Da ist was im Busch - Moritz Matthies - E-Book
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Da ist was im Busch E-Book

Moritz Matthies

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Beschreibung

Ray und Rufus sehen den Wald vor lauter Bären nicht Dass die neuen Chefs im Wald plötzlich die Erdmännchen sind, ist zwar für Rufus und Ray famos, passt aber nicht allen. Unter dem Deckel brodelt es gehörig. »Dann macht doch Demokratie«, schlägt Rufus vor und stößt bei den Waldbewohnern auf sehr viel offenere Ohren als erwartet. Tatsächlich sieht es mit Feldhäsin Grete als erste Präsidentin für eine Weile so aus, als könnte sich alles zum Guten und Schönen und Friedlichen fügen. Bis erst eine Haussau samt Ferkelchen auftaucht und nach Keiler Herrmann fragt – und dann auch noch drei sibirische Braunbären durchs Gehölz brechen, für die, wie sich herausstellt, Demokratie ein Fremdwort ist. Höchste Zeit für Rufus und Ray, durch eine geniale Idee den Wald zu retten!

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Seitenzahl: 327

Veröffentlichungsjahr: 2022

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Über das Buch

Dass die neuen Chefs im Wald plötzlich die Erdmännchen sind, ist zwar für Rufus und Ray famos, passt aber nicht allen. Unter dem Deckel brodelt es gehörig. »Dann macht doch Demokratie«, schlägt Rufus vor und stößt bei den Waldbewohnern auf sehr viel offenere Ohren als erwartet. Tatsächlich sieht es mit Feldhäsin Grete als erster Oberbeschützerin des deutschen Waldes für eine Weile so aus, als könnte sich alles zum Guten und Schönen und Friedlichen fügen. Bis eine Haussau samt Ferkelchen auftaucht und nach Keiler Herrmann fragt – und dann auch noch drei sibirische Braunbären durchs Gehölz brechen, für die Demokratie ein Fremdwort ist. Höchste Zeit für Rufus und Ray, mit einer genialen Idee den Wald zu retten!

 

 

Von Moritz Matthies sind bei dtv außerdem erschienen:

Der Wald ruft

Schiffe versenken

Arsch voll Geld

Moritz Matthies

DA IST WAS IM BUSCH

Roman

1

Spanner, alte Flitzpiepe!«, sage ich. »Was geht?«

Tolles Wort, oder? Flitzpiepe. Hier im Wald reden die Tiere so. Also, manche. Solche wie Spanner zum Beispiel. Die Gelbhalsmaus tut sehr beschäftigt. Typisch Spanner: hat immer was zu tun und immer was zu meckern.

Statt zu antworten, kehrt er mir den Rücken zu. Er will nicht, dass ich die drei Haselnüsse sehe, die er gleichzeitig in seinen Bau zu rollen versucht. Hat voll die Panik, er müsste was abgeben. An die Afrikaner. An mich also. Diese Afrikaner fressen einem ja bekanntlich die Haare vom Kopf. Dabei fressen Erdmännchen Nüsse nur, wenn keine einzige Zecke mehr im Pelz zu finden ist.

»So früh schon so beschäftigt?«, frage ich.

Der selbst ernannte Ordnungshüter blickt mich über die Schulter hinweg an. »Spare in der Zeit, dann hast du in der Not.«

Ich sehe mich um. Es riecht nach feuchtem Laub. Über dem abgeernteten Acker, der an den Wald grenzt, liegt eine fluffige Nebelschicht. Irgendwie malerisch, aber auch ein bisschen spooky.

»Was denn für ’ne Not?«, frage ich.

Spanner versucht, etwas Verschwörerisches in seinen Blick zu legen, was für einen wie ihn nicht einfach ist. Gelbhalsmäuse haben voll die Glubschaugen. »Auf Nebel im Herbst folgt Schnee im Winter«, orakelt er.

Na, wenn das nichts ist, denke ich. »Und?«

»Und? Wie kann man nur so dumme Fragen stellen? Ich lege einen Vorrat an, das ist doch wohl offensichtlich!« Seine Glubschis fixieren mich. »Und Sie und Ihr Clan sollten das ebenfalls tun, und zwar schleunigst! Auf Nebel im Herbst folgt …«

»… Schnee im Winter. Hab’s kapiert, Spanner. Aber, weißt du, dieses ›Vorrat anlegen‹ und so – damit hat die Natur uns einfach nicht ausgestattet. Meint jedenfalls Rufus.«

»Ach, und wie konnte die Natur diesbezüglich so nachlässig sein?«

»Das müsstest du meinen Bruder fragen.«

»Danke, ich verzichte. Und hören Sie auf, mich zu duzen.«

Um ehrlich zu sein: Dass er Rufus nicht fragen will, kann ich Spanner nicht verübeln. Seit wir hier im Wald, ich will nicht sagen, die Herrschaft übernommen haben, aber doch so etwas wie den Ton angeben, geht Rufus’ Zwanghaftigkeit ganz schön mit ihm durch. Alles hat neuerdings in geordneten Bahnen zu laufen, muss genehmigt werden und so.

»Na dann«, ich hebe versöhnlich eine Klaue, »fröhliches Anlegen noch.«

»Taugenichtse«, höre ich Spanner hinter meinem Rücken murmeln.

 

So sieht’s also aus. Neues Leben, alte Gewohnheiten. Statt wie früher vor dem Öffnen der Pforten meine Runde durch den Zoo zu drehen, checke ich jetzt morgens unseren Wald ab. Rituale sind wichtig, meint Rufus. Sie würden den familiären Zusammenhalt erlebbar machen, Sicherheit vermitteln und dem Leben in der neuen Umgebung Struktur verleihen. So redet der. Labertasche. Aber ganz unrecht hat er nicht. Ich schätze, man könnte sagen, dass unser Clan nach der überstürzten Flucht aus dem Berliner Zoo doch noch irgendwie angekommen ist.

Als Nächstes schlendere ich wie zufällig an Gretes Mulde vorbei. Eine ausgesprochen gemütliche und gut riechende Mulde. Da liegt auch nichts rum oder so. Grete hat es gerne ordentlich.

Meistens, so wie jetzt, schläft sie noch, wenn ich vorbeikomme. Dann betrachte ich durchs Unterholz die schwarzen Spitzen ihrer extralangen Ohren und wie sie zucken, wenn der Wind durch den Wald streicht. Und wie sich ihr Brustfell hebt und senkt. Und dann würde ich mich am liebsten in ihren flauschigen Superflausch stürzen. Aber das kann ich nicht bringen. Würde Grete unter Garantie auch total abtörnen.

Grete ist übrigens eine Feldhäsin. Und hammerattraktiv. Schlau und warmherzig und unglaublich langbeinig. Und seit sie sich zum zweiten Mal von ihrem Mann Emil getrennt hat, der jetzt in einer für ihn viel zu großen Höhle am anderen Ende des Waldes in Depressionen versinkt, wirkt sie manchmal, wie soll ich sagen, einsam?

Im Sommer, als wir hier gestrandet sind, bin ich eine Zeit lang total steil auf Grete gegangen, aber wie sich herausstellte, geht sie auf Genies steil. Mit anderen Worten: Rufus und sie wären eigentlich das perfekte Paar, doch mein kleiner Bruder hat es mal wieder verbockt. Grete möchte nämlich gerne Nachwuchs, eine Familie, aber Feldhäsinnen und Erdmännchen können keine Kinder zeugen, hat mit ihren Chromosamen – oder wie die heißen – zu tun. Feldhäsinnen haben da mehr von als Erdmännchen, deshalb funktioniert es nicht. Vielleicht hat Grete deshalb auch so lange Ohren, allerdings bin ich mir da nicht sicher.

Jedenfalls hat Rufus sich geopfert – da steht er immer besonders drauf – und ihr gesagt, sie solle einen finden, der sie auch in dieser Hinsicht glücklich machen könne, er dürfe ihr da nicht im Weg stehen bla, bla. Im Grunde kann es mir egal sein. Ich bin aus der Liebesnummer sowieso raus. Schwöre. Und zwar für immer. Zweimal habe ich mein Herz verschenkt, beide Male wurde es übel zertreten.

Ich weiß nicht, wie ich durchs Unterholz geschlüpft bin, aber jetzt, da ich diesen Gedanken habe, stelle ich fest, dass ich direkt am Rand von Gretes Mulde stehe. Um ehrlich zu sein, steht eins meiner Hinterbeine bereits in Gretes Mulde – ts, ts –, und der Duft ihrer Flanken steigt verführerisch in mein hochsensibles Näschen. Und dieses Brustfell! Wenn man da einmal seinen Kopf reingedrückt hat, dann … Vielleicht, wenn ich ganz vorsichtig …

»Guten Morgen, Ray«, flüstert eine verschlafene Stimme.

Gretes verschlafene Stimme. Und ja, sie hat die Augen geöffnet und streicht sich mit ihrem Vorderbein über ein Ohr, während sie mich ansieht, und wer schon einmal erlebt hat, wie eine verschlafene Feldhäsin sich mit dem Vorderbein über das Ohr streicht, der ahnt, was sich gerade in mir abspielt.

»Grete!« Unauffällig ziehe ich mein vorwitziges Hinterbein aus der Mulde. »Wie läuft’s bei dir?«

Sie streicht sich über das andere Ohr. »Gut, danke. Was machst du hier?«

»Ich …« Mit meiner Vorderklaue mache ich eine komplett bescheuerte Geste. »Ich dreh nur meine Morgenrunde.«

»Ich meinte: Was machst du hier an meiner Mulde? Oder sollte ich sagen: in meiner Mulde?«

Ach, Grete, denke ich. Sonst nichts. Ach, Grete.

»Ich dachte, ich hätte was gesehen«, sage ich, »einen Fuchs oder so. Wollte nur sichergehen, dass alles in Ordnung ist.«

»Wie lieb von dir«, sagt Grete. Aber eigentlich sagt sie: ein Fuchs, soso. »Und wo ist er hin, der Fuchs?«

»Äh, weiß nicht. Vielleicht hab ich mich auch getäuscht, ist ja noch gar nicht richtig hell, und wir Erdmännchen können zwar super riechen, aber mit dem Gucken is eher so mittel.«

»Na, dann kann ich mich ja noch einmal beruhigt auf die andere Seite drehen und weiterschlafen – wo ich mich so gut beschützt weiß.«

»Logisch, mach ruhig.«

Sie tut es. Dreht sich auf die andere Seite und schuckelt sich in ihre Mulde ein. Duft steigt auf, mir in die Nase. Irgendwo hinten in meinem Kopf fackelt ein kleines Feuerwerk ab, gerade groß genug, um meine Ohren kurzzeitig in Brand zu setzen.

Apropos Feuerwerk: Ich sollte beim Wasserfall vorbeischauen, denn heute Abend findet die große Wiedereröffnung statt. Gemeint ist logisch das Acapulco, meine Dancehall. Also die von den Waschbären und mir, wir machen das gemeinsam. Da sollte ich dringend nach dem Rechten sehen, denn die Party muss groß werden, voll episch so.

»Ist noch was?«, fragt Grete.

Die weiß genau Bescheid.

»Nö«, sage ich, »bin schon weg.«

2

Auf dem Weg zum Wasserfall mache ich vor allem eins, nämlich einen Bogen um die Keilerschanze, vielmehr um das, was davon übrig ist. In der Ruine hängen Herrmann und seine Rotte ab. Die Wildschweine. Und die sind nicht gut auf uns zu sprechen.

Im Sommer haben sie mit ziemlich krassen Methoden versucht, uns zu verjagen beziehungsweise uns absaufen zu lassen. Tiere mit Migrationshintergrund hätten im deutschen Wald nichts zu suchen, und solche mit afrikanischen Wurzeln schon mal gar nicht.

Damals wurde Herrmann von den Waldbewohnern einschließlich seiner selbst noch »Herrmann, der Drachenbezwinger« genannt, weil er den großen Feuerdrachen verjagt haben wollte. »Ich, Herrmann, der Drachenbezwinger.« Voll die Ehrfurchtsnummer.

Was das mit dem großen Feuerdrachen auf sich hatte, haben wir kapiert, als sie unsere Savanne geflutet haben – einen ehemaligen Truppenübungsplatz, auf dem kein Grün mehr wächst und auf dem noch jede Menge Munition und so herumliegt, weshalb sich keiner rauftraut. Außer uns natürlich, weil wir die feinsten Nasen der Welt haben und den Shit riechen können. Nicht einmal die Wildschweine können das, dabei sind die geruchsmäßig ganz schön weit vorne, wie Rufus meint. Aber an uns kommen sie nicht ran. Jedenfalls setzt außer uns freiwillig keiner einen Huf in die Savanne, weshalb wir da einigermaßen sicher sind. Gefahr von oben droht einem Erdmännchen ja immer.

Und weil Herrmann und sein Erstgeborener Fritz und der Rest der Rotte nicht wussten, wie sie uns sonst loswerden sollten, haben sie versucht, uns absaufen zu lassen, indem sie die Biber gezwungen haben, den Bach so umzuleiten, dass die Savanne vollgelaufen ist. Als uns das Wasser schon bis zum Hals stand, hat sich auf einmal ein Krater aufgetan, das ganze Wasser ist in die unterirdische Bunkeranlage gerauscht, unseren Feldherrenhügel hat es komplett weggespült, und plötzlich saßen wir auf dem großen grünen Feuerdrachen – einem alten russischen Panzer nämlich, einem T-72, wie Rufus sofort erkannte, dem russischen Exportschlager.

Da ist den Waldbewohnern, die sich am Rand der Savanne versammelt hatten, ganz schön die Düse gegangen. Fahren kann er blöderweise nicht mehr, der Feuerdrache, allerdings – wie Colin herausfand, indem er einfach auf jeden Scheißknopf drückte, der seine Aufmerksamkeit erregte – steckte noch genau eine Granate im Magazin, und mit der hat der Sohn unseres Clanchefs die Keilerschanze sowie Rockys Trommelfelle zerlegt.

Seither herrscht, was die Machtverhältnisse im Wald betrifft, ein, sagen wir mal, sensibler Frieden. Denn wir wissen zwar, dass das Magazin des Panzers leer ist, aber die übrigen Waldbewohner wissen es eben nicht und glauben, dass der schlafende Feuerdrache jederzeit von uns geweckt werden kann.

Rufus meint, dieses Wissen bezeichne man als Herrschaftswissen und dass Demokratie eigentlich anders funktionieren solle, aber schon Machiavelli habe gesagt, dass jemand, der moralisch immer die volle Punktzahl abräumen will, unter einem Haufen, den Moral nicht interessiert, garantiert ins Gras beißt. So ähnlich jedenfalls. Nachprüfen kann ich es sowieso nicht, abgesehen davon finde ich, dass Machiavelli wie eine Nudelsorte klingt.

Auf jeden Fall haben wir die Wildschweine im Sommer krass gedemütigt, und Herrmann, der Drachenbezwinger, heißt seitdem einfach nur noch Herrmann, und der deutsche Wald nur noch Wald. Und wie das so ist, wenn man umfänglich gedemütigt wird, dann will man dem anderen das heimzahlen. Kindisch, aber is so. Die Wildschweine lauern also auf ihre Gelegenheit, und man muss nicht wie eine Nudelsorte heißen, um sich auszumalen, was passieren wird, wenn unser Herrschaftswissen irgendwann nicht mehr Herrschaftswissen ist. Und das ist der Grund, weshalb ich morgens auf meiner Runde gerne einen kleinen Bogen um die Keilerschanze mache.

Oha! Ich bleibe stehen, als wäre ich in eine Falle getreten. Angriff, Flucht, Starre. Das sind die drei Möglichkeiten, mit denen die Natur uns für Extremsituationen ausgestattet hat. Flight, fight, freeze, wie die Chinesen sagen. Wenn es freeze ist, bin ich, wenn es vorbei ist, immer schwer genervt. Als hätte ich nicht mehr drauf, als mich tot zu stellen. Das Dumme ist, es ist ein Reflex, und Rufus meint, das kann man nicht steuern.

Offenbar war ich so in Gedanken, dass ich Herrmann nicht gerochen habe, der gerade mit hängendem Kopf keine drei Beinlängen vor mir aus dem Nebel auftaucht und meinen Pfad kreuzt. Jetzt, da ich ihn sehe, spüre ich auch die Vibration in den Klauen. Es gibt übrigens noch etwas, das ich manchmal schwer steuern kann. Meine große Klappe.

»Herrmann, alter Haudegen!«, rufe ich. »Was geht?«

Herrmann hört auf zu trotten, die Erde hört auf zu vibrieren. Langsam dreht er mir seinen mächtigen Kopf zu. Er sieht ganz schön müde aus, wie mir auffällt. Und irgendwie auch unglücklich. Seit der Demütigungsaktion im Sommer zieht sich übrigens ein Streifen grauer Borsten über seinen Körper, was, wie ich finde, ihm gar nicht schlecht steht. Herrmann allerdings sieht das anders.

Wie er mich so anstarrt, ohne etwas zu sagen, hab ich immer noch ganz schön Eierflattern. Immerhin fällt langsam die Starre von mir ab. »Hey, Silberpfeil«, ich nun wieder, »so früh schon unterwegs? Und wo hast du deine Rotte gelassen? Ihr seid doch sonst immer nur als Gang unterwegs?«

Er kommt einen Schritt auf mich zu. Dann noch einen. Der Nebel weicht ehrfürchtig zurück. Dieser Atem! Daran werde ich mich nie gewöhnen. »Problem damit?«, gurgelt es aus seinem Inneren.

»Nicht doch.«

»Hm.« Er dreht mir seinen Silberschweif zu, der echt aussieht wie reingefärbt, und will sich abwenden.

»Ach, Herrmann?« Ich kann es offenbar nicht lassen.

»Übertreib es nicht«, mahnt er.

Irgendwie tut er mir ein bisschen leid, also sage ich: »Ich versteh ja, dass ihr sauer seid, wegen dem Drachen und so. Das ist echt blöd für euch gelaufen. Aber findest du nicht, ihr könntet langsam mal aufhören zu schmollen? Ich meine, so schlimm ist das nun auch wieder nicht.«

Rufus ist ja der Überzeugung, dass die Wildschweine nie aufhören werden, auf Rache zu sinnen. Ein Tier, das keine natürlichen Feinde hat, ist, wenn es sich unterwerfen muss, emotional so überfordert, dass es da nicht drüber wegkommt. Lebenslange Traumatisierung.

Als könnte er meine Gedanken lesen, sagt Herrmann: »Kommen auch wieder andere Zeiten. Machtverhältnisse ändern sich. Kann ganz schnell gehen.«

»Und dann?«, frage ich. Blöde Frage, aber ich kann’s nicht lassen.

Herrmanns Kopf schaukelt in meine Richtung, so dass praktisch mein gesamtes Sichtfeld von seinen bräunlichen Haderern eingenommen wird. Und dieser Maulgeruch! Ich weiß schon: kann er nichts für. Trotzdem.

»Verfatz dich, Erdnuckel«, grollt er.

»Alles klar«, sage ich, hüpfe davon und hoffe, dass ich sehr schnell von Nebel umhüllt werde.

3

Bis ich im Acapulco eintreffe, hat sich die Sonne durch den Nebel getastet. Schräge Strahlen brechen durch die Baumkronen und glänzen auf den Steinen, die die Badebecken säumen. Hinter mir rauscht der Wasserfall, ansonsten herrscht Ruhe. Es riecht nach Steinpilzen. Herbst. Alles in allem voll die Kino-Atmo, als müsste als Nächstes ein T-Rex ins Bild hämmern. Ich würde ja sagen, dass ich immer noch eher so der Großstadttyp bin. Wer in Berlin aufgewachsen ist, hat das einfach in sich. Aber in Momenten wie diesen hat der Wald echt was drauf.

Das Wasserrauschen macht, dass ich pinkeln muss, also stelle ich mich auf einen der sonnenbeschienenen Steine, spüre die erste Wärme des Tages in meinen Hinterklauen, lass es laufen und betrachte, wie sich mein Pipi mit dem kalten Wasser vermischt und sich langsam seine Spuren verlieren. Ist aber immer noch drin im Wasser, auch wenn man es nicht mehr sieht. Selbst wenn das Wasser irgendwann in einen Fluss und von da irgendwann ins Meer gespült wird. Dann ist ein winziger Teil von mir in diesem Meer. Ich schweife ab. Eigentlich wollte ich die Pinkelpause nutzen, um zwei Worte über das Acapulco zu verlieren.

Bevor unser Clan nach der Flucht aus dem Zoo hier im Wald aufgeschlagen ist, war das Höhlengewölbe, das man durch eine Öffnung hinter dem Wasserfall betritt, einfach nur der mehr oder weniger geheime Abhängespot der Waschbären. Viel gelaufen ist da nicht, außer dass sich vergammelte Pizzakartons, majo-verkrustete Alufolie und leere Getränkedosen angesammelt haben. Bis. Unter. Die. Decke. Als ich denen erklärt habe, dass man Müll auch entsorgen kann, haben die mich angesehen wie Colin, wenn man ihm sagt, er soll eine liegende Acht in den Sand zeichnen. Das Konzept war denen genauso unklar wie den Zehntklässlern im Zoo. Wieso soll man Müll irgendwo hinbewegen, ist doch Müll? Und Müll lässt man liegen.

Rufus meint, Waschbären blieben in ihrer geistig-seelischen Entwicklung in der Pubertät stecken und kämen da auch nicht mehr raus. Ich hab erwidert, dass Freddie und Bernie hier im Wald meine besten Freunde seien. Darauf Rufus nur: »Quod erat demonstrandum.«

Zurück zum Acapulco. Das war also eine Müllhalde. Bis ich kam. Und mit mir die Idee eines Clubs geboren wurde. Klingt jetzt ein bisschen angeberisch, schon klar, ist aber Fakt. Jedenfalls hatte ich die Vision, aus der Höhle eine Art Crossover-Dancehall zu machen, eine Disco im 80er-Style, gepaart mit einem Lounge-Club.

Von da an war es ein Gemeinschaftsprojekt. Die Waschbären halfen, ein im Wald gestrandetes Auto zu zerlegen, Rufus schaffte es, die Batterie aufzuladen, am Ende hatten wir Surround-Sound mit Bass-Woofer, eine von mir entworfene Spiegelpyramide, die sich, an einer Slackline befestigt, unter dem Gewölbe drehte, eine Lightshow, einen Darkroom, Knutschecken, von Archi entwickelte Designerdrogen, twerkende Dachsladys, einfach alles. Die Blütezeit des Acapulco war so prächtig und farbenfroh wie die in der Mojave-Wüste.

Leider war sie ebenso kurz. Nachdem Keiler Herrmann und seine Anhänger König Karl vertrieben und die Macht an sich gerissen hatten, wurde das Acapulco in einer heimtückischen Nacht-und-Nebel-Aktion platt gemacht. Wer nicht für uns ist, ist gegen uns, meinte Herrmann. Als wäre das ein Grund, einfach das Acapulco zu zerlegen. Für die nächsten tausend Jahre würden keine die Moral der Jugend zersetzenden Partys mehr stattfinden, meinte er noch, dafür werde er sorgen, persönlich.

Ich hab Rufus nicht gefragt, aber ich gehe jede Wette ein, dass kein Säugetier tausend Jahre alt wird. Die Frage ist natürlich, ob dann trotzdem noch irgendwas von uns da ist. Wie mit dem Pipi. Wenn ich sterbe und verwese und in Miniteile zerfalle und die dann aber von irgendeinem Grashalm aufgesogen werden oder von einer Buche und dann bis in die Bucheckern wandern und von Herrmann gefressen werden, steckt dann etwas von mir in Herrmann? Kompliziert.

Jedenfalls haben Bernie, Freddie, ich und ein paar andere, nachdem die Herrschaft der Wildschweine eben doch nur ein paar Tage und nicht eine Million oder was Jahre dauerte, das Acapulco liebevoll renoviert, und heute Abend steigt die große Wiedereröffnungsparty. Allerdings nur, sofern die Anlage wieder funktioniert, der letzte Müll beseitigt und alles für unsere Spezial-Begrüßungsdrinks vorbereitet ist. Rufus meint, das mit der Anlage hat er im Griff, er war gestern extra mit Steinmarderin Soraja am Auto und hat sich von ihr die letzten Kabel aus den Türverkleidungen nagen lassen. Mit denen, meint er, lässt sich alles überbrücken, was die Wildschweine zertrümmert haben.

 

Ich finde Bernie, Freddie und Shabby genau da, wo ich sie vermute: auf einem Haufen mit Alina, Olivia und Abigail. Sie schnarchen im Chor. Das ist ein bisschen das Problem bei der Abstimmung mit Waschbären. Die sind eher nachtaktiv, wir eher tagaktiv.

Vielleicht stecken auch noch andere in dem Knäuel. Sehen kann ich es nicht, nur tasten. Sie haben sich in den Darkroom gekuschelt, was kein Wunder ist, denn den haben wir pünktlich zur Wiedereröffnung mit der Füllung aus den Autositzen zu einer fluffigen Liege- und Spielwiese ausgepolstert. Offenbar wollten die Waschbären nicht bis zur Eröffnungsfeier warten, um die zu testen. Es riecht verdächtig hormonell, als hätten ein paar von ihnen letzte Nacht vorgefeiert.

Ich stakse auf dem Fellhaufen herum, ertaste Bäuche, Beine und Köpfe, und als ich Freddie gefunden habe, halte ich ihm so lange Nase und Maul zu, bis er aufwacht. »Freddie?«, flüstere ich.

»Nein, Abigail. Und nimm deine Klaue aus meiner Leiste, ich stehe nicht auf Mangusten.«

»Oh, entschuldige. Weißt du, wo …«

»Hier«, höre ich Freddie vom anderen Ende des Haufens.

Ich taste mich über alle möglichen Körperteile hinweg, und als ich da ankomme, wo ich Freddie vermute, furzt mir jemand direkt ins Gesicht. Ich höre Shabby und Bernie kichern. Wie sagt Rufus: lebenslange Pubertät. Was ja, wie mein Bruder glaubt, der Grund dafür ist, weshalb ich mich so gut mit ihnen verstehe. Also steche ich als Nächstes eine Vorderkralle in Freddies Ohr.

»Das ist mein Ohr!«, ruft Abigail, worauf mir sofort noch jemand ins Gesicht furzt und der ganze Fellhaufen vor Lachen zu wackeln beginnt.

»Alina, warst du das?«, fragt Bernie.

»Hm-m«, kichert Alina.

»Riecht man doch wohl«, kommt Olivias Stimme von hinter mir. »Alinas Furze stinken am meisten.«

»Und meine!«, ruft Shabby. »Soll ich …«

»Bloß nicht«, sagt Freddie, »sonst …«

Doch da höre ich bereits ein ausgedehntes Pfeifen, wie von einer Eisenbahn aus einem Schwarz-Weiß-Film.

»Das tut gut«, sagt Shabby.

Abigail ruft: »Alle raus hier!«

Abgesehen von Shabby und Alina, die sich in ihrem Gestank offenbar ganz wohl fühlen, versammeln sich alle in der großen Halle, dem Tanztempel. Ehrlich gesagt, macht das hier nicht den Eindruck, als wäre letzte Nacht noch aufgeräumt worden, eher so, als wäre Müll dazugekommen.

»Wolltet ihr nicht letzte Nacht die Slackline aufspannen und die neue Discokugel montieren?« Ich sehe mich um. »Und die Bassbox ist auch nicht wieder zusammengebaut, und wenn die Kabel bis auf den Boden hängen, dann dauert es doch garantiert keine …«

Ich werde von etwas Hartem am Hintern getroffen. Zeckt ganz schön, lasse ich mir aber nicht anmerken. Roter Hartriegel, kleine, fiese Kügelchen. Das ist der Dank dafür, dass ich Freddie und Bernie gezeigt habe, wie man aus einem Fineliner ein Blasrohr bastelt.

»Hört auf, ihr Blödelheinis«, sage ich. Und werde natürlich gleich vom nächsten Hartriegel getroffen, am Ohr diesmal.

Die Mannschaft unterdrückt ein Kichern. Aber nur für drei Sekunden oder so, dann fangen sie an herumzublödeln. Sofort werde ich von zwei weiteren Kügelchen getroffen. Irgendwie sind die noch alberner als sonst – würde gerne wissen, was hier letzte Nacht abgegangen ist.

»Entspann dich«, sagt Freddie.

Das ist sonst eigentlich mein Spruch.

»Ja«, meint Bernie, »mach dich locker. Kriegen wir bis heute Abend alles hin.«

»Also schön«, sage ich, »ich verlass mich auf euch. Ist aber noch eine Menge zu tun bis heute Abend.« Ich wende mich zum Gehen, und zack, steckt mir ein Hartriegel in der Poritze. »Und passt mir gut auf den Honigvorrat auf«, rufe ich. »Ihr wisst ja: Ohne Honig kein Begrüßungsdrink, und ohne Begrüßungsdrink …«

»… keine Party!«, johlen die anderen.

Meine neue Gang, ich liebe sie. Ist doch irre, dass man in der Fremde Tiere trifft, denen man noch nie begegnet ist und trotzdem sofort das Gefühl hat: Die kenn ich schon mein ganzes Leben.

Ich gehe vor zur Kante, direkt hinter den Wasserfall, drehe mich den anderen zu und forme meine Krallen zu einem V.

Die Waschbären bilden einen Halbkreis, legen ihre Vorderpfoten übereinander, fangen an zu johlen – »ooooooOOOOHHH!« – , ich gehe in die Hocke, und als sich ihre Vorderpfoten voneinander lösen und mit Jucheee zur Hallendecke emporschießen, mache ich das, was kein fucking Tier außer mir kann, nicht einmal Rufus, die alte Schlaumeiersocke: einen Rückwärtssalto mit halber Schraube durch den Wasserfall hindurch ins Becken.

4

Zurück in der Savanne trabe ich locker auf den »großen Feuerdrachen« zu, als mir jemand entgegenwackelt. »Pa! Wohin des Wegs?«

Unser alter Herr knibbelt an seinem Gehstock herum und blinzelt mich an. »Sie kenn ich doch!«

Vom Vater vergessen, das Los meines Lebens. Die anderen aus dem ersten Wurf, also Roxane, Rocky und Rufus, hat Pa immer noch verlässlich auf dem Schirm, aber zu mir hat er keinen Eintrag mehr. Hatte nie einen, um ehrlich zu sein. »Aber sicher kennen wir uns«, sage ich. »Ich bin’s, Ray.«

Er kneift die Augen zusammen, aber in seiner Erinnerung findet sich unter »Ray« nur endlose Ödnis, ich sehe es an seinem Gesichtsausdruck. Schließlich löst sich seine Stockspitze vom Boden und richtet sich zittrig auf mich. »Nun werden Sie mal nicht gleich vertraulich, junger Mann.«

Im Vorbeigehen klopfe ich ihm auf die Schulter. »Bis später, Pa. Und verlauf dich nicht wieder.«

»Einen Umgangston haben diese jungen Leute«, höre ich es hinter mir.

Vom Rest meines Clans ist noch nichts zu sehen. Dabei hat sich der Nebel längst gelichtet, und die Sonne ist gerade dabei, unseren Feldherrenhügel aufzuwärmen. Im Zoo hatten wir einen künstlich angelegten Hügel mit einem künstlich angelegten Steinbruch auf der Rückseite. Der Natur nachempfunden, wie Zoodirektor Windhoek, der alte Fruchtzwerg, das nannte. Den haben Rufus und ich auch schon Feldherrenhügel genannt, einfach so, aus Fun. Jetzt allerdings, da unser neuer Feldherrenhügel der Gefechtsturm eines russischen Panzers ist, passt der Name natürlich viel besser. Ein neues Headquarter haben wir übrigens auch. Das Innere des Panzers. Außer Rufus und mir darf da keiner rein. Und Rocky. Also eigentlich nicht mal Rocky, aber wenn Rocky was will, egal, was, dann fragt er nicht, ob er das darf. Also Rocky auch. Aber sonst keiner.

Vom Rest meines Clans also ist noch nichts zu sehen – im Zoo wären wir um diese Zeit ins Winterquartier umgezogen –, einzig Rufus sitzt auf dem Gefechtsturm und unterhält sich mit Ritter von Schleich, der wie üblich auf dem Kanonenrohr hockt und von seinem morgendlichen Rundflug berichtet.

»Morgen, Schleichi«, sage ich, als ich unter ihm hindurchgehe, »alles locker in der Hüfte?«

Statt zu antworten, dreht Ritter von Schleich den Kopf in alle möglichen Richtungen und stiert mich aus einem Auge an, dann dreht er den Kopf in die Richtungen, die er noch nicht hatte, und sieht mich aus dem anderen Auge an. Nehme ich jedenfalls an, dass es das andere ist, sonst würde die Show keinen Sinn machen. Kann einem schwindelig von werden.

Rufus meint, Schleichi mache so ein Theater, weil Falken fünfzehn Halswirbel haben, Säugetiere dagegen nur sieben. Ist mir natürlich Latte, wie viele Wirbel die wo haben, auf jeden Fall kann Schleichi seinen Kopf bewegen wie einen Fidget Spinner. Ist übrigens einer der Gründe, weshalb ich ihm nicht traue.

Rufus hat mir erklärt, Ritter von Schleich sei ein typischer Wendehals, und die seien Spezialisten im Erspüren von Windrichtungen, und dass, solange der Wind aus unserer Richtung weht, wir nichts zu befürchten haben. Trotzdem habe ich jedes Mal ein bisschen Eierflattern, wenn Schleichi irgendwo über mir ist. Dann stelle ich mir vor, wie er mit dreihundert Sachen auf mich herabstürzt und mir, schnips, das Genick bricht, einfach so, weil der Wind gerade mal aus der falschen Richtung kam.

Kaum bin ich auf den Panzer geklettert, hat Schleichi mich schon wieder im Blick, diesmal mit beiden Augen. Dabei zeigt sein Kopf in Rufus’ und meine Richtung, seine schwarzen Krallen in die Gegenrichtung. Gesund sieht das nicht aus. »Bekommt man da nicht Migräne von«, frage ich, »wenn man ständig den Kopf so verdreht?«

»Nicht, wenn Sie ein Wanderfalke sind«, erwidert er, Betonung auf »Wander«. Ist ihm wichtig, das zu betonen. Die schnellste Tierart der Welt. Ein echter Jagdflieger. Und hinterhältig noch dazu. Tötet am liebsten andere Vögel in der Luft, indem er von oben auf sie hinabschießt. Und dazu dieser fies gebogene Schnabel und die gelb umrandeten Augen. Gruselig, Digger.

»Meine Herren«, Schleichi spreizt abwechselnd seine Flügel, »ich empfehle mich.«

»Herr von Schleich«, sagt Rufus förmlich, »ich danke Ihnen.«

»Stets zu Diensten.« Und schon hebt er ab, in all seiner majestätischen Arroganz.

Rufus und ich blicken ihm nach, bis er hinter den Bäumen verschwindet, erst dann fühle ich mich wieder sicher.

»Wieso lässt du dir eigentlich jeden Morgen von dem den Kaffeesatz lesen?«, frage ich. »Ist doch eh für ’n Arsch.«

»Um ihm das Gefühl zu geben, eine wichtige Aufgabe zu erfüllen.«

»Tut er aber nicht. Ob der morgens seinen bescheuerten Rapport erstattet oder nicht, ist völlig rille.«

»Solche wie Ritter von Schleich leben in dem festen Glauben, dass die Gemeinschaft auf sie angewiesen ist. Wenn du denen das wegnimmst, dann kommen die schnell auf dumme Gedanken.«

Ich lasse mich auf das Kanonenrohr rutschen und balanciere ein bisschen darauf herum, während Rufus Sandkörner aus den Fugen des Zielfernrohrs puhlt. Seine Schultern hängen schon wieder so verdächtig nach unten, dabei hat der Tag gerade erst angefangen.

»Du bist schon dabei heute Abend, oder?«

»Hm?«

Ich versuche mich auf dem glatten Kanonenrohr an ein paar Dancemoves, wackel mit der Hüfte und kreise dabei mit den Armen, um mein Gleichgewicht zu halten. »Schon vergessen?!«, rufe ich. »Die große Wiedereröffnung! Du musst die Anlage noch anschließen, hast du mir versprochen.«

»Ach so, ja. Mach ich noch. Aber heute Abend … Ich glaub, mit der Party, das schaffe ich nicht. Zeitlich. Hab echt viel zu tun.«

Seit wir die Herren des Waldes sind, wird Rufus wegen jedem Scheiß um Erlaubnis gefragt. Was ihm einerseits schmeichelt, ihn andererseits total stresst. Aber darauf steht er ja.

Inzwischen habe ich mich auf dem Rohr so weit nach vorne geschoben, dass ich von oben in den Fahrerausguck sehen kann. Ab hier tut es echt weh, wenn man runterfällt. Rufus puhlt immer noch Sandkörner aus der Gummidichtung, und etwas an der Art, wie er das macht, sagt mir: Mit beruflicher Überlastung hat das heute Abend nichts zu tun.

5

Komm schon, du Sesselfurzer!« Ich lasse meinen Po kreisen, schüttel die Arme wie eine Discoqueen und singe: »Going loco, down in Acapulco, the magic down there is so …«

»Hübsche Choreo«, höre ich eine Stimme hinter mir, und bevor ich mich umgedreht habe, weiß ich schon, wer das ist, Grete nämlich, und ich mach mich hier gerade voll zum Löffel und verliere außerdem das Gleichgewicht, na wunderbar, glitsche vom Rohr, winke ihr im Fallen dämlich zu, knalle auf die Kante des Panzers – aua! –, vergesse, meine Ohren zuzuklappen, klatsche mit dem Gesicht voran in den Sand und würde am liebsten genau so stecken bleiben. Problem ist: Ich bekomme keine Luft, muss also meinen Kopf aus dem Sand ziehen und mir das Zeug aus den Ohren schütteln.

Gretes Blick besteht aus einer Prise Mitleid und sehr viel Belustigung. Ich habe das Gefühl, auszusehen wie Schleichi, nur eben nicht mit fünfzehn Halswirbeln, sondern mit der Hälfte oder so.

»Alles in Ordnung?«, ruft sie vom Rand der Savanne.

Bevor ich antworten kann, höre ich Rufus über mir sagen: »Oh, Grete, guten Morgen!«

Plötzlich sitzt er auf dem Kanonenrohr, lässt lässig ein Bein baumeln, und seine Schultern sind so gestrafft, dass er damit kaum durch die Kommandantenluke passen würde.

Sie winkt ihm zu, dabei haben sie sich längst gesehen: »Guten Morgen, Rufus!«

Dass ich auch noch anwesend bin und mir außerdem den Hals verrenkt habe, interessiert offenbar niemanden.

»Hey, Grete!«, rufe ich, »kommst du heute Abend zur Party?«

»Schätze, schon. Eigentlich bin ich eher nicht so die Partyhäsin, aber da ja der ganze Wald seit Tagen von nichts anderem mehr spricht …« Und schon wieder gleitet ihr Blick über mich hinweg und wendet sich meinem Bruder zu. »Sehen wir uns da heute Abend, Rufus?«

Hinter dieser harmlos scheinenden Frage steckt mehr. Rufus und Grete haben nämlich an die erste Party im Acapulco unauslöschliche Erinnerungen. Hat mit bemoosten Steinen bei Vollmond zu tun und drogenbedingter vollständiger Enthemmung.

»Ich hatte auf jeden Fall vor, zu kommen«, lügt Rufus, worauf sein Bein noch etwas stärker hin und her schwingt.

»Fein«, Grete streicht über ihr Ohr. »Ich wollte sowieso mal mit dir reden. Bis später dann, ich freu mich.«

Der Hüftschwung, mit dem sie sich abwendet, entgeht weder mir noch Rufus.

»Tschüss, Grete«, sage ich, doch da ist sie bereits in den Wald gehoppelt. Als ich meinem Bruder den Kopf zudrehe, knackt es im Nacken, was hoffentlich bedeutet, dass alles wieder an seinem Platz ist. »Du hattest also auf jeden Fall vor, heute zur Party zu kommen«, sage ich.

»Hab ich doch gerade gesagt.«

»Und sie wollte ›sowieso mal mit dir reden‹?«

Rufus steht auf. »Ich denke, ich sollte mich jetzt um die Anlage kümmern. Eine Party ohne Musik ist schließlich keine richtige Party. Bis später.« Mit diesen Worten verschwindet mein kleiner Bruder in unserem Bau.

Ich mache ein paar vorsichtige Bewegungen, so halsmäßig, stelle fest, dass alles wieder geschmeidig ist, da höre ich die nächste Stimme vom Waldrand.

»Äh, Ray?«

»Bernie! Freddie! Was geht?«

Freddie zupft sich am Ohr. »Gibt ’n kleines Problemchen.«

Ich gehe zu ihnen. »Wie klein?«

»Na ja«, sagt Bernie, »wir wollten ja noch das Acapulco aufräumen, und da haben wir gedacht, es wäre cooler, wenn alle mitmachen, also haben wir versucht, Shabby und Abigail zu wecken, aber die waren irgendwie total ausgeschaltet, und da ist mir dann eingefallen, dass die ja noch wie wild getanzt haben, als sich der Rest von uns längst abgelegt hatte.«

»Die haben getanzt?«

»Die ganze Nacht durch.«

»Ohne Musik?«

»Jetzt, wo du es sagst. Ein bisschen gewundert hat mich das auch. Na, jedenfalls hab ich gedacht, ich sollte besser mal nach dem Honig sehen, weil ja eigentlich Shabby dafür sorgen sollte, dass nichts wegkommt.«

»Shabby?«

Der ist bei den Waschbären das, was Nick und Kato bei uns sind: hundert Prozent Verpeilung.

»Wir dachten, das wär ’ne gute Idee«, übernimmt Freddie, »weil Shabby ja sowieso am liebsten im Acapulco abhängt. Ich meine, der kommt da ja eigentlich gar nicht mehr raus …«

»Lass mich raten: Und jetzt isser weg.«

Freddie und Bernie sehen einander an. Dann sagt Bernie: »Nee, der liegt noch im Darkr…«

»Der Honig«, sage ich.

»Was ist damit?«, fragt Freddie.

»Der ist weg, stimmt’s?«

Bernie: »Ähh …«

»Isser weg, oder isser nich weg.«

»Also das Glas ist noch da«, sagt Freddie.

Und Bernie ergänzt: »Nur der Inhalt irgendwie nicht mehr.«

6

Ist das erste Mal, dass ich mit Bernie und Freddie auf Einkaufstour gehe. So nennen die das, wenn sie bei Bauer Fröhlich in den Vorratskeller einsteigen und gucken, was zu holen ist. Die Stechapfelwiesen haben wir bereits hinter uns, jetzt latschen wir den Grünstreifen entlang, der einen Acker vom nächsten trennt. »Ist das nicht gefährlich?«, frage ich.

»Na ja«, meint Freddie.

»Na ja?«, hake ich nach.

»Im Prinzip schon«, erklärt Bernie.

»Im Prinzip?«

Freddie bleibt stehen, also bleiben auch Bernie und ich stehen. »Kann es sein, dass du uns gerade alles nachquatschst?«

Ich lasse meine Klauen sinken. Wie ich es hasse, die Stimme der Vernunft zu sein, das ist sonst eindeutig Rufus’ Job. Ich blicke zwischen den beiden hindurch zum Hof von Bauer Fröhlich. In der Ferne kann man bereits die Gigantoglubscher und den leuchtenden Mund von Rotkäppchen erkennen. So nennen Freddie und Bernie die aus drei übereinandergestapelten Heuballen geformte, tja, was ist das, eine Skulptur?

»Wir können uns ja tarnen«, schlägt Bernie vor.

»Tarnen?« Ich quatsche wirklich alles nach. »Als was denn, bitte? Als drei Hühner? Oder als Hauskatzen?«

Freddie rupft ein paar Mohnstängel und eine Klaue voll Zittergras aus und wickelt sich den Quatsch um den Kopf wie einen Turban. Selten etwas gesehen, was bescheuerter aussah. Als er damit fertig ist, spreizt er die Vorderbeine, als hätte er einen Zaubertrick vollführt. »Ta-taa!«

»Muss ich dich jetzt echt fragen, was das soll?«, murre ich.

»Ich tarne mich!«

»Ah, und als was?«

»Als Blumenwiese!«

»Geilo!« Bernie ist sofort dabei. Er zieht ein Stück Baumrinde aus der Ackerfurche, hält es sich vor das Gesicht und lässt oben seine gespreizte Pfote herausschauen. »Ich gehe als Wald!«

Schulter an Schulter wackeln die beiden vorwärts.

»Echt jetzt?«, rufe ich, und da die beiden nur kichernd weiterwackeln: »Hört mal für einen Moment auf mit dem Scheiß.«

Bernie lässt seine Deckung sinken, Freddie zieht sich das Gestrüpp vom Kopf. Die beiden sehen ehrlich enttäuscht aus.

»Mal im Ernst: Was glaubt ihr, was passiert, wenn der Bauer uns erwischt?«

»Keine Ahnung«, meint Bernie, »ist ja noch nie passiert.«

Und Freddie: »Das Problem ist eher der Hund.«

»Der Hund?«

»Ja. Zeus.«

»Zeus?«

»Ist echt lustig«, meint Bernie, »wie du uns alles nachplapperst.«

»Entspann dich«, sagt Freddie, »das mit dem Hund haben wir im Griff. Und Bauer Fröhlich …«

»… auch.«

»Ach ja? Dann sag ich euch mal, was passiert, wenn der Hund uns erwischt. Der beißt uns die Kehlen durch.«

»Aber er erwischt uns ja nicht.«

»Und der Bauer«, lege ich nach, »zieht uns das Fell über die Ohren! Rufus meint, Waschbären sind in Brandenburg zum Abschuss freigegeben. Der knallt uns eiskalt ab.«

Bernie und Freddie schütteln die Köpfe. »Nee«, meint Freddie, »nich Bauer Fröhlich.«

»Der ist so nicht«, ergänzt Bernie.

Ein Glück, dass die beiden sich nicht in der Stadt durchschlagen müssen. Wenn bei mir schon sämtliche Warnlampen glühen, hat es bei denen noch nicht mal angefangen zu flackern. In Charlottenburg würden die keine drei Blocks weit kommen.

Je näher der Bauernhof rückt, desto größer wird Rotkäppchen. Das Ding ist so hoch wie der Stall und war früher vermutlich eine Art Kinderattraktion. Früher hatte der Bauer noch Reitponys, wie Bernie und Freddie mich aufklären, aber die gibt es nicht mehr, also weder die Ponys noch die Kinder. Die Koppel ist verwildert, der Bretterzaun eingefallen, und das rote Käppchen von Rotkäppchen, das sich bei näherer Betrachtung als Spannbettlaken herausstellt, hängt ihr quer und ausgewaschen über einem Auge und macht aus ihr eine Piratin.

Vom Hoftor ist nur noch ein Flügel vorhanden, und der hängt schief in den Angeln. Auf dem Hof türmt sich der Mist.

»Und wie kommen wir jetzt ins Haus?«, frage ich, als wir den Hof betreten.

»Also, am besten ist, wir schleichen uns durch den Stall.« Bernie blickt sich um, als hätte er seinen Schlüssel verloren. »Du musst nur auf die Markierung achten.«

»Was denn für eine Markierung?«

»So ’n rosa Kreidestrich, der muss hier irgendwo …«

In diesem Moment höre ich ein helles Rasseln, das aus irgendeinem Grund ausgesprochen bedrohlich klingt. Ich blicke auf, und dann, bevor ich das Rasseln irgendwie einordnen kann, sehe ich einen schwarzen Fellbatzen um den Misthaufen kommen, der direkt auf uns zugaloppiert.

»Der muss doch hier irgendwo …«, sagt Bernie, der noch immer nach seinem bekloppten Kreidestrich sucht.

Ich reiße ihn herum, rufe »Bernie!« und renne mit den beiden Richtung Tor, nur bleibe ich, kaum dass ich aus den Startblöcken bin, mit einem Hinterbein in einer Asphaltritze stecken und schlage der Länge nach hin. Ich blicke über die Schulter, stelle fest, dass es sich bei dem galoppierenden Fellhaufen um einen Rottweiler handelt, der mit maximaler Geschwindigkeit auf mich zubulldozert, keine Chance mehr für mich, das Vieh ist riesig und schnell, und alleine die Zunge, die ihm aus dem Maul hängt, ist so groß wie mein Kopf. Ich habe gerade noch Gelegenheit, mich auf den Rücken zu drehen und die Vorderbeine über dem Kopf zu kreuzen, um meine Kapitulation zu signalisieren, was Zeus nicht die Bohne interessiert, der sich auf mich stürzt, das Maul aufreißt und …

… von der Kette, die um seinen Hals befestigt ist, zurückgerissen wird. Er jault auf, stemmt sich mit aller Macht gegen die Kette, die ihrerseits mit aller Macht dagegenhält, was dazu führt, dass er sich selbst die Luft abdreht, während seine Hinterbeine unbeirrt nach vorne drängen und die Vorderbeine durch die Luft kraulen, in dem Versuch, irgendeinen Teil von mir zu erreichen und mich zu zerfleischen. Zum Glück für mich gewinnt am Ende die Kette. Zeus schnürt sich so sehr die Luft ab, dass erst sein Bellen verstummt, dann sein Jaulen und er zu guter Letzt exakt eine Klauenbreite vor meinem Hinterbein ohnmächtig zusammensackt.

Ich versuche noch, mein Herz, das sich irgendwie aus meinem Körper gelöst zu haben scheint, wieder einzufangen und meine Augen zurück in ihre Höhlen zu drücken, als Bernie neben mir auftaucht, meinen Fuß aus der Ritze zieht und sagt: »Da isser ja.«

Ich will ihn scharfstellen, leider schwirren meine Augen immer noch um meinen Kopf herum.

»Hier.« Bernie deutet auf den Asphalt.

Ich sehe nur verschwimmendes Grau und irgendwelche Gräser, die offenbar auf Betonritzen stehen, ich meine, das versteht doch niemand. Wenn ich ein Gras bin und die Wahl habe zwischen saftigem Wald, saftiger Wiese und Beton, wie komme ich dann auf die Idee zu sagen, hey, cool, ich nehme die Asphaltritze?