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Fünfter Roman der Mosel-Krimireihe. Eigentlich hat Kommissar Walde Urlaub. Doch der Mord an einer Studentin macht ihm einen Strich durch seine persönlichen Planungen. Sie war die Freundin eines windigen Immobilienhais und die Tochter eines angesehenen Trierer Richters, der bald darauf in einen Justizskandal verwickelt wird. Die Story beruht in weiten Teilen auf wahren Begebenheiten.
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Seitenzahl: 267
Verlag Michael Weyand
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Mischa Martini
INKASSO MOSEL
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Personen und Handlungen sind frei erfunden.
Ähnlichkeiten mit Verhaltensweisen von Menschen an der Mosel und anderswo sind zufällig, mitunter unvermeidlich
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© Verlag Michael Weyand Gmbh, Friedlandstr. 4,
54293 Trier, www.weyand.de, [email protected]
Alle Rechte vorbehalten. Kein Teil des Werkes darf in irgendeiner Form ohne schriftliche Genehmigung des Verlags reproduziert oder unter Verwendung elektronischer Systeme verarbeitet, vervielfältigt oder verbreitet werden
Ein besonderer Dank an Birgit Weyand, Gabriele Belker, Marie Therese Frigerio, Hans-Joachim Kann und Matthias Lazzaro für Lektorat und wertvolle Anregungen.
Satz: Verlag Michael Weyand GmbH, Trier
Druck und Bindung: Clausen & Bosse, Leck
Titelentwurf: Bob, Trier
ISBN 978-3-942 429-45-0
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Birgit, Anna Lena und Theresa gewidmet
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Es ist der Kunstgattung des ‚Kriminalromans mit Lokalkolorit‘ wesensimmanent, dass es gewisse Übereinstimmungen mit der Realität gibt. Machte man nun die Veröffentlichung und Verbreitung des Romans davon abhängig, dass keinerlei Übereinstimmung mit realen Orten und Persönlichkeiten erkennbar bleibt, nähme man
der hier vorliegenden Kunstgattung gerade ihr prägendes, wesenseigene Merkmal.
Aus einer Urteilsbegründung des Landgerichts Münster
(AZ 12 0 601/02)
Mittwoch, 20. November
Walde stand auf der Leiter und trug mit einem Pinsel Farbe rund um das Kabel der von der hohen Zimmerdecke herabhängenden Glühbirne auf. Sein Nacken schmerzte. Unpassende Töne mischten sich in die Musik, die von den leeren Wänden widerhallte. Er lauschte. Da waren sie wieder. Sein Telefon läutete. Beim Hinabsteigen hielt er sich mit einer Hand an der Leiter fest, mit der anderen balancierte er eine Plastikschale, auf der ein Pinsel hin und her rollte.
Das Klingeln kam aus dem Kleiderbündel in der Ecke. Ein Stück Zeitungspapier blieb unter seinem Turnschuh haften. Er versuchte, mit dem anderen Fuß darauf tretend, sich davon zu befreien. Beide Hände waren mit Farbe beschmiert. Es klingelte zum vierten Mal. Walde eilte zur Leiter zurück und nahm den Lappen von der obersten Sprosse.
»Ja, ja, ich komme schon!«
Auf dem Weg zurück pappte wieder das Blatt unter seiner Sohle. Mit dem Ellenbogen schob er den Lautstärkeregler des Rekorders auf Null. Es klingelte zum sechsten Mal. Walde hielt vor dem Kleiderbündel inne. Hatte der Anrufer aufgelegt? Es läutete zum siebten Mal. Mit spitzen Fingern zog er das Handy aus der Hosentasche.
»Ja? Bock?«
»Wo sind Sie denn?«, die weibliche Stimme klang unfreundlich.
»In Afrika, es ist hier mitten in der Nacht«, sagte Walde, der die Stimme der Sekretärin des Polizeipräsidenten erkannt hatte.
»Was machen Sie denn in Afrika?«
»Safari, Tiger jagen, was man im Urlaub halt so macht.«
Am anderen Ende war Stille.
Walde sah sich in dem kahlen Raum um. Die Ränder der grauen Raufasertapete waren über den Fußleisten und an den Kanten zur Decke himmelblau gestrichen. Er hatte das Gefühl, als befände er sich im Inneren eines riesigen mit einer blauen Schleife umwickelten Pakets.
»Ich dachte«, die weibliche Stimme klang unsicher, »Sie würden nicht wegfahren, wegen des… ich mach’ dann mal besser Schluss, sonst wird das zu teuer, schönen Urlaub noch und entschuldigen Sie.«
Das Telefon hatte einen blauen Fleck. An der Hose oben auf dem Kleiderbündel klebte ebenfalls Farbe.
»Mist«, fluchte Walde. Er legte das Handy auf ein sauberes Zeitungsblatt.
ERMITTLUNGEN IM FALL DES MOSELMÖRDERS EINGESTELLT. Die dicken Lettern sprangen ihn an. Der Artikel war mit einem Archivfoto bebildert, das Walde bei der Pressekonferenz nach der Festnahme des selbst ernannten Racheengels Ströbele vor mehr als einem halben Jahr zeigte.
»Da hast du noch fünf Jahre jünger ausgesehen.«
Walde zuckte zusammen.
»Ich kann mich immer noch nicht an deine neue Frisur gewöhnen.«
Walde drehte sich um. Uli, im farbverschmierten Blaumann, stand dicht hinter ihm und schaute ihm über die Schulter. »Die Tür war offen.« Er stellte eine große Kühltasche mit Coca-Cola-Aufdruck ab. Uli hatte nach Jahrzehnten in der örtlichen Tageszeitung aus Frust darüber, nicht als Nachfolger des in den Ruhestand gehenden Chefredakteurs berücksichtigt worden zu sein, den Kram hingeworfen und damit auch gleichzeitig seiner Ehe den Rest gegeben. Nun betrieb er am Hauptmarkt ein Bistro mit dem passenden Namen ‚Gerüchteküche‘, gab unregelmäßig ein ‚Extrablatt‘ heraus, das vornehmlich Themen behandelte, die seiner alten Tageszeitung zu heiß waren, hatte eine neue Freundin und regelmäßige Kontakte zur alten Familie.
»Die Haustür war offen?«, fragte Walde.
»Deine Nachbarin von oben war so freundlich, mich ins Haus zu lassen. Dafür hab’ ich ihre Einkäufe nach oben getragen.«
»Die Frau ist noch keine dreißig!«
»Na und?«
»Ich hoffe, dass sich deine Tatkraft für heute nicht in Jungen-Damen-die-Taschen-Schleppen erschöpft hat!«
Uli stellte eine weitere Kühltasche neben das Kleiderbündel: »Hier ist auch noch was Gutes drin. Aber vor das Vergnügen hat Gott die Arbeit gesetzt.«
Wieder klingelte das Telefon.
»Ja? Bock?«
»Herr Bock?«, fragte eine Stimme, die Walde gleich Polizeipräsident Stiermann zuordnete.
»Ja?« Walde wünschte sich, schlagfertiger zu sein, aber ihm fiel nichts ein, um das Gespräch blitzschnell beenden zu können.
»Ich mach’ das wirklich sehr ungern, Sie im Urlaub zu behelligen, aber wir brauchen Sie hier.«
Die Idee kam Walde zu spät. Er hätte behaupten können, sich im Kreißsaal bei der Geburt seines ersten Kindes zu befinden. Aber die Wahrheit schien ihm Entschuldigungsgrund genug: »Ich stecke voll in der Renovierung meiner neuen Wohnung. Ende nächster Woche ist Umzugstermin, wir haben zwei Wohnungen zu räumen, und hier ist noch eine Menge zu tun. In spätestens drei Wochen kommt unser Nachwuchs. Ich kann beim besten Willen nicht kommen.«
»Es ist ein Notfall, Herr Bock, sonst würde ich ganz bestimmt...«
Walde streckte den Arm mit dem Telefon aus und schnaubte. Für einen Moment hätte er es am liebsten in den vollen Farbeimer gepfeffert, den Uli gerade mit einem scheppernden Plopp öffnete. Er atmete tief durch und hielt das Handy wieder ans Ohr.
»Herr Bock? Hallo?«
»Ja, Herr Stiermann.«
»Ich dachte, Sie hätten… Sei‘s drum. Wie ist es nun, können Sie sich loseisen?«
Eine Orgelsequenz schallte aus der Diele. Die Wohnungsklingel, ein Überbleibsel der Vormieter, spielte von einem Zufallsgenerator ausgewählte Melodien ab. Der letzte Mieter war Intendant am Stadttheater und künstlerischer Leiter der Antikenfestspiele gewesen.
Mit den Augen bedeutete Walde Uli, die Tür zu öffnen. Als sein Freund den Raum verlassen hatte, sagte er ins Telefon: »Ich bin in zehn Minuten da.«
Walde streifte den Papieroverall ab und stieg in seine Jeans. Oberhalb der rechten Hosentasche entdeckte er einen blauen Klecks. Als er ihn prüfend mit einem Finger berührte, blieb frische Farbe daran haften. Vergeblich versuchte er, den Fleck mit einem Zeitungsschnipsel abzutupfen. Aus der Diele hörte er den unsanften Aufprall von etwas Metallischem auf das Parkett und den Bass seines Freundes Jo.
Kurz darauf wurde die Klinke kraftvoll nach unten gerissen und Jos massiger Körper füllte den Türrahmen. Dr. Joachim Ganz, von seinen Freunden Jo genannt, war bereits seit Schulzeiten Waldes Freund. Sie hatten auch während der räumlich getrennten Studienzeit stets Kontakt gehalten. Jo führte den Titel Kommissar für Reblausbekämpfung, ein Überbleibsel aus der Zeit um 1900, als eine große Reblausplage den gesamten Weinbestand der Mosel bedrohte und eine behördliche Stelle zur Bekämpfung des kleinen Schmarotzers eingerichtet werden musste. Ein altes Messingschild mit dem Titel zierte immer noch den Eingang seiner Abteilung bei der Land- und Weinbaubehörde.
»Wie, ich dachte, es gäbe viel zu tun?«, fragte Jo verdutzt, als er den sich ankleidenden Walde sah. Hinter ihm lugte sein Sohn Philipp, in Körperumfang seinem Vater sehr ähnlich, herein.
»Stimmt, aber ich muss kurz weg.«
Walde führte Uli, Jo und Philipp durch die Wohnung und zeigte ihnen, welche Arbeiten anstanden: »Raufaser soll an die Wände von Wohnzimmer, Arbeitszimmer, Musikzimmer und Küche.«
»Was ist mit der Tapete, die noch dran ist?«, fragte Jo.
»Die muss natürlich ab.«
»Das mach’ ich«, meldete sich Philipp.
»Du weißt nicht, worauf du dich da einlässt«, sagte sein Vater.
»Im Bad müssen Armaturen gewechselt und eine neue Duschkabine angebracht werden. Priorität hat das Kinderzimmer, dann Bad, Küche und Schlafzimmer.« Walde warf den Papieroverall auf seine Werkzeugkiste. »Bis später.«
An der Tür blieb er stehen: »Falls Doris fragen sollte, ich bin zum Baumarkt.«
»Wohin sonst, du hast ja schließlich Urlaub«, grinste Jo.
Vor der Tür schaute Walde zum ersten Mal an diesem Tag zum Himmel. Obwohl bereits früher Nachmittag war, hing noch Nebel über der Stadt. Es war einer dieser Tage, an denen er froh war, etwas zu tun zu haben, um nicht auf trübsinnige Gedanken zu kommen. In der Zuckerbergstraße bemerkte Walde, dass er auf dem Weg zum alten Präsidium war. Die Macht der Gewohnheit. Er bog in die Johannisstraße ab und von dort in die Frauenstraße. Im vollgeparkten Hof des neuen Präsidiums war kein Platz für seinen sperrigen Volvo. Er rangierte den Wagen rückwärts aus dem Hof und parkte im Halteverbot neben dem Seitenflügel des Präsidiums. Bevor er ausstieg, suchte er nach einer Visitenkarte. Er fand einen alten Parkschein, kritzelte auf die Rückseite seine Telefonnummer und legte ihn hinter das Lenkrad aufs Armaturenbrett.
Das Gebäude wirkte ausgestorben. Ohne jemandem im Treppenhaus und im Flur des ersten Stocks zu begegnen, gelangte er zum Büro des Präsidenten. Im Vorzimmer wurde er gleich durchgeschleust.
»Herr Bock, wie geht‘s?« Stiermann war aufgestanden und kam ihm mit ausgestreckter Hand entgegen. Er trug wie immer Cowboystiefel zum Anzug.
»Danke«, Walde erwiderte den kräftigen Händedruck. »Und selbst?«
»Kommen wir gleich zur Sache«, der Polizeipräsident deutete auf eine Sitzgruppe, wo Tassen und eine Schale mit Gebäck auf einem kleinen Tisch standen. Er schenkte Kaffee ein.
Walde schob sich ein Plätzchen in den Mund. Als ihm bewusst wurde, dass er seit dem Frühstück nichts mehr gegessen hatte, schob er gleich das nächste hinterher.
»Schmeckt‘s?«
Walde nickte mit vollem Mund.
»Weihnachtsplätzchen schmecken lange vor dem Fest am besten. Hat meine Tochter gebacken.«
Walde steckte sich ein Vanillekipferl in den Mund und trank einen Schluck Kaffee.
»Leider ist das die traurige Überleitung zu der Geschichte, weswegen ich Sie gebeten habe, herzukommen.« Stiermann verharrte einige Sekunden mit ernstem Blick. »Meine Tochter ist etwa so alt wie Hanna. Nicht auszudenken... Ich kann den Schmerz der Familie Harras nachempfinden.«
Als Walde nichts sagte, fuhr sein Chef fort: »Sie wurde heute Morgen in ihrer Wohnung tot aufgefunden. Die Spurensicherung ist bereits vor Ort.«
Walde versuchte, die Informationen zu sortieren: »Es ist also nicht Ihre Tochter, sondern…«
»Hanna Harras, die Tochter von Richter Dr. Winfried Harras.«
»Ich verstehe nicht ganz, warum ich herkommen sollte. Gabi und Grabbe können…«
»Grabbe ist seit gestern krank gemeldet, und…«, Stiermann zögerte. »Ich sage es Ihnen, wie es ist. Ich halte es für das Beste, wenn Sie dabei sind. Zumindest, was die Gespräche mit Herrn Dr. Harras angehen. Er ist Witwer und soviel ich weiß war Hanna sein einziges Kind. Ich hätte mich persönlich darum gekümmert, aber ich müsste schon längst nach Kaiserslautern unterwegs sein. Der amerikanische Botschafter hat sich zu einem Besuch in Rheinland-Pfalz angesagt.« In Stiermanns Stimme klang Stolz mit. »Und ich bin dort eingeladen in meiner Eigenschaft als Präsident der Deutsch-Amerikanischen-Gesellschaft.« Der Chef sah Walde an: »Wie ist es, können Sie mir helfen?«
»Was ist mit Gabi?«
»Ihre Kollegin hat manchmal eine nicht so sensible... «, Stiermann stockte. »Sie hat noch nicht die Erfahrung.«
»Harras, Richter am Landgericht. Habe ich das recht verstanden?«
Stiermann nickte: »Ich erwarte von Ihnen das nötige Fingerspitzengefühl.«
Walde schoss ein Gedanke durch den Kopf: »Dann lassen Sie sich aber bis zu meinem Erziehungsurlaub etwas einfallen.«
Stiermann hielt in der Trinkbewegung inne und sabberte Kaffee auf die Untertasse: »Davon wusste ich noch gar nichts.«
Walde fuhr die Kohlenstraße hinauf. Je höher er kam, umso dichter wurde der Nebel. Als rechts die ersten Studentenwohnheime des Universitätsgeländes schemenhaft auftauchten, bog Walde nach links in den Weidengraben ab. Dabei kippte ein Bündel alter Zeitungen um, der im hinteren Teil des Wagens lag. Vor einem der Wohnblocks stand die ihm vertraute Wagenflotte, die üblicherweise bei solchen Anlässen zum Einsatz kam.
Den Namen Harras fand er weiter unten auf der großen Klingeltafel. Die Haustür stand offen. Die Fliesen im Flur waren sauber, keine Graffiti an den Wänden. Walde lauschte. Er hörte das leise Surren des Fahrstuhls. In dem breiten Korridor des zweiten Stock-werks hingen gerahmte Zeichnungen mit Stadtmotiven an den Wänden. Neben einigen Wohnungstüren standen Pflanzen, teils auf winzigen Holztischen mit kleinen Perserteppichen darunter. Walde erinnerte sich an die mit besticktem Brokat bezogenen Sofakissen und den farblich darauf abgestimmten Telefonbezug von Tante Martha. Gerade wollte er zurück in den Fahrstuhl, als sich eine Wohnungstür öffnete und ein Kollege von der Spurensicherung herauskam. Er grüßte Walde und hielt ihm die Tür auf. In der Diele sah Walde durch die offenen Türen, dass in allen Räumen emsige Betriebsamkeit herrschte. Er folgte dem Klang von Gabis Stimme, die kurze Anweisungen gab. In der Küche fand er seine Kollegin mit einem Gerichtsmediziner und dem Fotografen vom Erkennungsdienst. Eine weitere Person nahm seine ganze Aufmerksamkeit in Anspruch. Im grellen Licht von zwei Fotolampen lag eine nur mit Slip und kurzem T-Shirt bekleidete junge Frau auf dem Fußboden. Sie lag bäuchlings, einen Arm und die obere Hälfte eines angezogenen Beines von ihrem Rumpf verdeckt, das andere Bein gerade, den sichtbaren Arm parallel zur Schulter weggestreckt. Der seitlich auf den Fliesen liegende Kopf war fast gänzlich von Haaren verhüllt. Ein geöffnetes Auge starrte zwischen den blonden Strähnen ins Nichts. Walde atmete tief durch.
»Bevor wir sie umdrehen, knips sie bitte noch von dort hinten.« Gabi wies mit dem Zeigefinger.
»Nur für den korrekten Sprachgebrauch, ich bin Fotograf und kein Knipser.« Der Mann stellte das Stativ mit der Kamera an die von Gabi gewünschte Stelle.
»Ach, hallo, Walde, komm‘ ruhig näher, die Spurensicherung ist hier schon fertig«, empfing Gabi ihren Kollegen.
Walde ging im Bogen um den Körper herum, drückte dem Gerichtspathologen Dr. Hoffmann die wie erwartet eiskalte Hand und nickte seinem Kollegen mit der Kamera zu.
»Was ist das?« Walde deutete auf die Flüssigkeit, die sich unter der Toten angesammelt hatte und an den Rändern bereits eingetrocknet war.
»Ich hab‘s noch nicht probiert, tippe mal auf Urin.« Walter Hoffmann nahm eine Banane aus seinem Parka und begann sie sorgfältig zu schälen.
Auf der Spüle stand benutztes Geschirr: Besteck, zwei Teller und zwei Weingläser. Walde strich mit der Hand über die kühle, schwarz glänzende Oberfläche der Arbeitsplatte und das Holz der Schränke.
»Kirschbaum«, bemerkte Gabi, »schwarzer Marmor, Küche von Boffi. Der Rest der Wohnung ist auch nicht übel. Vier Zimmer, 100 Quadratmeter. Ganz beachtlich für eine Studentenbude.«
»Ich bin soweit.« Der Fotograf schraubte die Kamera vom Stativ.
»Okay, dann können wir.« Gabi zog die Hosenbeine ihres Papieroveralls hoch und hockte sich in Höhe der Schultern neben die Tote. Ihre sehnigen Waden spannten sich über den hochhackigen Pumps. Hoffmann ging in Hüfthöhe des Opfers in die Knie, wobei er seinen rechten Schuh in den Urin stellte. Ungerührt biss er noch einmal ab, schob die halb gegessene Banane in die linke Hand und packte mit der rechten zu.
»Ich zähle bis drei, Gabi. Eins, zwo, drrrei.« Hoffmann und Gabi rollten den Körper auf den Rücken. Keines der Glieder veränderte seine Position. Der vorher nicht zu sehende Arm und das angewinkelte Bein blieben in ihrer Position, als sei die Frau in einer ungewöhnlichen Gymnastik erstarrt.
»Keine sechzig Kilo«, Hoffmann betrachtete den Körper und schob sich den Rest der Banane in den Mund. Dann verharrte er einen Moment unschlüssig mit der Schale in der Hand und steckte sie in die Jackentasche. Aus einer weiteren Tasche beförderte er Handschuhe und ein Diktiergerät.
»Könnte ich mehr Licht auf diese Seite haben?«, sagte er zu dem Fotografen, streifte sich die Handschuhe über und sprach in das Gerät.
»20. November, 15 Uhr 20, Auffindungsort, Harras…« Er schaltete das Gerät ab und fragte: »Wie war der Vorname?«
»Hanna.«
»Hanna Harras…«, fuhr der Pathologe fort.
»22 Jahre«, ergänzte Gabi.
»22 Jahre«, wiederholte Hoffmann in das Diktiergerät. Er hielt sich schützend eine Hand über die Augen, als der Fotograf die Lampen neu ausrichtete. »Rektaltemperatur folgt.« Hoffmann stand auf, ging um die Tote herum und kniete sich auf den trockenen Fußboden auf der anderen Seite. Er packte das Kinn, der ganze Kopf folgte dem Zug seiner Hand. Er berührte die Finger und dann den Ellenbogen.
»Leichenstarre in vollständiger Ausbildung«, fuhr er fort. Er schob das T-Shirt hoch und drückte auf einen kirschroten Fleck zwischen den Brüsten. »Totenflecke voll ausgebildet, noch wegdrückbar.«
Hoffmann betastete den Arm: »Verdacht auf komplette Fraktur des linken Unterarms, Hämatome und Stranguliermale an den Handgelenken. Hämatome im Bereich der unteren Wirbelsäule; Schnittwunde unter der Fingerbeere D5 links.« Er tastete den Oberkörper bis zum Kopf ab: »Verdacht auf Rippenserienfraktur im Bereich des oberen Rippenbogens; Hämatome und Stranguliermale im zentralen Halsbereich; Prellmarke an der rechten Schläfe.« Dann befühlte er den Nacken, schloss die Augen und wiederholte die Untersuchung: »Verdacht auf Fraktur Halswirbelkörper fünf bis sieben.« Er schaltete das Gerät ab und steckte es in seine Jackentasche.
Dr. Hoffmann erhob sich umständlich und bog mit schmerzverzerrtem Gesicht den Rücken ins Hohlkreuz, die Hände in die Hüften gestemmt.
»Woran ist sie gestorben?«, fragte Gabi.
»Möglicherweise an den gebrochenen Halswirbeln, weiteres wird die Obduktion bringen. Der Todeszeitpunkt liegt etwa 15 Stunden und mehr zurück, das kann ich dir sagen, wenn die genaue Rektaltemperatur vorliegt. Todesursache…«, Hoffmann schmunzelte, »da ist die Kripo gefragt. That‘s your turn.«
»Schöne Scheiße«, murmelte Gabi.
»Apropos schön, wenn ich mir die Bemerkung erlauben darf, das Mädchen muss gestern noch sehr gut ausgesehen haben. Ich hab’ da einen Blick für, egal, wie sie jetzt zugerichtet ist.«
Der Fotograf schoss weitere Fotos, Dr. Hoffmann reichte Gabi und Walde seine unverändert kalte Hand: »Ich erwarte die Dame bei mir in der Pathologie.«
»Ich schätze, sie wird dir in der nächsten halben Stunde gebracht werden«, sagte Gabi.
»Ihr duzt euch?«, fragte Walde, als Hoffmann zur Tür hinaus war.
»Wir kennen uns schon länger.« Gabi fingerte am Reißverschluss ihres Overalls. »Kannst du mir bitte helfen?«
Walde trat hinter sie und zog den Reißverschluss auf. Sie blieb einen Moment unbewegt stehen.
»Soll ich dir weiter beim Ausziehen helfen oder worauf wartest du?«
Gabi schüttelte den Kopf: »Dafür ist jetzt wirklich nicht der richtige Zeitpunkt, Walde. Vielleicht komme ich später auf dein Angebot zurück.«
»Woher kennst du Hoffmann?«
»Sehe ich da Eifersucht in deinen Augen blitzen?« Gabi streifte den Anzug über die Arme.
Walde verdrehte die Augen. Nachdem sein Kollege Harry vor etwa einem Jahr bei der Festnahme eines Schwerkriminellen einen komplizierten Beinbruch erlitten hatte, war Gabi von der Sitte zur Mordkommission gewechselt. Da Harry trotz Operationen und Rehabilitationsbemühungen noch immer nicht einsatzfähig war, würde Gabi dem Team noch eine Zeitlang erhalten bleiben. Nach anfänglichen Irritationen kam Walde inzwischen recht gut mit ihr aus. Allerdings wartete er vergeblich darauf, dass Gabi ihre burschikose und provozierende Art, die sie offensichtlich von der Sitte her gewohnt war, ablegen würde.
»Wir kennen uns von amnesty international.«
»Du bist bei amnesty?«, fragte Walde überrascht.
»Nicht mehr wirklich, nur noch inaktiv, ich zahle Mitgliedsbeitrag und setze ihn von den Steuern ab.«
»Und wie bist du dahin gekommen?«
»Bei einer Altneunundsechzigerin blieb das nicht aus.«
»Neunundsechzig? Verwechselst du da nicht was?«
»Ich glaube, was Sexpraktiken angeht, brauche ich nach fünf Jahren Sitte keine Nachhilfe mehr«, antwortete Gabi und knallte Walde den Arm auf die Schulter, um sich den Anzug im Stehen über ein Bein zu streifen.
»Verwechselst du das nicht mit den Achtundsechzigern?«
»Die Achtundsechziger Revolte kam in Trier erst ein Jahr später an, wie vieles andere im Laufe der Geschichte auch, zum Beispiel die Miniröcke, das Heroin, Aids, Internet, Handys, die Rezession…«
»... wer hat sie gefunden?« Walde schaute auf seine Uhr. Die Zeit lief ihm davon. Es gab noch sehr viel in der neuen Wohnung zu tun.
»Ein Nachbar, dem sie versprochen hatte, die Wohnung zu hüten. Er wollte heute Morgen verreisen. Hanna galt als zuverlässig. Außerdem stand ihr Auto vor der Tür und sie hatte nicht Klavier gespielt, was sie immer morgens tat, weil sie mit den Nachbarn ein Abkommen getroffen hatte, nur vormittags zu spielen. Er hat gegen elf Uhr die Polizei gerufen. Und die den Notarzt, aber da war längst nichts mehr zu machen.« Gabi ging in die Diele, Walde folgte ihr. In den übrigen Zimmern wurde noch gearbeitet.
»Da, schau mal ins Wohnzimmer«, forderte sie ihn auf.
»Hallo«, grüßte Walde den Kollegen, der damit beschäftigt war, etwas Winziges in einer Folie zu verstauen.
Ein Bügelbrett lag umgestürzt auf dem Teppich vor einem Bücherregal. Zwei Stöße gefaltete Wäsche waren auf dem gläsernen Tisch vor der Couch gestapelt, ein weiterer mit Unterwäsche auf dem Deckel des Klaviers an der Wand. Eine Wasserflasche lag in einem leeren Wäschekorb.
»Hier scheint es eine Auseinandersetzung gegeben zu haben«, sagte Gabi. »Die dann ihr finales Ende in der Küche fand.«
»Final ist das gleiche wie Ende.« Meier tauchte in der Diele auf, wie immer rauchend, mit einem Blumentopfuntersetzer voller Asche in der Hand.
»Was?«, fragte Gabi.
»Fine, das Wort hast du vielleicht schon mal im Kino gesehen, am Ende von französischen Filmen…«, erläuterte Meier.
»Du brauchst mir nichts von frankophilen, rotweintrinkenden Käselutschern zu erzählen, Schlaumeier, schaff‘ lieber ein paar Kollegen her, die sollen die Leute im Haus befragen.«
»Was ist mit euren Leuten?«, gab Meier zurück.
»Grabbe hat frei, Harry ist schon wieder operiert worden, Monika auf Lehrgang und Walde in Urlaub.«
»Das sehe ich.« Meier drückte die Zigarette aus und steckte sich gleich eine weitere an.
Waldes Handy klingelte. Als er auf dem Display sah, dass es Doris war, steckte er es wieder in die Tasche zurück. Gabi zuckte die Schultern und zündete sich ebenfalls eine Zigarette an.
Als das Handy endlich Ruhe gab, sagte sie: »Was machst du überhaupt hier? Solltest du nicht bei deiner hochschwangeren Freundin sein?«
Walde seufzte: »Stiermann meint, ich sollte mit Richter Harras reden.«
»Da hab’ ich nichts dagegen. Ich dachte schon, der traut mir den nicht alleine zu.« Gabi zog eine Schublade aus einem kleinen Schränkchen neben dem alten zweitürigen Garderobenschrank.
»Ich glaube«, Walde sah Gabi in die Augen, »der Chef befürchtet, du könntest dem Richter gegenüber vielleicht nicht den richtigen Ton treffen.«
»Unsere Nachbarn hatten einen Hund, der hieß Harras. Ziemlich scharf war der, aber geradezu handzahm gegenüber dem, was Dr. Harras zu seinen Zeiten als Haftrichter drauf hatte.« Gabi hob einen Stapel Lederhandschuhe aus der Schublade und legte sie wieder zurück. »Besonders wenn es sich um ausländische Frauen aus dem Rotlichtmilieu oder Drogendelikte handelte, kannte Harras kein Pardon. Erst in den Knast und dann Abschiebung.«
»Harras ist inzwischen Richter am Landgericht als Vorsitzender einer Großen Strafkammer«, sagte Meier. »Ich hab’ mit ihm öfter zu tun gehabt, früher, als er noch Haftrichter war. Der war okay, hart, aber okay.«
»Das ist wohl eine Frage der Perspektive«, grummelte Gabi.
Walde öffnete am CD-Player die Ladeklappe. Darin lag ein CD-Rohling, auf dem etwas von Hand notiert war: »Joni Mitchell ‚Travelogue‘, die höre ich auch ganz gerne.«
Walde ging in die Diele und wandte sich an Meier: »Kommst du mit zu Harras? Dann brauche ich ihm die Todesnachricht nicht allein zu überbringen. Wie ich Stiermann verstanden habe, ist er Witwer und er hatte nur eine Tochter.«
»Schöne Scheiße«, war Gabis Kommentar.
Vor dem Gerichtsgebäude, einem unscheinbaren Zweckbau aus den 50-er Jahren des letzten Jahrhunderts, waren die wenigen Parkplätze belegt. Walde bog um die Ecke und parkte im Halteverbot. Als sie ausstiegen, prüfte er, ob zwischen Wagen und Hauswand noch genügend Platz für einen Kinderwagen war. Meier stand vornübergebeugt und versuchte, sich gegen den Wind eine Zigarette anzuzünden. Waldes Wagen gehörte zu den wenigen rauchfreien Zonen, die er akzeptierte.
Die Männer hinter der Glasscheibe an der Pforte nickten ihnen freundlich zu. Walde versuchte besonders freundlich zurückzulächeln, wohl wissend, dass Meier seine versteinerte Miene beibehielt.
»Warum sitzen da drei Leute?«, brummelte Meier.
»An der Pforte?«
»Überall wird gespart und die drei sitzen sich da den Hintern platt.«
»Da sind nicht immer so viele, vielleicht ist einer von ihnen nur auf Besuch«, vermutete Walde.
»Hat der sonst nichts zu tun, als bei denen herumzulungern?«
»Was fragst du mich?« Walde wich einem Anwalt aus, der links und rechts eine schwarze Aktentasche trug und obendrein einen Umhang über einer Schulter balancierte.
Auf der Treppe nahm Walde immer zwei Stufen auf einmal. Meier blieb zurück. Schon nach wenigen Stufen hörte Walde ihn hinter sich keuchen. Im Flur verlangsamte Walde seine Schritte. Mehrere Türen zu den Büros der Richter standen offen. Hin und wieder nickte einer ihm zu.
»Haben die ihre Türen auf, weil sie hoffen, sie bekämen Arbeit?« Meier hatte Walde schnaufend eingeholt. »So gut müsste man es haben! Denen kann doch keiner mehr was vorschreiben. Schöne Unabhängigkeit, können tun und lassen, was sie wollen. Da ist mir klar, wo die Zustände an der Pforte herkommen.«
Sie waren an der geschlossenen Tür von Richter Harras‘ Büro angelangt. Walde sammelte sich einen Moment, bevor er anklopfte. Niemand antwortete. Er drückte den Türgriff. Abgeschlossen. Im Sekretariat erfuhren sie, dass Harras schon nach Hause gefahren sei. Walde ließ sich die Privatadresse geben.
»Klar, noch nicht mal vier Uhr und der Herr ist schon zu Hause. Wahrscheinlich ist er erst um zehn gekommen und hat zwischendurch zwei Stunden Mittag gemacht«, wetterte Meier, als sie wieder die Treppen hinunterstiegen.
Während der Fahrt griff Meier unvermittelt in die Tasche seiner Daunenjacke. »Hier auch«, sagte er ins Telefon. »Wie geht‘s?«
Meier hörte eine Weile zu, dann sagte er: »Es wird heute wahrscheinlich später, ich rufe nochmal an. Falls etwas ist, weißt du ja, wie du mich erreichen kannst.«
Meier steckte das Telefon ein. Als er die Hand aus der Tasche nahm, sah Walde aus den Augenwinkeln eine Zigarettenschachtel. Meier tastete die Tür ab: »Wo ist denn der Griff für den Fensterheber?«
»Hier«, Walde deutete auf die Tastatur auf der Konsole zwischen den Sitzen.
»Was, dieses alte Modell hat schon elektrische Fensterheber?«
»Stimmt«, antwortete Walde, »es hatte mal welche. Auf deiner Seite funktionieren sie nicht mehr. Ich kann die Heizung ausstellen, wenn du möchtest.«
Walde schielte zu seinem Beifahrer. Der steckte die Packung wieder ein.
»Alles in Ordnung zu Hause?«, fragte Walde, um seinen Kollegen von den Entzugserscheinungen abzulenken.
»Ja«, brummelte Meier. »Wie immer.« Er blickte hinter sich auf die umgelegte Rückbank und die Zeitungen, die im wilden Durcheinander lagen: »Was macht die Renovierung?«
»Ist noch viel zu tun«, antwortete Walde.
Die Ampel auf der Römerbrücke zeigte Rot. Der Scheibenwischer beseitigte den dünnen Film aus feinem Niesel. Über den Bürgersteig wackelte eine Greisin, mit einer Hand einen leeren Rollstuhl vor sich her schiebend und mit der anderen ein Handy ans Ohr drückend.
»Und bei dir, ist es bald soweit mit dem Nachwuchs?« Meier hatte sich auf eine höfliche Gegenfrage besonnen.
»In drei Wochen ist Termin.«
Damit endete der Small talk zu den Familienverhältnissen. Walde wusste, dass Doris ein Mädchen erwartete. Er hatte viele Bilder von Geburten im Kopf, von glitschigen kleinen Lebewesen, die ans Licht der Welt drängten. Aber seine Erwartungenwaren diffus. Er dachte oft daran, konnte sich aber nicht vorstellen, wie seine Tochter tatsächlich aussehen würde. Als die Wagen vor ihm anfuhren, gab Walde Gas.
Richter Harras wohnte mitten im Stadtteil Euren. Die düstere Einfahrt führte zwischen hohen Nadelbäumen hindurch zu einem Haus, vor dem sich ein Hügel aus Holzscheiten türmte. Daneben stand ein älterer VW Passat unter einem Carport.
Walde hielt am Ende der Auffahrt. Links und rechts war gerade genug Platz um auszusteigen. Kinderwagen oder Rollstühle kämen nicht mehr vorbei. Aber damit war hier auch nicht zu rechnen.
Er glaubte sich zu erinnern, dass Meiers Frau an Multipler Sklerose litt. Womöglich brauchte sie einen Rollstuhl. Verdrehte Welt, er konnte sich noch kein Bild von seiner Tochter machen, geschweige den Schmerz erahnen, den der Verlust des Kindes für ihn bedeuten würde, und sollte jetzt einem Mann die Nachricht überbringen, dass dessen Tochter tot war.
»Guten Tag, Herr Dr. Harras«, hörte Walde seinen Kollegen sagen.
Meier ging auf einen Mann zu, der eine leere Schubkarre hinter dem Wagen hervorschob. Der Mann war groß und hager. Das kurze weiße Haar stand wie eine Bürste von seinem Kopf ab. Er trug einen grauen Fleecepulli, eine verwaschene, ehemals schwarze Jeanshose und zu Arbeitsschuhen degradierte Wanderschuhe.
Als Walde näher kam, erinnerten ihn die vorstehenden Augen hinter der dunklen Hornbrille daran, dass er ebenfalls schon persönlich mit dem Richter zu tun gehabt hatte.
Harras stellte die Schubkarre neben dem Holzstapel ab. Er streifte die Arbeitshandschuhe ab und streckte Meier eine Hand entgegen.
»Was verschafft mir die Ehre?«, sagte er mit einem Gesichtsausdruck, den man mit etwas Phantasie als ein Lächeln deuten konnte.
»Kripo Trier, mein Name ist Meier und das ist mein Kollege, Herr Bock.«
Auch Walde gab dem Richter die Hand.
»Es ist zwar schon Jahre her, aber wir hatten öfter miteinander zu tun«, sagte Meier.
Der Richter nickte: »Kommen Sie herein, meine Herren!«
Walde folgte den beiden durch eine mit Zeitungsstapeln voll gestellte Diele in ein Zimmer mit einem schweren Esstisch aus Eiche, um den ein halbes Dutzend dunkler Stühle mit hoher Lehne standen.
Dr. Harras wischte sich mit beiden Händen die Hose ab, bevor er sich auf den mit Gobelin bezogenen Stuhl am Kopfende setzte. Die beiden Polizisten nahmen nebeneinander Platz.
»Was darf ich Ihnen anbieten?«, sagte der Richter.
»Danke, bemühen Sie sich nicht«, sagte Meier und schaute Walde an, um ihm das Wort zu übergeben.
»Wir haben leider eine sehr traurige Nachricht.« Walde beobachtete, wie der Richter mit der linken Hand den Kopf aufstützte, als befürchte er, der zu erwartenden Last nicht standhalten zu können. »Ihre Tochter… sie ist ums Leben gekommen.«
Harras‘ Schultern sackten ab. Es schien, als fahre alle Kraft aus seinem Körper. Walde hielt sich bereit, um dem Richter beizustehen, falls er ohnmächtig wurde. Harras‘ Kinn senkte sich zur Brust. Er hielt die Augen offen und stierte auf die Tischplatte.
»Sie wurde tot in der Wohnung gefunden«, fuhr Walde fort. »Ein Fremdverschulden ist sehr wahrscheinlich. Wir haben die Ermittlungen aufgenommen.«
Der Richter stützte den hängenden Kopf in die Hand.
»Soll ich Ihnen einen Arzt rufen oder jemand anderen informieren?«
Kaum merklich schüttelte Harras den Kopf.
»Hätten wir nicht doch noch etwas bleiben sollen?«, fragte Walde auf der Rückfahrt.
»Er wollte allein sein.« Meiers Stimme war belegt. Er räusperte sich. Hatte er so etwas wie Mitgefühl bei Meier gehört? »In seinem Job ist er schon mit vielen Schicksalsschlägen konfrontiert worden. Da wird man…« Meier suchte nach dem passenden Wort.
»Abgebrüht«, half Walde aus.
»Nein, ich würde sagen: verschlossen, insichgekehrt.«
Am liebsten hätte Walde gesagt, so wie du, statt dessen sagte er: »Nicht, dass er sich was antut?«
»Ruf’ ihn doch heute Abend nochmal an, wir müssen sowieso noch weitere Fragen mit ihm klären.«
»Nicht mehr heute!«
»Ist klar.« Meier nahm seine Zigaretten-Packung aus der Tasche und legte sie aufs Armaturenbrett, als brauche er sie als Gedächtnisstütze, um die nächste Rauchmöglichkeit nicht zu versäumen.
»Macht es dir was aus, wenn wir kurz zu meiner Baustelle fahren?«
»Nur zu, auf die paar Minuten kommt es auch nicht mehr an.« Meier steckte die Zigaretten wieder ein.
Im Flur dröhnten Hip-Hop-Rhythmen. Walde ging an der Tür mit den Jugendstil-Glasornamenten vorbei, aus der die Musik wummerte. Im Kinderzimmer saßen Uli und Jo auf Farbeimern. Zwischen sich, auf einem zusammengeklappten Tapeziertisch, hatten sie einen Imbiss aufgebaut.
Walde stellte vor: »Herr Abend, Herr Ganz, mein Kollege, Herr Meier.«
Uli wies auf das Essen: »Greift zu, es ist genug da!«
Walde besah sich das für eine Baustelle recht opulente Mahl, bestehend aus Baguette, Wurst, Käse, Gurken, Tomaten, Oliven und einer Flasche Rosé: »Sieht gut aus.«
»Und was sagst du hierzu?« Uli wies auf die Wände ringsum.
»Oh, schon fertig, das wird Doris freuen.«
»Ich denke, wir müssen noch einmal streichen, die Farbe deckt nicht so richtig«, sagte Jo, der gerade einen Bissen mit einem Schluck Wein hinuntergespült hatte. »Aber dafür sind die Armaturen im Bad komplett angeschlossen.«
Immer noch hämmerte nebenan der gleiche Rhythmus.
»Toll, danke. Ihr müsst entschuldigen, dass ich euch so lange allein gelassen habe.« Walde schob sich eine Käsescheibe in den Mund, nahm sich ein Stück Baguette und bedeutete Meier, ebenfalls zuzugreifen.
Der hatte bereits eine Zigarette zwischen den Lippen, zögerte aber mit dem Anzünden: »Ich schau mir mal den Garten an.«
»Ist noch eher ein Urwald, du kommst vom Wohnzimmer aus auf die Terrasse, du musst nur der Musik folgen«, erklärte Walde.
»Vielleicht können Sie meinen Sohn dazu bringen, die Musik etwas leiser zu stellen«, bat Jo. »Ich habe schon versucht, missionarisch auf ihn einzuwirken.«
Meier war kaum verschwunden, als das Wummern schlagartig an Intensität abnahm.
»Alle Achtung«, meinte Jo mit vollem Mund. »Der kann mit Jugendlichen umgehen.«