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Urban, divers, kosmopolitisch, individualistisch – links ist für viele heute vor allem eine Lifestylefrage. Politische Konzepte für sozialen Zusammenhalt bleiben auf der Strecke. Sahra Wagenknecht zeichnet eine Alternative zu einem Linksliberalismus, der sich progressiv wähnt, aber die Gesellschaft weiter spaltet, weil er sich nur für das eigene Milieu interessiert und Diskriminierung aufgrund sozialer Herkunft ignoriert. Sie entwickelt ein Programm, mit dem soziale Politik wieder mehrheitsfähig werden kann. Gemeinsam statt in immer kleineren Minderheitengruppen. »Sahra Wagenknechts Buch ist eine Herausforderung für jeden, egal ob er sich für eher links, liberal oder konservativ hält, die eigenen Argumente zu prüfen, die eigenen Überzeugungen zu korrigieren oder auch beizubehalten.« Monika Maron, Die Welt »Wagenknecht emotionalisiert nicht, sie argumentiert; sie stellt keine Stimmung her, sondern analysiert; sie schwelgt nicht in Betroffenheit, sondern ist erkenntnisgetrieben.« Adam Soboczynski, Die Zeit »Selten fand ich eine politische Gegenwartsanalyse treffender.« Denis Scheck, ARD Druckfrisch
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Seitenzahl: 518
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Sahra Wagenknecht
DIE SELBST-GERECHTEN
Mein Gegenprogramm – für Gemeinsinn und Zusammenhalt
Campus Verlag
Frankfurt/New York
Über das Buch
Urban, divers, kosmopolitisch, individualistisch – links ist für viele heute vor allem eine Lifestylefrage. Politische Konzepte für sozialen Zusammenhalt bleiben auf der Strecke. Sahra Wagenknecht zeichnet eine Alternative zu einem Linksliberalismus, der sich progressiv wähnt, aber die Gesellschaft weiter spaltet, weil er sich nur für das eigene Milieu interessiert und Diskriminierung aufgrund sozialer Herkunft ignoriert. Sie entwickelt ein Programm, mit dem soziale Politik wieder mehrheitsfähig werden kann. Gemeinsam statt in immer kleineren Minderheitengruppen.»Sahra Wagenknechts Buch ist eine Herausforderung für jeden, egal ob er sich für eher links, liberal oder konservativ hält, die eigenen Argumente zu prüfen, die eigenen Überzeugungen zu korrigieren oder auch beizubehalten.« Monika Maron, Die Welt»Wagenknecht emotionalisiert nicht, sie argumentiert; sie stellt keine Stimmung her, sondern analysiert; sie schwelgt nicht in Betroffenheit, sondern ist erkenntnisgetrieben.« Adam Soboczynski, Die Zeit»Selten fand ich eine politische Gegenwartsanalyse treffender.« Denis Scheck, ARD Druckfrisch
Vita
Sahra Wagenknecht ist promovierte Volkswirtin, Publizistin und Politikerin, Mitglied des Bundestags für die Partei Die Linke, für die sie auch im Europäischen Parlament saß. Von 2010 bis 2014 war sie Stellvertretende Parteivorsitzende, von 2015 bis 2019 Vorsitzende der Linksfraktion. Bei Campus sind ihre Dissertation The Limits of Choice und ihre Bücher Freiheit statt Kapitalismus (2012), Reichtum ohne Gier (2016/2018) und Die Selbstgerechten (2021) erschienen.
Cover
Titel
Über das Buch
Vita
INHALT
Impressum
ZEITENWENDE – DER LINKSLIBERALISMUS UND DER ABSCHIED VON DER LIBERALEN GESELLSCHAFT — VORWORT ZUR TASCHENBUCHAUSGABE
VORWORT
Emotionen ersetzen Argumente
Wer vergiftet das Meinungsklima?
Der Linksliberalismus: weder links noch liberal
Illiberalismus und Intoleranz
Verlust an Gemeinsamkeit
Die Gewinner blicken anders auf das Spiel
In der Filterblase des eigenen Milieus
Abbau von Spaltung und Angst
Die Mehrheit ansprechen
Teil I
DIE GESPALTENE GESELLSCHAFT UND IHRE FREUNDE
1.
MORALISTEN OHNE MITGEFÜHL
Die Lifestyle-Linke: weltläufig und sprachsensibel
Bessergestellte unter sich
Die Wähler ergreifen die Flucht
2.
GROSSE ERZÄHLUNGEN
Erfolglose Erfinder
Der Tod der Wikinger
Die Tellerwäscher-Erzählung
Große Revolution oder schwarze Null
Weltoffen oder schutzlos
Rechtfertigung von Privilegien
Bräuche und Vereinskultur
Wählen in Familientradition
Gruppendruck
3.
SOLIDARITÄT, TRIUMPH UND DEMÜTIGUNG: DIE GESCHICHTE DER ARBEITER
Nichts zu verlieren
Die Norm als Befreiung
Der Abstieg: Wenn Industrien und Zusammenhalt verschwinden
4.
DIE NEUE AKADEMISCHE MITTELSCHICHT
Gut bezahlte Dienstleistungsberufe für Hochschulabsolventen
Abschottung nach unten und die Wiederkehr des Bildungsprivilegs
Neue Erzählungen: Der Neoliberalismus und die Nach-68er-Linke
5.
DER LINKSILLIBERALISMUS – MAGGIE THATCHERS GRÖSSTER ERFOLG
Privilegierte Opfer – die Identitätspolitik
Parallelgesellschaften und die Auflösung der Gemeinsamkeit
Sozialpolitik als Minderheitenprojekt
Die »offene Gesellschaft«: Mauern im Inneren
6.
ZUWANDERUNG – WER GEWINNT, WER VERLIERT?
Ärzte aus Syrien und Afrika
Die vergessenen Flüchtlinge
Billige Arbeitskräfte
Wohnen im Brennpunkt
7.
DAS MÄRCHEN VOM RECHTEN ZEITGEIST
Wer wählt rechte Parteien?
Leerstelle im politischen System: Wenn Mehrheiten keine Stimme mehr haben
Hohepriester des Wirtschaftsliberalismus: Elitenprojekt EU
Gegen das Establishment – Underdog als Erfolgsrezept
Der Zeitgeist: Sehnsucht nach Anerkennung, Sicherheit und einem guten Leben
Teil II
EIN PROGRAMM FÜR GEMEINSAMKEIT, ZUSAMMENHALT UND WOHLSTAND
8.
WARUM WIR GEMEINSINN UND MITEINANDER BRAUCHEN
Klüger als der Homo oeconomicus
Wenn der Kitt sich auflöst
Gemeinschaftswerte: Zugehörigkeit als Zukunftsentwurf
9.
NATIONALSTAAT UND WIR-GEFÜHL: WESHALB EINE TOTGESAGTE IDEE ZUKUNFT HAT
Kein Zurück zum Nationalstaat?
Bürger ihres Landes: Geschichte und Kultur statt Gene
Für ein Europa souveräner Demokratien
10.
DEMOKRATIE ODER OLIGARCHIE: WIE WIR DIE HERRSCHAFT DES GROSSEN GELDES BEENDEN
Was früher besser war
Meinungsmacht, Filterblasen und gekaufte Wissenschaft
Ein schwacher Staat ist ein teurer Staat
Republikanische Demokratie: Der Wille der Mehrheit
Volksentscheid und Losverfahren
11.
FORTSCHRITT STATT FAKE: LEISTUNGSEIGENTUM FÜR EINE INNOVATIVERE WIRTSCHAFT
Wenn Anstrengung und gute Ideen nicht mehr honoriert werden
Warum der Kapitalismus innovationsfaul wurde
Ehrliche Umweltpolitik statt Preiserhöhungen und Lifestyle-Debatten
Ein neues Leistungseigentum
Motivierend und gerecht: Für eine echte Leistungsgesellschaft
Wohin mit den Schulden? Für ein stabiles Finanzsystem
Warum De-Globalisierung unser Leben verbessert
12.
EINE DIGITALE ZUKUNFT OHNE DATENSCHNÜFFLER
Sie überwachen alles
Die andere Digitalisierung: Europas Chance
SCHLUSS
Refeudalisierung von Wirtschaft und Gesellschaft
Im Interesse der akademischen Mittelschicht
Affront für Nichtakademiker
Respekt vor Gemeinschaftswerten
ANHANG
WEITERFÜHRENDE LITERATUR
ANMERKUNGEN
Zeitenwende – Vorwort zur Taschenbuchausgabe
Vorwort
1.
Moralisten ohne Mitgefühl
2.
Große Erzählungen
3.
Solidarität, Triumph und Demütigung
4.
Die neue akademische Mittelschicht
5.
Der Linksilliberalismus – Maggie Thatchers größter Erfolg
6.
Zuwanderung – wer gewinnt, wer verliert?
7.
Das Märchen vom rechten Zeitgeist
8.
Warum wir Gemeinsinn und Miteinander brauchen
9.
Nationalstaat und Wir-Gefühl
10.
Demokratie oder Oligarchie
11.
Fortschritt statt Fake
12.
Eine digitale Zukunft ohne Datenschnüffler
VORWORT ZUR TASCHENBUCHAUSGABE
Die Denkströmung des modernen Linksliberalismus, die Linkssein in erster Linie über Lifestyle-Fragen und moralische Haltungsnoten definiert und dabei die Privilegien gut situierter Großstadtakademiker mit persönlichen Tugenden verwechselt, ist ein zentraler Gegenstand dieses Buches. In ihm wird erklärt, warum der moderne Linksliberalismus weder links noch liberal ist und wie er den alten wirtschaftsliberalen Politikempfehlungen nach der Jahrtausendwende ein frisches, progressives Image verpasst hat. Außerdem wird beschrieben, welche Veränderungen im Sozialgefüge dem Aufstieg des Linksliberalismus zum Meinungsführer in der öffentlichen Debatte der meisten westlichen Länder zugrunde lagen.
Es sind auch anderthalb Jahre nach Erscheinen des Buches immer noch die gleichen Meinungsführer und die gleichen Medien, die die öffentliche Diskussion in unserem Land prägen. Die Dominanz des Linksliberalismus wurde durch den Regierungseintritt der Grünen als der linksliberalen Partei par excellence sogar weiter verstärkt. Aber die linksliberalen Erzählungen haben sich verändert. Ihr Sound ist kaum noch wiederzuerkennen.
Wenige Tage nach dem Überfall Russlands auf sein Nachbarland am 24. Februar 2022 hielt der deutsche Bundeskanzler im Bundestag eine mit stehenden Ovationen gefeierte Rede, in der er eine Zeitenwende beschwor. Nichts sei mehr wie zuvor, mit dem Ausbruch des Ukraine-Krieges seien wir in einer anderen Welt aufgewacht. Deshalb müsse sich auch die deutsche Außen- und Sicherheitspolitik grundsätzlich neu orientieren. Konkret kündigte Olaf Scholz gewaltige Rüstungsvorhaben an, für deren Finanzierung zusätzliche Schulden in Höhe von 100 Milliarden Euro aufgenommen werden. Außerdem stellte Scholz der ukrainischen Führung Waffenlieferungen in Aussicht, deren Umfang und militärische Zerstörungskraft in den Folgemonaten immer größer wurden.
Scholz‹ Zeitenwende bedeutet für Deutschland aber nicht nur das definitive Ende der Ära militärischer Zurückhaltung. Der von vielen SPD-Politikern mit Reue, Scham und Buße zelebrierte Abschied von der unter Willy Brandt eingeleiteten und von seinen Amtsnachfolgern mehr oder minder fortgesetzten Entspannungspolitik, ohne die es die deutsche Wiedervereinigung wahrscheinlich nicht gegeben hätte, hat auch dramatische ökonomische Folgen. Denn angestrebt wird eine vollständige Neuausrichtung der deutschen Handelsbeziehungen und der Abbruch möglichst aller wirtschaftlichen Kontakte zu unserem großen europäischen Nachbarn im Osten, wobei der geplante Verzicht auf die vergleichsweise billige russische Energie und die russischen Rohstoffe besonders schwerwiegt. Denn sie waren und sind Existenzbedingungen einer wettbewerbsfähigen deutschen Industrie, und Ersatz, zumal bezahlbarer, ist nirgends in Sicht.
Aber was zählen harte Wirtschaftsdaten, und auch unschöne historische Reminiszenzen stören offenbar nicht: Die grüne Außenministerin will »Russland ruinieren«!1 Auf diesem zweifelhaften Pfad hasten und taumeln die Ampelpolitiker seither wie Getriebene, denen ein Blick zurück oder auf abzweigende Seitenwege streng untersagt ist. Es geht immer nur in eine Richtung. Egal, wo der Weg endet. Egal, ob die Sanktionen wirken. Egal, wie hoch der Preis ist, den wir dafür zahlen.
Dabei bestehen die Wegmarkierungen aus schlichten, einprägsamen Botschaften: Putin ist der neue Hitler. Mit Putin zu verhandeln ist Appeasement-Politik. Wer mit einem Aggressor Handel treibt, macht sich schuldig. Die Ukrainer kämpfen für unsere Freiheit und sterben für Europa. Die Ukraine muss diesen Krieg militärisch gewinnen. Dafür müssen wir ihr immer mehr und immer leistungsfähigere Waffen liefern. Sonst steht der Russe bald vor unserer Tür.
Kriege werden nicht nur mit Panzern und Raketen geführt, sie brauchen auch emotional eingängige Erzählungen, um die Öffentlichkeit bei der Stange zu halten. Da den wirklichen Kriegsgründen meist wenig Romantik innewohnt, können Nazi-Vergleiche oder einfach erfundene Geschichten für die nötige Emotionalisierung sorgen. Schon die Bombardierung von Belgrad durch die NATO wurde mit dem moralischen Imperativ »Nie wieder Auschwitz« gerechtfertigt. Dass es den sogenannten Hufeisenplan, mit dem angeblich sämtliche Albaner aus dem Kosovo vertrieben werden sollten, und die serbischen Konzentrationslager nie gab, erfuhr die interessierte Öffentlichkeit im Nachhinein. Unvergessen auch der tränenreiche Auftritt der Tochter des kuwaitischen Botschafters vor dem amerikanischen Kongress, die zur Einstimmung auf den ersten Irak-Krieg als angebliche Krankenschwester schilderte, wie irakische Soldaten kuwaitische Frühchen brutal aus ihren Brutkästen gerissen hätten. Die PR-Agentur Hill & Knowlton hatte das Setting damals professionell arrangiert und vermutlich vorher mit dem Mädchen geprobt. Etwas weniger anrührend war die Rede von US-Außenminister Colin Powell vor dem UN-Sicherheitsrat, in der er den versammelten Nationen der Welt die Lüge auftischte, der Irak verfüge über Massenvernichtungswaffen. »Wir haben gelogen, wir haben betrogen und wir haben gestohlen. Wir hatten ganze Ausbildungskurse darin«,2 fasste Ex-CIA-Chef Mike Pompeo diese Praxis einmal gut gelaunt zusammen.
Heute erzählt Putin dem russischen Volk, bei seiner Spezialoperation gehe es vor allem um den Kampf gegen ukrainische Nazis und den dortigen Faschismus. Große angelsächsische PR-Agenturen wiederum machen uns das Gleiche im Hinblick auf Russland weis. Wenn man Putin nicht stoppt, so die Botschaft, überfällt er morgen Polen und übermorgen marschiert er durchs Brandenburger Tor. Durch diese Deutung wurde aus einem regionalen Konflikt unser Krieg, den wir jetzt, koste es, was es wolle, führen müssen. Und es kostet viel, vor allem für Europa und ganz besonders für Deutschland. Aber die Frage »Wem nützt es?« stellen ja heute nur noch Verschwörungstheoretiker.
Die letzten Monate sind ein Lehrbeispiel dafür, in welchem Ausmaß emotional wirkmächtige Erzählungen – professionell aufbereitet, mit ausdrucksstarken Bildern unterlegt und mit geballter Medienmacht nahezu ohne Störgeräusch abweichender Meinungen in jedes Wohnzimmer und auf jedes Smartphone gesendet – das rationale Denken blockieren können. Selbst das untrügliche Gespür, das Menschen normalerweise für ihre eigenen Interessen haben, kann unter solchen Bedingungen ausgeschaltet werden. Nicht bei allen und wahrscheinlich auch nicht auf unbegrenzte Zeit, aber doch bei sehr vielen und bemerkenswert lange.
Es stimmt: Russland hat einen Angriffskrieg gegen die Ukraine begonnen. Dieser Krieg ist völkerrechtswidrig, brutal und durch nichts zu rechtfertigen. Darüber kann und sollte man sich empören. Doch worin besteht die »Zeitenwende«? Waren all die anderen völkerrechtswidrigen, brutalen und durch nichts zu rechtfertigenden Angriffskriege, die allein in den ersten zwei Jahrzehnten des 21. Jahrhunderts in bedenklich großer Zahl stattgefunden haben, weniger empörenswert? Ist neuerdings jeder Aggressor ein Wiedergänger Hitlers? Und weshalb dürfen die USA, Saudi-Arabien oder die Türkei auf dem Staatsgebiet anderer Länder bomben, foltern und Kriegsverbrechen begehen, ohne dass solche Untaten jemals mit Sanktionen geahndet werden?
Im Namen des »Kriegs gegen den Terror« haben allein die Vereinigten Staaten sieben Länder überfallen. Sie und ihre Verbündeten haben im Irak oder in Libyen ganze Städte dem Erdboden gleichgemacht. Sie haben geächtete Waffen wie Streubomben und Uranmunition eingesetzt. Sie haben in Afghanistan, Pakistan, Syrien, dem Jemen oder Somalia bisher über 100 000 Angriffe mit Drohnen ausgeführt und dabei Frauen und Kinder zerfetzt, die das Pech hatten, zur falschen Zeit am falschen Ort gewesen zu sein. Sie haben Staaten, die ihren Bürgern zuvor Stabilität und einen gewissen Wohlstand bieten konnten, in unregierbare Failed States verwandelt, deren Bewohner sich seither gegenseitig massakrieren, weil islamistische Banden um die Macht kämpfen. Niemand kennt die genaue Zahl der Opfer dieser Kriege, sicher ist, dass sie die Million übersteigt.
Heute geschieht in der Ukraine Schreckliches. Auch hier sterben Frauen und Kinder und von vielen Städten und Dörfern in den Kampfgebieten sind nur noch rauchende Ruinen übrig. Aber weshalb soll ausgerechnet dieser Krieg die Welt zu einer anderen gemacht haben?
Wenn Menschen leiden, die aussehen wie wir, kulturell ähnlich geprägt sind wie wir und in derselben Supermarktkette ihre Einkäufe erledigen, gibt es naturgemäß ein stärkeres Mitempfinden, als wenn die gleiche Grausamkeit in einem uns fremden Winkel der Welt geschieht. Das Nahe bewegt uns mehr als das Ferne. Das ist menschlich und emotional verständlich. Verwerflich wird es, wenn politisch gebildete Meinungsführer, die uns gestern noch mit großer Geste belehrt haben, dass Solidarität unteilbar ist, auf der Klaviatur solcher Emotionen spielen.
Vor dem russischen Überfall auf die Ukraine verhungerte weltweit alle zehn Sekunden ein Kind, ohne dass dieses Verbrechen unser politisches Personal sonderlich berührte. Wenn der Ukraine-Krieg nicht bald endet, könnte sich die Zeitspanne auf 9 Sekunden verkürzen. Und jetzt sorgt man sich plötzlich um das Welthungerproblem? Diese doppelten Standards und die kaum kaschierte Scheinheiligkeit sind im Übrigen auch der wichtigste Grund dafür, dass die westlichen Russland-Sanktionen ins Leere laufen mussten. Mit Blick auf das alltägliche Unrecht in so vielen Teilen der Welt, für das westliche Politiker und westliche Großunternehmen direkte Mitverantwortung tragen, haben die meisten Länder schlicht keinen Grund gesehen, sich an den Boykottmaßnahmen zu beteiligen.
Auch wenn sich auf unserem Planeten seit Februar vieles zum Schlechten verändert hat, eine weltpolitische Zeitenwende markiert der Kriegsbeginn nicht. Wir lebten damals und wir leben heute in einer Welt, in der der Einsatz militärischer Gewalt zur Erreichung politischer oder wirtschaftlicher Ziele in vielen Regionen eine traurige Selbstverständlichkeit ist; in der schlimmes Leid und auch der Tod von Menschen gleichgültig in Kauf genommen werden, wenn es den Geschäften nützt; in der Menschenrechte von Diktatoren mit Füßen getreten werden, auch von solchen, mit denen wir enge Handelsbeziehungen pflegen oder die unser grüner Wirtschaftsminister jetzt mit einem tiefen Bückling als neue Gas- oder Öl-Lieferanten umwirbt. Und wir leben in einer Welt, in der Kriege fast immer nur dadurch beendet werden konnten, dass die Kriegsparteien irgendwann, zermürbt und erschöpft, doch miteinander zu reden begannen. Stets kam dabei am Ende ein Kompromiss heraus, der bei gutem Willen schon sehr viel früher und mit Zehntausenden Toten weniger hätte gefunden werden können.
Eine echte Zeitenwende würden wir erleben, wenn Krieg als Mittel der Politik endlich global geächtet und die westliche Welt in dem Bemühen vorangehen würde, widerstreitende Interessen durch eine Politik der Entspannung und des gegenseitigen Respekts zum Ausgleich zu bringen. Eine Zeitenwende wäre es, wenn niemand mehr mit Waffenlieferungen an Kriegsparteien Bombengeschäfte machen könnte. Vielleicht nicht alle, aber sehr viele Kriege könnten dadurch beendet werden oder hätten nie begonnen, unendliches Leid wäre der Menschheit erspart geblieben.
Auch in Bezug auf die Sinnhaftigkeit der aktuellen Aufrüstung stellt sich die Frage: Hätte der Ukraine-Krieg etwa verhindert werden können, wenn die NATO-Staaten, die in den letzten Jahren achtzehnmal so viel für Rüstung ausgegeben haben wie Russland, das russische Militärbudget schon damals um das Zwanzig- oder gar Dreißigfache übertroffen hätten? Oder liegt eine zentrale Ursache des Konflikts nicht eher in der Demütigung, die die Führung eines großen Landes empfinden muss, wenn man ihre lautstark und in zunehmender Schärfe vorgetragenen »roten Linien« ungerührt überschreitet?
Unser Planet wird wohl kaum ein sichererer Ort, wenn immer mehr Ressourcen in den Bau und die Perfektionierung von Mordmaschinen fließen, statt in die Bildung unserer Kinder, die Erforschung umweltschonender Technologien oder unsere Gesundheits- und Pflegeeinrichtungen. Selbst im Kalten Krieg waren sicherheitspolitische Absprachen, wirtschaftliche Kooperation und sogar Abrüstungsverträge möglich, während heute jedes Telefonat mit dem russischen Präsidenten unter Rechtfertigungsdruck steht und die Wertschätzung von Diplomatie und Interessenausgleich einer brachialen Rhetorik militärischer Stärke gewichen ist.
Wenn es irgendwo eine Art Zeitenwende gab, dann hat sie in der öffentlichen Debatte in Deutschland stattgefunden. Zwar geben linksliberale Protagonisten hier unverändert den Ton an. Aber ihre Erzählung, die Werte und Vorbilder, für die sie werben, sind kaum noch wiederzuerkennen. Der empfindsame Individualist, der »toxische Männlichkeit« verabscheut, schon »Mikroaggressionen« fürchtet und nach Selbstverwirklichung strebt, hat nicht mehr viele Freunde. Die neuen Helden des Linksliberalismus sind mannhaft, furchtlos und jederzeit bereit, für ihr Land in den Tod zu gehen. Ein Präsident im olivgrünen Shirt mit demonstrativ ungepflegtem Bartwuchs und tiefen Augenrändern, der schon vor Jahren Oppositionelle verfolgen ließ,3 während er sein Vermögen in Steueroasen versteckte, und der heute seine Landsleute zu Härte, zum Basteln von Molotowcocktails und zum Lynchen von Kollaborateuren aufruft, gilt neuerdings in linksliberalen Kreisen als Freiheitsikone. Und wenn sein mittlerweile abberufener Botschafter deutsche Schriftstellerinnen und Philosophen, die für eine Verhandlungslösung werben, in faschistoidem Ton als »bunch of pseudo-intellectual losers« beleidigt, die die Klappe halten und sich zum Teufel scheren sollen,4 leuchten im linksliberalen Debattenraum keine »Triggerwarnungen« auf, sondern der Mann wird für seine Geradlinigkeit und klare Ausdrucksweise gelobt.
Ansonsten wird der Sprachkampf gegen vermeintlich verletzende Worte zwar immer noch mit Leidenschaft geführt. Wer es wagt, von Mitarbeitern statt Mitarbeitenden zu reden oder das Stottern beim Sternchen vergisst, hat schnell seine Karriere verspielt. Aber wo es um echte, tödliche Verletzungen geht, da hört die Sensibilität auf. Kriegsmüdigkeit wird nicht mehr geduldet,5 und wer die Lieferung schwerer Waffen in ein Kriegsgebiet mit der altlinken Begründung ablehnt, dass sie nur zur Verlängerung der Kämpfe und zu noch mehr Opfern führen, sieht sich unversehens als Lumpenpazifist exkommuniziert.6
Einstige Wehrdienstverweigerer kennen plötzlich die exakten Namen aller in Deutschland produzierten Panzertypen und ihre Wortwahl vermittelt den Eindruck, sie würden am liebsten gleich selbst im Leopard mit geladenem Rohr gen Russland rollen. Sogar ihre wohlbehüteten Kinder rufen nicht mehr nur nach Fleischverboten, E-Autos und offenen Grenzen, sondern auch nach der Verschickung von schwerem militärischem Gerät, obwohl dessen Einsatz im Ukraine-Krieg kaum CO222-neutral zu gestalten ist. Die deutsche Bevölkerung wiederum wird aufgefordert, gefälligst auch mal Opfer zu bringen. Wer schon nicht für die Freiheit kämpft, soll wenigstens für sie frieren.
Sogar das Nationale erfährt eine unverhoffte Rehabilitation. Urbane Weltbürger, denen jedes Deutschlandfähnchen während der Fußballweltmeisterschaft noch körperliche Schmerzen verursacht hatte, schmücken ihre Twitter-Accounts mit blau-gelben Farben, und in hippen Trendvierteln wehen ukrainische Flaggen an Fenstern und Balkonen. War der Nationalstaat gestern noch ein überholtes Relikt alter Zeiten, ist heute jeder Quadratkilometer ukrainischen Territoriums Tausende Menschenleben wert. Und galt die Frage nach jemandes Herkunft kürzlich noch als unanständig, müssen sich russischstämmige Künstler und sogar Schulkinder mittlerweile wortreich von Putin distanzieren, wenn sie wohlgelittene Mitglieder unserer Gesellschaft bleiben wollen.
Man könnte den Eindruck gewinnen, im Linksliberalismus habe sich eine geradezu Nietzscheanische Umwertung aller Werte vollzogen. Auf den ersten Blick ist das verblüffend. Wieso bedienen sich Vertreter einer Denkströmung, die gestern noch Wert auf ihren Individualismus und ihre Weltläufigkeit legte, seit Neuestem eines Vokabulars, das Erinnerungen an die dunkelsten Zeiten des preußischen Militarismus wach werden lässt? Wie werden aus hypersensiblen Identitätspolitikern, die die Gefühle jeder noch so kleinen Randgruppe in einen eigenen Safe Space einbetten wollten, abgebrühte Waffenfreunde, die sich für Haubitzen und Raketenwerfer interessieren und den Krieg gegen Russland bis zum letzten Ukrainer fortsetzen möchten? Und wie lässt sich der Kampf gegen den Klimawandel mit der Unterstützung einer bisher für deutsche Verhältnisse unvorstellbaren Aufrüstung und dem Kauf von Fracking-Gas vereinbaren?
Natürlich ist das linksliberale Milieu nicht das einzige, in dem seit dem russischen Überfall auf die Ukraine eine alarmierende Kriegsbesoffenheit ausgebrochen ist. Auch unter Konservativen und Liberalen gibt es militante Transatlantiker und beinharte Rüstungslobbyisten, die mit ihren Forderungen nach Waffenlieferungen und atomarer Hochrüstung den Tonfall der Debatte mitgeprägt haben. Aber das ist im Grundsatz nicht neu und auch nicht wirklich überraschend. Neu ist, dass sich die Beiträge grünaffiner Lifestyle-Linker in Kriegsfragen durch besondere Aggressivität hervortun und öffentliche Widerworte aus diesem politischen Spektrum noch seltener zu hören sind als aus konservativen Kreisen oder von den wenigen verbliebenen traditionellen Sozialdemokraten. Aus dem, was sich heute linker Flügel der SPD oder gar der Grünen nennt, kommt im besten Fall Schweigen, im schlechteren brachiale Kriegsrhetorik.
Dafür gibt es Gründe. Der wichtigste dürfte sein, dass die Erzählung von der Zeitenwende, von der neuen Welt, in der wir plötzlich aufgewacht sind und in der der freie Westen, wir, die Guten, gegen das wiederauferstandene Reich des Bösen kämpfen und für diesen gerechten Kampf auch Opfer bringen müssen, in ihrer märchenhaften Moralisierung von Politik geradezu perfekt zu einer Denkströmung passt, die sich schon immer vor allem über Moral und Haltung definiert hat und in der die Frage nach Nutzen und Schaden seit jeher als zweitrangig galt. Liberale, Konservative und traditionelle Linke haben in der Regel gelernt, auch über Interessen oder über Kosten zu reden. Sie tendieren eher dazu, nicht nur die hehren Absichten, sondern auch die realen Folgen in die Beurteilung von Handlungen einzubeziehen. Wer dagegen gewohnt war, vor allem nach einer moralisch einwandfreien Einstellung zu fragen, wer sich über den Kampf um politisch korrekte Sprechblasen politisiert hat und wen vor allem das Bestreben antreibt, sich dadurch gut zu fühlen, dass man zu den Guten gehört, bei dem findet der neue Sound einen nahezu idealen Resonanzraum.
Mit doppelten Standards wiederum hatte der Linksliberalismus noch nie Probleme. Man musste immer zu den richtigen Opfern gehören, um sich für sein Engagement zu qualifizieren. Über Diversity und Quoten wurden Verteilungskämpfe unter Privilegierten ausgefochten, während sich die Bildungs- und Aufstiegschancen ärmerer Kinder, viele davon aus Einwandererfamilien, durch öffentliche Sparprogramme deutlich verschlechterten. Linksliberale forderten offene Grenzen und ein Bleiberecht für alle und wussten ganz genau, dass ihre teuren Innenstadtbezirke vor Zuwanderung besser geschützt waren als Viktor Orbáns Ungarn. Sie kämpften heroisch gegen Sexismus und schufen die gesetzlichen Grundlagen für einen Niedriglohnsektor, in den dann vor allem Frauen abgedrängt wurden. In Corona-Zeiten twitterten sie #Wirbleibenzuhause und verbunkerten sich in ihren Altbaulofts, während der weniger begünstigte Teil der Bevölkerung ihnen ihr Essen und ihre Online-Bestellungen an die Wohnungstür schleppte. Und jetzt ist man eben sprachsensibel und bellizistisch, es ist nur eine weitere Facette dieser strukturell bigotten Denkart, die ihren Anhängern Vernunft und rationales Denken systematisch abtrainiert und es durch quasireligiöse Glaubenssätze, Gefühlsduselei und Betroffenheitskult ersetzt.
Aber der vermeintlich grüne Linksliberalismus, den man vor Jahren noch für eine arglose Spinnerei von großstädtischen Bio-Bohemiens und satten Wohlstandskids hätte halten können, treibt heute nicht nur Aufrüstung und Militarisierung voran und ist mitverantwortlich dafür, dass die Gefahr einer atomaren Eskalation in Europa wächst. Er streitet auch mit großer Verve und beängstigendem Erfolg dafür, dass abweichende Meinungen in der öffentlichen Diskussion möglichst nicht mehr vorkommen.
Zwar ist in linksliberalen Debatten ständig von Minderheiten die Rede, deren Befindlichkeiten und Gefühle vor allen Zumutungen des Lebens geschützt werden sollen. Aber wehe, eine Minderheit wagt es, nicht nur Gefühle, sondern auch eine Meinung zu haben, die sich von der des linksliberalen Mainstreams unterscheidet. Dann ist es vorbei mit der viel beschworenen Toleranz. Und zwar egal, ob der Delinquent behauptet, es gebe biologisch nur zwei Geschlechter, ob er mangelnde Begeisterung für militärische Konfliktlösungen erkennen lässt, die Corona-Impfung nicht für ein Allheilmittel hält oder die Ansicht vertritt, das islamische Kopftuch sei ein Unterdrückungssymbol. Er kann auch irgendeine andere Verrücktheit infrage stellen, die im linksliberalen Mainstream gerade en vogue ist. Die Reaktion erfolgt prompt. Er wird mit einem Fanatismus bekämpft und geächtet, den wir sonst vor allem von religiösen Eiferern und aus der extremen Rechten kennen.
Dieser illiberale Zug des Linksliberalismus hängt unmittelbar mit seinem Selbstverständnis zusammen. Wer die eigene Weltsicht nicht für eine Meinung, sondern für eine Frage der Moral und des Anstands hält, für den ist jeder Andersdenkende mindestens ein schlechter Mensch und wahrscheinlich sowieso ein Nazi. Andere Auffassungen werden dann nicht mehr als Bereicherung der demokratischen Debatte empfunden, sondern als unerträgliche Belästigung, deren man sich entledigen muss. Und je homogener die Meinungsblase, in der der Linksliberale sich zu Hause fühlt, desto mehr verstärkt sich dieser Trend. Die Cancel Culture wütete zunächst vor allem an Universitäten, in Zeitungsredaktionen und im Kulturbetrieb. Inzwischen betrifft sie die gesamte Gesellschaft.
Doch eine liberale Demokratie lebt von Meinungsvielfalt, gegenseitigem Respekt und dem fairen Austausch von Argumenten. Der Presse kommt dabei die wichtige Aufgabe zu, diese Vielfalt abzubilden und einen offenen Disput zu ermöglichen. Genau dafür wurde einst auch der öffentlich-rechtliche Rundfunk gegründet. Wenn zahlreiche Journalisten sich im Namen eines vermeintlichen Haltungsjournalismus eher als Erziehungsbeauftragte des Volkes denn als kritische Kontrolleure der Regierung verstehen und viele Medien dadurch am Ende eher der Meinungsmache als der Meinungsbildung dienen, ist das für ein demokratisches System ein ernstes Problem. Wenn schließlich riesigen Internetgiganten die Macht eingeräumt wird, die Diskussion in den sozialen Medien durch intransparente Algorithmen zu steuern und willkürlich Posts und ganze Accounts zu löschen, hört auch das Netz auf, ein Refugium der freien Debatte zu sein.
Seit Corona und noch einmal verstärkt seit Ausbruch des Ukraine-Krieges haben die öffentliche Diffamierung, Stigmatisierung und Ausgrenzung abweichender Meinungen und der damit verbundene soziale Konformitätsdruck Ausmaße erreicht, die noch vor wenigen Jahren unvorstellbar waren. Daran haben auch konservative Medien und Politiker mitgewirkt, aber die linksliberalen waren die Eifrigsten.
Gerade die Corona-Zeit lehrt uns, wie fragil die liberalen Grundpfeiler unserer Gesellschaft sind und wie schnell sie in einer Situation der Anspannung brechen können. Inzwischen hat eine von der Bundesregierung eingesetzte Sachverständigenkommission bestätigt, dass es für die meisten Corona-Maßnahmen nie eine seriöse wissenschaftliche Rechtfertigung gab. Die gravierenden Freiheitseinschränkungen, von Schulschließungen über die Verriegelung von Cafés, Theatern und Geschäften bis hin zu Ausgangssperren, waren demnach weder notwendig noch angemessen noch verhältnismäßig.
Das konnte im Frühjahr 2020 niemand wissen, weil das Virus neu und unbekannt war, aber schon ein Jahr später entfiel diese Entschuldigung. Spätestens dann hätte das Vorgehen der Bundesregierung, die Gesellschaft in Angststarre zu versetzen, um ohne valide Begründung elementare Grundrechte auszuhebeln, massiven öffentlichen Widerspruch hervorrufen und Gerichte dazu bringen müssen, die übergriffige Politik zu stoppen. Nichts davon geschah.
Nun ging es bei den damaligen Grundrechtseinschränkungen weniger um den Kampf gegen andere Meinungen als um den hilflosen Versuch, angesichts eines grassierenden Virus den vermeintlich einfachsten Weg zu wählen. Und es war bis Herbst 2021 auch noch eine CDU-Kanzlerin, die für diese Entscheidungen die Verantwortung trug. Aber ihre entschiedensten Befürworter kamen schon damals aus dem linksliberalen Milieu, und in diesen Kreisen trieben auch Blockwartmentalität und Denunziantentum ihre hässlichsten Blüten.
Noch schlimmer wurde es nach Amtsantritt der Ampel im Herbst 2021, als die Werbung für die mittlerweile verfügbare Corona-Impfung, die gerade für Ältere sicherlich sinnvoll war, in eine wüste Hetzjagd gegen jene Minderheit umschlug, die von ihrem Recht Gebrauch machte, sich gegen eine Spritze mit dem neuartigen Impfstoff zu entscheiden. Heute bestreitet niemand mehr, dass die Impfung schwere Nebenwirkungen verursachen kann. Und schon damals war bekannt, dass auch Geimpfte das Virus übertragen können und dass die Engpässe in Krankenhäusern und Intensivstationen vor allem auf den Pflegenotstand und den Bettenabbau in einem auf Rendite getrimmten Gesundheitssystem zurückzuführen waren und nicht auf ungeimpfte Corona-Patienten, deren genaue Zahl übrigens niemand kannte, weil auch diese Daten nie seriös erhoben wurden.
Dennoch wurde die Minderheit der Ungeimpften während der zweiten Corona-Welle zur Zielscheibe einer für die jüngere Geschichte beispiellosen öffentlichen Diffamierungskampagne. Und Linksliberale waren erneut die lautesten, wenn es darum ging, den Volkszorn durch möglichst rabiate Vorschläge anzuheizen. Prominente erklärten, dass sie mit Ungeimpften nicht mehr in einem Büro arbeiten oder am Filmset mit ihnen drehen würden. Andere gaben zum Besten, Ungeimpfte zu Weihnachten nicht in ihre Wohnung zu lassen. In einem Land, das es bis heute nicht schafft, allen Kindern systematisch Zugang zu den traditionellen, jahrzehntelang erprobten Impfungen gegen Masern, Polio, Diphterie und Mumps zu geben, wurden unbescholtene Bürger wegen einer fehlenden Injektion öffentlich als Bekloppte und Tyrannen, als asoziale Trittbrettfahrer und sogar als gefährliche Sozialschädlinge verleumdet. Ihnen wurde eine Streichung des Arbeitslosengeldes oder die Verweigerung medizinischer Behandlungen angedroht. Sie wurden mit 2G wie hochinfektiöse Aussätzige im Mittelalter aus dem gesamten öffentlichen Leben verbannt, obwohl es dafür schon wegen des fehlenden Fremdschutzes der Impfung keinerlei Begründung gab. Seit Einführung der einrichtungsbezogenen Impfpflicht müssen ganze Berufsgruppen sogar um den Verlust ihres Arbeitsplatzes bangen. Zwar wurde diese Regel wegen des eklatanten Pflegekräftemangels nur sporadisch umgesetzt, aber das Damoklesschwert blieb – bis heute.
Der Hass, der den Ungeimpften im letzten Herbst und Winter an vielen Stellen entgegenschlug, hat vor allem eines gezeigt: wie leicht sich in einer von Angst und Verunsicherung zerfressenen Gesellschaft der kollektive Wahn entfachen lässt, eine spezielle Minderheit trage die Verantwortung für alles Unheil. Und wie ungehemmt sich ein solcher Wahn selbst in unseren modernen, vermeintlich aufgeklärten Zeiten entladen kann. Wer dachte, so etwas sei heute nicht mehr möglich, wurde eines Besseren belehrt. Und wer glaubte, derartige Rückfälle ins Mittelalter könnten allenfalls von Rechtsaußen kommen, auch.
Sicher, es wurde niemand gelyncht und es brannten keine Scheiterhaufen. Trotzdem hätte eine solche Kampagne gegen eine Minderheit, die nichts getan hatte, als von ihrem Recht auf körperliche Selbstbestimmung Gebrauch zu machen, in einer liberalen Gesellschaft niemals möglich sein dürfen. Dass alle in unserem Verfassungsgefüge eingebauten Schutzmechanismen versagt haben, muss zu denken geben. Denn es bedeutet, dass sich das Geschehene wiederholen kann. Dann trifft es vielleicht Kriegsgegner, die wegen prorussischer Umtriebe am öffentlichen Pranger stehen. Oder die Anführer sozialer Proteste, die schon deshalb rechte Populisten sein müssen, weil sich irgendein Rechter auf ihre Kundgebungen verirrt hat, den der anwesende Haltungsjournalist zielsicher findet und interviewt. Womöglich trifft der Bann auch Leute, die sich gegen die Installierung irgendeiner Überwachungs-App auf ihrem Handy entscheiden oder sich durch anderes als unzuverlässige Untertanen outen.
Das linksgrüne Milieu, das unablässig den Kampf gegen rechts im Munde führt, ist kein Bollwerk gegen solche Gefahren, sondern selbst die wichtigste Ursache des Problems. Just bei denen, die sich in der Tradition des Antiautoritarismus wähnen, lässt sich eine mittlerweile beängstigende Hinwendung zum Autoritären beobachten, die auch zunehmend Gefallen an staatlichen Repressionsinstrumenten findet.
Ganz vorn in ihrem Koalitionsvertrag bekennt sich die Ampel zu dem Ziel, Verfassungsfeinde aus dem öffentlichen Dienst zu entfernen. Der bayerische SPD-Spitzenkandidat zur letzten Bundestagswahl forderte, sämtliche Querdenker und AfD-Mitglieder aus dem Staatsdienst zu feuern.7 Zuweilen wurde auch schon nach einem neuen Radikalenerlass gerufen. Und es gibt bereits mehrere Bundesländer, in denen sich angehende Richter und sogar Referendare einer Regelüberprüfung beim Verfassungsschutz unterziehen müssen.
Natürlich möchte niemand, dass Neonazis Recht sprechen oder Kinder in der Schule von Reichsbürgern unterrichtet werden. Aber das lässt sich auch im Rahmen der geltenden Gesetze verhindern. Volksverhetzung oder der Aufruf zur Gewalt stehen in Deutschland unter Strafe. Wem strafrechtlich relevantes Fehlverhalten nachzuweisen ist, der kann seines Amtes enthoben werden. Aber wer ist ein Querdenker? Wer ein Verfassungsfeind? Für keinen dieser Begriffe gibt es valide, überprüfbare Kriterien. Ausgerechnet dem notorisch intransparenten Verfassungsschutz die Definition zu überlassen, öffnet Willkür, Überwachung und Einschüchterung Tür und Tor. Dass staatliche Gesinnungsschnüffelei eine freiheitliche Ordnung schon deshalb nicht schützen kann, weil sie ihren Grundwerten diametral entgegensteht, war die wichtigste Lehre, die Deutschland aus den fatalen Erfahrungen mit dem Radikalenerlass der siebziger Jahre gezogen hatte. Ist das alles vergessen?
Wir waren gewohnt, zu glauben, dass der Angriff auf die Meinungsfreiheit, die Demokratie und die Grundfesten unserer liberalen Gesellschaft nur von ganz rechts kommen kann. Auch diese Gefahr ist nicht gebannt. Aber sie ist nicht die einzige. Der moralisierende Linksliberalismus ist längst in einen neuen Autoritarismus gekippt, der totalitäre Züge trägt und die liberale Demokratie durch eine extreme Verengung des geduldeten Meinungsspektrums, durch missionarischen Erziehungseifer, Konformitätsdruck, Stigmatisierung und Ausgrenzung untergräbt.
Juli 2022
Während dieses Buch geschrieben wurde, eskalierten in den Vereinigten Staaten die Auseinandersetzungen. Trump-Anhänger standen Trump-Gegnern unversöhnlich gegenüber. Es gab seit Langem keinen demokratischen Regierungswechsel mehr, der von so viel Unsicherheit, Hass und Gewalt begleitet wurde. Am Tag der Amtseinführung des neuen US-Präsidenten glich das Capitol in Washington einer Festung im Kriegszustand.
Auch wenn die Trennlinien in den USA besonders tief und die sozialen Gegensätze besonders groß sind, auch wenn das aufgeheizte Klima dort besonders gefährlich ist, weil viele US-Bürger Waffen besitzen: Amerika ist kein Einzelfall. Es ist leider nicht unwahrscheinlich, dass die Bilder aus den Vereinigten Staaten uns wie durch ein Brennglas in unsere eigene Zukunft schauen lassen, – wenn wir nicht den Mut aufbringen, möglichst bald einen neuen Weg einzuschlagen. Denn auch Deutschland ist tief gespalten. Auch hier zerfällt der gesellschaftliche Zusammenhalt. Auch in unserem Land ist aus dem gesellschaftlichen Miteinander ein über weite Strecken feindseliges Gegeneinander geworden. Gemeinwohl und Gemeinsinn sind Worte, die aus der Alltagssprache nahezu verschwunden sind. Das, was sie bezeichnen, scheint nicht mehr in unsere Welt zu passen.
Mit Corona wurde es besonders schlimm. Während Millionen Menschen in oftmals schlecht bezahlten Berufen nach wie vor ihr Bestes gaben, um unser gesellschaftliches Leben aufrechtzuerhalten, herrschte in vielen Medien, Online-Portalen und bei Facebook und Twitter Bürgerkriegsstimmung. Der Riss ging durch Familien und beendete Freundschaften. Bist du für oder gegen den Lockdown? Nutzt du die Corona-Warn-App? Lassen Sie sich etwa nicht impfen? Wer den Sinn und Nutzen der Schließung von Kitas und Schulen, von Gaststätten, Geschäften und vielen anderen Gewerben auch nur teilweise in Zweifel zog, musste sich den Vorwurf gefallen lassen, dass ihm Menschenleben egal wären. Wer gleichwohl anerkannte, dass Covid-19 ein gefährliches Virus ist, wurde ähnlich aggressiv von denen attackiert, die in allem nur Panikmache sahen. Respekt vor dem Andersdenkenden? Ein sachliches Abwägen von Argumenten? Keine Chance. Statt miteinander zu reden, schrie man sich nieder.
Doch die Diskussionskultur hat sich nicht erst mit Corona aus unserer Gesellschaft verabschiedet. Schon frühere Kontroversen wurden ähnlich ausgetragen. Es wurde moralisiert statt argumentiert. Geballte Emotionen ersetzten Inhalte und Begründungen. Die erste Debatte, bei der das offensichtlich wurde, war die über Zuwanderung und Flüchtlingspolitik, ein Thema, das nach der deutschen Grenzöffnung im Herbst 2015 fast drei Jahre lang alle anderen überlagerte. Damals hieß das Regierungsnarrativ nicht Lockdown, sondern Willkommenskultur, und Widerspruch war mindestens so unerwünscht wie zu Corona-Zeiten. Während der politische Mainstream seinerzeit jeden, der Besorgnis äußerte oder auf die Probleme unkontrollierter Zuwanderung hinwies, als Rassisten ächtete, formierte sich auf der Gegenseite des politischen Spektrums eine Bewegung, die den Untergang des Abendlandes bevorstehen sah. Tenor und Tonfall waren ähnlich unversöhnlich wie in der Diskussion über eine sinnvolle Corona-Politik.
Nicht viel sachlicher verlief die Klimadebatte, die das Jahr 2019 dominierte. Nun ging es nicht mehr um den Untergang des Abendlandes, sondern gleich um den der ganzen Menschheit. Klimafreunde, die Panik für eine angemessene Reaktion hielten, kämpften gegen echte und vermeintliche Klimaleugner. Wer weiterhin mit seinem alten Diesel unterwegs war, sein Schnitzel im Discounter kaufte oder sich noch höhere Strom- und Spritpreise nicht leisten konnte, durfte nicht mit Gnade rechnen. Die mittlerweile als größte Oppositionspartei im Bundestag vertretene AfD feuerte im Gegenzug Salven gegen die »linksgrün-versiffte Meinungsdiktatur«.
Es scheint, dass unsere Gesellschaft verlernt hat, ohne Aggression und mit einem Mindestmaß an Anstand und Respekt über ihre Probleme zu diskutieren. An die Stelle demokratischen Meinungsstreits sind emotionalisierte Empörungsrituale, moralische Diffamierungen und offener Hass getreten. Das ist beängstigend. Denn der Weg von verbaler Aggression zu handfester Gewalt ist kurz, wie nicht zuletzt die Entwicklungen in den Vereinigten Staaten zeigen. Die Frage stellt sich daher: Woher kommt die Feindseligkeit, die unsere Gesellschaft mittlerweile bei fast jedem großen und wichtigen Thema spaltet?
Die übliche Antwort auf diese Frage lautet: Schuld sei die erstarkende Rechte. Schuld seien Politiker wie Donald Trump, der mit seinen Pöbeleien und seinen bösartigen Tweets die Menschen aufgestachelt und Verbitterung und Feindschaft gesät hat. Schuld seien Parteien wie die AfD, die Hass schüren und Hetze verbreiten. Schuld seien schließlich die sozialen Medien, die Lügen und Hasskommentaren einen gewaltigen Resonanzraum bieten und in denen sich jeder nur noch in seiner eigenen Filterblase bewegt.
Das ist alles nicht falsch. Politiker der äußersten Rechten tragen in jedem Fall dazu bei, das politische Klima zu vergiften. Die USA nach Donald Trump sind ein noch tiefer gespaltenes Land als die USA vor Donald Trump. Wenn der AfD-Politiker Björn Höcke Andersdenkende kurzerhand »ausschwitzen« möchte, kann einem durchaus das Grausen kommen. Auch dass die sozialen Medien Aggression und Niedertracht fördern, weil sie genau darauf programmiert sind, stimmt. All das hat unsere Diskussionskultur nicht verbessert. Aber es ist trotzdem nur ein Teil der Erklärung. Denn die Wahrheit ist: Das Meinungsklima wird nicht nur von rechts vergiftet. Die erstarkte Rechte ist nicht die Ursache, sondern selbst das Produkt einer zutiefst zerrissenen Gesellschaft. Es hätte keinen Donald Trump und auch keine AfD gegeben, wenn ihre Gegner ihnen nicht den Boden bereitet hätten.
Sie haben den Aufstieg der Rechten ökonomisch vorbereitet, indem sie soziale Absicherungen zerstört, die Märkte entfesselt und so die gesellschaftliche Ungleichheit und die Lebensunsicherheit extrem vergrößert haben. Viele sozialdemokratische und linke Parteien haben den Aufstieg der Rechten aber auch politisch und kulturell unterstützt, indem sie sich auf die Seite der Gewinner schlugen und viele ihrer Wortführer seither die Werte und die Lebensweise ihrer einstigen Wählerschaft, ihre Probleme, ihre Klagen und ihre Wut verächtlich machen.
Für die Weltsicht dieser neuen Linken, die die Seiten gewechselt haben, hat sich seit einiger Zeit der Begriff des Linksliberalismus etabliert. Der Linksliberalismus in diesem modernen Sinn des Worts ist Gegenstand des ersten Teils dieses Buches. Er ist eine relativ junge geistig-politische Strömung, die erst in den letzten Jahrzehnten gesellschaftlichen Einfluss gewonnen hat. Der Name Linksliberalismus führt allerdings in die Irre. Genau besehen ist die so bezeichnete Strömung nämlich weder links noch liberal, sondern widerspricht in Kernfragen beiden politischen Richtungen.
Ein wichtiger Anspruch jedes Liberalismus etwa ist Toleranz im Umgang mit anderen Meinungen. Den typischen Linksliberalen dagegen zeichnet gerade das Gegenteil aus: äußerste Intoleranz gegenüber jedem, der seine Sicht der Dinge nicht teilt. Auch kämpft der Liberalismus traditionell für rechtliche Gleichheit, der Linksliberalismus dagegen für Quoten und Diversity, also für die ungleiche Behandlung unterschiedlicher Gruppen.
Zum linken Selbstverständnis wiederum gehörte es immer, sich vor allem für die einzusetzen, die es schwer haben und denen die Gesellschaft höhere Bildung, Wohlstand und Aufstiegsmöglichkeiten verwehrt. Der Linksliberalismus dagegen hat seine soziale Basis in der gut situierten akademischen Mittelschicht der Großstädte. Das bedeutet nicht, dass jeder Akademiker mit gutem Einkommen, der in einer großen Stadt wohnt, ein Linksliberaler wäre. Aber in diesem Milieu ist der Linksliberalismus zu Hause und aus dieser vergleichsweise privilegierten Schicht kommen seine Meinungsführer. Linksliberale Parteien wiederum wenden sich vor allem an die Bessergebildeten und Besserverdienenden und werden in erster Linie von ihnen gewählt.
Linksliberale sind also zweierlei nicht: Sie sind keine linken Liberalen, also Liberale, die sich nicht nur für Freiheit, sondern auch für soziale Verantwortung interessieren. Solche Liberalen gab es lange Zeit in der FDP und es gibt sie heute wahrscheinlich noch häufiger außerhalb der Freidemokraten. Mit dem modernen Linksliberalismus haben sie nichts zu tun. Linksliberale sind aber auch keine liberalen Linken, also Linke, die sich von totalitären und illiberalen Traditionen abgrenzen. Im Gegenteil, dieses Buch ist ein ausdrückliches Plädoyer für eine liberale, tolerante Linke anstelle jener illiberalen Denkströmung, die heute für viele das Label links besetzt. Liberale Linke im Wortsinn sind also nicht gemeint, wenn in diesem Buch von Linksliberalismus die Rede ist.
Am Niedergang unserer Debattenkultur hat der Linksliberalismus großen Anteil. Linksliberale Intoleranz und rechte Hassreden sind kommunizierende Röhren, die sich gegenseitig brauchen, gegenseitig verstärken und voneinander leben. Ob Flüchtlingspolitik, Klimawandel oder Corona, es ist immer das gleiche Muster: Linksliberale Überheblichkeit nährt rechte Terraingewinne. Und je lauter die Pöbeleien von rechts, desto mehr fühlt sich der Linksliberale in seiner Position bestärkt. Nazis sind gegen Zuwanderung? Also muss jeder Zuwanderungskritiker ein verkappter Nazi sein! Klimaleugner lehnen CO2-Steuern ab? Also steckt wohl mit ihnen unter einer Decke, wer höhere Sprit- und Heizölpreise kritisiert! Verschwörungstheoretiker verbreiten falsche Informationen über Corona? Wer anhaltende Lockdowns für die falsche Antwort hält, steht also mutmaßlich unter dem Einfluss von Verschwörungstheorien! Kurz: Wer nicht für uns ist, ist ein Rechter, ein Klimaleugner, ein Aluhut … So einfach ist die linksliberale Welt.
Wohl auch wegen dieser Art der Debattenführung steht links heute in den Augen vieler Menschen nicht mehr für Gerechtigkeit, sondern vor allem für Selbstgerechtigkeit: für einen Stil der Auseinandersetzung, von dem sie sich verletzt, moralisch herabgesetzt und abgestoßen fühlen.
Im Sommer 2020 wandten sich 153 Intellektuelle aus verschiedenen Ländern, unter ihnen Noam Chomsky, Mark Lilla, Joanne K. Rowling und Salman Rushdie, in einem öffentlichen Brandbrief gegen die linksliberale Intoleranz und Illiberalität. Ihre Anklage lautete: »Der freie Austausch von Informationen und Ideen … wird von Tag zu Tag mehr eingeengt. Während wir dies von der radikalen Rechten nicht anders erwarten, breitet sich auch in unserer Kultur zunehmend eine Atmosphäre von Zensur aus.« Mit Sorge sehen sie »Intoleranz gegenüber Andersdenkenden, öffentliche Anprangerung und Ausgrenzung sowie die Tendenz, komplexe politische Fragen in moralische Gewissheiten zu überführen«. Und sie weisen auf die Folgen hin: »Wir zahlen dafür einen hohen Preis, indem Schriftsteller, Künstler und Journalisten nichts mehr riskieren, weil sie um ihren Lebensunterhalt fürchten müssen, sobald sie vom Konsens abweichen und nicht mit den Wölfen heulen.«1
Rechte und Linksliberale ähneln sich aber nicht nur in ihrer Intoleranz. Auch inhaltlich stehen rechts und linksliberal in keinem grundsätzlichen Gegensatz. Rechts im originären Verständnis ist die Befürwortung von Krieg, Sozialabbau und großer Ungleichheit. Das aber sind Positionen, die auch viele Grüne und linksliberale Sozialdemokraten teilen. Nicht rechts ist es dagegen, auszusprechen, dass Zuwanderer für Lohndumping missbraucht werden, dass es kaum möglich ist, eine Schulklasse zu unterrichten, in der über die Hälfte der Kinder kein Deutsch spricht, oder dass wir auch in Deutschland ein Problem mit dem radikalen Islamismus haben. Ob gewollt oder nicht: Eine Linke, die einen realistischen Umgang mit Problemen als rechts ächtet, spielt der Rechten die Bälle zu.
Wer die Gründe für die Entstehung des Linksliberalismus wie für den Verfall unserer Diskussionskultur verstehen will, muss sich den tieferen Ursachen für die zunehmende Spaltung unserer Gesellschaft zuwenden. Er muss sich mit dem Verlust an Sicherheit und Gemeinsamkeit beschäftigen, der mit dem Abbau der Sozialstaaten, der Globalisierung und den wirtschaftsliberalen Reformen verbunden war.
In den Jahrzehnten nach dem Zweiten Weltkrieg gab es in allen westlichen Ländern eine lange Phase wirtschaftlichen Aufschwungs. Damals haben die meisten Menschen optimistisch in die eigene Zukunft und in die ihrer Kinder geschaut. Heute dominieren Zukunftsängste, und viele befürchten, dass es ihren Kindern einmal schlechter gehen wird als ihnen selbst. Dafür gibt es Gründe. Im internationalen Vergleich fallen wir wirtschaftlich zurück. Zukunftstechnologien entstehen immer häufiger woanders und nicht mehr bei uns. Die europäische und die deutsche Wirtschaft drohen, im Handelskrieg zwischen den USA und China zerrieben zu werden. Parallel dazu ist die Ungleichheit in den Ländern des Westens enorm gewachsen und die sozialen Absicherungen für Krankheit, Arbeitslosigkeit und Alter sind brüchig geworden.
Es sind vor allem die sogenannten einfachen Leute, die der regellose, globalisierte Kapitalismus zu Verlierern gemacht hat. Für viele steigt das Einkommen seit Jahren nicht mehr, sie müssen kämpfen, um ihren Lebensstandard zu halten. Gab es vor einigen Jahrzehnten noch reale Aufstiegschancen für Kinder aus ärmeren Familien, ist der persönliche Lebensstandard heute wieder vor allem eine Herkunftsfrage.
Gewinner der neuen Zeit sind in erster Linie die Eigentümer großer Finanz- und Betriebsvermögen. Ihr Reichtum und ihre ökonomische und gesellschaftliche Macht sind in den letzten Jahrzehnten enorm gewachsen. Zu den Gewinnern zählt aber auch die neue akademische Mittelschicht der Großstädte, also das Milieu, in dem der Linksliberalismus zu Hause ist. Der soziale und kulturelle Aufstieg dieser Schicht geht auf die gleichen politischen und ökonomischen Veränderungen zurück, die Industriearbeitern und Servicebeschäftigten, aber auch vielen Handwerkern und kleinen Gewerbetreibenden das Leben schwerer gemacht haben. Doch wer auf der Gewinnerseite steht, hat naturgemäß eine andere Sicht auf die Regeln des Spiels als diejenigen, die die Verliererkarte gezogen haben.
Während die Unterschiede in Einkommen, Perspektive und Lebensgefühl immer größer wurden, wuchs zugleich die räumliche Entfernung. Wohnten vor einem halben Jahrhundert Bessergestellte und weniger Privilegierte häufig im gleichen Bezirk und ihre Kinder saßen im selben Klassenzimmer, sorgen explodierende Immobilienpreise und steigende Mieten dafür, dass Wohlhabende und Ärmere in ihren Vierteln wieder unter ihresgleichen bleiben. Im Ergebnis gibt es immer weniger Kontakte, Freundschaften, Partnerschaften oder Eheschließungen über die Grenzen des eigenen sozialen Milieus hinaus.
Hier liegen die wichtigsten Ursachen für den sich auflösenden Zusammenhalt und die zunehmende Feindseligkeit. Menschen aus unterschiedlichen Milieus haben sich immer weniger zu sagen, weil sie in verschiedenen Welten leben. Wenn gut situierte Großstadtakademiker den weniger Begünstigten im realen Leben überhaupt noch begegnen, dann in Gestalt preiswerter Servicekräfte, die ihre Wohnungen putzen, ihre Pakete schleppen und ihnen im Restaurant das Sushi servieren.
Filterblasen gibt es nicht nur in den sozialen Medien. Vier Jahrzehnte Wirtschaftsliberalismus, Sozialabbau und Globalisierung haben die westlichen Gesellschaften so gespalten, dass das reale Leben vieler Menschen sich mittlerweile nur noch in der Filterblase des eigenen Milieus bewegt. Unsere angeblich offene Gesellschaft ist von Mauern durchzogen. Sozialen Mauern, die Kindern ärmerer Familien den Zugang zu Bildung, Aufstieg und Wohlstand viel schwerer machen als in der zweiten Hälfte des letzten Jahrhunderts. Und Mauern der Gefühlskälte, die jene, die gar kein anderes Leben kennen als das im Überfluss, vor denen abschirmen, die glücklich wären, wenn sie einmal ohne Existenzangst leben könnten.
Da das Leben sehr viel unsicherer geworden ist und die Zukunft unberechenbarer, sind in den politischen Auseinandersetzungen heute viel mehr Ängste im Spiel. Und wie Angst das Diskussionsklima verhärten kann, hat der Streit über die richtige Corona-Politik gezeigt. Dessen besondere Aggressivität hatte natürlich damit zu tun, dass es sich bei Corona um eine Krankheit handelt, die bei vielen Hochbetagten und in bestimmten Fällen auch bei Jüngeren zum Tod führen kann. Umgekehrt haben die langen Lockdowns zur Folge, dass viele um ihr soziales Überleben, um ihren Arbeitsplatz oder um die Zukunft ihres Lebenswerks fürchten müssen. Menschen, die Angst haben, werden intolerant. Wer sich bedroht fühlt, will nicht diskutieren, er will sich zur Wehr setzen. Das ist verständlich. Umso gefährlicher wird es, wenn Politiker entdecken, dass man mit dem Schüren von Ängsten Politik machen kann. Und auch das ist keineswegs der politischen Rechten vorbehalten.
Verantwortungsvolle Politik sollte genau das Gegenteil tun. Sie sollte sich um den Abbau von Spaltung und Zukunftsängsten kümmern und um mehr Sicherheit und Schutz. Sie muss Veränderungen einleiten, die den Zerfall unseres gesellschaftlichen Zusammenhalts stoppen und unseren drohenden wirtschaftlichen Abstieg verhindern. Eine ökonomische Ordnung, in der die Mehrheit von der Zukunft eher Verschlechterungen erwartet, ist keine zukunftstaugliche Ordnung. Eine Demokratie, in der ein beachtlicher Teil der Bevölkerung keine Stimme und Vertretung hat, trägt diesen Namen zu Unrecht.
Wir können anders produzieren, innovativer, lokaler und naturverträglicher, und wir können die Ergebnisse besser und leistungsgerechter verteilen. Wir können unser Gemeinwesen demokratisch gestalten, statt die Entscheidung über unser Leben und unsere wirtschaftliche Entwicklung Interessengruppen zu überlassen, denen es nur um den eigenen Profit geht. Wir können zu einem guten, solidarischen Miteinander zurückfinden, das letztlich allen nützt: denen, die in den letzten Jahren verloren haben und sich heute vor der Zukunft fürchten, aber auch denen, denen es gut geht, die aber nicht in einem gespaltenen Land leben möchten, das irgendwann da enden könnte, wo die Vereinigten Staaten heute stehen. Im zweiten Teil dieses Buches werden Vorschläge unterbreitet, wie ein neuer Weg in eine gemeinsame Zukunft aussehen kann.
Mit diesem Buch habe ich natürlich auch Konfliktlinien dargelegt, die zu meinem Rückzug als Fraktionsvorsitzende im Jahr 2019 beigetragen haben. Ich hätte allerdings kein Buch darüber geschrieben, wenn diese Diskussion nicht weit über die Linkspartei hinausgehen würde. Ich halte es für eine Tragödie, dass die Mehrzahl der sozialdemokratischen und linken Parteien sich auf den Irrweg des Linksliberalismus eingelassen hat, der die Linke theoretisch entkernt und sie großen Teilen ihrer Wählerschaft entfremdet. Ein Irrweg, der den Neoliberalismus als politische Leitlinie zementiert, obwohl es in der Bevölkerung längst Mehrheiten für eine andere Politik gibt: für mehr sozialen Ausgleich, für eine vernünftige Regulierung von Finanzmärkten und Digitalwirtschaft, für gestärkte Arbeitnehmerrechte sowie für eine kluge, auf den Erhalt und die Förderung eines starken Mittelstands orientierte Industriepolitik.
Statt diese Mehrheiten mit einem für sie attraktiven Programm anzusprechen, haben SPD und Linke der AfD zu ihren Wahlsiegen verholfen und sie zur führenden »Arbeiterpartei« gemacht. Sie haben die Grünen auf geradezu unterwürfige Weise als intellektuelle und politische Avantgarde akzeptiert. Von der Chance auf eigene Mehrheiten haben sie sich damit weit entfernt.
In diesem Buch geht es also auch darum, was das heißt: Linkssein im 21. Jahrhundert. Ein Linkssein jenseits der Klischees und modischen Phrasen. Dazu gehört für mich auch: Was sollte die Linke von einem aufgeklärten Konservatismus lernen? Die im zweiten Teil skizzierte Programmatik wäre für mich die einer echten sozialen Volkspartei. Einer Partei, die nicht zur weiteren Polarisierung der Gesellschaft beiträgt, sondern zur Revitalisierung von Gemeinwerten.
Mit diesem Buch positioniere ich mich in einem politischen Klima, in dem cancel culture an die Stelle fairer Auseinandersetzungen getreten ist. Ich tue das in dem Wissen, dass ich nun ebenfalls »gecancelt« werden könnte. Doch in Dantes Göttlicher Komödie ist für diejenigen, die sich in Zeiten des Umbruchs »heraushalten«, für die »Lauen«, die unterste Ebene der Hölle reserviert …
Teil I
Doch, die gesellschaftliche Linke kann noch siegen. Sie kann Multis wie den niederländisch-britischen Konsumgüterkonzern Unilever, zu dem die Marke Knorr gehört, in die Knie zwingen. Aufgrund der Rassismusdebatte in den sozialen Netzwerken, teilte das Unternehmen im August 2020 mit, werde der Knorr-Klassiker Zigeunersauce ab sofort unter neuem Namen, nämlich als Paprikasauce Ungarische Art in den Supermarktregalen zu finden sein. Und Unilever ist nicht der einzige Konzern, der sich dem Druck linksliberaler Meinungsführer und ihres fleißig twitternden Anhangs beugen musste. Mit den gleichen Mitteln wurde auch die langjährige Personalchefin von Adidas, Karen Parkin, im Juni 2020 zum Rücktritt gezwungen. Während der Zigeunersauce die politisch inkorrekte Bezeichnung einer Volksgruppe zum Verhängnis wurde, lautete der Vorwurf bei Parkin: Sie habe das Thema Rassismus verharmlost und sich zu wenig um Diversity, also um die Karriere nicht-weißer Mitarbeiter, bei Adidas gekümmert.
Freilich, der verschlechterte Tarifvertrag, den Unilever fast zeitgleich zum heroischen Abschied von der Zigeunersauce den 550 verbliebenen Mitarbeitern im Knorr-Stammwerk Heilbronn mit der Drohung aufgezwungen hatte, den Betrieb andernfalls ganz zu schließen, besteht unverändert. Er bedeutet für die Knorr-Beschäftigten Personalabbau, niedrigere Einstiegsgehälter, geringere Lohnsteigerungen und Samstagsarbeit. Anders als die Zigeunersauce hatte all das allerdings nie für bundesweite Schlagzeilen oder gar für einen Shitstorm der sich links fühlenden Twittergemeinde gesorgt. Und dass die Arbeitsbedingungen bei den asiatischen Zulieferern von Adidas so schlimm sind, dass das Unternehmen im Index des »Fashion Checker« die schlechteste Note in der Kategorie »Löhne, die das Existenzminimum garantieren« kassierte, nun ja, auch dieses Thema eignet sich eher schlecht für virale Empörungsposts. Die Diversity-Freunde können sich schließlich nicht auch noch um bettelarme nicht-weiße Arbeiter im fernen Südostasien kümmern.
Man hat ja zu Hause genug zu tun. Nachdem im Frühsommer 2020 ein rassistischer Cop in den Vereinigten Staaten den Afroamerikaner George Floyd brutal ermordet hatte, waren die Tage der Mohren-Apotheken und Mohren-Hotels in Deutschland endgültig gezählt. Wer sich nicht schleunigst nach einem neuen Namen umsah, geriet mächtig unter Druck. Black-Lives-Matter-Aktivisten begannen jetzt auch in Europa, die Statuen von Sklavenhändlern aus der Kolonialzeit vom Sockel zu stürzen. Sie taten das mit einem Eifer und einer Überzeugung, als läge hier der Schlüssel, um der modernen Sklaverei von Bullshit-Jobs, Demütigung und Armut die Grundlage zu entziehen.
Aber der Kampf gilt nicht nur Namen und Denkmälern, über deren Sinnhaftigkeit man tatsächlich streiten kann. Er macht auch vor populären Büchern, Filmen und selbst klassischen Philosophen nicht halt. Die Texte von Mark Twain und das Kinderbuch Pippi Langstrumpf können schon seit Längerem nicht mehr in der Originalversion erscheinen, weil gewisse Passagen und Worte den empfindsamen Gemütern der Kinder und Jugendlichen unserer Zeit nicht mehr zumutbar sind.
Die Forderung, den mit acht Oscars prämierten Hollywood-Schinken Vom Winde verweht zu verbieten, ließ sich zum Bedauern mancher Aktivisten bisher leider nicht durchsetzen. Auch Immanuel Kant oder Jean-Jacques Rousseau werden an vielen Universitäten im Rahmen des Philosophiestudiums immer noch gelesen, obwohl die beiden Denker der Aufklärung in linken Kreisen längst als Rassisten enttarnt wurden. An der Berliner Humboldt-Uni musste vor einiger Zeit die Polizei einschreiten, weil Studenten durch Lahmlegung des Seminarbetriebs verhindern wollten, dass Texte von Kant und Rousseau diskutiert werden. Nicht totzukriegen ist bisher auch der wichtigste Vertreter der klassischen deutschen Philosophie, Georg Wilhelm Friedrich Hegel, trotz der Textstellen, die ihn nach Ansicht italienischer Linksintellektueller unzweifelhaft als Sexisten ausweisen, was diese zu einer Facebook-Kampagne unter der Überschrift Sputiamo su Hegel (Wir spucken auf Hegel ) motiviert hat.
Im selben Sommer 2020, als der Kampf gegen alles und jeden, dem man das Etikett rassistisch anheften konnte, für einige Wochen sogar das Coronavirus aus den Schlagzeilen verdrängt hatte, geriet auch die deutsche Polizei wegen rassistischer Vorfälle unter Generalverdacht. Beherzt forderte daraufhin eine Kolumnistin der taz, die Behörde am besten ganz aufzulösen und die Beamten auf Mülldeponien zu entsorgen. Dass mancher Bürger, der sich wegen seiner dunklen Hautfarbe in bestimmten Regionen unseres Landes nicht mehr sicher fühlt, vielleicht über den einen oder anderen zusätzlichen Polizisten auf der Straße ganz froh wäre, ist ein Gedanke, der einer Journalistin, die in einem angesagten Viertel von Berlin wohnt, natürlich nie käme.
Was ist heute noch links? Was rechts? Viele Menschen wissen es nicht mehr. Sie halten die alten Kategorien für überholt. Nur in einem sind sie sich sicher: Das, was sie an öffentlichen Äußerungen unter dem Label links vernehmen, ist ihnen oft unsympathisch. Und dem Milieu, das sie damit verbinden, misstrauen sie zutiefst.
Das war über viele Jahre anders. Links, das stand einmal für das Streben nach mehr Gerechtigkeit und sozialer Sicherheit, es stand für Widerständigkeit, für das Aufbegehren gegen die oberen Zehntausend und das Engagement für all diejenigen, die in keiner wohlhabenden Familie aufgewachsen waren und sich mit harter, oft wenig inspirierender Arbeit ihren Lebensunterhalt verdienen mussten. Als links galt das Ziel, diese Menschen vor Armut, Demütigung und Ausbeutung zu schützen, ihnen Bildungschancen und Aufstiegsmöglichkeiten zu eröffnen, ihr Leben einfacher, geordneter und planbarer zu machen. Linke glaubten an politische Gestaltungsfähigkeit im Rahmen des demokratischen Nationalstaats und daran, dass dieser Staat Marktergebnisse korrigieren kann und muss.
Natürlich waren Linke immer auch Teil der Kämpfe gegen rechtliche Diskriminierungen, etwa der amerikanischen Bürgerrechtsbewegung der fünfziger und sechziger Jahre. Denn der alte liberale Imperativ, dass niemand aufgrund seiner Hautfarbe, Religion oder Lebensweise benachteiligt werden darf, war für sie selbstverständlich. Aber als Linke legten sie Wert auf die Erkenntnis, dass rechtliche Gleichstellung noch lange keine gleichen Lebenschancen garantiert. Denn anders als Liberale und Konservative sahen Linke in der Macht über große Finanz- und Betriebsvermögen und in der extremen Ungleichheit der Verteilung solcher Vermögen eine Schlüsselgröße, ohne deren Veränderung echte Chancengleichheit und Leistungsgerechtigkeit nicht möglich sind.
Natürlich gab es unter Linken immer auch große Unterschiede. Der eher kompromisswillige deutsche Sozialdemokrat dachte und handelte anders als der rebellische französische oder italienische Gewerkschafter. Es gab im linken Spektrum stets auch radikale Splittergruppen, mit denen die meisten Menschen nichts zu tun haben wollten. Aber im Großen und Ganzen war klar: Linke Parteien, egal ob Sozialdemokraten, Sozialisten oder auch, in vielen westeuropäischen Ländern, Kommunisten, vertraten nicht die Eliten, sondern die Unterprivilegierten. Ihre Aktivisten kamen überwiegend selbst aus diesem Milieu, und ihr Ziel war es, dessen Lebensumstände zu verbessern. Linke Intellektuelle teilten dieses Anliegen und unterstützten es.
Es gibt diese traditionellen Linken auch heute noch. Vergleichsweise häufig trifft man sie in Gewerkschaften, vor allem auf den unteren Ebenen. In den meisten sozialdemokratischen Parteien sind sie schon in der Minderzahl, zumindest in den Führungsetagen. Bei den Demokraten in den USA etwa haben sie nur noch marginalen Einfluss auf die Politik, mit Bernie Sanders aber immerhin ein prominentes und populäres Gesicht. Die deutsche Partei Die Linke wurde 2007 noch auf Grundlage eines traditionellen Verständnisses von links gegründet, aber diejenigen, die an dieser Tradition festhalten möchten, haben in den Parteigremien immer weniger Einfluss. Geradezu eine Rarität sind traditionelle Linke heute in den Medien und an den Universitäten. Im linksliberalen Mainstream unserer Zeit gilt ihre Sicht als altbacken und rückwärtsgewandt.
Dominiert wird das öffentliche Bild der gesellschaftlichen Linken heute von einem Typus, den wir im Folgenden den Lifestyle-Linken nennen werden, weil für ihn im Mittelpunkt linker Politik nicht mehr soziale und politökonomische Probleme stehen, sondern Fragen des Lebensstils, der Konsumgewohnheiten und moralische Haltungsnoten. In Reinform verkörpern die grünen Parteien dieses Lifestyle-linke Politikangebot, aber auch in den sozialdemokratischen, sozialistischen und anderen linken Parteien ist es in den meisten Ländern zur dominierenden Strömung geworden. Viele traditionelle Linke würden wahrscheinlich sagen, dass das, was im Folgenden beschrieben wird, überhaupt nicht links ist. Das stimmt natürlich, wenn man mit den traditionellen Maßstäben misst. Aber es ist das, was öffentlich unter dem Label links firmiert und als links wahrgenommen wird.
Für das politisch-kulturelle Weltbild des Lifestyle-Linken hat sich in jüngerer Zeit der Begriff des Linksliberalismus etabliert, wobei Linksilliberalismus wesentlich passender wäre, wie wir noch sehen werden. Zu beachten ist, dass dieser moderne Linksliberalismus oder Linksilliberalismus nichts mit der geistig-politischen Strömung zu tun hat, die früher einmal als linksliberal bezeichnet wurde. Linksliberale waren lange Zeit sozial und gesellschaftskritisch orientierte Liberale, jene Freidemokraten etwa, die sich um das Freiburger Programm der FDP sammelten und für eine Koalition mit der SPD Willy Brandts warben. Wenn in diesem Buch von Linksliberalismus die Rede ist, ist der Begriff immer im modernen Verständnis als Bezeichnung für die Weltsicht der Lifestyle-Linken gemeint und nie in dem früheren Wortsinn. Diese Unterscheidung ist wichtig, denn beide Denkrichtungen haben nichts miteinander gemein.
Der Lifestyle-Linke lebt in einer anderen Welt als der traditionelle und definiert sich anhand anderer Themen. Er ist vor allem weltoffen und selbstverständlich für Europa, auch wenn jeder unter diesen Schlagworten etwas anderes verstehen mag. Er sorgt sich ums Klima und setzt sich für Emanzipation, Zuwanderung und sexuelle Minderheiten ein. Zu seinen Überzeugungen gehört, den Nationalstaat für ein Auslaufmodell und sich selbst für einen Weltbürger zu halten, den mit dem eigenen Land eher wenig verbindet. Unterlegt wird das oft mit einer Biografie, in der Auslandssemester, eventuell schon der Schüleraustausch während der Schulzeit oder auch Auslandspraktika selbstverständlich sind.
Generell schätzt der Lifestyle-Linke Autonomie und Selbstverwirklichung mehr als Tradition und Gemeinschaft. Überkommene Werte wie Leistung, Fleiß und Anstrengung findet er uncool. Das gilt vor allem für die jüngere Generation, die von umsorgenden, meist gut situierten Helikoptereltern so sanft ins Leben begleitet wurde, dass sie existenzielle soziale Ängste und den aus ihnen erwachsenden Druck nie kennengelernt hat. Papas kleines Vermögen und Mamas Beziehungen geben zumindest so viel Sicherheit, dass sich auch längere unbezahlte Praktika oder berufliche Fehlschläge überbrücken lassen.
Da der Lifestyle-Linke mit der sozialen Frage persönlich kaum in Kontakt geraten ist, interessiert sie ihn auch meist nur am Rande. Also, man wünscht sich schon eine gerechte und diskriminierungsfreie Gesellschaft, aber der Weg zu ihr führt nicht mehr über die drögen alten Themen aus der Sozialökonomie, also Löhne, Renten, Steuern oder Arbeitslosenversicherung, sondern vor allem über Symbolik und Sprache.
Entsprechend wird die Alltagssprache ständig nach Wörtern durchsucht, die irgendjemanden verletzen könnten und die es fortan zu meiden gilt. An ihre Stelle treten dann neue Wortschöpfungen, die zumindest bei den Strenggläubigen unter den Lifestyle-Linken zu einer ganz eigenwilligen Form, sich auszudrücken, führen, die mit der deutschen Sprache nur noch bedingt zu tun hat. Außenstehenden mag sich oft nicht erschließen, worin bei Begriffen wie Flüchtling oder Rednerpult oder in der Bezeichnung als Mutter oder Vater die Diskriminierung besteht beziehungsweise warum sich inmitten linker Texte immer wieder dubiose Sternchen finden, aber wer zum inner circle gehört, der kennt die Regeln und hält sie ein.
Ein anderes Gebot besteht darin, sogenannte Triggerwörter zu umgehen, also Codes, die harmlos klingen, aber angeblich bei bestimmten Gruppen Traumata auslösen oder von Rechten verwandt werden, um ihre menschenverachtende Ideologie zu tarnen. Heimat und Volk gehören dazu und sind folgerichtig tabu, auch der Begriff Zuwanderer ist mindestens heikel, weil doch alle, die nach Europa kommen, geflüchtet sind, und Fremde oder Parallelwelten gibt es schon gar nicht.
Etwas irritierend ist vielleicht, dass sich die Normen korrekten Sprechens immer wieder ändern. Galt gestern noch als up to date, wer für die Nachkommen von Einwanderern den Begriff »Menschen mit Migrationshintergrund« parat hatte, ist das zumindest in Berlin schon wieder überholt. Laut Senatsbeschluss vom Herbst 2020 ist für diese Personengruppe fortan der Name »Menschen mit internationaler Geschichte« zu verwenden. Aus Ausländern wurden mit diesem Ukas übrigens »Einwohnende ohne deutsche Staatsbürgerschaft« und aus illegalen Einwanderern »undokumentierte Migrantinnen und Migranten«.
Auch kommen immer wieder neue Modewörter auf, die man selbstverständlich schnellstmöglich kennen und selbst gebrauchen sollte. In jüngerer Zeit in den linksliberalen Sprachschatz aufgenommen wurde etwa die Misogynie oder auch Cis-Frauen für weibliche Mitbürger, die keine Transsexuellen sind. Wer sich ungescholten an Lifestyle-linken Diskussionen beteiligen will, braucht also vor allem eins: genügend freie Zeit, um in Fragen korrekter Ausdrucksweise immer auf dem Laufenden zu bleiben.