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Mit Mut gegen den Strom Ohne jeden Zweifel ist Sahra Wagenknecht eine Ausnahmepolitikerin. Zuweilen wird sie heftig kritisiert, nicht selten auch aus den eigenen Reihen, oft genug auch persönlich angegriffen – und trotz allem bleibt Sahra Wagenknecht unbeirrt auf ihrer politischen Linie. Bei kaum einem anderen Politiker ist dieser unbedingte Wille zu spüren, dieses Land zu verändern. Immer im Zentrum: die Soziale Frage und die Wirtschaftspolitik. Dabei bleibt Sahra Wagenknecht ganz nah an den Wählern, der Bevölkerung, vor allem aber bei den Schwachen und Schwächsten dieser Gesellschaft. In Diskussionen weicht sie nicht aus, sondern beantwortet Fragen gewissenhaft und inhaltlich konkret. Was befähigt diese Frau, so hochengagiert diesen Job zu machen? Was genau sind ihre politischen Vorstellungen? Wie und unter welchen Umständen fand sie in den politischen Betrieb? Woher bekommt sie Anregungen und was nährt ihr politisches Verständnis? Davon berichtet sie in ihrem bislang persönlichsten Buch. Eines ist klar: Sahra Wagenknecht will anders Politik machen.
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Seitenzahl: 262
Ebook Edition
Sahra Wagenknecht
Couragiert gegen den Strom
Über Goethe, die Macht und die Zukunft
Nachgefragt und aufgezeichnet von Florian Rötzer
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ISBN 978-3-86489-685-9
© Westend Verlag GmbH, Frankfurt/Main 2017
Umschlaggestaltung: Buchgut, Berlin
Besonderer Dank ergeht an Philipp Müller für seine redaktionelle Tätigkeit.
Satz und Datenkonvertierung: Publikations Atelier, Dreieich
Rötzer: In 2004 haben Sie Ihr erstes Mandat gewonnen. Später sagten Sie einmal in einem Interview über das Leben als Politikerin: »So, wie ich jetzt lebe, wollte ich nie leben.« Wie hätten Sie denn leben wollen?
Wagenknecht: Mein erstes Mandat hatte ich als Abgeordnete im Europaparlament. Da hatte ich noch Freiräume, auch mein eigenes Leben zu leben. Je mehr Funktionen man übernimmt – in meinem Fall, seit ich Fraktionsvorsitzende bin, denn darauf bezog sich die Aussage –, desto weniger Zeit hat man zum Lesen, zum Nachdenken, zum Entwickeln neuer Ideen oder zum Schreiben. Ich habe früher viel mehr Zeit gehabt für produktive geistige Arbeit, also dafür, Artikel oder auch meine Bücher zu schreiben, das hat damals ja mein Leben geprägt und bestimmt.
Besonders extrem ist der ständige Termindruck natürlich in Wahlkampfzeiten. Nach Wahlen muss ich mir hier immer wieder mehr Freiräume erkämpfen. Denn ein Leben, bei dem man von Termin zu Termin hetzt und irgendwann vor lauter Stress gar nicht mehr weiß, warum man das alles macht, so ein Leben wollte ich nie führen. Dann würde ich mich ja aufgeben. Das kann man mal für kurze Zeit machen, aber auf keinen Fall für lange.
Ich bin in die Politik gegangen, weil ich etwas verändern will. Aber wenn ich etwas verändern will, brauche ich immer wieder die Inspiration durch neue Ideen, und neue Ideen entdecke ich nur, wenn ich Zeit zum Lesen und Nachdenken habe. Früher waren natürlich die Proportionen ganz andere, da habe ich einen großen Teil meiner Lebenszeit damit verbracht zu lesen, über spannende Fragen nachzudenken, zu recherchieren, mir Notizen zu machen. Und dann zu schreiben, zu publizieren, mich an interessanten Debatten über ökonomische oder philosophische Themen mit eigenen Beiträgen zu beteiligen. Irgendwann möchte ich wieder so leben. Es gibt so viele offene Fragen. Wie genau kann eine Marktwirtschaft ohne Kapitalismus aussehen? Wie ist der Effekt der Digitalisierung auf Wachstum und Konjunktur, und vor allem: Wie kann man die Enteignung des Privatlebens durch große Datenkraken wie Google und Facebook verhindern? Wie sollte ein vernünftiges Geldsystem aufgebaut sein? Oder auch Goethes Kapitalismuskritik, vor allem in seinen späten Briefen und Gesprächen, in den Wanderjahren und im Faust II: Wie verblüffend aktuell das doch ist. Dazu möchte ich irgendwann ein Buch schreiben.
Rötzer: Gibt es denn für Sie zurzeit ein Thema, das die politische Debatte beherrscht? Lange Zeit dominierte die Flüchtlingskrise den politischen Diskurs. Oftmals hat man aber das Gefühl, dass politische Themen ebenso wie beispielsweise die kurz hochgeflammte Schulz-Euphorie verschwunden sind. Haben Sie bislang den Eindruck, dass ein ganz bestimmtes Thema das entscheidende Thema für die Politik der nächsten Jahre werden könnte?
Wagenknecht: Die Wohlhabenden und ihre politischen Repräsentanten wollen natürlich das Thema soziale Gerechtigkeit aus der politischen Debatte heraushalten. Die CDU/CSU sowieso, aber auch FDP und GRÜNE haben dazu wenig zu sagen, die SPD hat es im Wahlkampf versucht, aber nicht geliefert. Dass Problem der SPD war, dass sie ja hätte sagen müssen, was sie an ihrer eigenen Politik konkret verändern will. Sie kann nicht glaubwürdig über soziale Gerechtigkeit reden, ohne über ihr eigenes Versagen zu sprechen. Immerhin war die SPD in den zurückliegenden zwanzig Jahren, in denen die soziale Ungleichheit in Deutschland drastisch zugenommen hat, mit Ausnahme einer Wahlperiode immer an der Regierung beteiligt, darunter zwei Wahlperioden als Kanzlerpartei mit den Grünen gemeinsam.
Wenn ich aber nun mit Bürgern spreche oder wenn ich sehe, was in den Mails, die ich bekomme, dominiert, dann sind eindeutig soziale Gerechtigkeit und soziale Sicherheit die Themen, die die Leute am meisten bewegen – nicht als große Überschrift, sondern konkret. Es geht um niedrige Löhne und Renten, mir schreiben Menschen, die trotz guter Ausbildung immer wieder nur Zeitarbeits- oder Leiharbeitsverträge angeboten bekommen und die sich von der ganzen Fachkräftemangel-Debatte verhöhnt fühlen. Andere haben Angst vor dem sozialen Abstieg oder wissen nicht, wovon sie im Alter leben sollen. Ich bekomme immer wieder erschütternde Schicksale geschildert, wo Leute etwa durch Krankheit aus der Bahn geworfen wurden und nie wieder in ein Leben in Wohlstand zurückgefunden haben. Das betrifft auch viele, denen es einmal wirklich gut ging, die gut verdient haben und die sich dann mit mageren Erwerbsminderungsrenten auf Hartz-IV-Niveau wiederfinden. Auch die Angst vor Zuwanderung wird vielfach als soziales Problem diskutiert: als Angst vor hohen Sozialkosten, für die dann der normale Steuerzahler aufkommen muss oder die Kürzungen an anderer Stelle zur Folge haben, oder als Angst vor Billiglohnkonkurrenz. Das sind die Themen, die viele umtreiben, sie betreffen sie viel stärker und unmittelbarer als so manches, was die Politik gern diskutiert.
Die CDU versucht hingegen, das Thema innere Sicherheit in den Mittelpunkt zu stellen, also die Angst vor Terrorismus und Kriminalität für sich zu instrumentalisieren. Das ist eigentlich dreist, denn die Union war wesentlich daran beteiligt, in Deutschland Tausende Polizeistellen abzubauen. Sie hat zugelassen, dass die technische Ausstattung der Sicherheitsbehörden teilweise unterirdisch ist. Jetzt den Sheriff zu mimen ist angesichts dieser Versäumnisse ziemlich unehrlich.
Darüber hinaus haben die Probleme bei der inneren Sicherheit auch viel damit zu tun, dass die soziale Kluft immer größer wird, dass Perspektivlosigkeit und soziale Ungleichheit zunehmen. Das kann man überall beobachten. In Ländern, in denen eine große soziale Ungleichheit herrscht, gibt es in der Regel auch mehr Kriminalität als in Ländern, in denen die Verteilung ausgewogener ist. Die USA etwa, als ein Land mit besonders großen sozialen Unterschieden, hat schon immer auch eine besonders hohe Kriminalität. Es gibt wenige Industrieländer, in denen ein so großer Teil der Bevölkerung im Gefängnis sitzt wie in den Vereinigten Staaten. Wer einen Raubtierkapitalismus nach angelsächsischem Vorbild anstrebt, muss wissen, dass er dann auch mehr Einbrüche, mehr Überfälle und mehr Gewaltdelikte bekommt, und dass das Leben der Menschen nicht nur sozial, sondern generell immer weniger sicher ist.
Rötzer: Wenn man in Deutschland soziale Gerechtigkeit als Sicherung eines bestimmten Lebensstandards diskutiert, ist man derzeit mit den Selbstmord-Terroristen islamistischer Provenienz konfrontiert, die sagen, dass ihnen das ziemlich egal sei, die sich in die Luft sprengen, um ihre Ideologie zu verwirklichen, und die vielleicht das schöne und sichere Leben nicht hier, sondern im Jenseits suchen. Wir, denen es bessergeht und die wir individuell und politisch auf Selbsterhaltung und Stabilität aus sind, stehen einer wachsenden Zahl junger Menschen gegenüber, die eben keinen Wert auf dieses gute, bürgerliche Leben legen, sondern in ihrem Nihilismus alles kaputt machen wollen. Diese existentiell herausfordernde Haltung mit ihrer tödlichen Praxis muss doch eigentlich auch in die Stimmung der Menschen hierzulande mit einwirken.
Wagenknecht: Selbstverständlich macht es vielen Angst, dass sie jetzt auch noch die Sorge haben müssen, womöglich einem Anschlag zum Opfer zu fallen. Der erstarkende islamistische Terrorismus hat verschiedene Ursachen, aber auch er hat durchaus etwas mit der Verteilung von Perspektiven und Lebenschancen zu tun. Wir erinnern uns: Die Anschläge von Paris wurden zum überwiegenden Teil von Menschen mit französischer Staatsbürgerschaft verübt, also in Frankreich geborenen Kindern von Einwanderern, teilweise in zweiter oder dritter Generation.
Es gibt in unserer Gesellschaft immer mehr Menschen, die schon als Kind die Erfahrung machen, dass diese Welt für sie viel weniger Chancen bereithält als für andere, dass sie von dem schönen bunten Leben ihrer Altersgenossen, von Urlaub, Reisen, schöner Kleidung, begehrtem Spielzeug weitgehend ausgeschlossen sind. Wer als Kind einer Familie aufwächst, die von Hartz-IV leben muss, hat eine ganz andere Kindheit und Jugend als Kinder wohlhabender Familien. Das betrifft natürlich genauso Kinder deutscher Eltern, aber der Anteil von Einwandererfamilien, die in Armut leben, ist noch deutlich höher und deshalb auch die Zahl von Einwandererkindern, die früh schon Ausgrenzung und Perspektivlosigkeit erleben. Dazu kommt bei ihnen oft noch handfeste Diskriminierung, etwa wenn türkische oder arabische Namen bei Bewerbungen als Erstes aussortiert werden. Der radikalisierte Islam bietet einem Teil dieser jungen Menschen dann eine Art Ersatzidentität, die sich ausdrücklich gegen die deutsche Gesellschaft und die westliche Lebensweise richtet.
Begünstigt wird die Entstehung solcher Parallelwelten natürlich auch durch die Ghettoisierung von Wohngebieten, für die vor allem die Mietentwicklung und der Rückzug der öffentlichen Hand aus dem Wohnungsmarkt sorgen: Während die Wohlhabenden oder auch die Mittelschicht in ihren Bezirken zunehmend unter sich bleiben, werden Ärmere in die Problemviertel mit hoher Arbeitslosigkeit, schlechter Infrastruktur und schlecht ausgestatteten Schulen abgedrängt. Besonders drastisch kann man das in Paris sehen. In den Banlieues haben wir mehr oder weniger rechtsfreie Räume, in denen Gewalt und Kriminalität an der Tagesordnung sind. Die Menschen, die dort leben, haben mit denen, die in den schönen, wohlhabenden Vierteln zu Hause sind, nahezu nichts mehr zu tun. Wenn man bei einer Bewerbung eine Adresse aus den Banlieues angibt, hat man schon allein deshalb kaum eine Chance, den Job zu bekommen.
In Deutschland ist das noch nicht ganz so krass, aber es gibt auch hier einen Trend, der sich in diese Richtung entwickelt. Beispielsweise habe ich kürzlich eine Gesamtschule im Essener Norden besucht, in der 70 Prozent der Kinder einen Migrationshintergrund haben. Ein Großteil der Kinder spricht kein ausreichendes Deutsch, und wir reden hier über eine Schule, die in der 5. Klasse beginnt. Viele kommen aus schwierigen sozialen Verhältnissen, nicht wenige haben früh Gewalterfahrungen gemacht. Eine Schule in einem solchen Bezirk, die auch nur ansatzweise mit den Problemen klarkommen und den Kindern trotz allem eine Perspektive ermöglichen will, müsste erstklassig ausgestattet sein. Sie braucht weit mehr Personal, vor allem mehr Sozialpädagogen und Förderlehrer, als Schulen in besseren Wohngebieten. Aber während die Probleme sich verschärft haben, wurde an dieser Schule weiter Personal abgebaut. Und schon der katastrophale bauliche Zustand des Schulgebäudes muss den Kindern, die dort hingehen, jeden Tag vor Augen führen, wie wenig sie unserer Gesellschaft wert sind. Die Lehrer an dieser Schule tun ihr Bestes, aber wenn eine Lehrkraft in einem solchen Umfeld mit 25 Kindern alleingelassen wird, dann kann man sich ausrechnen, dass hier Integration schon im Kindesalter scheitert und Lebenschancen zerstört werden. Eine Lehrerin, die das täglich erlebt, sagte zu mir, sie wundere sich, dass wir in Deutschland in Vierteln wie ihrem noch nicht solche Konflikte haben wie in Frankreich.
Hinzu kommt, dass der deutsche Staat dem Treiben islamistischer Hassprediger an den Moscheen bisher mit unverantwortlicher Gleichgültigkeit zuschaut. Schlimmer noch, radikale islamistische Organisationen, die sich vom Religionsunterricht bis zur Hausaufgabenbetreuung um elementare Aufgaben kümmern, die ihnen früh Einfluss auf die Kinder muslimischer Eltern sichern, werden teilweise sogar finanziell unterstützt. Damit gewinnt der radikalisierte politische Islam immer größeren Einfluss, gerade bei den Kindern und Enkeln früherer Zuwanderer, die teilweise weniger integriert sind und auch weniger integriert sein wollen als ihre Eltern und Großeltern. Das ist eine gefährliche Entwicklung.
Wenn wir über Terror reden, dann müssen wir natürlich auch über Kriege und Drohnenmorde reden. Dieser Zusammenhang wird nur selten thematisiert, aber bei näherem Hinsehen ist es offenkundig, dass der islamistische Terror ein Produkt der Öl- und Gaskriege der USA und ihrer Verbündeten im Nahen und Mittleren Osten ist. Als der erste sogenannte ›Krieg gegen Terror‹ begann, 2001 in Afghanistan, gab es wenige hundert international gefährliche Terroristen. Heute, nach 16 Jahren ›Anti-Terror- Krieg‹, sind es hunderttausende. Ohne den Irak-Krieg gäbe es den Islamischen Staat, der die Hauptverantwortung für die Anschläge der letzten Jahre trägt, überhaupt nicht. Manchmal sind die Taten auch eine Reaktion auf Bombardierungen, bei denen Angehörige oder Freunde ums Leben gekommen sind. Dies liegt beispielsweise bei der Axtattacke in einem Zug bei Würzburg im Sommer 2016 nahe, da die Tat unmittelbar erfolgte, nachdem der Attentäter vom Tod seines Freundes in Afghanistan erfahren hatte. Selbstverständlich ist das weder eine Rechtfertigung noch eine Entschuldigung dafür, aus Rache unschuldige Menschen in Europa zu töten. Aber es zeigt, dass, solange wir uns an Kriegen beteiligen, die vor Ort vor allem die Zivilbevölkerung treffen, wir die Terroristen stärken und nicht schwächen. Denn dadurch sorgen wir dafür, dass sich immer mehr Menschen aus Hass und Verzweiflung den Dschihadisten anschließen. Vor allem die Teilnahme an dem völkerrechtswidrigen Krieg in Syrien hat auch Deutschland zur Zielscheibe islamistischer Mörderbanden gemacht.
Wer die Terroristen wirklich schwächen will, muss aufhören, immer mehr Länder durch Kriege zu destabilisieren, wie das in Afghanistan, im Irak, in Libyen und Syrien geschehen ist. Er muss die Finanzströme terroristischer Organisationen kappen und verhindern, dass sie weiterhin an Waffen kommen. Es sind doch vielfach unsere eigenen Verbündeten wie Saudi-Arabien und die Türkei, die den islamistischen Terror finanzieren und hochrüsten. Teilweise haben das in der Vergangenheit sogar die USA und Großbritannien direkt gemacht. Der vermeintliche ›Krieg gegen den Terror‹ ist wirklich eine unglaubliche Heuchelei.
Rötzer: Meine Frage zielte eigentlich auf die Herausforderung durch diesen Nihilismus für unsere Lebensweise. Wir leben hier in einer relativ friedlichen Welt: Die soziale Ungerechtigkeit, die Sie als so zentral herausgegriffen haben, ist für uns zwar ein Thema, aber es ist doch erstaunlich, dass es in unserer Gesellschaft viele junge Leute gibt, die nicht in dem Sinne revoltieren, dass sie sagen: Wir wollen gute Jobs, mehr Geld oder ein besseres Leben. Sie sagen vielmehr, dass sie das alles überhaupt nicht interessiert, und ziehen stattdessen in den Krieg. Für den Islamischen Staat begehen jeden Tag Dutzende von meist jungen Männern Selbstmordattentate – sie verheizen die jungen Menschen einen nach dem anderen. Wie kommt es zu solch einer Praxis eines modernen Nihilismus? Den kann man, glaube ich, nicht alleine durch den Islam oder durch die zweite oder dritte Generation von hiesigen Einwanderern erklären.
Wagenknecht: Aber Selbstmordattentate durch Europäer sind alles in allem doch relativ selten. Die Anschläge, die es fast täglich im Irak, in Afghanistan und in Syrien gibt, werden hauptsächlich von Menschen aus der Region verübt. Es gibt zum Glück nur wenige, die es von Deutschland aus in den Dschihad nach Syrien zieht. Wenn man sich allerdings die wichtigsten Herkunftsländer der Terroristen ansieht, stellt man schnell fest, dass dort alles zerstört ist. Der Irak war mal ein modernes Land mit einem relativ guten Bildungssystem und einer guten Gesundheitsversorgung im Vergleich zu den Nachbarländern, heute ist es ein vollständig zerrütteter Staat, der nicht zur Ruhe kommt. Welche Perspektive haben die Menschen dort? Und das Gleiche in Syrien. Das war mal in der Region eine Art Vorbildstaat. Natürlich auch eine Diktatur wie der Irak, aber es war ein säkularer Staat, keine islamistische Diktatur, und es gab einen gewissen Wohlstand, eine Mittelschicht, Aufstiegschancen. Heute ist Syrien zerstört vom jahrelangen Bürgerkrieg, die Städte sind kaputt und nichts funktioniert mehr. Wer dann auch noch seine Frau oder sein Kind etwa wie im Irak durch die Bomben auf Mossul verloren hat, der sagt sich vielleicht: Ich habe nichts mehr zu verlieren, ich schließe mich den Terroristen an und räche mein zerstörtes Leben.
Rötzer: Wenn man die Medienproduktionen des Islamischen Staats und anderer islamistischer Gruppen sieht, so ist deren Ästhetik westlich. Die Videos sind oder waren relativ aufwendig gemacht und zelebrieren Zerstörungswut ähnlich wie Kinofilme, in denen ein Ding nach dem anderen explodiert und zerstört wird. Man kann den Eindruck gewinnen, dass die jungen Männer auch das durch die Kulturindustrie verherrlichte Abenteuer suchen. Sie haben sicher recht, dass die Staaten dort alle zerstört sind, aber die Leute, die von hier aus Europa kommen, suchen die nicht auch dieses Abenteuer, finden es vielleicht faszinierend, mit dem Gewehr herumzulaufen, um sich zu ballern und Macht über Leben und Tod auszuüben? Ist das nicht auch ein Hintergrund, der von unserer Kultur genährt wird, durch Filme oder manche Computerspiele, die diese Gewalt und Zerstörungswut zelebrieren?
Wagenknecht: Dass wir mit alldem sehr früh eine Gleichgültigkeit gegenüber Gewalt erzeugen, sehe ich auch so. Es gibt eine Untersuchung darüber, wie viele Morde ein Zehnjähriger durchschnittlich schon gesehen hat, wenn er einfach nur mit den Eltern fernsieht; es sind erschreckend viele. Aber das erklärt doch nicht das spezifische Phänomen des islamistischen Terrorismus. Bei den wenigen, die aus gutbürgerlichen Verhältnissen in Deutschland und Europa oder bei denen, die aus vergleichsweise stabilen Ländern wie Tunesien kommen und sagen, wir gehen nach Syrien oder Libyen, wir wollen dort kämpfen, bei denen mag das so sein, aber das ist nur ein winziger Bruchteil derer, die in solchen Terrorgruppen kämpfen und dort organisiert sind.
Rötzer: Die CDU setzt auf Sicherheit, sagten Sie vorher. Damit werden aber nicht die Ursachen von Kriminalität, Terrorismus oder Bürgerkrieg bekämpft, sondern bestenfalls nur Gefahren abgewehrt. Würde eine wirkliche Sicherheitspolitik nicht bedeuten, Frieden zu schaffen?
Wagenknecht: In jedem Fall. Die CDU beispielsweise will nicht über Krieg oder Frieden reden, denn da müsste sie ja über die Kriegseinsätze der Bundeswehr oder darüber reden, wie sinnvoll es ist, Waffen in Kriegs- und Krisengebiete zu liefern und mit Mord und Tod auch noch Profite zu machen. Dieses Thema will die Union lieber aus der öffentlichen Diskussion heraushalten. Die Anerkennung des Zusammenhangs zwischen Krieg und Terrorismus, also zwischen Bombenterror im Nahen und Mittleren Osten, und Sicherheit in unserem Land würde ja dazu zwingen, die eigene Politik zu korrigieren. Das gilt natürlich auch für SPD, Grüne und FDP.
Auch ein Großteil der weltweiten Flüchtlingsströme ist das Ergebnis von Kriegen. Im Jemen geschieht gerade eine furchtbare Katastrophe. Millionen Menschen hungern, die Cholera geht um. Auch für dieses grauenvolle Elend ist unmittelbar ein Krieg verantwortlich, in diesem Fall wurde er maßgeblich von Saudi-Arabien vom Zaun gebrochen. Wenn Frau Merkel ihr ständiges Reden über die »Bekämpfung von Fluchtursachen« auch nur ein bisschen ernst nehmen würde, müsste sie sofort alle Rüstungsexporte in die Golfregion und jede militärische Kooperation mit der saudischen Kopf-ab-Diktatur unterbinden. Aber nichts dergleichen passiert, im Gegenteil: Sie reist mit großer Wirtschaftsdelegation in den Wüstenstaat und bietet sogar eine noch engere militärische Kooperation an. Das Geld der Saudis ist offenbar zu verführerisch. Vermutlich kein Zufall: Nicht wenige große Firmen, die von solchen Deals profitieren, spenden fleißig an die CDU.
Rötzer: Jeremy Corbyn hat im britischen Wahlkampf nach dem Anschlag in Manchester diesen Zusammenhang zwischen der britischen Militärpolitik und der inneren Sicherheit hergestellt. Und natürlich wurde dann direkt versucht, ihn zu stigmatisieren und das Thema zu tabuisieren. Normalerweise wird gesagt, man wolle mit Militärinterventionen Frieden schaffen, eine Regierung stützen und für Stabilität sorgen, man habe Verantwortung. Welche Interessen stehen für Sie hinter diesen militärischen Lösungen von Konflikten? Der russische Präsident Putin zum Beispiel sagt immer wieder ganz deutlich, ein Krieg wie in Syrien biete die Möglichkeit, die Waffen auszuprobieren und vorzuführen, weil Russland auf dem Waffenmarkt erfolgreich sein will. Das ist bei den USA sicher ganz ähnlich. Wie ist das in Deutschland, einem der weltweit größten Waffenproduzenten? Gibt es hier vielleicht auch ein Interesse an Kriegen als eine Art der Wirtschaftsförderung, zumindest für die Rüstungsindustrie?
Wagenknecht: Klar, Deutschland gehört zu den großen Waffenexporteuren dieser Welt, und unsere Rüstungsunternehmen verdienen glänzend an den globalen Kriegen, zumal die Exportgenehmigungen immer lascher gehandhabt werden. 2015 war mit großem Abstand das bisherige Rekordjahr für die Ausfuhren von Waffen und Kriegsgerät, und 2016 waren es nur geringfügig weniger. Natürlich beteiligen wir uns an Kriegen nicht nur deshalb, weil wir dadurch beim Geschäft mit den Waffen in einer besseren Ausgangsposition sind.
Die Absicht ist seit mindestens 20 Jahren, nicht nur ökonomisch eine dominante Rolle in Europa und der Welt zu spielen, sondern auch als militärische Größe wahrgenommen zu werden, was über Jahrzehnte der Nachkriegszeit ein Tabu war. Deutschland hatte keine Soldaten im Ausland, und das war für lange Zeit Konsens in der Politik. Jetzt hingegen will man ganz bewusst wieder dabei sein. Man muss sehen: Es geht auch immer darum, wer bei der Beuteverteilung danach zum Zuge kommt, also etwa bei den lukrativen Wiederaufbauverträgen.
Dass der deutsche Einsatz in Syrien militärisch kaum eine Relevanz hat, konnte man übrigens auch daran erkennen, dass die während des Umzugs von Incirlik nach Jordanien für mehrere Wochen ausgefallenen Tornados seltsamerweise überhaupt niemand vermisst hat. Abgesehen also davon, dass man den ganzen Krieg nicht braucht, werden die deutschen Soldaten auch im militärischen Sinne nicht benötigt. Es geht also weniger um Solidarität mit Frankreich oder den ›Kampf gegen Terror‹ oder was es sonst noch für wohlklingende Begründungen gibt, sondern eher darum, den eigenen Einfluss in dieser rohstoffreichen Schlüsselregion zu sichern. Es ist auch ein Krieg für die Waffenlobby, aber vor allem ein Krieg um Rohstoffe und Einflusssphären. Teilweise wird das ja offen ausgesprochen, dass die Sicherung der Rohstoffversorgung der deutschen Wirtschaft heute auch eine Aufgabe der Bundeswehr sein soll. Das widerspricht allerdings ganz klar dem Grundgesetz.
Rötzer: Der Irak-Krieg wurde von der damaligen US-Regierung politisch und wirtschaftlich als profitabel angepriesen. Die Kosten wären Peanuts, ein paar Milliarden, die nicht nur schnell über Wiederaufbaumaßnahmen und Öl wieder eingespielt würden, sondern die amerikanische Industrie und die der Koalitionspartner würden auch davon profitieren, hieß es vor dem Krieg. Daraus ist ja nichts geworden …
Wagenknecht: Amerikanische und britische Ölkonzerne haben sehr wohl profitiert. Auch Bauunternehmen oder Sicherheitsfirmen wie Blackwater sind mit Großaufträgen bedacht worden. Der amerikanische Staat hat dagegen am Ende draufgezahlt, das ist richtig.
Rötzer: Manche schätzen, dass die Kriege in Afghanistan und im Irak den Staat drei Billionen US-Dollar gekostet haben …
Wagenknecht: Ja, das ist ja die übliche Arbeitsteilung: Die öffentliche Hand, also letztlich der normale Steuerbürger, zahlt und die privaten Konzerne und ihre Aktionäre profitieren. Das funktioniert bei den Kriegen genauso wie bei Subventionen und Fördermitteln in der zivilen Wirtschaft.
Rötzer: Mit diesen beiden hauptsächlichen Themen im Nacken – sozialer Gerechtigkeit in der Innen- und dem vermeintlichen ›Kampf gegen den Terror‹ in der Außenpolitik – machen Sie Politik und prangern in beiden Bereichen die Kurzsichtigkeit der anderen Politiker an. Haben Sie den Eindruck, dass die Kollegen nicht mehr dazu kommen, den Blick nach außen zu richten, und die Muße dazu haben, neue Ideen zu sammeln?
Wagenknecht: Das mag individuell unterschiedlich sein. Aber selbst wenn der Blick nach außen gerichtet wird, ist ja die Frage, in wessen Interesse man das tut. Wenn Frau Merkel durch Afrika reist und die Länder unter Druck setzt, ihre Zölle noch weiter zu senken und damit lokale Anbieter noch ungeschützter der Konkurrenz durch unsere subventionierten Agrarexporte auszusetzen, obwohl sie wissen muss, dass das für die örtliche Wirtschaft den sicheren Ruin bedeutet, ist das ganz sicher keine Politik im Interesse der armen Länder. So entstehen vor Ort keine Perspektiven, sondern sie werden zerstört.
Es gibt wohl generell zwei Typen von Politikern: Es gibt einerseits die, die aus Überzeugung Politik machen. Sie sind in die Politik gegangen, weil sie etwas erreichen wollen. Das kann sehr Unterschiedliches sein, und natürlich muss man ihre Ziele nicht für richtig halten. Aber mit diesen Politikern bin ich immer besser klargekommen, weil man bei ihnen weiß, woran man ist. Sie sind auch in der Regel eher bereit, sich zu korrigieren, wenn eine bestimmte Politik immer wieder zu Fehlschlägen führt.
Es gibt aber andererseits leider immer häufiger den Typus, der irgendwie in die Politik gespült wird. Er landet dann mehr oder weniger zufällig in einer bestimmten Partei, deren Ansichten er dann zwangsläufig vertritt. Und wenn die Partei ihre Ansichten ändert, ändert er sie mit. Politik ist für ihn ein Job, der eine relativ gute soziale Absicherung bietet, das wichtigste Ziel ist daher, sich persönlich die nächste Wiederwahl zu sichern, vielleicht auch an der eigenen Karriere zu arbeiten, aber das war’s dann. Für diese Politiker gibt es kein Anliegen, für das sie brennen, sie sind außerordentlich flexibel und machen jede Wendung des Zeitgeistes mit. Oder sie halten eben auch an einer erkennbar fatalen Politik fest, solange es opportun erscheint oder von einflussreichen Interessengruppen gewollt und honoriert wird.
Die übelste Ausprägung dieses Typus ist der käufliche Politiker, der bestimmte Entscheidungen durchboxt, weil er sich damit nach seinem Ausscheiden aus der aktiven Politik eine lukrative Karriere in den profitierenden Unternehmen sichert. Da winkt dann endlich das richtig große Geld. Diese Korruption nach dem Motto »bezahlt wird später« nimmt zu. Es ist eben immer die Frage, ob man – politisch – wirklich etwas erreichen will. Dann muss man natürlich auch daran arbeiten, dass man seine inhaltliche Substanz nicht verliert. Will man nur irgendwie mitspielen oder funktionieren, ist das anders. Wem das reicht, der kommt natürlich auch mit dem üblichen Hamsterrad der Termine ganz gut klar.
Rötzer: Hat man aber wirkliche Präsenz nicht nur dann, wenn man Spitzenpolitiker und kein Hinterbänkler ist?
Wagenknecht: Es gibt in allen Parteien Politiker, die sich für ganz konkrete Dinge in ihrem Wahlkreis oder der Region, für die sie Verantwortung tragen, einsetzen. Sie machen dort ihre Arbeit und haben da auch tatsächliche Anliegen. Sämtliche Politiker als korrupte Idioten abzuqualifizieren ist eine bösartige Verfälschung. Und sie bedient bestimmte Interessen: Politiker sind nun mal diejenigen, die die öffentliche Hand vertreten. Wer sie allesamt für unfähig erklärt, ist schnell bei der Position »privat vor Staat«, also Privatisierungen öffentlicher Dienste, weil die Privatwirtschaft angeblich fähiger, effizienter, besser ist. Und natürlich: Wenn Politiker generell nichts taugen, taugt auch die parlamentarische Demokratie nichts und ist zum Abschuss freigegeben.
Wir brauchen zwar dringend mehr direkte Demokratie, mehr Entscheidungen direkt von der Bevölkerung, aber wer das Parlament gleich ganz als nutzlose Schwatzbude abwertet, führt wohl kaum Gutes im Schilde. Zur Wahrheit gehört allerdings auch: Es sind die viel zu vielen rückgratlosen und teilweise korrupten Politiker, die die Hauptverantwortung dafür tragen, dass die repräsentative Demokratie so in Misskredit gekommen ist und Demokratieverachtung Zulauf hat.
Rötzer: Sie sind ja insofern eine Ausnahmepolitikerin, als Sie von der Philosophie in die Politik kamen. Gibt es noch einen anderen Philosophen oder eine Philosophin im Bundestag? Wahrscheinlich nicht, oder?
Wagenknecht: Es gibt sicher einige, die Philosophie studiert haben. Leider gibt es nur wenige Politiker mit dem Anspruch, Bücher mit einer eigenständigen intellektuellen Qualität zu schreiben, obwohl das die öffentliche Debatte interessanter machen würde.
Rötzer: Wenn man das jetzt einfach mal nur beruflich sieht, ist es doch schon etwas Außergewöhnliches, dass eine Philosophin Spitzenpolitikerin einer Partei im Deutschen Bundestag ist. Was ist eigentlich der Grund dafür, dass so wenige von außen in die Politik hineinkommen? Politiker scheint ein Berufsstand für bestimmte Professionen zu sein, also vor allem von Juristen oder Beamten. Sind die Parteien zu wenig dafür offen, Quereinsteiger hineinzulassen? Das würde die Kreativität oder die kreative Unruhe ein bisschen befördern, scheint aber den Trott oder das Gefüge zu stören.
Wagenknecht: Die normale Politikerkarriere ist eine Ochsentour von unten nach oben. Das fängt damit an, dass man sich zunächst einmal im Orts- oder Kreisverband Rückhalt verschafft – entweder weil man besonders engagiert und besonders fähig ist oder weil man sich besonders darauf versteht, sich mit anderen zu verbünden, mit einflussreichen Leuten abends ein Bier zu trinken und die, die einen stützen sollen, zum Essen einzuladen. Damit fängt die Laufbahn meistens an, und das muss man oft ziemlich lange machen, ehe irgendwann der nächste Karriereschritt kommt. Später, oftmals viel später, winkt irgendwann vielleicht auch der Bundestag.
Rötzer: Mussten Sie das auch tun? Wie begann denn Ihre Laufbahn?
Wagenknecht: So etwas musste ich nie machen, ich hätte das auch nicht gekonnt. Ich hatte das Glück, dass die PDS 1990 eine Partei im Umbruch war. Sie hatte ihre alte Führung abgelöst, und es gab daher nicht nur eine Offenheit für, sondern auch einen Bedarf an frischen, jungen Gesichtern. Ich habe im Alter von 21 und noch völlig unbekannt auf einem Parteitag eine Rede gehalten, die offenbar die Delegierten überzeugt hat, und bin direkt in den Parteivorstand gewählt worden. Allerdings habe ich mich damals nicht um ein Parlamentsmandat bemüht, weil ich das nicht wollte. Ich wollte keine Berufspolitikerin werden, eben weil ich die Sorge hatte, dass ich dann kein selbstbestimmtes Leben mehr führen kann.
Ich habe nur einmal kandidiert, 1998 für ein Direktmandat in Dortmund. Es war allerdings klar, dass die PDS das natürlich nicht erhalten wird. Das habe ich gemacht, um mal auszutesten, ob mir Wahlkampf überhaupt liegt. Es war eine spannende Erfahrung, in jeder Hinsicht. Aber mehr auch nicht. Der erste ernsthafte Versuch, wirklich in ein Parlament zu kommen, war meine Kandidatur für das Europaparlament 2004. Ich hatte mich damals in einer Kampfkandidatur durchgesetzt. Aber auch da war unklar, ob es überhaupt für einen Einzug ins Europaparlament reichen würde, denn die PDS war ja 2002 bei der Bundestagswahl an der Fünfprozenthürde gescheitert. Damals war die Rechtslage noch so, dass man auch bei der Europawahl mindestens fünf Prozent braucht. Es war also offen.
Rötzer: Ich möchte eigentlich noch etwas weiter zurückgehen: Sie sagten, Sie hätten viel Zeit gehabt zu lesen, dass Ihnen das jetzt fehle und Sie versuchen würden, wieder solche Freiräume für sich zu schaffen. Sie sind auf dem Land aufgewachsen, bei Ihrer Großmutter. Gab es da in Ihrer unmittelbaren Umgebung Bücher?
Wagenknecht: Bei meinen Großeltern selbst nur wenige, aber in Jena gab es wie überall damals Kinderbibliotheken. Meine Großeltern mussten arbeiten, meine Oma war Verkäuferin, mein Opa Meister bei Carl Zeiss Jena, das heißt, ich war relativ viel alleine. Meine Großmutter war zwar die ersten drei Jahre überwiegend zu Hause, aber sie musste dann wieder arbeiten, weil meine Großeltern einfach das Geld brauchten. Dadurch hatte sie weniger Zeit, mir vorzulesen, und ich habe dann mit vier Jahren gelernt, selbst zu lesen.
Rötzer: Mit vier Jahren bereits lesen zu können ist ungewöhnlich. Hat Ihnen das jemand beigebracht?
Wagenknecht: Lesen kann man ohne Anleitung nicht lernen. Lesen und Schreiben hat mir vor allem meine Oma beigebracht. Bücher waren für mich das Tor zur Welt. In Büchern habe ich Dinge erfahren, die mein Leben reicher machten, die ich spannend fand. Ich war wissbegierig, wollte einfach immer etwas Neues erfahren. Natürlich habe ich als Kind auch im Sandkasten gespielt. Aber das war nicht aufregend. Deshalb habe ich meine Großeltern gedrängt, mir Lesen beizubringen. Ich bin von da an in die Bibliothek in Jena gegangen und habe mir Stapel von Büchern geholt. Bibliotheken waren für mich damals so etwas wie für andere Kinder die Süßwarenabteilung im Supermarkt: ein Ort, an dem es unheimlich viel Schönes zu entdecken gibt.
Rötzer: Welche Lektüre hat Sie denn als kleines Kind am meisten fasziniert?
Wagenknecht: Hauptsächlich Märchen.
Rötzer: So wie die Brüder Grimm?
Wagenknecht: Ja, Grimms Märchen, aber auch andere. Ich weiß noch, ich hatte auch persische Märchen und dann Tausendundeine Nacht. Und überhaupt alles, was es so an Kinderbüchern gab.
Rötzer: Radio oder Fernsehen sind ja auch Türen zur Welt. Gab es denn bei Ihren Großeltern einen Fernsehapparat?
Wagenknecht: Ja, klar, wir reden hier ja schließlich über die 70er-Jahre.
Rötzer: War das Fernsehen für Sie weniger interessant als Bücher?