.

Sie griff nach dem Telefon auf dem Schreibtisch und wählte eine dreistellige Nummer.

»Hey, Emma hier«, sagte sie. »Du musst mir einen Gefallen tun. Ich will mir die Aufnahmen der Überwachungskameras im Garrick-Fall ansehen. Kannst du sie heraussuchen?«

»Klar, komm runter«, antwortete Zach.

Zehn Minuten später stand sie in seinem winzigen Büro und sah zu, wie er mit schwindelerregender Geschwindigkeit tippte und nur hier und da auf den Bildschirm blickte.

»Zuerst die Aufnahmen vor dem Haus.« Emma zog einen Stuhl heran. »Fang am Tag vor seiner Ermordung an.«

»Du verfolgst all seine Schritte zurück?«

Sie nickte. »Ich muss nachvollziehen, was er vorhatte, aber seine Akte lässt keinerlei Rückschlüsse zu.«

Stirnrunzelnd blickte Zach auf den schwarzen Bildschirm und murmelte etwas, während er erneut im Tempo eines Maschinengewehrfeuers zu tippen begann.

Emma ließ den Blick durch das Büro schweifen. Normalerweise hielt sie sich nie lange hier auf. Zach war erst seit Kurzem bei der Agency und sein Vorgänger kein sonderlich freundlicher Zeitgenosse gewesen. An den Wänden standen Metallregale mit allem möglichen Equipment, dessen Funktion sich ihr nicht erschloss. In der Ecke befand sich ein kleiner schwarzer Safe, in dem Zach die Technik lagerte, von der niemand wusste, dass sie über sie verfügten.

Emma konnte Zach gut leiden. Er war nur ein Jahr älter als sie und von MI6 rekrutiert worden, als er noch in seinem Zimmer im Studentenheim in Cambridge die Computer seines Professors gehackt hatte. Einmal hatte er Emma anvertraut, er sei nicht sicher gewesen, ob er für die Regierung arbeiten wolle, weil er der Partei, die aktuell an der Macht sei, nicht viel abgewinnen könne. Doch dann hatte der Typ, der ihn anwerben wollte, ihm verklickert, dass drei Terrorangriffe mit vielen potenziellen Todesopfern in jüngster Zeit dank des Geheimdiensts verhindert worden waren, woraufhin er seine Meinung geändert hatte.

Zach war koffeinsüchtig und sein Büro selbst um diese Uhrzeit vom typisch intensiven Kaffeeduft erfüllt. Emma, die seit sechs Uhr auf den Beinen war, spürte, wie ihr das Wasser im Mund zusammenlief.

»Hier drin riecht es so lecker, dass ich am liebsten die Luft trinken würde«, sagte sie.

»Willst du einen Kaffee?« Zach deutete auf die schnittige schwarz-silberne Kapselmaschine im Regal links von ihr. »Bedien dich. Aber Vorsicht, die violetten blasen dir die Schädeldecke weg.«

Als Emma sich mit einer Tasse in der Hand wieder setzte, war auf Zachs 30-Zoll-Bildschirm eine klare Aufnahme der Straße vor Stephen Garricks Wohngebäude zu erkennen. Er scrollte durch die Aufnahme. Passanten bewegten sich ruckelnd rückwärts, Autos fuhren in umgekehrter Richtung, Vögel flogen mit dem Schwanz voran vorbei.

Emma ließ sich auf den Stuhl sinken und rollte näher.

»Das ist gestern Morgen«, erklärte Zach.

Emma nippte an ihrem Kaffee und sah zu, wie Menschen das Gebäude betraten und verließen, eine Frau und ein Mann, ein Mann allein, ein Mann im Anzug, eine Frau in Jeans, alle im Schnelldurchlauf.

»Eigentlich ist so ein Kaffee eine prima Idee. Hier, mach du weiter.« Er schob ihr die Maus hin und stand auf. »Ich glaube, ich bin in Stimmung für eine violette Kapsel. Schlafen kann ich noch, wenn ich tot bin.«

Die Kaffeemaschine sirrte laut, doch Emma bekam es kaum mit. Konzentriert verfolgte sie, wie auf der Straße vor dem Wohngebäude in Hammersmith allmählich Ruhe einkehrte. In einigen Fenstern sah man Licht brennen. Sie zählte die Stockwerke bis zu Garricks Wohnung auf der sechsten Etage. Um zwei Uhr früh gingen dort die Lichter aus, dann, dreißig Minuten später, wieder an.

»Interessant.« Den Blick auf den Bildschirm geheftet, setzte Zach sich wieder. »Das ist seine Wohnung, stimmt’s?«

Emma nickte. Hinter dem erleuchteten Fenster folterte irgendjemand Stephen Garrick, sprühte ihm das Nervengift ins Gesicht und sah zu, wie er unter Qualen starb, um danach seine Leiche in den Koffer zu stopfen und das Zimmer zu säubern. Warum?

Sie scrollten zurück und weiter vor. Kurz nach vier Uhr früh wurde das Licht in der Wohnung wieder gelöscht. Auftrag erledigt.

Niemand hatte das Gebäude betreten oder verlassen.

»Unheimlich«, bemerkte Zach und sah Emma an. »Willst du weitermachen?«

»Ja, gehen wir ein paar Tage zurück, vielleicht sehen wir ja jemanden, der einbricht oder eine Überwachungskamera installiert.«

Zach ließ die Aufnahme zurücklaufen. Die Nacht wurde zum hellen Nachmittag und dann zu einem fahlen Morgen.

Gewöhnlich aussehende Menschen kamen und gingen. Autos fuhren vorbei, Lieferfahrzeuge wendeten und brausten davon. Taxis standen vor dem Haus, fuhren ebenfalls davon. Boote tuckerten am linken Bildschirmrand auf der blaugrauen Themse dahin.

Blinzelnd bemühte Emma sich, den Fokus nicht zu verlieren. Ein blauer Prius fuhr vorbei. Er löste eine Erinnerung aus.

»Halt!«

Zach stoppte die Aufnahme. Lediglich ein kleines Stück des Wagens war noch zu sehen.

»Dieser Wagen da.« Emma tippte auf den Bildschirm. »Ich brauche das Kennzeichen.«

Zach scrollte so weit zurück, dass das Nummernschild zu erkennen war. »Hast du was entdeckt?«

»Ich bin nicht sicher …« Emma schlug Garricks Akte auf und blätterte bis zur Beschreibung seines Wagens. Das Nummernschild passte.

»Das ist Garricks Wagen«, sagte sie. »Wann war das?«

Zach sah auf die Zeitanzeige. »Vor zwei Tagen. Etwa um 18.00 Uhr.« Er beugte sich vor und betrachtete den Wagen. »Fährt er gerade vor dem Haus vor? Wo will er parken?«

»Hinter dem Haus gibt es einen kleinen Parkplatz.« Emma sah von der Akte auf. »Wahrscheinlich betritt er das Haus durch einen Hintereingang. Ist dort eine Kamera montiert?«

»Mal sehen.« Zach schob seinen Kaffee zur Seite, öffnete ein zweites Fenster auf dem Bildschirm und tippte etwas ein. Eine Zahlenkolonne erschien, die er stirnrunzelnd las. »Keine Kameras auf der Rückseite des Gebäudes.«

»So müssen die Mörder also hereingekommen sein.« Emma dachte kurz nach und zeigte auf den Wagen. »Er kommt von irgendwoher zurück. Ich will wissen, wo er war.«

»Kein Problem. Den Wagen kann ich tracken, allerdings wird es eine Weile dauern.«

»Bist du sicher, dass du die Zeit dafür hast?«, fragte Emma, obwohl sie die Antwort bereits kannte.

»Hey, entweder das hier oder zu Hause hocken und Grand Theft Auto spielen«, erwiderte er. »Ich persönlich suche lieber einen Mörder.«

Emma blieb neben ihm sitzen. Zuzusehen, wie er routiniert Garricks Route durch London zurückverfolgte, beschwor Erinnerungen an jene Nacht vor neun Monaten herauf, als die Russen dasselbe Überwachungssystem gehackt und die Kameras benutzt hatten, um Jagd auf sie zu machen. Damals war der berühmte Ring of Steel, die flächendeckende Kameraüberwachung der Londoner Innenstadt, ihr Feind gewesen, heute dagegen war er ihr Freund.

Die Suche würde dauern, deshalb bestellte Emma Pizza (eine vegane für Zach) und ging zu dem Laden an der Ecke, um zwei Dosen Pressure-Drop-Bier zu kaufen. Zach stürzte sich auf seine Pizza und balancierte ein Stück vorsichtig in der linken Hand, während er mit der rechten weitertippte.

»Das ANPR-System ist gut«, erklärte er zwischen zwei Bissen, »aber nur mit ein bisschen Zutun. Man muss ihm genau sagen, wo es nachsehen soll, sonst dauert die Suche tagelang, und ich will nicht, dass es ganz Schottland abklappert.«

Die Automatic Number Plate Recognition war ein Computersystem, mit dem sich jede Überwachungskamera im ganzen Land nach einem bestimmten Nummernschild absuchen und eine komplette Route über Hunderte von Kameras nachvollziehen ließ.

»Ich begrenze die Suche auf London.« Zach tippte einen Code ins System und drückte beherzt die Enter-Taste. »Mal sehen, was wir haben.«

Das System begann zu arbeiten, dann füllte sich der Bildschirm langsam mit Bildern, die jeweils einen winzigen Straßenausschnitt zu verschiedenen Uhrzeiten zeigten.

»Da haben wir’s.« Zach warf die Pizzaschachtel in den Müll, wischte sich die Finger an einer Serviette ab, beugte sich vor und hämmerte auf die Tastatur ein. Sekunden später formierten sich die Bilder neu auf dem Schirm – einige taghell, andere regengrau, einige wenige dunkel, lediglich von Scheinwerferlicht erhellt.

»Das hier wurde etwa fünf Stunden vor dem Moment aufgezeichnet, als der Wagen vorbeigefahren ist.«

»Lass mal sehen.« Emma zog ihren Stuhl näher heran und stützte die Ellbogen auf der Tischplatte auf, als er auf Play drückte.

Eine Straße in Kensington erschien auf dem Bildschirm. Es war heller Tag, kurz vor der Mittagszeit. Autos, Taxis und Busse fuhren in einer unheimlichen Stille die Straße entlang und hielten, als die Ampel auf Rot sprang.

»Da.« Zach tippte mit dem Finger auf Stephen Garricks blauen Prius, der langsam im dichten Verkehr dahinglitt.

»Ich mache mal ein bisschen schneller.« Zach tippte einen Befehl ein, woraufhin der Wagen ruckelnd nach vorn schnellte, durch die Straßen flitzte und dann plötzlich in einer durch die hohen modernen Gebäude in Schatten getauchten Straße stand.

»Wo ist das?«, fragte Emma.

Zach deutete auf die Legende am rechten Bildschirmrand. »St Edward’s Street, Pimlico.«

»Kannst du sie heranzoomen? Sitzt er noch im Wagen?«

Wieder tippte Zach auf die Tastatur, woraufhin der Computer den blauen Wagen näher heranzoomte. Selbst mit all den Schatten und der Reflexion der Windschutzscheibe konnten sie den blonden Garrick am Steuer sitzen sehen. Er hob etwas Schwarzes vor seine Augen und richtete es nach oben, sodass der irritierende Eindruck entstand, als sehe er sie direkt an.

»Was hat er da in der Hand?«, fragte Emma.

»Ich tippe auf ein Fernglas«, antwortete Zach mit gerunzelter Stirn.

»Was soll das? Hat er etwa jemanden beschattet?«

»Sieht ganz so aus.« Interessiert betrachtete Zach den jungen Mann, als dieser neuerlich das Fernglas anhob. »Ich glaube, er beobachtet jemanden in dem Haus da.« Er deutete auf einen Ziegelbau auf der rechten Bildschirmseite.

Emma schrieb Ripley eine Nachricht auf ihrem Handy. Wen hat Garrick in Pimlico beschattet? Am Tag vor seinem Tod ist er jemandem gefolgt.

Sie sah wieder auf den Bildschirm. »Können wir vorspulen und sehen, wie lange er dort gestanden hat?«

Zach spulte vor, bis der Prius aus der Parklücke fuhr und verschwand.

»Sieh dir das an.« Zach deutete auf die Zeitanzeige. »Er hat mehr als vier Stunden dort gestanden.«

Emma starrte den blauen Wagen an. »Was um alles in der Welt hat er dort getan? Zahlenanalysten übernehmen keine Observationen, sondern sind reine Büromenschen.«

Ihr Handy vibrierte. Ripleys Antwort.

Garrick hat niemanden beschattet. Zwei Wochen vor seinem Tod hat er sich beurlauben lassen.

»Da.« Zach berührte ihren Arm. Er hatte einen weiteren Aufzeichnungsordner geöffnet und folgte Garricks Wagen eine andere Londoner Straße entlang. Er ließ die Aufnahme schneller laufen. Es regnete.

»Von wann stammt die?« Emma sah zu, wie der Prius um einen stehenden Bus herumfuhr.

»Zwei Tage vor der Aufnahme, die wir gerade angesehen haben«, antwortete Zach und zeigte auf den Bildschirm. »Er ist am Trafalgar Square. Wer um alles in der Welt fährt mit dem Wagen zum Trafalgar Square?«

»Spione.« Emma betrachtete weiter den Wagen, der mit beachtlichem Tempo in eine unterirdische Parkgarage rauschte. Die Aufnahme endete. »Mist. Wir verlieren ihn.«

»Oh, ihr Kleingläubigen.« Zach öffnete ein zweites Fenster und tippte neuerlich etwas ein. Sekunden später ging ein weiteres Fenster auf. »Da haben wir’s. Das ist dieselbe Kamera. Wir müssen eigentlich nur warten, bis er herauskommt.«

»Da!« Emma zeigte auf Garricks auffällig hellblonden Haarschopf, als er über den Fußgängerausgang aus der Garage trat und mit gesenktem Kopf den Bürgersteig entlanghastete.