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Elena MacKenzie

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Beschreibung

Kaum aus dem Gefängnis, soll Andrew den Babysitter für Phoebe, die Tochter des mächtigen Mafiabosses von Glasgow, spielen. In einem Nachtclub steht Andrew plötzlich mehreren Auftragskillern gegenüber, die ihn aus dem Weg schaffen sollen. Ihm bleibt nur, Phoebe als Schutzschild zu benutzen und entführt sie. Als er sie freilassen will, weigert sie sich stur. Denn die Prinzessin von Glasgow ergreift die Chance, um vor ihrem kontrollsüchtigen Vater zu fliehen, der sie Zwangsverheiraten will. Auf ihrer Flucht durch Großbritannien, bleibt ihnen nichts anderes übrig, als sich durch Überfälle und Einbrüche mit dem Nötigsten zu versorgen. Plötzlich ist nicht mehr nur die Mafia hinter ihnen her, sondern auch das Gesetz. Doch dann bekommen sie unerwartet Hilfe aus Richtung des Motorradclubs Helldogs MC, der sie vor ihren Verfolgern schützt. Achtung! Ursprünglich unter dem Titel Andrew - verliebt in einen Bad Boy erschienen! Die einzelnen Bände der Reihe können unabhängig voneinander gelesen werden.

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Craw

HELLDOGS MC 1

ELENA MACKENZIE

Inhalt

Kapitel 1

Kapitel 2

Kapitel 3

Kapitel 4

Kapitel 5

Kapitel 6

Kapitel 7

Kapitel 8

Kapitel 9

Kapitel 10

Kapitel 11

Kapitel 12

Kapitel 13

Kapitel 14

Kapitel 15

Kapitel 16

Kapitel 17

Kapitel 18

Kapitel 19

Kapitel 20

1. Auflage 2015

Copyright: Elena MacKenzie

Alle Rechte vorbehalten.

Umschlaggestaltung: Elena MacKenzie

unter Verwendung von

Bildmaterial von Adobe Photostock:

NadiaArts.

Kontakt: Elena MacKenzie

Dr.-Karl-Gelbke-Str. 16

08529 Plauen

1

Das Leben ist wie eine Schachtel Pralinen, man weiß nie, was man kriegt.

(Forrest Gump)

Phoebe

»Du wirst nicht alleine ausgehen!« Mein Vater sieht mich mit wutverzerrtem Gesicht an. Sein Gesicht leuchtet wie eine Tomate und er stützt sich schwer atmend auf der Tischplatte seines Schreibtisches ab. Heute ist er besonders schlecht gelaunt, und ich glaube nicht, dass es daran liegt, dass ich nur einmal ohne Wachhund ausgehen will. Aus Gründen, die offensichtlich sind, die ihn aber genauso wenig interessieren wie meine Existenz. Für ihn war ich immer schon nur etwas, das ihm im Weg steht und das er nach Möglichkeit ignorieren kann, außer es gilt, mir seine Macht über mich zu demonstrieren. In solchen Momenten weiß er sehr wohl, dass er eine Tochter hat.

»Ich bin jetzt 18! Muss ich dich erst daran erinnern, dass ich allein hingehen darf, wohin auch immer ich will?«, keife ich zurück.

Seit meine Mutter vor vierzehn Jahren spurlos verschwunden ist, scheint er zum Kontrollfreak geworden zu sein. Ich habe mich nie der Illusion hingegeben, dass mein Vater sich dazu durchringen würde, mir mehr Freiheiten einzugestehen, wenn ich erst volljährig wäre. Aber dass er wirklich keinen Zentimeter von seinem bisherigen Verhalten abrückt, habe ich auch nicht erwartet.

»Dir muss doch klar sein, dass ich jetzt das Recht habe, einfach auszuziehen. Wie willst du mich dann noch rund um die Uhr von deinen Rottweilern bewachen lassen?«

Rottweiler nenne ich seine Bodyguards, die mich schon mein Leben lang umgeben. Wozu mein Vater durchschnittlich zehn Muskelprotze um sich herum braucht, darüber mache ich mir auch keine Illusionen. Schon seit meinem vierzehnten Lebensjahr habe ich eine Ahnung von dem, womit er sein Geld verdient.

Nichts davon scheint der Weg zu sein, den Menschen nehmen, die nicht im Konflikt mit dem Gesetz stehen. Aber ich versuche mein Möglichstes, nichts zu hinterfragen. Der Grund ist wohl der, dass ich in ihm einfach keinen Kriminellen sehen will.

Und ich will nicht, dass er mich noch weiter von sich stößt, wenn er erst bemerkt, dass ich mehr von dem mitbekomme, was in diesem Haus passiert, als ihm lieb ist. Und er ist mein Vater, mehr als ihn habe ich nicht, also muss ich mich an ihm festhalten, so gut ich kann. Auch, wenn in den vergangenen Jahren meine Gewissensbisse gewachsen sind, ich mich schuldig fühle für das, was mein Vater tut, was auch immer es ist. Und manchmal erlaube ich mir deswegen, ihn zu hassen, weil er Dinge tut, die er nicht tun sollte.

Meine größte Angst ist dabei, dass er anderen Menschen wehtut. Und dass seine Geschäfte Opfer fordern, so wie das von Onkel Ronny, der jetzt tot ist. Und ich weiß nicht einmal warum, weil Ronnys Tod wohl zu den Dingen gehört, die ich nicht wissen darf. Alles, was ich wissen darf, ist, dass es so ist. Wenn ich das Gespräch zwischen ihm und einem Polizeibeamten nicht zufällig mitbekommen hätte, wüsste ich nicht einmal, dass mein Onkel tot ist.

»Deine Einwände interessieren mich nicht. Meine Tochter geht nicht ohne Schutz auf die Straße. Und wenn du nur in die Kirche willst, du nimmst einen meiner Männer mit. Heute lässt du dich von Andrew begleiten.«

Erschrocken erstarre ich. Hat er Andrew gesagt? Mein Herz beginnt so heftig zu klopfen, dass es vor meinen Augen anfängt zu flimmern. Ist Andrew wirklich zurück? Aber ich darf mir nichts anmerken lassen, weswegen ich meine Gesichtszüge sofort versteinern lasse und tief einatme, um die Kontrolle über meinen Körper zurückzubekommen. Mein Vater ist in den vergangenen Jahren immer komischer geworden, was mich und den Kontakt zum anderen Geschlecht betrifft. Männer dürfen sich mir nicht auf zehn Fuß nähern. Nicht einmal, wenn ich ausgehen darf. Was selten genug vorkommt.

»Ich hasse Andrew!« Eigentlich tue ich das ganz und gar nicht und das darf mein Vater nicht wissen, sonst würde er sofort dafür sorgen, dass ich Andrew niemals wiedersehen darf. Mein Vater mag nicht viel Interesse an mir haben, aber seit einiger Zeit arrangiert er immer wieder Treffen zwischen mir und dem Sohn eines Geschäftspartners. Und da er mich sonst von jedem anderen seiner Geschlechtsgenossen fernhält, habe ich ein ganz dumpfes Gefühl im Magen.

Ich würde niemals jemand anderen lieben können. Ich bin in Andrew verliebt, seit ich begriffen habe, dass er gar nicht mein Bruder ist, sondern nur bei uns lebte, solange Onkel Ronny im Knast gesessen hat. Und zu meinem Glück ist Andrew auch nicht Ronnys leiblicher Sohn, also durfte ich mich ohne schlechtes Gewissen in ihn verlieben – und ohne gegen irgendwelche Gesetze zu verstoßen.

Erst war es nur Schwärmerei, weil er unglaublich gut aussieht. Er ist zehn Jahre älter als ich, aber wen interessiert das schon? Andrew war der erste Mensch in meiner Nähe, der sich die Zeit genommen hat, mich als Person wahrzunehmen und nicht als lästiges Anhängsel des gefürchteten, aber gut zahlenden Ragnarök.

Mein Vater streicht sich durch das ergraute kurze Haar und lässt sich in seinen Ledersessel fallen. »Andrew!«, brüllt er mit heftig zitternder Stimme.

In meinem Magen beginnt es zu flattern. Seit Ronny vor ein paar Monaten aus dem Knast kam, war er ständig für ihn unterwegs. Und davor habe ich ihn fast zwei Jahre nicht gesehen, weil er selbst auch im Gefängnis saß. Das sind jetzt fast sechsundzwanzig Monate ohne ihn. Eine lange Zeit. Ich hatte die Hoffnung schon aufgegeben, als ich erfahren habe, dass er längst wieder frei ist und nicht bei mir vorbeigesehen hat. Dass er jetzt doch wieder da ist, fühlt sich beängstigend und aufregend zugleich an. Und es macht mich ganz nervös. Ich brauche jedes Quäntchen Kraft, um das Zittern zu unterdrücken, das sich durch meinen Körper arbeiten will. Andrew!

Jeden Moment werde ich Andrew zum ersten Mal seit so langer Zeit wiedersehen. In meinen Zorn mischt sich auch Aufregung und mein Herzschlag fällt in die schnell näherkommenden, hallenden Schritte ein, die sich uns durch das große Foyer mit Marmorboden nähern. Ich schlucke schwer und sehe nicht über die Schulter zurück, als hinter mir Andrews dunkle rauchige Stimme ertönt.

Ich schließe die Augen und ein Teil von mir betet schon fast, dass er noch immer so umwerfend aussieht wie in meiner Erinnerung. Ein anderer Teil hat plötzlich Zweifel, ob ich überhaupt noch etwas für ihn empfinden werde, wenn ich ihn gleich ansehe. Seit Jahren ist mein ganzes Sein auf diesen einen Menschen fixiert. In meinem Leben gab es immer nur ihn. Erst als mein bester Freund und Vertrauter, später dann als die heimliche Liebe meines Lebens. Was, wenn sich die Realität nicht mehr mit meiner Fantasie deckt und Andrew nicht mehr der Mensch ist, der alles für mich bedeutet? Wird dann mein Leben von einer Sekunde auf die andere ein leeres schwarzes Loch sein? Vielleicht sind meine Gefühle ja nichts weiter als die Träumereien eines Teenagers und in Wirklichkeit ist er alles andere als der heißeste Kerl aller Zeiten? Der beste Freund, den ich je hatte?

Ich schließe die Augen für eine Sekunde und gestatte mir, ihn mir so vorzustellen, wie er noch vor zwei Jahren aussah. So wie ich ihn als Sechzehnjährige gesehen habe. Der sechsundzwanzigjährige Andrew war schlank, groß und sehr attraktiv. Seine honigfarbenen Haare trug er stets kurz und ordentlich zurückgekämmt. Und seine blaugrünen Augen, von denen man nie sagen konnte, welche Farbe sie nun wirklich hatten, weil sie je nach Lichteinfall ihre Farbe änderten, verbargen sich hinter einer Traurigkeit, die ich mir nie erklären konnte. Aber er hat nie über den Grund für diese Traurigkeit gesprochen. Ihm war es immer wichtiger, mich zu beschützen und für mich da zu sein, als an sich zu denken.

Ich beiße mir auf die Unterlippe und sehe langsam über meine Schulter zurück. Verdammt! Wie kann er denn noch heißer als in meinen Erinnerungen sein? Ich drehe mich etwas weiter zu ihm um und mein Herz hämmert so schnell wie noch nie. Der alte Andrew ist noch da, aber er hat sich auch verändert. Nicht nur ein bisschen. Und an der Heftigkeit, mit der mein Herz rast und sich alles in mir zusammenzieht, bemerke ich, dass dieser neue Andrew mich regelrecht umhaut. Er ist groß und breitschultrig. Seitlich an seinem Hals trägt er das Tattoo eines Thorhammers. Sein markanter Unterkiefer wirkt sehr erotisch. Am besten aber finde ich seine volle, scharfkantige Unterlippe, die zum Küssen einlädt. Und ich liebe sein kurzes dunkelblondes Haar und die leicht schrägstehenden Augen. Alles an ihm wirkt gefährlicher und rauer als noch vor zwei Jahren. Das jungenhaft Unschuldige an diesem Mann ist ausgelöscht worden im Gefängnis. Vor mir steht ein Mann, der mit jeder Zelle seines Körpers ein Bad Boy ist. Und ich steh drauf, so sehr, dass ich kaum bemerke, dass ich aufgehört habe zu atmen.

Selbst die Traurigkeit seiner Augen ist einer Kälte gewichen, die mich erschreckt und gleichzeitig innerlich erbeben lässt. Andrew strahlt eine Härte und Rauheit aus, die nur jemand ausstrahlen kann, der im Gefängnis gewesen ist oder Schlimmes durchgemacht hat.

Er lehnt im Türrahmen, die Arme vor der breiten Brust verschränkt. Mein Vater besteht darauf, dass all seine Männer schwarze Anzüge tragen. Er hat seinen wohl vergessen, denn er hat eine ausgewaschene Jeans und ein schwarzes Shirt an, dessen Ärmel sich um die kräftigen Muskeln seiner Oberarme spannen. In der Hand hält er eine schwarze Anzugjacke. Ich unterdrücke ein Seufzen, als sein dunkler Blick auf mir hängenbleibt und dabei noch ein wenig dunkler wird, bevor er sich von mir abwendet und meinen Vater ansieht.

Innerlich stöhne ich schmerzvoll auf. Ich weiß, dass er mich nicht vergessen hat. Er war mein bester und einziger Freund, ihm habe ich vertraut wie niemandem sonst. Wir sind zusammen aufgewachsen. Dass ich nicht mehr von ihm bekomme, als diesen eiskalten, abschätzigen Blick, reißt eine tiefe Wunde in mein Herz. Ich drehe mich wieder um und presse die Lippen aufeinander. Ich bin mir Andrews Nähe nur allzu bewusst. Mein Rücken kribbelt und in meinem Körper vibriert es vor Aufregung, weil ich endlich wieder in seinem Leben sein darf. Aber ich spüre auch diese Angst davor, dass er mich dort nicht mehr haben will. Es war, als hätte sein Blick mir zugeflüstert: »Wir sind keine Freunde mehr, bleib auf Abstand.«

In meinem Hals bildet sich ein übergroßer Knoten. Was auch immer ihn hat so werden lassen, ich muss versuchen, es wiedergutzumachen. So sehr kann das Gefängnis ihn nicht verändert haben, dass er nicht das für ihn typische Zwinkern für mich übrighat. Mit diesem Zwinkern hat er mir immer Hallo gesagt, ohne Worte benutzen zu müssen. Und irgendwann hat es an Bedeutung für mich gewonnen und hat flattrige aufregende Gefühle in mir ausgelöst. Ungefähr zu diesem Zeitpunkt habe ich begriffen, dass Andrew der Mann ist, mit dem ich alles teilen will: den ersten Kuss, den ersten Sex … mein ganzes Leben. Und es war auch der Zeitpunkt, ab dem jedes Mal, wenn wir uns gesehen haben, all diese Dinge in meinem Körper passiert sind, über die ich mich nicht gewagt habe, mit ihm zu sprechen.

»Meine Tochter möchte heute mit ihrer Freundin ins Vallhall.«

Ich schnappe nach Luft. »Wir wollten ins Black Widdow.«

»Du gehst ins Vallhall!«, donnert mein Vater.

Das Vallhall gehört ihm und mich nur dorthin zu lassen, ist eine Möglichkeit mehr für ihn, mich kontrollieren zu können. Denn alles, was die Kameras im Club aufzeichnen, wird auch hier ins Haus übertragen. Mein Vater hat in der oberen Etage der gregorianischen Villa eine riesige Überwachungsanlage, mit deren Hilfe er halb Glasgow überwachen kann. Es gibt kaum etwas, das ihm entgeht. Das verdankt er Steve und Alan, die beiden hacken sich in jedes computergesteuerte System.

»Ins Vallhall«, sagt Andrew. Seine Stimme klingt ungerührt, kalt, kontrolliert. So wie immer, seit er alt genug war, um für Vater zu arbeiten. Anders habe ich sie nur erlebt, wenn er mit mir zusammen war. In meiner Kindheit war Andrew die einzige Konstante, die ich kannte.

»Lass sie nicht aus den Augen!« Vater mustert Andrew und brummt etwas, bevor er sagt: »Dein Aufzug passt zumindest.«

Ich weiß, er ärgert sich, dass Andrew keinen Anzug trägt. Aber Andrew hat etwas an sich, das meinen Vater immer wieder über seinen Ungehorsam hinwegblicken lässt. Jeder andere Rottweiler würde seine Faust zu spüren bekommen. Vater mag Ungehorsam nicht. Aber in Andrew sieht er so etwas wie den Sohn, den er sich gewünscht hat, den er aber nicht bekommen hat.

Vielleicht auch doch. Als Andrew zu uns kam, war ich noch nicht einmal geboren und er noch ein Kleinkind. Mein Vater ist wahrscheinlich viel mehr Vater für ihn, als Ronny es je sein konnte. Mein Vater ist sogar immer mehr Vater für Andrew gewesen, als er es je für mich war. Er hat Andrew Dinge gelehrt, über die ich nichts wissen durfte. Aber das Wasist gar nicht so wichtig. Wichtig ist, dass er mit ihm Zeit verbracht hat. Mehr als mit mir. Ja, ich würde sagen, in Andrew sieht er seinen Sohn. Aber ich war nie eifersüchtig, weil Andrew und ich viel gemeinsam hatten, das uns zusammengefügt hat.

»Wird erledigt.«

Ich schnaube abfällig, nehme meine Handtasche und mein Handy von dem kleinen Sessel, neben dem ich gestanden habe, und gehe an Andrew vorbei aus dem Büro, ohne ihn auch nur anzusehen. Aber als ich an ihm vorbeigehe, atme ich tief sein würziges Aftershave ein: Cool Davidoff, er verwendet es schon immer. Ich habe diesen Duft vermisst: kühl und männlich, ein bisschen wilde unbändige Natur und Andrew.

»Komm, Hündchen«, sage ich und klopfe auf meinen nackten Oberschenkel. Ich trage heute nur ein kurzes türkisgrünes Kleid, das sich ganz eng an meinen Körper schmiegt. Das Einzige, das an diesem Kleid lang ist, sind die Ärmel. Es passt perfekt zu meinem kupferfarbenen Haar und seinen Augen. Es sind seine Augen, die mich dazu gebracht haben, die Farbe Türkis heiß und innig zu lieben. Meine geschlossenen High Heels sind silberfarben und passen wiederum sehr gut zur Tasche und zu meinen silbrig-grauen Augen. Ich schlage kein bisschen nach meinem Vater, wahrscheinlich eher nach meiner Mutter. Leider gibt es von ihr keine Fotos. Mein Vater sagt, er hat sie alle verbrannt, weil der Schmerz zu groß war. Vielleicht sieht er mich deswegen nie an, gibt sich kaum mit mir ab, nur, wenn er mir Dinge verbieten will.

Ich gehe vor Andrew durch die große Halle auf die doppelflügelige Haustür zu, neben der ein Rottweiler steht und mich zwar ansieht, sich aber nicht wagt, seinen Blick zu vertiefen. Jeder, der für meinen Vater arbeitet, weiß, dass ich verboten bin, weswegen sie es sich nicht wagen würden, mich zu genau anzusehen. Oder auch nur einen winzigen schlüpfrigen Gedanken an mich zu verschwenden. Ich bleibe neben dem dickbäuchigen Mann stehen, dessen Namen ich nicht einmal kenne und ziehe den breiten Schal enger um meine Schultern. Ich kenne die wenigsten Rottweiler mit Namen. Sie reden nur mit mir, wenn es sich nicht vermeiden lässt. Mein Vater streitet es zwar ab, aber ich bin mir sicher, dass es ihnen verboten ist. Ich lege lasziv eine Hand auf seine Brust und schaue ihn unter schweren Lidern hervor an.

»Ich darf heute ausgehen«, setze ich ihn in Kenntnis.

Sein Blick fällt fragend auf Andrew, der hinter mir steht, weit genug entfernt, dass nicht mal sein Duft mich streift. Andrew muss wohl bestätigt haben, dass ich das Haus verlassen darf, denn die Muskeln unter meiner Hand setzen sich in Bewegung. Der Mann beugt sich an mir vorbei und öffnet mir die Tür. Kalte feuchte Herbstluft schlägt mir entgegen und legt sich wie ein feiner Film auf mein Gesicht. Für dieses Wetter bin ich nicht passend angezogen, aber das macht nichts. Die paar Meter zum Auto hin und vom Auto weg werde ich schon aushalten.

Vor der Villa wartet die Limousine meines Vaters. Sie ist immer fahrbereit für den Fall, dass Ragnarök irgendwo irgendetwas zu erledigen hat. Deswegen wird sie Andrew und mich jetzt an unseren Zielort fahren und danach sofort wieder hier vor der Tür auf weitere Befehle warten. Bis es Zeit wird, dass ich nach Hause muss.

Bei dem Gedanken kann ich die Wut in meinem Magen spüren. Ich werde nie frei sein. Dieser Illusion habe ich mich umsonst hingegeben. Mir hätte klar sein müssen, dass ich immer die Gefangene des großen Ragnarök sein werde. Und schuld daran ist meine Mutter, die einfach weggelaufen ist. Ich glaube, das hat ihn verändert. Ihn hart gemacht. Natürlich kann ich mich kaum an die Zeit erinnern, als meine Mutter noch da war. Aber ich kann mich erinnern, auf seinem Schoß gesessen zu haben, während er ein Buch mit mir angeschaut und meine Mutter uns zugesehen hat. Das ist die einzige Erinnerung, die ich an uns alle zusammen habe. Ein paar verschwommene Bilder mit gesichtslosen Menschen. Ich weiß nicht einmal, ob es überhaupt eine Erinnerung ist oder einfach nur eine Szene, die die Wunschträume eines Kindes zeigt.

Sein Eigentum, das bin ich für ihn. Und wenn ich dem Grummeln in meinem Bauch vertrauen kann, werde ich demnächst genau wie meine Cousine geschäftlich verheiratet werden.

In letzter Zeit häufen sich die merkwürdigen Treffen zwischen meinem Vater und Liam Ashworth, einem Geschäftspartner von ihm. Treffen und offizielle Anlässe, auf die er mich mitnimmt und Liam mit seinem Sohn Camden an seiner Seite auftaucht. Wahrscheinlich würde ich es nicht einmal ahnen, wenn Kera mir nicht erzählt hätte, dass sie geschäftlich verheiratet wurde. Ein Schauer durchläuft mich bei dem Gedanken. Camden mag vielleicht eine nette und sexy Partie sein, aber er ist nicht meine Partie. Die steht hinter mir. Für nichts, auch nicht für meinen Vater, werde ich jemanden heiraten, den ich nicht liebe.

Ich tätschle dem Rottweiler noch einmal die Brust. »Ich geh dann mal etwas Spaß haben«, sage ich im Vorbeigehen.

Der Chauffeur öffnet mir die hintere Autotür, sobald ich die untere Stufe erreicht habe, und setzt ein bedeutungsloses Lächeln auf. Ich nenne ihm die Adresse meiner Freundin Ellie und setze mich mit gerümpfter Nase in den Rolls-Royce. Ich habe meinem Vater schon unzählige Male vorgeschlagen, sich ein weniger protziges Auto zuzulegen, aber Ragnarök ist niemand, der bescheiden ist. Alle Welt soll wissen, wie wohlhabend er ist. Irgendwann wird diese offensichtliche Zurschaustellung seines Kontostandes ihm das Genick brechen.

Ich rutsche auf die andere Seite, als Andrew sich neben mich auf die Rücksitzbank schiebt. Meine Clutch lege ich als kleine Barriere zwischen uns. Ich presse die Lippen fest aufeinander und versuche, so ruhig wie möglich zu atmen, aber mein Herz rast so heftig, dass ich bei dem Versuch fast ersticke. Vorsichtig sehe ich zur Seite, als der Fahrer die Tür schließt. Andrews Blick ist nach vorn gerichtet und er wirkt irgendwie unzufrieden. Wahrscheinlich ärgert er sich, weil man ausgerechnet ihm diesen Babysitterjob aufgehalst hat.

»Du musst mich nicht begleiten«, sage ich möglichst beiläufig. »Nimm dir ein paar Stunden frei, ich komm schon zurecht.«

Andrew wendet sich mir zu und in meinem Magen steigt ein nervöses Brennen auf. Sein Blick ist kühl, als er mir ins Gesicht sieht, dann verengen sich seine Lider und fast schon wütend funkelt er meine nackten Oberschenkel an.

»Was denkst du, wie lange es dauert, bis irgendein Kerl dich in diesem Aufzug entdeckt und dein Vater das dank der Kameras im Club mitbekommt und mich umbringt, weil ich dich unbeaufsichtigt gelassen habe?«, fragt er mich mit ruhiger, kontrollierter Stimme. Er wendet seinen Blick wieder ab und sieht zum Seitenfenster raus. »Aber eigentlich hast du recht, ich habe Besseres zu tun, als auf kleine Mädchen aufzupassen. Wie dir nicht entgangen sein sollte, ist dein Onkel Ronny erst vor zwei Tagen ums Leben gekommen.«

Ich zucke schuldbewusst zusammen. Für Andrew war Ronny so etwas wie sein Vater, wenn auch nicht sein leiblicher. Aber ich mochte diesen Kerl nie. Eigentlich habe ich ihn sogar immer verachtet. All die Dinge, die man meinem Vater vorwirft, die hat er nachweislich getan. Und noch vieles mehr. Dieser Mann hat den Tod verdient, weswegen ich ihm auch keine Sekunde nachtrauere. Andrew sollte das auch nicht.

Ich schnaube und beuge mich näher zum Fahrer. »Nun fahren Sie schon schneller. Ellie wartet bestimmt schon. Sie wird noch ganz nass werden und dann muss ich mir den ganzen Abend anhören, dass ihre Frisur versaut ist.«

Der Fahrer antwortet, indem er mir einen scharfen Blick im Rückspiegel zuwirft, der mich nicht beeindruckt. Ich hasse die Männer meines Vaters. Indirekt gebe ich auch ihnen die Schuld an meiner Gefangenschaft. Noch mehr als jemals zuvor ersehne ich mir heute Abend ein Stück mehr Freiheit. Ich möchte raus aus diesem goldenen Käfig. Für manch einen klingt ein goldener Käfig vielleicht wie die Erfüllung all seiner Träume. Aber was kann man mit Reichtum und einem Leben in Prunk und Schönheit schon anfangen, wenn man eigentlich gar kein eigenes Leben hat?

Ich bin so enttäuscht darüber, dass mein Vater mir sogar an dem Tag, an dem ich endlich und lang ersehnt, volljährig geworden bin, sagt, was ich zu tun und zu lassen habe. All meine Hoffnung darauf, dass sich nun etwas für mich ändern wird, hat er mit Füßen getreten. Der Zorn in mir brodelt nah an der Oberfläche und ich möchte am liebsten jemandem wehtun, um mich dadurch wieder besser zu fühlen.

»Der Mann kann nichts daran ändern, dass es nicht nach dir geht«, sagt Andrew leise, ohne mich anzusehen. »Ich bin vielleicht nicht dein leiblicher Bruder, aber ich komme dem wohl am nächsten, und deswegen muss ich deinem Vater recht geben, wenn er nicht will, dass du unbeaufsichtigt dort draußen rumläufst. Schon gar nicht jetzt, wo alles auseinanderzubrechen droht, was Ronny und er aufgebaut haben. Das Machtgleichgewicht ist durch Ronnys Tod ins Wanken geraten und es gibt den Einen oder Anderen dort draußen, der jede Chance nutzen würde, um deinen Vater vom Thron zu stoßen.«

Ich kneife die Augen zusammen und hole tief Luft. Ich weiß, dass Andrew nicht Unrecht hat. Und es ist auch gar nicht das, was er sagt. Zumindest nicht alles davon. Nur ein Teil von dem macht mich noch wütender und lässt mich fast explodieren. Der Teil, in dem er sagt, er wäre mein Bruder. Dieser Teil schmerzt, als würde Andrew selbst mir mein Herz aus der Brust reißen, es in seiner Faust zerdrücken und es dann wieder zurückstecken.

Als ich klein war, war es okay, dass er in mir die kleine Schwester gesehen hat, die er unbedingt beschützen musste. Als ich dann älter wurde, habe ich angefangen, es zu hassen, dass ich für ihn nicht mehr als das war. Solange er seine Schwester in mir sieht, habe ich nicht die geringste Chance, von diesem Mann zu bekommen, was ich mir so sehr wünsche.

»Was mein lieber Herr Vater so treibt, interessiert mich nicht. Dieser kriminelle Mist, von dem ich nichts wissen darf, bestimmt mein ganzes verdammtes Leben. Ich werde noch als Jungfrau sterben«, platzt es aus mir heraus, noch bevor ich es zurückhalten kann.

Andrews Blick wirkt genauso schockiert, wie ich mich fühle. Sein Mund steht offen, dann schluckt er so heftig, dass ich die Bewegung seines Adamsapfels deutlich sehen kann. Er sieht hastig zur Seite und ich spüre, wie Hitze sich über meine Wangen, meinen Hals und meine Brust ausbreitet.

Frustriert und beschämt stöhne ich auf und verstecke mein brennendes Gesicht in meinen Handflächen. Wie konnte das nur passieren? Wie blöd von mir, ihm das zu sagen! Gerade Andrew! Aber ich habe es ja nicht freiwillig getan. Manchmal hasse ich mein Temperament, das ich wohl von meiner Mutter geerbt haben muss, denn mein Vater ist immer ruhig, gelassen und geradezu emotionslos. Emotionslosigkeit hätte mich eben vor diesem dummen Fehler bewahrt.

Jetzt wird er wohl noch mehr ein Kind in mir sehen, als er das ohnehin schon tut. Phoebe, das kleine dumme Mädchen, das total verknallt in den heißen Typen ist, der wirklich jede haben kann. Wenn ich je eine Chance bei ihm hatte, habe ich die jetzt verspielt. Ich stoße ein weiteres frustriertes Stöhnen aus. »Vergiss einfach, dass ich das jemals gesagt habe«, sage ich heiser vor Scham.

»Bin schon längst dabei«, sagt er, grinst mich aber breit an. Zum ersten Mal, seit er wieder zurück ist, bringt ihn etwas zum Lächeln und das ist ausgerechnet das peinlichste Geständnis, das meinen Mund je verlassen hat.

Meine Hand ballt sich zur Faust und ich muss wirklich an mich halten, sie ihm nicht ins Gesicht zu trümmern. Und dass ich zuschlagen kann, sollte selbst er wissen, denn er hat es mir beigebracht, als er noch bei uns gewohnt hat und ich noch viel zu jung war, um diese Gefühle, die ich immer in seiner Nähe hatte, haben zu dürfen.

Aber warum winde ich mich eigentlich so heftig? Ihm müsste klar sein, dass ich nie einen Freund hatte, mein Vater hätte es gar nicht zugelassen. Ich hatte gar nicht die Möglichkeit, auf Jungs zu treffen, immerhin hat man mich in eine Mädchenschule abgeschoben. Eine katholische!

Die Limousine hält am Straßenrand und ich könnte vor Erleichterung anfangen zu heulen, als meine Freundin Ellie sich mir gegenüber auf die Rücksitzbank setzt.

Sie trägt eine knallenge schwarze Lacklederhose und ein weißes Top, auf dessen Brust mit glitzernden schwarzen Perlen »Zu allem bereit« steht. Ihr Top ist so eng und der Kragen so weit ausgeschnitten, dass ihr praller Busen fast aus dem Ausschnitt springt. Ellie war noch nie schüchtern. Und trotz katholischer Mädchenschule lässt sie nichts anbrennen. Und ihre Eltern verschaffen ihr mir gegenüber einen wichtigen Vorteil: Sie sind ständig unterwegs und lassen ihre Tochter immer allein zu Hause. Ellies Leben ist so komplett anders als meins. Wenn ich nur ein winziges Stück von ihrem Glück abhaben könnte …

»Hallo Andrew«, säuselt sie, nachdem sie mich begrüßt und mir ein kleines Päckchen in die Hand gedrückt hat. »Wie gefällt dir die frische Luft in der knastfreien Welt?«

Andrew mustert sie genau, angefangen bei ihren langen, gewellten blonden Haaren, die locker bis über ihre Schultern fallen, über ihre dunklen, vollen Lippen und ihr freizügiges Äußeres. Um seine Mundwinkel zuckt ein winziges Lächeln und in seinen Augen blitzt etwas zufrieden auf. Ich stoße ein geistiges Knurren aus. Natürlich sieht er in ihr nicht seine kleine Schwester. Das tun die Männer nie. Warum sollte das bei Andrew anders sein?

»Sie ist eindeutig östrogenhaltiger.« Andrew sagt das und lässt dabei fast seine Augen in Ellies Ausschnitt fallen.

Ich fummele an dem Geschenkpapier herum, während ich zusehe, wie Andrew jeden Zentimeter von Ellies Körper unter die Lupe nimmt. Meine Finger zittern und etwas sticht in meiner Brust. Ich war nie wegen eines Mannes auf Ellie eifersüchtig. Wir waren schon des Öfteren gemeinsam aus. Sie hat die Kerle angegraben und ich habe brav neben einem meiner Hündchen gestanden und zugesehen. Aber jetzt zuzusehen, fühlt sich an, als fresse sich ein Wurm durch meine Eingeweide. Als brenne sich Säure durch mein Herz.

»Dann wollen wir mal sehen, was du mir mitgebracht hast«, werfe ich mit viel zu hoher Stimme ein und unterbreche den Blickkontakt der beiden. Angespannt reiße ich das bunte Papier mit den kitschigen Hello Kittys ab, die mich gerade noch mehr ärgern, weil ich das Gefühl habe, dass sie Andrew erst recht glauben lassen, ich wäre noch ein Kind. Unter dem Papier kommt eine weiße Schachtel zum Vorschein.

»Du schenkst mir ein iPhone?«, frage ich verwirrt, weil ich den Sinn hinter diesem Geschenk nicht verstehen kann. Ich habe dieses Model schon längst. Auch wenn ich das iPhone hasse, weil Vater die Ortungsfunktion von Apple dafür benutzt, mich ständig zu verfolgen, aber ein anderes Handy darf ich nicht haben.

»Nein, ich hatte nur keine andere Schachtel. Du musst sie aufmachen«, sagt Ellie grinsend, dann gleitet ihr Blick wieder zu Andrew und was ich in dem Blick sehe, lässt mich für einen Moment bereuen, dass sie meine Freundin ist.

Aber natürlich weiß Ellie gar nicht, was ich für Andrew empfinde. Ich habe es ihr nie gesagt. Warum auch, wir beide waren noch nicht alt genug für ein solches Gespräch, bevor Andrew ins Gefängnis kam. Und danach gab es keinen Grund mehr für ein solches Gespräch. Obwohl wir natürlich auch Gespräche über Männer hatten. Aber meist war es so, dass Ellie mir von ihren Erlebnissen erzählt hat und ich sie durch sie erlebt habe. Ich ziehe den Deckel von der Schachtel und erstarre mit Hitze im Gesicht, als ich leuchtend rote Spitze sehe. Ich will den Deckel sofort wieder über die Schachtel schieben, doch Ellie ist schneller. Sie schnappt sich Babydoll und Tanga und hält sich beides mit wackelnden Augenbrauen vor den Körper.

»Und, wie gefällt es dir?«, fragt sie und sieht dabei nicht mich, sondern Andrew an, der zum zweiten Mal breit grinst. Ellie kichert wie wild drauflos, dann kramt sie in ihrer Handtasche und zieht ein paar Plüschhandschellen heraus. »Bevor ich die vergesse. Die haben nicht in die Schachtel gepasst, aber ich dachte, das rote Kuschelfell passt perfekt zur Unterwäsche.«

Ich entreiße Ellie die rote Seide und stopfe sie wieder in die kleine Schachtel. Dass beides darin Platz findet, zeigt, aus wie verdammt wenig Stoff Ellies Geschenk besteht. Wahrscheinlich werde ich es niemals tragen. Oder aber, ich werde es tragen und kein Mann wird es jemals zu Gesicht bekommen.

Erleichtert registriere ich, dass der Wagen vor dem Club hält. Der Fahrer steigt aus und öffnet uns die Tür. Zuerst steigt Andrew aus, dann folge ich ihm und zum Schluss nimmt Andrew Ellies Hand und hilft ihr beim Aussteigen. Die Frustration darüber, dass er mir nicht geholfen hat, stoße ich zwischen zusammengepressten Lippen hervor. Ellie hält mich auf dem Fußweg zurück. In ihrer Hand hält sie die weiße Schachtel.

»Clutch auf!«, befiehlt sie.

Ich sehe sie mit gerunzelter Stirn fragend an.

»Du kannst nie wissen, wer dir heute über den Weg läuft.«

Niemand? Wer sollte mir schon über den Weg laufen?, versuche ich ihr mit einem Kopfnicken in Richtung meines Bodyguards zu bedeuten.

Sie nähert sich mit ihrem Gesicht meinem Ohr. »Was glaubst du, wieso ich eben im Auto diese Show aufgeführt habe? Bestimmt nicht, weil mir heute mal nach Ex-Knasti ist. Ich lenke ihn ab und du verschwindest«, flüstert sie leise. Gleichzeitig öffnet sie meine Handtasche und lässt die rote Seide und die Plüschhandschellen hineingleiten, danach zwinkert sie mir vielsagend zu, wirft die Schachtel auf die Rücksitzbank und hakt sich bei Andrew unter.

»Dann lass uns mal etwas Spaß haben, Andrew. Ich hoffe, dir macht der Altersunterschied nichts aus, aber ich kann dir versprechen, dass es nichts gibt, was du nicht mit mir anstellen darfst«, verspricht sie mit lüsternem Blick und leckt sich übertrieben aufreizend über die Lippen.

Ich stöhne innerlich auf, muss ihr aber zugutehalten, dass sie sich nur für mich an Andrew ranschmeißt. Vielleicht sollte ich Andrew wenigstens für heute Abend vergessen und tun, was Ellie mir vorgeschlagen hat. Andererseits weiß ich nur zu genau, dass ich alles, was ich will, direkt vor meiner Nase habe. Ich laufe neben den beiden an der Warteschlange vorbei auf den Einlasser zu, der die rote Absperrung für uns öffnet und uns mit einem Nicken in den Club lässt, aus dem warme, dicke Luft und wummernde Bässe quellen.

Das Vallhall ist immer gut besucht. Aber meistens wird es erst dann richtig voll, wenn ich wieder nach Hause muss. Heute wird das nicht so sein. Ich bin jetzt 18 und ich werde auf keinen Fall vor Mitternacht diesen Club verlassen. Dann muss Andrew mich schon hier raustragen, wenn er diesen Befehl meines Vaters befolgen will. Und dazu muss er Ellie erstmal loswerden, die ihn sofort in Richtung Bar abschleppt.

Ich folge den beiden brav, aber beschließe, die erst beste Gelegenheit zu nutzen, um mich allein im Club umzusehen. Soweit das möglich ist. Ich lasse den Blick über die Köpfe der tanzenden Gäste gleiten. Noch ist die Tanzfläche nicht allzu voll, deswegen kann ich die im Club verteilten Rottweiler gut sehen. Ich rümpfe angewidert die Nase. Aber am schwierigsten wird es werden, Andrews Aufmerksamkeit abzuschütteln. Nicht nur, weil es sein Auftrag ist, explizit auf mich achtzugeben, sondern auch, weil tief in mir mich etwas zu ihm hinzieht. Ein Teil von mir würde gerne auf jede Freiheit verzichten, wenn ich nur bei ihm sein kann. Aber ich weiß, dass er nie das Gleiche empfinden würde, weswegen ich dieses bohrende Gefühl von mir schüttle und mich nur auf dieses eine Ziel konzentriere: den Männern meines Vaters zu entkommen und diese eine Nacht einfach zu genießen und mir zu nehmen, was ich bereit bin zu geben.

Wenn ich es heute Abend nicht schaffe, mir ein Stückchen Unabhängigkeit zu erkämpfen, dann werde ich es nie schaffen. Dann wird mein Vater mir immer im Nacken sitzen. Ich muss ihm beweisen, dass für mich auch ein Leben ohne ihn möglich sein könnte. Ich muss ihm zeigen, dass die Gefahr nicht hinter jeder Ecke auf mich lauert.

Mein Vater und Onkel Ronny haben sich bewusst für dieses Leben entschieden. Ich bin hier hineingeboren worden und habe keineswegs vor, mich darin einweben zu lassen. Ich will selbst bestimmen dürfen, sonst wache ich eines Tages auf und muss mir eingestehen, dass ich schuld daran habe, dass mein Vater mich an einen seiner Geschäftspartner verkauft hat. Von heute an werde ich mir jeden Tag ein Stück mehr Freiheit nehmen. Nur so kann ich dem großen Ragnarök zeigen, dass ich mir nicht alles von ihm gefallen lasse. Ich bin jetzt volljährig, er hat kein Recht mehr, mich weiter besitzen zu wollen.

Ich beobachte eine Weile die tanzenden Paare, die sich zu einem langsamen Song aneinanderschmiegen, und seufze frustriert. Bisher gab es keinen Mann, bei dem ich den Wunsch hatte, ihm so nahezukommen. Nur Andrew weckt solche Träume in mir. Den Wunsch, ihn zu berühren, meinen Körper an seinem zu reiben und ihn mit jeder Faser in mich aufnehmen zu können. Vielleicht muss ich ihm zeigen, dass ich kein kleines Kind mehr bin, damit er mich mit anderen Augen sieht. Vielleicht muss er genauso wie mein Vater begreifen, dass ich nicht mehr zulassen werde, dass andere über mein Leben bestimmen.

Sosehr ich mich darüber freue, dass er endlich zurück ist, Andrew muss auch verstehen, dass ich es immerhin zwei Jahre ohne ihn geschafft habe. Dass er die Befehle meines Vaters genauso blind befolgt wie die anderen Männer, muss ich verhindern. Andrew könnte mein einziges Schlupfloch sein, wenn auch kein großes. Aber früher hat er mir auch schon Dinge besorgt oder mal weggeschaut. Warum sollte das jetzt vorbei sein?

Ellie bestellt für uns beide einen Sex on the Beach und zwinkert Andrew lüstern zu, als sie das Wort Sex formuliert. Andrew kann sich ein Grinsen wohl nicht verkneifen, was meiner Kehle ein leises Stöhnen entlockt. Zum Glück ist die Rock-Musik so laut, dass nur ich dieses Stöhnen bemerke, weil es meine Kehle vibrieren lässt.

Ellie nimmt unsere Gläser von der Theke, beugt sich um Andrew herum, der zwischen uns steht, und hält mir das Glas mit dem kitschigen Schirmchen hin. Für einen Augenblick stockt mir der Atem und Schweiß tritt auf meine Stirn, als mir klar wird, dass ich Andrew recht nahekommen muss, wenn ich Ellie meinen Drink abnehmen will. Ich atme tief ein und mache mir selbst Mut, denn das ist es doch, was ich will. Ihm nahekommen und ihm zeigen, dass ich existiere. Ich, Phoebe. Und nicht sie, das Mädchen, das er immer Engelchen genannt hat und dem er an den Zöpfen gezogen hat. Dem er die Tränen getrocknet hat und deren Hausaufgaben er gemacht hat. Das Mädchen hat jetzt keine Zöpfe mehr, läuft dafür aber auf High Heels durchs Leben.

Mein Herz macht einen deutlichen Satz, als ich beschließe, etwas zu tun, was ich nicht tun sollte. Aber etwas treibt mich dazu an, so mutig zu sein, wie Ellie. Ich will, dass Andrew mir auch so ein Grinsen zuwirft, dass er mich auch mit dieser bewundernden Hitze im Blick ansieht. Dass er vielleicht bemerkt, dass ich nicht seine Schwester bin. Also schiebe ich mich nahe an Andrew heran und biege meinen Oberkörper um ihn herum, um Ellie mein Glas abnehmen zu können. Mein ganzer Körper kribbelt, als ich Andrew so nahekomme, dass meine Brüste seinen Bauch streifen. In meinen Ohren rauscht aufgeregt das Blut und mir wird so schwindlig, dass ich mir selbst nicht mehr traue.

Mit einem unsicheren Keuchen richte ich mich so schnell wieder auf, dass Flüssigkeit aus meinem Glas schwappt und in einem Schwall auf Andrews Shirt landet. Beschämt sehe ich zu ihm auf, mein Herz rast jetzt nicht nur wegen der Nähe zu seinem Körper, sondern auch wegen des abschätzigen Blicks, den Andrew mir zuwirft.

Für eine Sekunde erstarre ich, doch bevor ich mich in mich zurückziehe, ermahne ich mich selbst, dass ich ihm so nicht beweisen werde, dass ich kein unschuldiges Mädchen mehr bin. Also sehe ich mit gespitzten Lippen unter schweren Lidern zu ihm auf, lecke mir hoffentlich verführerisch über die Unterlippe und nehme eine Serviette von der Bar. Dann stelle ich mich nahe vor ihn, die eine Hand flach auf seiner Brust, die andere tupft die Flüssigkeit von seinem Shirt. Dabei sehe ich ihm tief in die Augen und hauche noch einmal eine Entschuldigung. Andrews Mundwinkel beginnen zu zucken und er grinst auf mich herab. Seine Finger legen sich um meine Oberarme und bringen mich auf Abstand. Er beugt sich zu mir herunter, sein Atem streift meine Wange.

»Was auch immer du hier vorhast, das läuft nicht«, sagt er, richtet sich wieder auf und grinst noch breiter.

Ich verenge meine Augen zu wütenden Schlitzen, mein Mund fühlt sich ganz trocken an. »Was auch immer du gedacht hast, deine Fantasie geht wohl mit dir durch«, keife ich. 

Ich kippe den Drink runter, ohne ihn wirklich zu schmecken, und bestelle gleich noch einen. Die Bedienung lächelt mich an. Es ist diese Art Lächeln, die ich von allen Angestellten meines Vaters bekomme: mitleidig, schüchtern und ein bisschen ängstlich.

Noch bei meinem letzten Besuch habe ich nur Cola bekommen, aber natürlich hat man die Bedienung darüber informiert, dass ich ab heute – wenn auch in Maßen – Alkohol bekommen darf. Das sind die kleinen Gefälligkeiten, die mein Vater mir zukommen lässt. Bestechungen für eine Tochter, die hoffentlich ihr Gemüt beruhigen. Ich runzle die Stirn, als sie mir mein Glas gibt und wieder dieses distanzierte Lächeln für mich übrig hat. Wann hören die Leute endlich auf, mich so zu behandeln? Wann sehen sie endlich durch diese Wand hindurch, die Ragnarök um mich herumgezogen hat, und behandeln mich wie eine von ihnen? Ich nehme das Glas, werfe den Schirm auf den Tresen und stürze auch diesen Drink runter.

Ellie grinst mich zufrieden an und zwängt sich zwischen Andrew und mich. »Und jetzt holst du tief Luft, lockerst dich etwas auf und gehst zwei Schritte rückwärts. Dann drehst du dich um und wirfst dem süßen Kerl hinter dir ein strahlendes Lächeln zu.«

Ich lächle hinterhältig. »Hinter mir steht ein Typ?«

»Und was für einer«, brüllt Ellie mir ins Ohr. »Und definitiv interessiert. Er beobachtet dich schon eine Weile.«

Ich drehe mich etwas zu schnell um, denn in meinem Kopf dreht sich alles für einen Augenblick. Zwei Gläser auf einmal machen sich schnell bemerkbar, wenn man es nicht gewohnt ist. Der dunkelhaarige Kerl sieht wirklich gut aus und sein Blick ist intensiv auf mich gerichtet. Nervös sehe ich wieder Ellie an. Eigentlich war es bisher so, dass, wenn die Typen mich überhaupt angesprochen haben, sie recht schnell von einem Rottweiler für diese Frechheit aus dem Club geworfen worden sind. Deswegen habe ich es bisher gar nicht erst versucht, mich an einen Kerl ranzumachen, weil es ohnehin wenig Sinn gehabt hätte. Aber heute hätte es einen Sinn, und der steht direkt hinter mir. Es geht mir nicht darum, diesen Kerl anzumachen, sondern darum, Andrew hoffentlich so etwas wie eine Emotion zu entlocken. Und wenn es nur Wut ist. Die Hauptsache ist doch, er bemerkt mich und tut nicht weiter so, als wären wir nie befreundet gewesen. Diese Distanziertheit mir gegenüber geht mir an die Nieren, weil er so nie zu mir war. Er spricht nicht mit mir, sieht mich kaum an, während ich mich so sehr nach seiner Aufmerksamkeit sehne, dass mein Herz sich zusammenzieht.

»Was soll ich sagen?«

Ellie sieht zu Andrew auf, der nahe hinter ihr am Tresen lehnt. In seinen Augen kann ich genau die Sekunde ablesen, in der sein Blick auf den von Ellie trifft und dann weiter zu ihrem Dekolleté wandert.

Ich schnaube. »Schon gut, ich bekomme das hin«, sage ich in meinem alkoholgeschwängerten Übermut mit Wut im Bauch. Ich wende mich von Ellie und Andrew ab und gehe die zwei Schritte auf den dunkelhaarigen Kerl zu, der etwa in Andrews Alter sein dürfte und dessen Augen nichts für das Dekolleté meiner Freundin übrig haben. Mit einem breiten Lächeln und wackligen Beinen lege ich meine Hand in seine Armbeuge. So wie Ellie es immer tut, wenn sie die ungeteilte Aufmerksamkeit eines Typen haben möchte. Ohne eine Erklärung ziehe ich ihn hinter mir her zur Tanzfläche und lächle ihn pausenlos über meine Schulter hinweg an. Auf der Tanzfläche schmiege ich mich sofort an ihn und sehe verführerisch zu ihm auf.

»Du tanzt doch mit mir?«

Er antwortet mir grinsend, indem er seine Hände auf meine Taille legt und mich fest gegen seinen Körper zieht.

Diese Nähe fühlt sich fremd für mich an. Und das Kribbeln, das ich bei Andrew gespürt habe, bleibt auch aus, aber ich konzentriere mich trotz des unangenehmen Gefühls, das sein Körper an meinem auslöst, nur auf das, was ich hier tue. Ich wiege die Hüften im Takt der Musik, lege meine Hände auf seine schmalen Schultern, und obwohl ich Andrew noch nie so nahegekommen bin, weiß ich, dass er sich härter anfühlen würde unter meinen Fingern.

Als die Hände des Typen über meinen Körper gleiten und auf meinem Hintern zu liegen kommen, sehe ich mich unsicher um. Ich habe keine Ahnung, wie ich mich richtig verhalten muss. Soll ich es ihm erlauben, ihn auf Abstand halten?

Ich mustere ein Paar links von uns. Sie schmiegt sich aufreizend an seinen Körper und scheint ihn mit ihren Bewegungen auf der Tanzfläche verführen zu wollen. Mein Blick fällt auf Andrew, der mich genau im Blick hat, die Arme vor der Brust verschränkt. Kein Zeichen einer Reaktion auf dem Gesicht. Das macht mich wütend. Weil es ihn überhaupt nicht zu interessieren scheint, dass ein Mann seine Hände auf meinem Körper hat.

Ich will wissen, bis wohin sein Desinteresse reicht, also drehe ich mich in den Armen des Fremden und lasse mich auf die gleiche Art lasziv an seinem Körper nach unten und wieder hinaufgleiten, wie es eben die Frau neben mir auch getan hat. Dabei sehe ich Andrew die ganze Zeit über provokativ an. Sauge meine Unterlippe zwischen meine Zähne, kaue darauf herum und lasse meine Hände aufreizend an meinen Seiten nach unten gleiten.

Ich tue all das, was ich auch von einer Stripperin erwarten würde, die an ihrer Tanzstange versucht, die Männer im Publikum mit ihrem Tanz zu verführen und sie dazu zu bringen, auch noch das letzte bisschen Verstand in Form von Pfundnoten vor ihre Füße zu werfen. Dann bewege ich meinen Hintern schaukelnd am Unterleib meines Tanzpartners. Der zieht mich fest gegen seinen Körper und ich kann deutlich spüren, dass, was auch immer ich hier tue, nicht spurlos an ihm vorbeizieht.

Diese unerwartet körperliche Reaktion eines fremden Mannes auf meinen Körper holt mich ganz schnell auf die Tanzfläche zurück. Hämmernd schießt Hitze durch meine Venen. Ich will mich panisch von ihm zurückziehen, aber er hält mich unnachgiebig fest. Was hatte ich denn gedacht, was passieren würde, wenn ich solche Dinge mit einem Mann tue? Ich drehe mich in seiner Umklammerung und presse die Hände auf seine Brust. Der Mann beugt sich zu mir nach unten. Seine Lippen streichen über meine Ohrmuschel.

»Nicht so eilig. Lass uns das noch ein bisschen auskosten, bevor wir uns in eine dunkle Ecke zurückziehen.«

»Nein … so war das nicht gemeint«, stammle ich erschrocken, aber er lacht nur und reibt seine Erektion mit noch mehr Nachdruck an meinem Bauch.

Ganz unvermittelt, während ich noch immer mit ihm und meiner Angst ringe, wird er von mir weggerissen und landet auf seinem Hintern. Ich blinzle hektisch, stolpere rückwärts und werde von groben Fingern um meinen Oberarm vor einem Sturz bewahrt.

»Bist du fertig?«, brüllt Andrew mich mit mörderischem Blick an. »Wenn du willst, dass dein Vater mich umbringt, dann mach weiter so.«

Ich blinzle, dann reiße ich mich von ihm los. »Ich bin nicht fertig. Was bildest du dir eigentlich ein?«

»Für mich sah es so aus, als wärst du fertig.«

»Dann hast du dich getäuscht«, sage ich und werfe einen Blick auf den Typen am Boden, der mit ängstlich geweiteten Augen von uns weg robbt und erst vom Boden aufsteht, als er mehrere Meter zwischen sich und Andrew gebracht hat, der mit verschränkten Armen und breiten Schultern wie ein Dämon auf einem Feldzug vor mir aufragt. Eigentlich war es genau das, was ich wollte. Andrew eine Reaktion abringen. Aber nicht diese. Nicht die Angst-vor-meinem-Vater-Reaktion. Was ich sehen wollte, war Eifersucht und die habe ich nicht bekommen, weswegen ich stinksauer bin.

»Na klasse«, keife ich, dann schubse ich Andrew und versuche, an ihm vorbeizukommen. Als ich zur Seite sehe, um mir einen Fluchtweg zu suchen, der mich weit weg von Andrew führt und möglichst raus aus diesem Club, erkenne ich mehrere schwarze Anzüge, die sich durch die Gästemenge auf uns zuschieben. Ich sehe zur anderen Seite, auch dort arbeiten sich Rottweiler auf die Tanzfläche zu.

Wunderbar, denke ich wütend. Nichts hat sich geändert. Ein Kerl hat seine Hände auf mir und sechs andere schwingen sich zu schwarzen Rächern auf.

»Mein Vater bringt keine Leute um«, sage ich zu Andrew, als der wieder meinen Arm packt. »Er lässt ihnen ein paar Rippen brechen, mehr nicht. Er ist kein Mörder.«

Andrews Blick verdunkelt sich auf eine Art, die mich schwer schlucken lässt. Er löst seinen Blick in genau dem Moment von mir, in dem einer der Männer eine Waffe zieht und auf Andrew richtet. Mit weit aufgerissenen Augen sehe ich Andrew an, der die Stirn runzelt und nur eine Sekunde lang zögert, bevor er nach mir greift und mich vor seinen Körper schiebt. Alles passiert ganz schnell und doch wie in Zeitlupe. Um uns herum tanzen Menschen, Bässe dröhnen, es riecht nach Parfüm und Schweiß. Die Männer meines Vaters bewegen sich weiter auf uns zu. Ein weiterer zieht eine Waffe. Ich drehe den Kopf, als neben mir eine Frau aufschreit und sehe, dass sich aus dieser Richtung Polizisten auf uns zu arbeiten. Ohne Rücksicht stoßen sie Gäste von sich. Andrews Finger bohren sich grob in meinen Oberarm, er sieht auf mich runter, formt mit seinen Lippen »los«, dann reißt er mich mit und rennt mit mir durch die Menge der Tanzenden hindurch, noch bevor ich überhaupt realisiert habe, was hier gerade passiert.

Warum richtet jemand eine Waffe auf Andrew? Habe ich es zu weit getrieben? Was passiert hier gerade? Mein Herz hämmert so schnell, dass meine Brust brennt und ich kaum atmen kann. Nur meine Beine arbeiten ganz ohne meine Hilfe und rennen hinter Andrew her, der mich auf den Ausgang zu zerrt und sich genauso rücksichtslos durch die Menge arbeitet wie die Männer hinter uns. Ich stemme mich gegen ihn, aber er lässt nicht los, sondern drängt mich weiter in Richtung Straße. Ich versuche, seine Finger von meinem Arm zu lösen, aber als ich seinen wütenden Blick sehe, gebe ich das Vorhaben auf. Stattdessen sehe ich über die Schulter zurück, wo sechs Männer immer näherkommen. Zwei davon tragen Polizeiuniformen.

»Was ist los?«, schreie ich heftig atmend, als wir vor dem Club auf die Straße rennen, wo gegenüber gerade ein Chauffeur einer Frau die Tür zu einer schwarzen Limousine aufhält. Andrew zerrt mich grob weiter hinter sich her. In meinem Rücken höre ich den peitschenden Knall eines Schusses. Ohne sich umzusehen, schubst Andrew den Chauffeur und die Frau vom Auto weg, stößt mich auf den Rücksitz, umrundet das Auto, während ein weiterer Schuss fällt, und lässt den Wagen an, noch bevor er richtig sitzt.

»Was zur Hölle soll das?«, schreie ich ein weiteres Mal und werfe einen Blick zum Club hin, wo jetzt die Männer auf der Straße stehen. Einer von ihnen hält seine Pistole in die Luft und feuert in den nachtschwarzen Himmel.

2

Bitte anschnallen, meine Herrschaften! Ich glaube, es wird eine stürmische Nacht

(Alles über Eva)

Andrew

Nervös werfe ich einen Blick in den Rückspiegel, als Schüsse fallen. Zwei uniformierte Männer stehen auf der Straße und starren dem 5er BMW hinterher, den ich gerade gestohlen habe. Was für ein Glück, dass Chauffeure sich selten die Zeit nehmen, den Schlüssel aus dem Schloss zu ziehen. Ich werfe Phoebe einen kurzen Blick zu. Sie sitzt wie ein verwirrtes Häufchen auf der Rücksitzbank. Ihre Hände liegen im Schoß. Sie sieht mich verängstigt an und fragt immer wieder, was gerade passiert ist. Ich muss etwas sagen, um sie zu beruhigen. Aber alles, was ich ihr sagen könnte, würde ihr nur noch mehr Angst machen, denn obwohl die Männer hinter uns Polizisten waren, gehören sie auch zu ihrem Vater. Ich hätte sie nicht mitnehmen dürfen, aber mir blieb keine andere Wahl. Hätte ich sie nicht in meinem Rücken gehabt, hätte die Männer nichts davon abgehalten, im Club wie wild herumzuballern. Die Tochter des Bosses würde niemals jemand verletzen, alle anderen sind entbehrlich.

Ich behalte die Straße hinter uns im Auge, aber bisher folgt uns kein Auto, das sich durch eine zu hohe Geschwindigkeit verdächtig machen würde. Aber darauf kann ich mich nicht ausruhen, weswegen ich in eine Seitenstraße einbiege, danach noch zwei weitere kleine Straßen nehme und dann über die Glasgow Road auf die A725 in Richtung Hamilton weiterfahre. Eigentlich sind wir nur wenige Minuten unterwegs, aber mit der zitternden Frau hinter mir, die mich aus schreckgeweiteten Augen ansieht und mit ihren Händen ihre Tasche gerade zum einhundertsten Mal erwürgt, fühlen sich die Minuten wie Stunden an.

Ich strecke eine Hand nach ihr aus, lege sie auf ihr nacktes Knie und streichle sie zärtlich, während ich mit der anderen Hand das Auto weiter aus der Stadt heraus steuere. Der Hautkontakt ist es wohl, der Phoebe aus ihrer Starre erlöst. Sie entzieht mir ihr Knie und sieht mich jetzt zornig an. Sie schiebt meine Hand weg, steht auf und klettert zwischen den Vordersitzen nach vorne. Dabei kommt sie mir so nah, dass ich den fruchtig süßen Mangoduft an ihr wahrnehmen kann. Für einen Augenblick muss ich daran denken, wie sie versucht hat, mich eifersüchtig zu machen und wie wütend ihre Augen gefunkelt haben, wenn ich ihrer Freundin in den Ausschnitt geschaut habe. Als ich das bemerkt habe, habe ich sie provoziert und erst recht gestarrt. Dabei sollte es mir weder Spaß machen, dass sie eifersüchtig ist, noch sollte ich es bemerken und gut finden.

»Ich will sofort wissen, was gerade los war«, sagt sie mit vor Wut zitternder Stimme. Ich drossle die Geschwindigkeit und atme tief ein. Weder kann ich ihr sagen, dass ihr Vater mich umbringen will, noch kann ich ihr sagen, dass ich sie gerade als Schutzschild missbraucht habe, weil ich mich darauf verlassen habe, dass Ragnaröks Männer ihr nichts tun würden. Wenn ich sie jetzt ansehe, dann muss ich zugeben, dass ich hoch gepokert habe. Was, wenn ich falsch gelegen hätte? Aber etwas muss ich ihr sagen.

»Dein Vater hat wohl herausgefunden, dass ich eine Ratte bin.«

Ich sehe sie an und sie blinzelt verwirrt. »Was meinst du damit?«

»Dass ich ein Verräter bin.« Ja, vielleicht ist es ganz gut, wenn ich die Schuld auf mich nehme. Lieber lasse ich sie glauben, ich wäre hier der Böse, als ihr erklären zu müssen, dass ihr Vater nicht der ist, für den sie ihn hält.

»Ich weiß, was eine Ratte ist«, keift sie ungeduldig und dreht sich mit dem Oberkörper zu mir. Ich kann aus den Augenwinkeln sehen, dass sie mich mit gerunzelter Stirn ungläubig mustert.

»Ich arbeite für Interpol.« Vor ein paar Tagen hat Scotland Yard zusammen mit einer Gruppe Männer von Logan Security eins der Verstecke von Ronny McCraw gestürmt, um Hope zu befreien, von der sich rausgestellt hat, dass sie nach Phoebe einer Schwester am nächsten kommt. Einer Schwester, mit der ich geschlafen habe.

In Gedanken verziehe ich das Gesicht und muss mich daran erinnern, dass ich sie weder kannte noch wirklich blutsverwandt mit ihr bin. Sie ist die Tochter der besten Freundin meiner leiblichen Mutter, der Ronny mich weggenommen hat, bevor ich überhaupt dazu in der Lage gewesen wäre, mir ihr Gesicht einzuprägen. Und sie ist Ronnys leibliche Tochter. Da nur mein Kontaktmann und ein paar wenige andere wissen, dass ich für Interpol arbeite, blieb mir nur die Flucht aus Ronnys Haus. Aber wieso bin ich aufgeflogen? Wer hat mich verraten können, wenn niemand Bescheid wusste? 

Sie schnappt nach Luft, dann schüttelt sie den Kopf. »Das glaube ich dir nicht.«

»Vertrau mir«, sage ich. Ich kneife die Augen zusammen, als uns ein Auto entgegenkommt und das Licht mich blendet. »Ich bin einen Deal mit ihnen eingegangen, bevor ich aus dem Knast kam.«

Sie sieht mich noch immer ungläubig an. Ich fahre das Auto an den Straßenrand und lasse den Motor im Leerlauf laufen. Mit zusammengekniffenen Lippen wende ich mich ihr zu. Sie wirkt deutlich ruhiger als noch vor Minuten. Im Licht der Armaturen kann ich sogar sehen, dass ihre Wangen wieder Farbe bekommen haben. Ihre volle Unterlippe zittert, als sie tief einatmet. Ihre Augen hat sie verengt und starrt geradeaus. Das verrät mir, dass in ihrem hübschen Kopf alle Rädchen arbeiten und analysieren, was ich eben gesagt habe und dass sie innerlich sehr aufgeregt ist, aber darum kämpft, es mich nicht sehen zu lassen.

Die Unschuld in ihrem Blick ist alles, was von dem Mädchen geblieben ist, das sie gewesen ist, bevor ich im Knast gelandet bin. Ich bin versucht, meinen Daumen über ihre Unterlippe gleiten zu lassen, aber sie auf diese Art zu berühren, steht mir nicht zu. Sie ist zu einhundert Prozent rein und ich bin verdorben. Und sie ist das Mädchen, dem ich Gutenachtgeschichten vorgelesen habe und die mir vorgelesen hat. Das darf ich nicht vergessen.

»Du musst hier aussteigen«, sage ich trocken und balle meine Hände zu Fäusten, um dem Wunsch, sie zum Abschied zu berühren, nicht nachzugeben.

»Was?«

»Du musst zurück zu deinem Vater«, sage ich bestimmt.

Sie sieht sich um, dann schnappt sie nach Luft. Gleich wird sie mich fragen, ob ich noch bei Verstand bin. Sie war schon immer ziemlich direkt und streitlustig. »Wir sind mitten im Nirgendwo. Wenn du willst, dass ich zu meinem Vater gehe, dann fahr mich nach Hause.«

»Das geht nicht«, sage ich ruhig und lasse meinen Blick über ihre hohen Wangenknochen, die mandelförmigen Augen und das trotzige Kinn gleiten. Das Älterwerden hat sie hübscher gemacht, aber ihr nichts von dem Starrsinn genommen, der ihr schon damals ins Gesicht geschrieben stand. »Dein Vater wird mich nicht davonkommen lassen.«

»Wahrscheinlich will er nur mit dir reden.«

Diese Blindheit habe ich verursacht. Ich habe sie immer von allem ferngehalten. In ihren Augen ist ihr Vater vielleicht ein Geschäftsmann mit Fehlern, aber kein Mörder, Vergewaltiger und Sklavenhändler. Von diesen Dingen weiß sie nichts. Ich ziehe eine Augenbraue hoch und sehe sie an, als würde ich sagen: Glaubst du das wirklich? Aber natürlich ist es das, was sie glaubt.

»Er wird Verrat nicht ungestraft lassen.«

»Aber warum hast du es dann getan?«

Weil ich nicht länger zusehen konnte. Und aus Rache. Nichts ist schmutziger als persönliche Rache, aber darüber denke ich längst nicht mehr nach. »Ich hatte meine Gründe.«

Es wäre so leicht, ihr Bild von ihrem Vater zu zerstören, damit nicht das Letzte, was sie von mir sieht, ein Verräter ist. Aber das lässt mein Gewissen nicht zu. Ich will diese Unschuld in ihr nicht zerstören. Ihr Unwissen und die damit verbundene Sorgenfreiheit. Obwohl es eine Zeit gab, in der ich sie unweigerlich mitgenommen, vielleicht sogar entführt hätte, um sie vor einer Zwangsheirat und einem Leben als Besitz zu retten. Für heute gilt, überall ist sie sicherer als in meiner Nähe. Selbst im Bett eines Mannes, den sie wahrscheinlich nicht einmal kennt.

Es ist besser, sie glauben zu lassen, ich wäre der Böse im Spiel. »Jetzt steig aus! Ich muss hier weg«, sage ich ernst.

»Du wirst mich nicht hier draußen im Nirgendwo zurücklassen«, sagt sie und verschränkt die Arme vor der Brust.

Ungeduldig sehe ich in den Rückspiegel. »Jeden Moment kommt ein Auto deines Vaters. Du wirst nicht lange allein hier stehen.« Ich beuge mich über sie, dabei halte ich den Atem an, um nicht diesen Mangoduft, der sie umgibt, einzuatmen, und öffne die Beifahrertür für sie. Ich ignoriere auch die Hitze, die mich flutet, als ich ihr so nahekomme. Stattdessen ziehe ich mich schnell zurück und bemühe mich, ihre nackten Oberschenkel nicht zu bemerken. Verdammt, wann hat sie sich so verändert, dass sie so etwas in mir wecken kann?

»Raus«, befehle ich hart. Härter, als ich es beabsichtigt hatte, und zucke schmerzhaft zusammen, als ich die Tränen in ihren Augen glitzern sehe.

»Vater lässt mit sich reden, ich weiß es genau. Er liebt dich wie einen Sohn«, bettelt sie. Ich verstehe gar nicht, warum es ihr so wichtig ist, mich davon zu überzeugen, mit ihr zurückzukehren, aber sie sieht mich flehend an. Sie kam die letzten Jahre gut ohne mich klar.

»Das wird er nicht. Er wird mich bestrafen.« Ich zeige gnadenlos auf die Tür und möchte mich am liebsten selbst dafür schlagen, dass ich sie so behandle. Hier draußen gibt es weit und breit nur Felder und Wälder. Es ist nicht richtig, sie hier rauszuwerfen. Aber sie mitzunehmen wäre noch viel falscher.

Auch wenn mich eine leise Stimme in meinem Kopf drängt, die Tür des Autos zu schließen und sie einfach zu entführen. Weil ich weiß, wer ihr Vater wirklich ist. Und weil ich weiß, dass das, was er ihr bietet, keine Zukunft für sie ist. Aber er beschützt sie, weil sie von Wert für ihn ist. Das ist das einzige Gute an diesem Mann. Er würde nie zulassen, dass ihr etwas passiert. Und deswegen ist sie bei ihm besser aufgehoben als bei mir. Außerdem, was würde ich ihr denn bieten können? Wenn ich fertig bin mit Ragnarök, wird es keinen Menschen geben, den Phoebe mehr verabscheut als mich. Und ich werde für den Rest meines Lebens ein Gejagter sein.

»Geh schon!«, sage ich und stoße ihr gegen den Oberarm. Ihre Augenbrauen ziehen sich unwillig zusammen, aber sie richtet sich im Sitz auf und rückt näher an die Tür heran. Sie öffnet ihre Handtasche, kramt darin herum. Wahrscheinlich sucht sie nach ihrem Handy, um jemanden anzurufen, der sie hier abholt. Dann überrascht sie mich.

Sie wirft mir rote Seide ins Gesicht. Mir stockt der Atem, so unerwartet trifft mich das. Als ich die Unterwäsche endlich von meinem Gesicht gepflückt habe, sieht sie mich grinsend an und hebt ihre linke Hand ein Stück. Sie hat sich mit den roten Plüschhandschellen am Türgriff festgebunden. Demonstrativ zieht sie die Tür zu und grinst mich herausfordernd an. »Bitte anschnallen, meine Herrschaften! Ich glaube, es wird eine stürmische Nacht!«, zitiert sie aus dem Film Alles über Eva. Das ist irgendwie unser gemeinsames Ding: Aus Filmen zitieren, die wir beide abends zusammen in ihrem Zimmer angesehen haben, als sie noch jünger war. Bevor ich dank ihres Vaters im Knast gelandet bin.

»Gib mir den Schlüssel«, fordere ich sie auf und schnappe mir ihre kleine Tasche von ihrem Schoß. Ich durchsuche sie, schütte den Inhalt auf den kurzen Rock über ihren Schenkeln und fluche. »Wo ist er?«

»Ellie hat vergessen, ihn mir zu geben. Oder es war Absicht. Wer weiß schon, was Ellie so durch den Kopf geht. Aber du kannst es ja mal mit dem Tampon versuchen. Oder benutz doch das Kondom, das ich nie gebraucht habe. Auch so ein nutzloses Geschenk von Ellie«, sagt sie und starrt mich stur an.