Codex Mosel - Mischa Martini - E-Book

Codex Mosel E-Book

Mischa Martini

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Beschreibung

Exponate von unschätzbaren Wert werden aus der Domschatzkammer geraubt. Hat der Gärtner des Domkapitulars dafür sein Leben lassen müssen? Hier fangen für Kommissar Walde die Probleme erst an. Überraschend mischen sich Salvatore Montalbano, Kay Scarpetta, Siggi Baumeister, Kurt Wallander, Guido Brunetti und Hanne Wilhelmsen in die Ermittlungen ein.

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Seitenzahl: 236

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Verlag Michael Weyand

*

Mischa Martini

CODEX MOSEL

*

© Verlag Michael Weyand GmbH, Friedlandstr. 4,

54293 Trier, www.weyand.de, [email protected]

Alle Rechte vorbehalten. Kein Teil des Werkes darf in irgendeiner Form ohne schriftliche Genehmigung des Verlags reproduziert oder unter Verwendung elektronischer Systeme verarbeitet, vervielfältigt oder verbreitet werden.

Lektorat: Gabriele Belker, Birgit Weyand

Dank für Beratung und wertvolle Tipps an:

Marie-Therese Frigerio, Dr. Hans-Joachim Kann,

Dr. Randolf Körzel, Dr. Matthias Lazzaro

Satz: Verlag Michael Weyand GmbH, Trier

Druck und Bindung: Clausen & Bosse, Leck

Titel: Bob, Trier

ISBN 978-3-942 429-42-9

*

Personen und Handlungen sind frei erfunden.

Ähnlichkeiten mit Verhaltensweisen von Menschen an der Mosel und anderswo sind zufällig, mitunter unvermeidlich

*

Ich danke Andrea Camilleri, Patricia Cornwell,

Anne Holt, Henning Mankell, Jacques Berndorf,

Hakan Nesser und ihren Kolleginnen und Kollegen

für ihre Anregungen, die einige der in diesem Buch

agierenden Romanfiguren zu überraschenden

Handlungen inspiriert haben.

Montag

In dem Moment, als Bernard den Ton lauter stellte, wusste er, dass er damit das Leben des Gärtners da draußen in höchste Gefahr brachte.

Die Verbretterung des ehemaligen Kutscherhauses war alles andere als dicht. Das hatten die unangenehmen Nächte bewiesen, in denen der Wind die Kälte durch die Ritzen bis in Bernards arthritische Knochen getrieben hatte. Obendrein wehte durch die offene Luke im Boden unablässig Zugluft herauf.

Neben dem Abendgesang der Vögel vernahm Bernard das durch die hohen Mauern gedämpfte Brausen des Stadtverkehrs. Jeder Zug der Astsäge und jeder Schnitt der Heckenschere aus dem Garten der Kurie klang hier oben ganz nah. Ebenso konnten auch umgekehrt alle Geräusche von hier hinaus zu dem muskulösen Gärtner mit dem Dreitagebart dringen, der längst Feierabend haben sollte.

Aber es half nichts, die Kopfhörer gaben keinen Ton mehr von sich. Bernard zog den kleinen Stecker heraus und legte ein Ohr auf den staubigen Lautsprecher, um das Telefonat aus dem zwanzig Meter entfernten Kurienhaus mit den großen Fensterläden zu belauschen.

»… brauchen die Daten umgehend, sofort, auf der Stelle, der Katalog muss in drei Tagen …« Der Tonfall des Domkapitulars war aufs Äußerste fordernd.

Eine fremde Stimme unterbrach ihn: »Ich habe in der Schweiz angerufen. Die CD ist in der Post.«

»Was soll das heißen?«

»Die haben die CD gestern losgeschickt.«

»Und es gibt keine Kopie?«

»Haben Sie denn keine?«

»Würde ich Sie dann danach fragen?« Der Domkapitular schrie.

Bernard drehte den Ton zurück. Vom Garten her war nichts zu hören. Notgedrungen wandte er sich von dem Gerät ab. Er brauchte eine Weile, bis er durch die Ritzen der spitzen Giebelwand den Gärtner entdeckte, der in einem von der untergehenden Sonne beschienenen Dreieck auf der Rasenfläche stand und sich über dem offenen Tabaksbeutel eine Zigarette drehte.

Noch vor ein paar Monaten hätte Bernard in diesem Moment abgebrochen. Aber der Druck war so enorm gewachsen, dass ihm keine Wahl blieb.

»Können Sie die drei Bilder neu aufnehmen?«, tönte die Stimme des Fremden aus dem Gerät.

»Wie soll ich das denn machen? Die liegen fix und fertig in den Vitrinen der Domschatzkammer, hinter Panzerglas und alarmgesichert. Da müsste ich zuerst einmal den gesamten Dom räumen lassen. Der Bischof wäre begeistert.«

Ein paar Sekunden Stille folgten. Bernard dachte, nun habe auch der Lautsprecher den Geist aufgegeben.

»Und in der Nacht? Da ist der Dom doch sicher geschlossen?«

Wieder blieb es einige Sekunden lang still.

»Können Sie mir einen Fotografen schicken?«, fragte der Domkapitular.

»Wann soll er da sein?«

»Da muss ich noch einiges vorher abklären, mit der Polizei und so weiter. Ich denke mal, etwa um Mitternacht!«

»Heute? Von München aus? Wie stellen Sie sich das denn vor?«, entrüstete sich die fremde Stimme.

»Ach, lecken Sie mich doch!« Es knackte im Lautsprecher.

Bernard blieb keine Zeit, sich über die letzte Bemerkung des verärgerten Domkapitulars zu wundern. Unter ihm wurde die Tür des Schuppens aufgedrückt. Er griff vorsichtig nach einem dicken Holzknüppel.

Unten wurde scheppernd das Werkzeug abgestellt. Dann war es ruhig.

Wolken schoben sich vor die Sonne. Der Dachboden des Kutscherhauses wurde in graues Dämmerlicht getaucht.

Als erstes nahm Bernard, der neben der offenen Luke am Boden kauerte, den Zigarettenrauch wahr. Dann erschien ein dunkler Haarschopf neben der Leiter. Noch während der Gärtner Schulter und Kopf in Bernards Richtung drehte, traf ihn der mit großer Wucht geschwungene dicke Holzstiel in Höhe des Ohrs und verursachte dort ein ekelhaft knackendes Geräusch.

Wie eine an den Schnüren gekappte Marionette sackte der Mann zusammen. Kaum war er aus Bernards Sichtfeld verschwunden, prallte der Körper unten auf. Bernard behielt den Knüppel in der Hand, als er die Leiter hinunterstieg. Von der untersten Sprosse hievte er seinen rechten Fuß über den schlaffen Körper des Gärtners. Ein Unterschenkel mit einem halbhohen Schnürschuh stand in einer unnatürlichen Haltung vom Körper ab. Die dunklen Haare klebten nass am Ohr. Bernard konnte nicht erkennen, ob das Blut aus dem Gehörgang oder von äußeren Verletzungen am Ohr und der Kopfhaut stammte. Er beugte sich nach vorn und tastete nach der Halsschlagader. Die Haut war warm und feucht. Er fand keinen Puls.

Das Pflaster der Predigerstraße glänzte im Licht der hoch oben von der Mauer strahlenden Laterne. Edith hatte ihre Ausrüstung aus dem Kofferraum geladen und überlegte, ob ihr dicht an der mit knorrigem Efeugehölz überwucherten Wand geparkter Wagen anderen Autos den Weg versperren könnte. Zu dieser späten Stunde war es eher unwahrscheinlich, ob überhaupt noch jemand in die enge Gasse des Domviertels kommen würde. Sie schloss den Wagen ab, legte sich den Riemen der Ledertasche über die Schulter, klemmte das Stativ unter einen Arm und fasste nach den Griffen der beiden Aluminiumkoffer. Die alten Mauern, die links und rechts neben ihr aufragten, waren höher, als die Gasse breit war. Edith musste sich überwinden, in das Dunkel einzutauchen, das sie an der Ecke erwartete. Die Regentropfen klangen auf den Koffern wie zart geschlagene indische Trommeln. Die Absätze rutschten auf dem Pflaster, als sie um die Mauer bog.

Sie war erleichtert, als sie die Holztür mit den dicken Eisenbeschlägen erreicht hatte und ihre Last abstellen konnte. Die Tasche behielt sie auf der Schulter. Neben dem in einer runden Vertiefung eingelassenen Klingelknopf befand sich kein Schild. Als Edith auf den Knopf drückte, verkantete er sich und sprang erst wieder heraus, als sie mehrmals seitlich dagegen geklopft hatte. Ein Klingelton war nicht zu hören. Sie war schon einmal hier gewesen und wusste, wie groß der Garten zwischen Mauer und Kuriengebäude war, in dem der Domherr wohnte, der sie vor einer Stunde angerufen hatte.

Edith wartete. Es gab kein Vordach. Sie spürte, wie ihr Haar schwerer wurde. Sie hatte es am Abend bereits gebürstet, wie sie es immer vor dem Schlafengehen tat. Hundert Mal, wie eine Prinzessin. So hatte sie es als Kind gelernt. Schon damals hatte sie lange braune Haare, nicht dick, aber sehr dicht. Und glänzend, was, wie sie bis heute glaubte, vom vielen Bürsten kam. Ihr Haar reichte noch immer bis zur Taille. Nur nass konnte sie es nicht mehr ertragen. Sie bekam Kopfschmerzen, wenn sie es nicht gleich nach dem Waschen in ein Handtuch einschlug oder es trocken föhnte.

Drei Glocken schlugen kurz hintereinander. Sie schaute auf ihre Uhr. Viertel vor zwölf.

Ein Riegel scharrte. Die Tür ging nach außen auf und stieß gegen einen der Koffer. Ein dunkel gekleideter Mann trat unter dem steinernen Türsims hindurch.

»Guten Abend, Frau Basten.« Domkapitular Prof. Dr. Alfons Adams beugte sich vor und streckte Edith die Hand entgegen. »Schön, dass Sie es einrichten konnten. Ich danke Ihnen sehr.«

Sie schob ihre rechte Hand nach vorn, wobei sie das Stativ unter dem Arm geklemmt hielt. »Kein Problem.«

»Ich nehm Ihnen das ab.« Adams drückte ihr kurz die Hand und fasste nach dem Stativ. Sie nahm einen Hauch von Weingeruch wahr. Der Professor trug unter dem dunklen Anzug mit dem kleinen goldenen Kreuz am Revers einen grauen Cashmere-Pullover, über den ein weißer Hemdkragen geschlagen war. Aus seinem Revers lugte eine schmale Papierrolle hervor. Jetzt nahm sie auch die Ausbuchtung in der Jacke wahr.

Ein Windstoß fuhr ihr ins Haar. Die milde Luft war durchsetzt mit feinem Regen. Nach drei verregneten Juniwochen war es heute tagsüber endlich wieder sonnig gewesen.

»So, dann woll’n wir mal.« Adams rückte sein dunkles Béret zurecht und wandte sich in Richtung Dom. Edith packte die beiden Koffer und mühte sich, mit dem forsch ausschreitenden Professor Schritt zu halten. Im ersten Moment dachte sie, er würde einen Scherz machen, als er ihr keine weitere Last abnahm. Edith bereute es nun, dass sie ihren Mann, der schon zu Bett gegangen war, nicht gebeten hatte, sie zu begleiten. Auf dem Küchentisch hatte sie einen Zettel hinterlassen. ‚Bin den Codex fotografieren’. Jetzt kam ihr die Information recht dürftig vor. Würde er sie überhaupt verstehen? Sie kapierte selbst nicht so recht, warum dieser Fotoauftrag nicht bis morgen warten konnte.

Sie bogen um eine Hausecke. Direkt vor ihnen ragte urplötzlich die gewaltige, in einem warmen Gelb angestrahlte Südseite des Doms auf.

Der Domkapitular blieb stehen. Er hielt das Stativ mit beiden Händen vor der Brust, als trüge er eine Maschinenpistole. Edith schnaufte. Alfons Adams schien nicht zu bemerken, wie sie sich abrackern musste. Ohne seine Hilfe anzubieten, wies er auf einen kleinen Vorplatz. »Hier geht’s lang.«

War er wirklich so unaufmerksam? Lag es am Alkohol oder daran, dass der Professor bereits auf die Aufgabe konzentriert war, die vor ihnen lag? Zwischen Bauwagen und Containern, die teils zweistöckig übereinander saßen, versuchte sie, besonders schlammigen Stellen auszuweichen.

Als Edith an der Doppeltür ankam, deren hochmodernes Schloss von Adams routiniert geöffnet wurde, stellte sie die beiden Koffer härter als gewollt ab.

»Darf ich?« Der Mann hielt ihr mit dem Ellenbogen des rechten Arms die Tür auf, während er mit der linken Hand nach einem der Koffer fasste.

»Danke, gern.«

»Ich dachte, sie würden die sensiblen Apparate nicht aus der Hand geben wollen.«

»Kein Problem.« Jetzt verwendete sie schon zum zweiten Mal die Lieblingsredewendung ihres achtjährigen Sohnes.

Adams setzte auf der anderen Seite der Tür den Koffer ab und legte das Stativ darauf. Er ließ seine Begleiterin herein und schloss wieder ab.

»Achtung!« Der Domkapitular hielt sie am Arm zurück. »Hier folgt unmittelbar eine Treppe.« Mit leichter Berührung lenkte er ihren Arm zu einem Geländer.

Über wenige Stufen gelangten sie hinunter in einen dunklen Raum, der, nach dem Hall ihrer Schritte zu urteilen, groß und unmöbliert wirkte. Vorsichtig tastete sie mit den Schuhen über den Fußboden. Er schien aus großen, nicht ganz eben verlegten Steinplatten zu bestehen. Weiter vorn fiel durch einen offenen Türbogen schwaches Licht herein.

»Was ist denn da drin?« Adams musste den Koffer meinen, der sich neben ihr wie von Geisterhand fortbewegte. Der dunkel gekleidete Träger war nicht zu erkennen.

»Licht«, war ihre knappe Antwort.

»Das habe ich mir leichter vorgestellt.«

Sie gelangten in einen nach rechts offenen Flur. Ein Windstoß erfasste sie.

»Sind wir im Kreuzgang?«

»Richtig«, bestätigte der Professor. »Eine großartige Leistung der Gotik aus dem 13. Jahrhundert. Hier gab’s früher mal Brot und Wein für die Armen.« Er kicherte. »Der Domklerus musste dafür aufkommen. Heute liegen die Herren hier begraben.«

Sie erreichten die ersten zum Innenhof weisenden Rundbögen, deren feine Verzierungen filigrane Schatten auf den Steinboden warfen.

Der Wind wehte vom Innenhof her. Dort schimmerten marmorne Grabplatten, von geschwungenen, glaslosen Steinbögen umgeben. Ihr wurde kalt bei dem Gedanken, eine der Grabplatten könnte sich knarrend zur Seite bewegen.

Sie kamen an zwei überlebensgroßen Steinfiguren vorbei, die an der Seite des Gangs wie zwei Ungeheuer wirkten, die mit drohend erhobenen Armen auf Beute lauerten. Als sie die Figuren hinter sich gelassen hatten, blickte Edith sich verstohlen um, wie ein Kind, das sich nicht sicher war, ob die steinernen Monster hinter seinem Rücken sich nicht doch bewegen könnten.

Sie näherten sich einem Gitter am Ende des Gangs, hinter dem rotes Kerzenlicht flackerte. Der Domkapitular war schon um die Ecke gebogen, als er abrupt stehen blieb.

Ihr Blick folgte seinem ausgestreckten Arm, der über den Innenhof auf den barocken Turm der Heiligrockkapelle wies. Mit der runden Kuppel und den schwarzen Fenstern zeichnete er sich gegen den rötlichen Himmel ab.

»Warum brennt da kein Licht?«, murmelte Adams.

Der Professor war wieder einen halben Schritt voraus. Er bewegte sich mit der Sicherheit eines Schlafwandlers. Sie passierten weitere Nischen und Kapellen, in denen Kerzen brannten. Vom Halbdunkel des Säulengangs traten sie in einen dunklen Flur. Edith schob sich tastend vorwärts. Ihr Blick wechselte hin und her zwischen dem dunklen Boden und ihrem fast ebenso unsichtbaren Begleiter, der nun langsamer vorankam. Es ging wenige Stufen hinauf zu einer Holzpforte, die mit drei übereinander angebrachten Eisenbeschlägen verstärkt war. Nach wenigen Sekunden wurde die Tür aufgestoßen. Eine angenehme Wärme empfing sie. Ediths Augen hatten sich inzwischen an die Dunkelheit gewöhnt. Der dumpfe Ton der zuschlagenden Tür löste ein vielfaches Echo aus, das sanft aus den Tiefen des Doms zurückhallte.

Ihr Begleiter nahm die Kappe ab. Im Schein des aus dem Ostchor hereinfallenden Lichts wirkten seine Haare gelblich-weiß.

Hier bist du in einer Kirche, hier wirst du beschützt, versuchte sie sich einzureden. Hier konnte außer ihnen niemand sein! Höchstens Gespenster, aber die hatten in einem Gotteshaus nichts zu suchen.

Edith zuckte zusammen. Vier Glocken schlugen und dann folgte eine dunklere Fünfte. Sie zählte stumm bis zwölf.

»Um Mitternacht wird die Alarmanlage ausgeschaltet.« Die gelassene Stimme des Domkapitulars beruhigte sie ein wenig. »Zwischen Mitternacht und sechs Uhr morgens ist die einzige Zeit, in der die komplizierte Alarmanlage ausgeschaltet werden kann, damit wir die Schaukästen öffnen können. Das geht natürlich nicht, wenn der Dom für Publikum geöffnet ist oder die Sakristane Dienst haben. Die Polizei ist informiert.«

Neben ihnen brannte auf einer schrägen Metallplatte ein Meer von Kerzen. Vor einem hoch aufragenden Seitenaltar standen zwei Bänke. Der Domkapitular verbeugte sich leicht und setzte sich in die hintere.

Edith glitt von der anderen Seite auf die schmale Holzbank und stellte die Schultertasche neben sich. Rechts führte eine Steintreppe hinauf zur Schatzkammer, dem Ziel ihrer nächtlichen Exkursion.

Walde schlug die Augen wieder auf, als seine Hände das Buch ins Federbett sinken ließen, wo bereits das Dictionary lag. Er lauschte. Der Wecker auf dem Nachttisch zeigte kurz nach eins. In der Wohnung war es ruhig. Er fand die Stelle im Buch, an der er eingedöst war. Bereits nach wenigen Sätzen in The Catcher in the Rye, den er versuchte, in der englischen Version zu lesen, schloss er erneut die Augen. Nur ausruhen, dachte er, gleich lese ich weiter. Doris wird bald kommen, dann kann ich schlafen. Seit eineinhalb Jahren wohnten sie nun zusammen. Wollte oder konnte er nicht mehr ohne sie einschlafen?

Er schlug die Bettdecke zur Seite. Der Holzboden kühlte seine warmen Fußsohlen. Draußen in der Diele brannte kein Licht. Walde blieb an der angelehnten Tür von Annikas Zimmer stehen. Das Kind schlief ruhig, sein leiser Atem war nur zu erahnen.

Das Oberlicht zu Doris‘ Arbeitszimmer war dunkel. Seit kurzem arbeitete sie im Modeatelier einer ehemaligen Kommilitonin und brachte sich häufig Arbeit mit nach Hause.

Sein Fuß trat unvermittelt auf etwas Hartes. Walde unterdrückte einen Schmerzenslaut. Er bückte sich und zog einen Ring mit dicken Holzkugeln unter seinem Fuß hervor. Die Tür zum Wohnzimmer quietschte. Eine brennende Kerze flackerte auf dem Tisch. Walde warf Annikas Spielzeug in einen Sessel. Aus dem Augenwinkel nahm er vor dem Fenster eine Bewegung wahr.

Doris stand mit ausgebreiteten Armen auf dem überdachten Teil der Terrasse. Sie ließ die Arme herunter und breitete sie in einer runden Bewegung wieder aus. Der Kranich breitet seine Schwingen aus. So hieß diese Qigongübung. Während er auf die durch die Lichter der Stadt kontrastierte Silhouette der Libanonzeder hinter der Mauer des Gartens sah, ließ er sich in einen Sessel fallen und knallte mit dem Steißbein auf das Holzspielzeug.

»Du bist noch wach?« Doris schien sein Schnaufen von der Terrasse aus gehört zu haben.

»Ich hab auf dich gewartet.«

»Ich komm gleich.«

Der Regen fiel leise trommelnd auf die Überdachung. Aus dem Dunkel des Gartens löste sich ein Schatten. Mira glitt auf die Terrasse und setzte sich, mit dem Kopf nickend und die Schwanzspitze schlagend, neben Doris auf die Holzbretter.

Walde rappelte sich aus dem Sessel hoch. Doris mochte es nicht, wenn sie beim Qigong beobachtet wurde. Die Katze holte ihn in der Diele ein und rieb ihr nasses Fell an seinen Knöcheln. Er versuchte, ihr auszuweichen, ging dann aber doch in die Küche, um ein wenig Trockenfutter in den Katzennapf zu füllen.

Walde legte sich wieder ins Bett und schlug seine einstmalige Schullektüre beim Lesezeichen auf. Seine Augen suchten die Stelle, bis zu der er vorher gekommen war. Dabei tauchten ihm unbekannte Vokabeln auf, die er bereits nachgeschlagen und schon wieder vergessen hatte. Mit seinem Englisch, das er als freiwillige dritte Fremdsprache nicht einmal halbherzig gelernt hatte, würde es in der kurzen Zeit bis zum IPA-Treffen in Trier, zu der Kriminalisten aus halb Europa eingeladen waren, nichts mehr werden. Sein Vortrag wurde simultan übersetzt, aber im Übrigen war meist Englisch erforderlich, um sich mit den Kollegen zu verständigen. Er legte die kalt gewordene linke Hand zum Wärmen auf seinen Oberschenkel.

Dienstag

Nachdem Adams sich damit begnügt hatte, ihr mitzuteilen, dass sie vor dem Johannes-der-Täufer-Altar aus dem Jahr 1597 saßen und rechts von ihnen die Pilgerrampe aus dem 12. Jahrhundert schemenhaft zu erkennen sei, hatte der Domkapitular minutenlang reglos in der Bank gesessen.

Das Warten war für Edith das Schlimmste. Der riesige Kirchenraum entwickelte seine eigenen Geräusche. Kein normales Knacken, wie es manchmal die Holzbalken bei ihr zu Hause von sich gaben, nein, gerade hatte es dermaßen geknallt, dass sie glaubte, eine der Orgelpfeifen sei von hoch oben herabgestürzt. Dann hatte sie ganz deutlich Schritte gehört. Gab es hier Tiere? Deutlich größer als Kirchenmäuse mussten sie schon sein. Immer wieder hatte sie verstohlen zu ihrem Banknachbarn geschaut, der nicht einmal mit dem kleinsten Zucken reagierte. Am liebsten hätte sie ihn aufgefordert, sie auf der Stelle wieder hinauszubegleiten.

»Ich denke, wir können.« Ihr Auftraggeber erhob sich. Dankbar ergriff sie die Tasche und den Koffer und folgte ihm zur Treppe. Die Arbeit würde sie hoffentlich ablenken.

Das Scharren ihrer Schritte auf den Steinstufen wurde mit dumpfem Zischen aus dem schwarzen Raum beantwortet. Oben quietschte das Eisengitter. Ein kühler Hauch streifte ihren Scheitel. Sie beschleunigte ihre Schritte und schielte hinter sich. Dabei stieß der Aluminiumkoffer hart gegen eine Strebe des dünnen Eisengeländers.

»Alles in Ordnung?«

»Nix passiert.« Sie spürte die Unsicherheit in ihrer Stimme. »Warten Sie bitte.«

Adams verharrte, bis sie zu ihm aufgeschlossen hatte. »Entschuldigen Sie, erst lasse ich Sie allein die schweren Koffer schleppen und dann laufe ich Ihnen im dunklen Dom davon.«

»Kein Problem.« Nun hatte sie es zum dritten Mal gesagt. Wie Petrus, kam es ihr in den Sinn, der Jesus dreimal verleugnete, bevor der Hahn gekräht hatte.

Dem Aufschließen der Tür folgte das Aufflammen zahlreicher Lichter. Edith blinzelte in die Domschatzkammer. Von einer Säule in der Mitte des Raums zogen sich feine Gewölbe bis zu den Wänden des quadratischen Saals, wo die Exponate in den Vitrinen ihre Blicke anzogen. Kostbare Monstranzen, Kelche und Reliquienschreine, viele golden und mit Edelsteinen besetzt. Die Vitrinen in der Mitte des Raums waren höher als die übrigen.

Neben der Tür standen zwei schlichte Holzstühle. Auf dem ersten legte Edith den Koffer ab und klappte ihn auf. Kameragehäuse und Objektive waren von dickem Schaumstoff umhüllt. Während sie das 80mm auf die Mamiya schraubte und einen Ektachrome-Rollfilm einlegte, stellte Adams den Koffer mit den Lampen neben den Stuhl auf den gefliesten Boden.

»Ich brauche die Bilder bis morgen früh, und zwar digital.« Der Ton des Professors klang bestimmt. Als Dombaumeister war er gleichzeitig für alle Liegenschaften des Bistums zuständig. Das waren mehrere Tausend Bauten, dementsprechend viele Aufträge für Renovierung und Instandhaltung hatte er zu verantworten. Edith hatte den Professor kennen gelernt, als die Zeitung, für die sie früher arbeitete, einen Bericht zu seinem Sechzigsten gebracht hatte. Sie hatte ihn damals in seinem wunderschönen Kuriengarten fotografiert.

»Klar.« Fast wäre ihr zum vierten Mal ‚kein Problem’ herausgerutscht. »Die hab ich nur zur Sicherheit dabei. Notfalls kann ich die Dias gleich anschließend entwickeln.«

Bei der Zeitung hatte sie hauptsächlich im Fotolabor und in der Repro gearbeitet. Irgendwann war das Labor überflüssig geworden. Kurze Zeit nach der Kündigung wurde sie schwanger, und als ihr Sohn den Kindergarten besuchte, hatte sie ein eigenes Studio für Porträtfotos eröffnet. Einer ihrer ersten Kunden war der Professor gewesen, der ein neues Autorenfoto für seine Publikationen benötigte.

»Aber die Dias müssen noch digitalisiert werden.« Adams baute mit wenigen Handgriffen das Stativ auf.

»Selbstverständlich kann ich die auch einscannen.« Sie steckte ihr Lieblingsobjektiv, ein lichtstarkes 1,4er mit 50er Brennweite auf die Nikon D2X. Die war schweineteuer gewesen, aber sie konnte wenigstens die alten Objektive weiterverwenden. Sie nahm die Lampen aus dem zweiten Koffer.

Hinter ihr wurde ein Schloss aufgesperrt, dann ein zweites.

Sie schritt an den beiden geöffneten Vitrinen entlang. Sie spürte den Sog, den die wertvollen Malereien auf den Blättern auf sie ausübten, aber sie konzentrierte sich auf ihren Job. Die Ausstellung würde sie sich ab Donnerstag in Ruhe anschauen können. Nicht von ungefähr hatte die Unesco den Egbert-Codex in das Register ‚Memory of the World’ aufgenommen.

»Reicht die Glasfaser-Beleuchtung?«

Sie zuckte die Achseln. Vermutlich handelte es sich um eine besonders schonende Methode, die lichtempfindlichen Exponate zu präsentieren.

»So kann ich unmöglich fotografieren.«

Draußen schepperte es heftig. Auch der Domkapitular schien für einen Moment irritiert.

»Am Einfachsten wäre es gewesen, wenn ich die Seiten in meinem Studio hätte einscannen können«, sagte sie.

»Da ist leider nicht dran zu denken. Zum einen aus versicherungsrechtlichen Gründen, und zum anderen haben wir den Codex von der Stadtbibliothek ausgeliehen.« Adams fuhr sich an die Stirn. Er trug nun feine Handschuhe in der Farbe seines Pullovers. »Nicht auszudenken, wenn es zu einer Beschädigung käme.«

Sie deutete auf eine Staffelei, auf der ein aufgeschlagenes Faksimile des Codex lag. »Können wir das Buch wegnehmen und die Seiten darauf stellen?«

»Das habe ich befürchtet.« Er trat an die Staffelei und schlug das Buch auf. »Das ist ein sehr gelungenes Faksimile. Hier die Anbetung des Jesuskindes durch die Heiligen Drei Könige, ein wirklich unübertroffener Höhepunkt der Buchmalerei, tausend Jahre alt, die Farbnuancen, die Eintönung des Goldes, das Relief seiner Ziselierung, alles wunderbar wiedergegeben. Im Gegensatz zu diesem hier.« Er zog das Bündel Papier aus der Innentasche seiner Jacke und rollte es auf. Zum Vorschein kam das gleiche Bild.

Edith zog ihre Jacke aus und legte sie auf eine der Vitrinen. Sie beugte sich über das Bild und sah die eklatanten Farbunterschiede. »Was ist passiert?«

»Bei drei Bildern sind versehentlich Dateien von nicht farbangepassten Aufnahmen in den Katalog geraten. Ich habe heute bei der Druckabnahme die Maschinen stoppen lassen.«

»Konnten die Drucker die Farben nicht angleichen?«

»Da war nichts zu machen.«

»Und wo sind die richtigen Daten? Zum Beispiel diejenigen, die man hierfür verwendet hat?« Sie deutete auf das Faksimile.

»Das weiß der Himmel.« Der Professor breitete theatralisch die Hände aus. »Irgendwo zwischen der Schweiz und Deutschland unterwegs. Morgen muss der Rest gedruckt und am Mittwoch gebunden werden, damit der Ausstellungskatalog pünktlich zur Eröffnung am Donnerstag vorliegt.«

»Und wenn Sie den hier nähmen?« Edith hob das Buch an.

»Vorsicht bitte, davon gibt es gerade mal zweihundert Stück zum Einzelpreis von knapp siebentausend Euro.«

Sie seufzte. Dann musste sie eben versuchen, mit den nicht unbedingt dafür geeigneten Mitteln das beste Ergebnis zu erzielen.

Sie brachte die Staffelei auf eine niedrigere Höhe, richtete die mit Filtern gedämpften Scheinwerfer darauf und positionierte das Stativ mit der Kamera so, dass sie weitgehend gerade Kanten im Sucher registrierte.

Adams balancierte das erste Blatt vorsichtiger als ein rohes Ei aus der Vitrine auf die Staffelei und blieb mit ausgestreckter, behandschuhter Hand daneben stehen, bereit, sofort einzugreifen, falls es drohte, hinunterzufallen.

Im ersten Bild wurde die Grablegung dargestellt. Bei Licht wollte Edith verschiedene Varianten ausprobieren. Die Schärfe orientierte sich an dem Wort Hortus im Bildmittelpunkt. Gerade als sie den Zeitauslöser betätigte, wurde die Buchseite von der Staffelei gehoben.

»Moment, ich bin noch nicht fertig!«, rief sie dem Professor zu. Der hielt die Malerei fast achtlos in der Hand, den Arm nach unten gestreckt, als wolle er das Bild verbergen. Sein entsetzter Blick ging an ihr vorbei, bis er an einem Punkt irgendwo hinter ihr haften blieb. Sein Mund war leicht geöffnet. Sie drehte den Kopf. Zwei Mönche standen in der Tür. Ihre weiten Kapuzen verdeckten die Gesichter. Nur die Kinnpartien waren zu erkennen.

Als er die Badezimmertür hörte, markierte Walde die Seite im Buch und löschte das Licht. Doris hatte sich im Bad ausgezogen und schlüpfte ins Bett. Er schob sich an ihren Rücken und legte einen Arm um sie. Ihr Haar duftete nach Äpfeln.

»Bist du nervös wegen dem Vortrag?«, flüsterte sie und rückte ihm entgegen.

Beim Nicken streifte seine Stirn ihren Nacken.

»Konntest du was mit The Catcher in the Rye anfangen?«

Beim Kopfschütteln rieb seine Nase ihren Nacken.

»Hat’s dir die Sprache verschlagen?« Sie kuschelte sich noch näher an ihn. Wieder rieb seine Nase eine Antwort auf ihren Nacken.

»Du möchtest deine Stimme schonen?«

Seine Stirn streifte an ihrem Nacken auf und ab.

»Möchtest du sonst noch etwas schonen?«

Seine Nase verneinte.

»Zu was bist du denn noch in der Lage?«

Mit dem Zeigefinger schrieb er drei Buchstaben und ein Fragezeichen dahinter auf ihren Bauch.

»Hexe?«

Mit der flachen Hand wischte er das Wort aus und drehte sich seufzend um. Sie glitt an ihn heran.

»War noch was?«, murmelte er.

Sie rieb ihre Stirn an seinem Nacken auf und ab.

»Hast du mich wirklich falsch verstanden?«

Sie kicherte, als ihre Nase die Antwort gab.

Der Revolver, der aus dem weiten Ärmel der Kutte auf sie gerichtet wurde, war riesig. Ediths Gedanken waren schnell und klar. Sie hob die Hände über den Kopf. Der Domkapitular streckte bereits die Buchseite in die Höhe.

Nichts ist schlimmer als die Angst davor, was geschehen wird. Das hatte sie einmal gelesen – und es stimmte. Unten, im Dom, hatte sie befürchtet, dass jemand aus dem Dunkel auftauchte. Hier oben war es geschehen. Aber trotz ihres hämmernden Herzschlags konnte sie noch logisch denken. Dieses Ding mit den zwei Läufen war kein Revolver. Es war auch kein Gewehr, sondern eine Schrotwaffe.

Der wird nicht schießen. Es gab keinen Grund, sie zu töten. Außerdem würde die Streuung der Waffe die Kunstwerke aus den offenen Vitrinen beschädigen. Und deswegen waren die ja hier. Oder?

Andererseits würde ein Schuss eine Vielzahl kleinster Schrotkugeln freisetzen, die, falls sie mit dem Leben davonkam, ihr Gesicht und ihren Körper grausam entstellen würden. Weiter kamen ihre Gedanken nicht.

»Boden!«

Sie versuchte, das Alter des Mannes nach seiner Stimme einzuschätzen. Es fiel ihr schwer. Zwischen zwanzig und dreißig vielleicht. Es klang ein Akzent an, den sie nicht einordnen konnte.

Die Steinfliesen unter ihren Handflächen fühlten sich angenehm kühl an. Bevor sie ihre Wange auf die glatte Oberfläche legte, schlug sie ihr Haar zurück. Sie wünschte sich nichts sehnlicher, als ihre Augen zu schließen und erst dann wieder zu öffnen, wenn das Ganze hier vorbei war. Je weniger sie mitbekam, umso weniger Grund gab sie den Männern, sie als Gefahr anzusehen.

»Los!«

Das schwere Tuch einer Kutte glitt an ihrer Wade entlang. Sie riss die Augen wieder auf. Einer der Männer stieß den Professor an eine Vitrine und tastete ihn ab. Dabei ging er nicht zimperlich mit Adams um. Edith presste erneut die Augenlider zusammen.

»Taschen leeren!« Das doppelte E klang wie ein Ä. Ob der Mann den Akzent nur vortäuschte?

Es folgte ein metallisches Klirren, wahrscheinlich Schlüssel, die auf einer Glasplatte abgelegt wurden. Dann war wieder das Abklopfen der Kleidung des Professors und leises Stöhnen zu hören.

»Ich habe komplett gesagt!« Es folgte ein lauteres Klopfen, bei dem der alte Mann augenblicklich aufschrie.

»Da ist noch was!«

Wieder wurde etwas auf Glas gelegt, etwas zaghafter als zuvor.

»Wozu gehört der?«

Keine Antwort.

Edith spürte, wie sich das Pochen ihres Herzschlags über die Fliesen bis zu ihrem Ohr fortsetzte.

Es folgte ein dumpfer Schlag und ein weiterer Schmerzenslaut.

»Okay.« Mit lang gedehnter zweiten Silbe sprach eine ruhige Stimme vom Eingang her. Sie gehörte eindeutig einem Mann, der älter als fünfzig, vielleicht sogar über sechzig war.

»Beine auseinander!« Ihr linker Schuh wurde hart getroffen. Dabei rutschte ihr ausgestrecktes Bein über den Boden.