Cold Case Ötzi - Josef Rohrer - E-Book

Cold Case Ötzi E-Book

Josef Rohrer

0,0
17,99 €

oder
-100%
Sammeln Sie Punkte in unserem Gutscheinprogramm und kaufen Sie E-Books und Hörbücher mit bis zu 100% Rabatt.
Mehr erfahren.
Beschreibung

Mordsache Ötzi: Warum wurde er umgebracht? Lässt sich das nach 5200 Jahren noch klären? Ein Profiler, ein Rechtsmediziner, ein Spezialist für hochalpine Archäologie und ein Autor ziehen sich in eine abgeschiedene Selbstversorgerhütte in den Bergen zurück. Drei Tage lang rollen sie aus der Perspektive von Archäologie, Forensik und Kriminalistik den Fall Ötzi neu auf und analysieren die Todesumstände des Mannes aus dem Eis: Der Autor befeuert die Diskussion mit Fragen, ermöglicht uns, den Experten beim überraschenden Kombinieren zuzusehen, und führt erstmals alle Indizien rund um diesen weltbekannten True-Crime-Fall sowie sämtliche Spuren am »Tatort« zusammen.

Das E-Book können Sie in Legimi-Apps oder einer beliebigen App lesen, die das folgende Format unterstützen:

EPUB
Bewertungen
0,0
0
0
0
0
0
Mehr Informationen
Mehr Informationen
Legimi prüft nicht, ob Rezensionen von Nutzern stammen, die den betreffenden Titel tatsächlich gekauft oder gelesen/gehört haben. Wir entfernen aber gefälschte Rezensionen.



Lässt sich der Mord am Mann aus dem Eis nach 5200 Jahren noch klären?

Ein Profiler, ein Rechtsmediziner, ein Spezialist für hochalpine Archäologie und ein Autor ziehen sich drei Tage in eine abgeschiedene Hütte in den Bergen zurück. Dort führen sie aus der Perspektive von Kriminalistik, Forensik und Archäologie sämtliche Indizien rund um diesen weltbekannten True-Crime-Fall zusammen und versuchen das Geheimnis um den spektakulären Fund zu lüften.

Werden sich die Puzzleteile zu einem Gesamtbild fügen?

Josef Rohrer

Cold Case Ötzi

Eine Spurensicherung vonAlexander Horn, Oliver Peschelund Andreas Putzer

Der Autor

JOSEF ROHRER, geboren 1955, lebt als Buchautor und Kurator von Ausstellungen in Meran und ist radelnd und wandernd im hochalpinen Gelände unterwegs. Er war Chefredakteur eines Wochenmagazins und ist einer der „Väter“ des Museums zur Tourismusgeschichte, Touriseum, in Meran und des Museums über Andreas Hofer in Passeier. Bei Folio sind zuletzt erschienen: Meran kompakt (2020) und Geschichte Südtirols erleben (2021).

Die Spurensicherer

ALEXANDER HORN, geboren 1973, Leiter der Dienststelle für Operative Fallanalyse am Polizeipräsidium München, Deutschlands wohl bekanntester Profiler, wies bei der NSU-Mordserie als Erster auf einen rechtsextremen Hintergrund der Täter hin und half u. a. den „Maskenmann“ zu überführen.

OLIVER PESCHEL, geboren 1964, stellvertretender Vorstand am Institut für Rechtsmedizin der LMU München, Ötzis Arzt des Vertrauens, wird herangezogen, wenn es gilt, Tötungsdelikte zu klären, Todesursachen festzustellen oder Tote zu identifizieren: zum Beispiel in Bosnien und im Kosovo für das UN-Kriegsverbrechertribunal, bei der Brandkatastrophe in Kaprun oder nach dem Tsunami in Thailand.

ANDREAS PUTZER, geboren 1970, Spezialist für hochalpine Archäologie, arbeitet in Ötzis aktueller Residenz, dem Südtiroler Archäologiemuseum. Kennt Fundort und Schnalstal wie seine Westentasche.

INHALT

Ockhams Rasiermesser

Ein Kupferbeil, 61 Tattoos

Ein mickriger Dolch und ein Comic

Zwei Pfeile und kein Bogen

Auf der Flucht. Aber weshalb?

Das Rätsel der Hopfenbuche

Schuss aus dem Hinterhalt

Ein Bild des Täters

OCKHAMS RASIERMESSER

„Zu dem Zeitpunkt, als Ötzi das Tisenjoch erreicht hat, ist davon auszugehen, dass er keine unmittelbare Bedrohung empfunden hat, da er an strategisch günstiger Stelle offenbar eine Rast zur Nahrungsaufnahme gemacht hat und daher eventuell seine Aufmerksamkeit und Wachsamkeit reduziert war.“

Und wenn es doch nur ein Jagdunfall war?

Der Mann, den später alle Ötzi nennen werden, nahm die Rückentrage ab und stellte sie vor sich hin. Seinen erst halbfertigen Bogen, in dem noch keine Sehne eingespannt war, lehnte er an einen Felsen. Das Beil mit der auffälligen Kupferklinge legte er daneben ab, ebenso den Köcher mit 14 Pfeilen. Zwölf davon hätte er noch mit einer Spitze und mit Federn versehen müssen. Jetzt brauchte er erst einmal etwas für den Magen.

Er stand auf einer kleinen Anhöhe rund 30 Meter oberhalb des Tisenjochs und etwa 70 Meter davon entfernt. Das Joch liegt auf 3188 Metern über dem Meer, gegen Süden ist tief unten der Grund des Schnalstals auszumachen. 1500 Meter Höhendifferenz, dreieinhalb Stunden Aufstieg über zuletzt steiles Gelände, nach Norden zu geht es ins Ötztal. Die Anhöhe ist ein guter Platz für eine Rast, Felsen bilden eine Mulde. Meistens ist sie voll Schnee, doch im Sommer kann sie ausapern. Ötzi holte aus seinem Rucksack – wahrscheinlich ein Netz aus Lindenbast, das an die Rückentrage geknotet war – seinen Proviant: geselchtes Fleisch vom Steinbock und Hirsch sowie Brot. Setzte er sich zum Essen hin? Zerteilte er das Fleisch mit seinem Dolch? An der Klinge aus Feuerstein wurden Spuren von tierischem Fett nachgewiesen. Es wäre ein Indiz dafür, dass er seine Mahlzeit nicht hastig verschlang, so als müsste er schnell weiter. Er schien sich Zeit zu lassen. Vielleicht blickte er über die flachen Schneefelder der Gletscher im Osten des Tisenjochs und hing seinen Gedanken nach.

DIE FUNDSTELLE

Ötzi lag in dieser Mulde. In manchen Jahren ist sie auch noch im Hochsommer voll Altschnee. Im Hintergrund die 1994 errichtete Steinpyramide. Das Tisenjoch befindet sich links unterhalb der Pyramide.

Der Pfeil traf ihn von hinten in die linke Schulter. Die scharfe Spitze aus Feuerstein durchschlug seinen Mantel aus zusammengenähten Streifen von Schaf- oder Ziegenfell und blieb unter dem Schlüsselbein stecken, zwischen dem Schulterblatt und der zweiten Rippe. Der Schuss dürfte aus rund 30 Metern abgegeben worden sein. Aus kürzerer Distanz wäre der Pfeil wohl tiefer in die Schulter eingedrungen, hätte womöglich den Brustkorb durchschlagen. Die Lunge war nicht verletzt, die Unterschlüsselbein-Arterie jedoch zumindest angeritzt. Sie blutete.

Wer hat geschossen? War Ötzi mit jemandem aufs Tisenjoch gestiegen, den er kannte? Stammte dieser Begleiter aus der Siedlung unten im Vinschgau, die sich auf dem Sonnenhang über dem Eingang ins Schnalstal befand? Vielleicht sah er sich noch um, als Ötzi bereits in der Mulde war und seinen Proviant verzehrte. Vielleicht stand er etwas unterhalb von dem Rastplatz und sah oben auf der Geländekante ein Tier: ein Schneehuhn, einen Schneehasen, beide kommen in der Gegend vor. Vielleicht legte er einen Pfeil in seinen Bogen, spannte, zielte … Und vielleicht hatte sich Ötzi in dem Moment, in dem der Pfeil über die Geländekante schoss, dahinter aufgerichtet. Eine Dynamik, die auch mit heutigen Schusswaffen zu Jagdunfällen führt.

Falls es so gewesen wäre, würde der Schütze versucht haben, den Pfeil aus Ötzis Rücken zu ziehen. Er bekam nur den Schaft zu fassen, die Steinspitze blieb in der Schulter stecken. Er könnte dann alles stehen und liegen gelassen haben und zu Tal gerannt sein, um die anderen unten in der Siedlung zu alarmieren. Selbst ein guter Läufer würde für die Strecke sechs, sieben Stunden brauchen. Bis dahin war Ötzi längst verblutet. Er starb, wie die Untersuchungen später ergaben, innerhalb von etwa 90 Minuten, nachdem er gegessen hatte.

Oliver Peschel ist gerade dabei, die Hirschkeule anzubraten, die er von einem seiner Jagdausflüge mitgebracht hat. „Ein Jagdunfall? Interessant.“ Der Tonfall verrät, was er von der Hypothese hält. Peschel ist Professor am Institut für Rechtsmedizin an der Universität München. Er habilitierte mit einer Arbeit über Schussverletzungen. Ein Großteil seines Jobs besteht darin, Todesursachen festzustellen. Nach den Zerfallskriegen Jugoslawiens in den Neunzigerjahren war er im Auftrag des UN-Kriegsverbrechertribunals auf Exhumierungsmission in Bosnien und im Kosovo. Nach der Brandkatastrophe im Tunnel der Standseilbahn von Kaprun im Bundesland Salzburg holte man ihn zur Identifizierung der Opfer. Nach dem Tsunami im Indischen Ozean war er in Thailand im Einsatz. Als Forensiker hat er in seinem Berufsleben mehr als 10.000 Leichen obduziert. Auch Mumien wie den „Luftg’selchten Pfarrer“ aus dem 17. Jahrhundert, der in der Kirche St. Thomas am Blasenstein in Oberösterreich liegt. 2016 machte ihn das Archäologiemuseum in Bozen, wo Ötzi in einer Kühlzelle aufbewahrt und ausgestellt ist, zum Leiter des Konservierungsteams.

Andreas Putzer ist in diesem Museum der auf Ötzi spezialisierte Archäologe. Die Geräte und Bekleidungsstücke, die man 1991 neben der Mumie im Eis gefunden hat, haben Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler verschiedener Disziplinen untersucht. Putzer kennt alle Ergebnisse. Und er hat viele der Grabungen begleitet, die seitdem durchgeführt wurden, um mehr über die Zeit von Ötzi herauszufinden. „Nach allem, was wir wissen, konnten die damals sehr gut mit Pfeil und Bogen umgehen. Das waren die besseren Jäger als viele heutzutage.“ Aus so kurzer Distanz das Ziel verfehlen und stattdessen unabsichtlich den Rücken eines Begleiters treffen, das sei doch sehr unwahrscheinlich.

„Und vor allem: Vergessen wir nicht die Verletzung an Ötzis rechter Hand“, sagt Alexander Horn. Er ist Kriminaloberrat im Polizeipräsidium München und leitet die Abteilung OFA Bayern, die Operative Fallanalyse. Er wird häufig zu Cold Cases beigezogen – zu Fällen, die nie aufgeklärt wurden, weil die Ermittler nicht weiterkamen. Medien nennen ihn den bekanntesten Profiler Deutschlands. Als in der NSU-Mordserie von 2000 bis 2006 die meisten Ermittler noch hartnäckig daran glaubten, die neun Todesopfer mit Migrationshintergrund seien in türkische Bandenkriege verwickelt gewesen, ging Horn bereits von deutschen Neonazis als Tätern und von Ausländerhass als Tatmotiv aus. Zu Recht, wie sich später herausstellte. In einem anderen spektakulären Fall überführte er den „Maskenmann“.

Zwischen 1991 und 2001 waren aus Schullandheimen und Zeltlagern in Norddeutschland drei Buben im vorpubertären Alter verschwunden. Nachts. Später fand man ihre verscharrten Leichen. Die Buben waren sexuell missbraucht und dann erwürgt worden. Im gleichen Zeitraum war ein Sexualtäter öfter in Schullandheime, Zeltlager und Wohnungen eingedrungen, ebenfalls nachts. Er missbrauchte mehr als 40 Jungen, in den Wohnungen schliefen nebenan die Eltern, in den Heimen die Betreuer. Die Kinder sagten aus, der Mann habe eine dunkle Sturmhaube über dem Gesicht getragen. Mehrere Polizeikommissariate ermittelten nebeneinanderher. Nach einem der drei Morde bekam die OFA Bayern den Auftrag, eine Fallanalyse zu erstellen. Sie kam zum Schluss, dass es sich in allen Fällen um denselben Mann handelte. Horn und sein Team zeichneten ein Profil des Täters: Er musste erfahren im Umgang mit Kindern sein; andernfalls hätte er sie ohne exzessive Gewalt nie dazu gebracht stillzuhalten. Er musste intelligent sein; sonst wäre es ihm nicht gelungen, das Risiko seines ungewöhnlichen Eindringens in der Nacht richtig einzuschätzen.

Als Spiegel-TV eine Dokumentation über die Arbeit der OFA Bayern vorbereitete und die Ermittlungen über den Maskenmann als Fallbeispiel verwendete, meldete sich eines der Opfer, bei dem der Maskenmann Jahre zuvor in die elterliche Wohnung eingestiegen war. Erst jetzt als Erwachsenem und ausgelöst von den Recherchen für den Film war ihm eingefallen, dass einige Zeit vor dem nächtlichen Übergriff ein Betreuer in einem Schullandheim von ihm wissen wollte, wo er denn wohne. Die Polizei machte den Mann ausfindig, das Täterprofil stimmte genau. Horn brachte den Mann dazu, ein Geständnis abzulegen – fast 20 Jahre nach dem ersten Mord.

DIE FALLANALYTIKER

Andreas Putzer, Oliver Peschel, Alexander Horn (v. l. n. r.)

Wir haben uns drei Tage lang in einer Hütte in den Südtiroler Bergen eingeschlossen. Alexander Horn, Oliver Peschel und Andreas Putzer wollen mit ihren unterschiedlichen Zugängen aus Kriminalistik, forensischer Traumatologie und Archäologie eine Fallanalyse zu Ötzi erstellen. Sie wollen ergründen, welche der unzähligen Puzzleteile aus der Ötzi-Forschung, die häufig nur aus einem isolierten Fachgebiet stammen, sich zu einem Gesamtbild zusammenfügen lassen. Sie wollen die vielen möglichen Hypothesen über seinen Tod überprüfen und dann bewerten, welche am wahrscheinlichsten ist. Schließlich wollen sie versuchen, eine Antwort auf die beiden zentralen Fragen zu finden: Warum war Ötzi auf dem Tisenjoch? Was ist passiert, dass er dort oben in der bekannten Stellung liegen blieb, mit einer Pfeilspitze im Rücken?

Und ich soll sie bei ihrer Suche begleiten. Ich soll beobachten, wie sie die Fakten aus der Ötzi-Forschung ausbreiten und in einen Zusammenhang bringen. Ich soll notieren, welche Schlüsse sie ziehen, welche Argumente und Gegenargumente sie zu möglichen Hypothesen vorbringen. Und ich soll aus alledem ein Buch schreiben. Darin werden Horn, Peschel und Putzer häufig selbst zu vernehmen sein. Passagen zwischen ihren wörtlich wiedergegebenen Äußerungen und Wichtiges aus der Ötzi-Forschung fasse ich mit meinen Worten zusammen. Und ich werde meine Rolle als stiller Zuhörer immer wieder übertreten und Fragen einwerfen: um Antworten zu provozieren und als ein Stilmittel, das dem Text eine Richtung gibt.

Kann eine Rekonstruktion von Ötzis Fall überhaupt gelingen, mehr als 5000 Jahre nach dem Ereignis? Ohne Spurensicherung, ohne eine zeitnahe Untersuchung am Ort des Geschehens, ohne die Möglichkeit, Zeugen zu befragen?

„Auf Zeugenaussagen verlassen wir uns auch bei aktuellen Fällen nicht“, verrät Horn. „Wir brauchen Fakten, auf denen wir Hypothesen aufbauen. Bei Zeugenaussagen bekommen wir häufig nur subjektive Wahrnehmungen mit einer hohen Fehlerquote. Die einen würden dir erzählen, Ötzi sei bergauf gegangen, die anderen, er sei von oben heruntergekommen, und mindestens einer würde behaupten, Ötzi war hundertprozentig nicht auf dem Tisenjoch, da oben war noch nie jemand.“

Schwerer wiegt, dass der Tatort nach so langer Zeit nicht mehr viel hergibt. Niemand weiß, wie es auf dem Tisenjoch an jenem Tag ausgesehen hat. Herrschte gute Sicht oder war das Joch im Nebel? Lag meterhoch Schnee oder war die Senke ausgeapert? War Ötzi, als der Pfeil ihn traf, genau dort, wo ihn später das Eis freigab, oder war seine Position verändert worden? Und wo stand der Schütze? Der Tatort und die dort möglicherweise auffindbaren Spuren sind für jede Fallanalyse zentrale Elemente. Deshalb zögerte Horn zunächst, ob er sich auf diesen very cold case, wie er ihn nannte, einlassen sollte. Andererseits lieferten die zahlreichen Untersuchungen an der Mumie, an Ötzis Kleidung und an seiner Ausrüstung eine Fülle von vielleicht nützlichen Daten und Hinweisen.

Ein Experimentalarchäologe baute seinen Bogen nach, um herauszufinden, wie lange Ötzi gebraucht hätte, ihn schussbereit zu machen – ein vielleicht wichtiges Detail bei der Frage, warum er auf dem Tisenjoch war. Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler haben die Speisereste und Blütenpollen in seinem Verdauungstrakt untersucht und glauben fast auf die Stunde genau zu wissen, wo er sich in den Tagen zuvor aufgehalten hat und wie viel Zeit zwischen seiner letzten Mahlzeit und seinem Tod vergangen ist. Die Beau-Linien auf einem seiner Fingernägel wurden ausgewertet. Sie könnten ein Indiz dafür sein, dass Ötzi in den letzten Monaten unter Stress gestanden hat. Und trotz der langen Zeit, in der die Mumie im Eis lag, konnte Ötzis Zellkern-Genom weitgehend entschlüsselt werden – Ausgangspunkt für zahlreiche weitere Forschungen. Das enorme wissenschaftliche Interesse am „Mann aus dem Eis“ hat Untersuchungen erlaubt, die sich Polizei und Justiz im Normalfall nicht leisten würden. „Ich kenne keine Leiche in einem rezenten Mordfall, über die wir so viel wissen wie über Ötzi“, sagt Peschel. „In aktuellen Fällen haben wir oft deutlich schlechtere Befunde.“ Soll heißen: Eine Fallanalyse nach so langer Zeit ist nicht aussichtslos.

Das Interesse der Wissenschaft an der Mumie ist verständlich. Weltweit ist keine andere dieses Alters so gut erhalten, aus der Kupferzeit ist sie bisher überhaupt die einzige. Dank der Bekleidung und der Ausrüstung, die Ötzi bei sich trug – Beil, Bogen, Werkzeuge, ein Erste-Hilfe-Set –, erfährt die Archäologie und die Anthropologie viel über seine Zeit. Unabhängig davon, wie er ums Leben kam.

Woher aber kommt die anhaltende Faszination, die von den rätselhaften Umständen seines Todes ausgeht? Warum fesselt diese True-Crime-Story so viele – wenn es überhaupt ein Kriminalfall war und nicht bloß ein Unfall? „Weil wir Menschen ein geradezu naturgegebenes Bedürfnis nach kausalen Ableitungen haben. Das geht so weit, dass wir eine Religion brauchen, um uns verschiedene Dinge zu erklären“, vermutet Peschel. „Wenn dein Auto einen Platten hat und in der Werkstatt sagen sie dir, du hast dir einen Nagel eingefahren, ist alles gut. Aber stell dir vor, sie sagen dir, sie haben’s repariert, aber sie wissen nicht, was es war. Und nach einer Woche hast du wieder einen Platten.“

Also werden der Gerichtsmediziner, der Archäologe und der Kriminalist in der Hütte nach dem Nagel suchen, nach einem kausalen Zusammenhang zwischen Ötzis Verletzung an der Hand, seiner Anwesenheit auf dem Tisenjoch und der Feuersteinspitze in seinem Rücken. Sie werden die Fülle an Informationen zu ordnen versuchen, Hypothesen aufstellen und immer wieder zu Ockhams Rasiermesser greifen.

Ockhams Rasiermesser ist eine auch bei Fallanalysen häufig angewandte Methode, die auf einen Franziskanermönch des späten Mittelalters zurückgeht. Dessen Lehrsatz: Die einfache Erklärung ist immer der komplizierten vorzuziehen. „Das Rasiermesser schneidet, um im Bild zu bleiben, so lange alle unwahrscheinlichen Erklärungsansätze weg, bis nur mehr die plausiblen übrigbleiben“, schreibt Alexander Horn in Die Logik der Tat, einem Buch, in dem er über seine Arbeit berichtet.

Die berühmte Mumie hat seit 1991, als ein deutsches Ehepaar sie zufällig halb aus dem Eis ragend entdeckte, nicht nur viele interessierte Laien, sondern ganze Forschungszweige zu einem Könnte-es-nicht-doch-sein verführt – zu Erklärungsversuchen für Ötzis Tod. Auch wir werden immer wieder Könnte-es-nicht-doch-sein-Fragen stellen müssen, um die Lücken zwischen den Fakten mit Hypothesen zu überbrücken.

„Wir werden uns über drei große Informationsquellen dem Fall annähern“, kündigt Horn an. „Erstens: Wer war das Opfer, was wissen wir genau, was ist fragliches Wissen? Das müssen wir einbetten in die Zeit, in der er lebte. Was wissen wir über die Menschen damals, über deren Lebensweise, und welche Rolle spielte Ötzi in diesem Kontext? Zweitens, der Tatort: Wieso war man damals dort oben unterwegs, warum ist Ötzi ausgerechnet dort hinauf und was wissen wir über die finale Lage des Opfers? Und drittens: seine Verletzungen und die Interpretation der rechtsmedizinischen Befunde. Wenn wir das alles für uns verdichtet haben, können wir – ich schätze, am dritten Tag – in die Rekonstruktion des Geschehens einsteigen. Aber wir werden kein Hypothesen-Wunschkonzert betreiben, sondern möglichst nahe an den Fakten bleiben.“

In der Kriminalistik ist Ockhams Rasiermesser oft die einzige Methode voranzukommen. Würden Ermittler alle Hypothesen als gleichwertig einstufen, verzettelten sie sich und kämen wahrscheinlich nie zu einem Schluss. Daraus folgt, dass Fallanalysen zwangsläufig mit Wahrscheinlichkeiten arbeiten. Und mit dem Risiko, dass eine Hypothese als unwahrscheinlich aussortiert wird, obwohl sie die richtige wäre.

Ötzis rechte Hand weist in dem Bogen zwischen Daumen und Zeigefinger einen glatten Schnitt auf, der bis auf den Knochen geht. Hätte die Wunde zu einer Sepsis geführt, zu einer Überreaktion des körpereigenen Abwehrsystems, hätte Ötzi an ihr sterben können. Auf jeden Fall wird die Verletzung ihn stark behindert haben. Ötzi hat also nicht nur einen Pfeil in den Rücken bekommen, sondern Tage zuvor auch eine erhebliche Verletzung an der Hand erlitten. Eine Bestätigung für Murphys Gesetz, wonach alles, was schiefgehen kann, irgendwann auch schiefgehen wird?

„Aber zwei schwere Verletzungen innerhalb so kurzer Zeit, und eine davon tödlich … Wenn es keinen kausalen Zusammenhang zwischen beiden Ereignissen gab, muss Ötzi ganz schön viel Pech gehabt haben im Leben. Zumindest in seinen letzten paar Tagen. Da wäre er echt Sven Glückspilz gewesen“, sagt Horn. „Zuerst hat er sich mit seinem Brotzeitmesser blöd g’schnitten, dann ist er oben in eine Pfeilspitze reing’laufen. Wollen wir das glauben? Und passt das zu dem, was wir von ihm wissen? Er war ja offenbar nicht der Dorfdepp.“

Ötzi war Rechtshänder. Das zeigt unter anderem seine Muskulatur, die am rechten Arm kräftiger ist als am linken. „So eine Verletzung holst du dir, wenn dich jemand mit einem Messer oder einem anderen scharfen Gegenstand angreift und du instinktiv mit deiner Führungshand abwehrst. Das könnten wir heute Abend beim Essen oder morgen mal nachstellen.“

War Ötzi einige Tage, bevor ihn der Pfeil traf, in einen Streit verwickelt, der zu einem Nahkampf eskalierte? Machte er sich deshalb auf den Weg zum Tisenjoch? Und wer war eigentlich dieser Ötzi?