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Leinen los für Rufus und Ray! Zwei Spürnasen auf Kreuzfahrt Back to the roots: Rufus' und Rays Ermittlerkünste sind wieder gefragt! An Bord des Kreuzfahrschiffes »Golden Silverstar« sollen die Erdmännchen-Spürnasen mit ihrem früheren Kompagnon Phil einer Bande auf die Spur kommen, dem berüchtigten Ocean's Club. Unter dem Künstlernamen »Phil & Friends« werden Rufus und Ray zur größten Entertainment-Attraktion an Bord und ermitteln nebenher undercover. Doch ihre Gegner sind gewieft. Am Ende müssen »Phil & Friends« Kopf und Pelz riskieren, um das Geheimnis des »Ocean's Club« zu lüften.
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Seitenzahl: 285
Veröffentlichungsjahr: 2023
Back to the roots: Rufus' und Rays Ermittlerkünste sind wieder gefragt! An Bord des Kreuzfahrtschiffes »Golden Silverstar« sollen die Erdmännchen-Spürnasen mit ihrem früheren Kompagnon Phil einer Bande auf die Spur kommen, dem berüchtigten Ocean’s Club. Unter dem Künstlernamen »Phil & Friends« werden Rufus und Ray zur größten Entertainment-Attraktion an Bord und ermitteln nebenher undercover. Doch ihre Gegner sind gewieft. Am Ende müssen Phil & Friends Kopf und Pelz riskieren, um das Geheimnis des Ocean's Club zu lüften.
Von Moritz Matthies sind bei dtv außerdem erschienen:
Der Wald ruft
Da ist was im Busch
Moritz Matthies
Ein Erdmännchen-Krimi
Roman
Ich wache auf, weil Natalie mir zärtlich ins Ohr schnarcht. Ihr Vorderbein liegt auf meiner Brust. Jedes Mal, wenn sie ausatmet, kitzelt es an den Härchen in meinem Ohr. Hat was Romantisches.
Mit meinem anderen Lauscher horche ich in unseren Bau hinein. Alle noch am Pennen. Schon sonderbar, denke ich. Jahrelang habe ich in meiner kleinen Schwester nur das sexy Boxenluder aus dem vierten Wurf gesehen, dann wurden wir Freunde, dann Gelegenheitslover, dann irgendwie mehr als nur Gelegenheitslover.
Und jetzt? Werde ich das Gefühl nicht los, sie würde sich am liebsten den ganzen Winter über mit mir in der Kuschelecke meiner Kammer räkeln, die sie so liebevoll mit der Mauser von Skipper und Ping ausgepolstert hat. Skipper und Ping sind übrigens die beiden Pinguine, die ebenfalls aus dem Zoo abgehauen sind und jetzt bei uns im Wald leben. Lange Geschichte. Ich erzähle das auch nur, damit klar ist, dass es um Kaiserpinguine geht. Und wer sich schon einmal in der Mauser von Kaiserpinguinen geräkelt hat, der weiß, da kommt man nur schwer wieder raus.
Nächster Gedanke: Wenn Natalie meine Kammer mit frischer Mauser auspolstert und außerdem sowieso praktisch jede Nacht hier verbringt, ist das dann noch meine Kammer? Oder vielleicht eher unsere? Und was macht dieser Gedanke mit mir? Sollten wir vielleicht mal drüber reden, Natalie und ich.
Oder auch nicht.
Vorsichtig schiebe ich Natalies Vorderbein von meiner Brust, gleite wie eine zu weich gekochte Nudel aus der Kuschelecke, strecke mich, lasse meine Halswirbel knacken, laufe aus meiner Kammer und bleibe mit dem Kopf in einem Gestrüpp hängen, das über Nacht von der Decke gewachsen ist.
»What the f…«
»Guten Morgen, Großer«, höre ich Natalie hinter mir sagen.
Sie hat diesen Ton, der mich unweigerlich zu ihren superflauschig behaarten Beinen zurückzieht. Es sei denn, ich schaffe es vorher aus meiner Kammer. Aus unserer.
»Ist was?«, fragt sie.
»Hier ist wirklich was«, erwidere ich. »Da wächst ein Gebüsch aus der Decke.«
Natalie gluckst vergnügt. Noch so etwas, das mich unweigerlich zu ihren superflauschig behaarten … Ist klar, was ich sagen will. »Das ist eine Mistel«, sagt sie, und es klingt, als wäre es das Normalste von der Welt.
Ich ziehe mir einen Zweig aus dem Ohr. »Wieso wächst da eine fucking Mistel aus der Decke?«
»Du bist süß«, entscheidet Natalie. »Die wächst da nicht, die hängt da.«
»Und warum tut sie das?«
»Eine Maßnahme unserer Bauverschönerungsaktion.«
Den Satz muss man sich mal auf der Zunge zergehen lassen. Da ist hinter jedem Wort ein Fragezeichen:
Eine? Soll das heißen, es gibt noch mehr?
Maßnahme? Was für Maßnahmen?
Unserer? Wer ist uns? Ich jedenfalls nicht.
Bauverschönerungsaktion? Haben hier alle den Verstand verloren?
Ich entscheide, von hinten anzufangen:
»Bauverschönerungsaktion?«
»Wir machen’s uns gemütlich. Rufus sagt, die Adventszeit steht vor der Tür.«
»Die Advents … Hat der sie noch alle?«
»Wenn sich Paare unter einem Mistelzweig küssen, bringt das Glück fürs neue Jahr.«
Aha. Offenbar sind wir also ein Paar. Ich fuchtele mir den Mistelzweig aus dem Gesicht. »Also, ich gehe jetzt erst einmal meine Runde drehen. Danach können wir uns küssen, wann und wo und solange du willst.«
»Fein. Dann treffen wir uns nach deinem Rundgang genau da, wo du jetzt stehst – unter dem Mistelzweig.«
»Mistelzweig«, sage ich nur und stapfe aus meiner Kammer. Unserer Kammer. Was weiß ich.
Als ich aus dem Bau komme, sehe ich kaum mehr als in meiner Kammer. Es beginnt gerade erst zu dämmern. Ein eisiger Wind streicht über die Savanne. Also, unsere Savanne. Ist in Wirklichkeit ein ehemaliger NVA-Truppenübungsplatz irgendwo in Brandenburg. Undeutlich zeichnet sich die Baumlinie gegen den Nachthimmel ab.
Ich trete auf etwas Hartes. Den Boden. Nachtfrost. So weit sind wir jetzt also, denke ich. Was ein wirklich bescheuerter Gedanke ist, wie mir auffällt: So weit sind wir jetzt also. Ich klinge wie mein alter Herr. Klar sind wir so weit, Ray, man nennt es Jahreszeiten.
Ein Winterfell wäre jetzt cool, so wie es sich die Füchse und Wölfe und Wildschweine zulegen. Sogar die Amseln haben in den letzten Wochen ihr Gefieder gepimpt. Können wir Erdmännchen lange drauf warten. Als Savannentiere hat uns die Evolution da voll im Stich gelassen. Hat sie nicht mit gerechnet, die Evolution, dass wir uns mal im Brandenburger Wald würden durchschlagen müssen.
Ich mache ein paar Aufwärmübungen, stelle fest, dass bei der ersten Kniebeuge mindestens drei Gelenke gleichzeitig knacken, trabe den Hügel hinunter, den Pfad zwischen den nicht explodierten Sprengkörpern entlang und in den Wald hinein. Das mache ich neuerdings, um mich morgens auf Betriebstemperatur zu bringen: laufen statt gehen. Rufus meint, das sei voll gesund – joggen bei Kälte – und dass es das Immunsystem boostern würde. Nicht, dass ich Rufus jemals hätte joggen sehen.
Als Erstes laufe ich zur Keilerschanze, dem Rückzugsort der Wildschweine. Dort sprinte ich die Stufen zur Ruine hinauf, spüre das Blut in meinen Ohren rauschen und wie es meinen Puls in die Höhe treibt. Oben angekommen, sehe ich wie jeden Morgen zwei Überläufer – also Wildschweinteenager –, die den Eingang bewachen sollen und wie jeden Morgen so tief schlafen, dass man die Ruine in die Luft jagen könnte, ohne dass sie aufwachen. Falls sich einer fragt, wie es sich anhört, wenn so eine Ruine in die Luft fliegt – ich weiß es. Ich war dabei. Ebenfalls eine lange Geschichte.
Noch etwas ist wie jeden Morgen. Auf spitzen Klauen schleiche ich mich an, brülle »Stillgestanden!«, und die Überläufer springen panisch auf die Beine, bevor sie merken, dass nur ich es bin, das bekloppte Erdmännchen.
»Boah, Ray«, grunzt der eine. »Du nervst so was von!«
Der andere: »Das stresst voll ab.«
Der eine: »Früher hätten wir dich für die Aktion einen Kopf kürzer gemacht.«
»Weitermachen!«, sage ich nur und hüpfe die Stufen wieder runter. Danach bin ich fast wieder richtig gut drauf.
Als Nächstes trabe ich am Wasserfall vorbei, hinter dem sich das Acapulco befindet. Erstaunt stelle ich fest, dass die Waschbären tatsächlich damit begonnen haben, unsere Partylocation auszumisten. Neben den Spaßbecken türmt sich ein beeindruckender Müllhaufen auf.
Eddy hat mich neulich gefragt, ob es okay wäre, wenn sie sich die Darkrooms im hinteren Teil als Winterquartier herrichten. Richtig Winterschlaf würden sie zwar nicht machen, wie er mir erklärte, aber so was Ähnliches. Als ich Bernie und Freddy fragte, wie ich mir das vorzustellen habe, meinte Freddy: »Wir hängen dann so ab die meiste Zeit.« Und Bernie: »Genau, wir liegen dann so rum.« Und Freddy: »Aber zum Pinkeln gehn wir raus, versprochen. Also, meistens.«
Kein Unterschied zu sonst, dachte ich und meinte nur: »Macht ihr mal.« Ich war mir sicher, dass sowieso nichts passieren würde. Aber siehe da, offenbar verspürt sogar die faulste Bande im gesamten Wald den Drang nach »Verschönerungsmaßnahmen«.
Ich lege einen Zwischenspurt hin und schaue kurz an der Bachbiegung bei Skipper und Ping und ihren vier Adoptiventen vorbei, die alle schon auf den Beinen sind, während sich ihre Eltern noch im Tiefschlaf befinden. Dann mache ich mich auf den Heimweg.
Der Weg zurück führt mich bei Spanner vorbei. Jens Spanner. Gelbhalsmaus. Mit ihm hatten wir unsere liebe Mühe, als wir ankamen. Gelbhalsmäuse sind echt schreckhaft und haben oft Minderwertigkeitsgefühle wegen ihrer Glubschaugen. Ich gebe zu: Die sind gewöhnungsbedürftig. Jedenfalls machen Veränderungen ihnen Angst. Große Angst. Spanner hätte gerne gehabt, dass alles für immer so geblieben wäre, wie es war. Da war so ein Clan waldfremder Tiere mit Migrationshistorie natürlich Gift für die Stimmung. Inzwischen aber pflegen wir »freundschaftlich-nachbarschaftliche Beziehungen«, wie Spanner das nennt.
Ich treffe ihn dabei an, wie er die letzten Bucheckern in seinen Bau schiebt, dabei quillt der sowieso schon über vor Vorräten. Bestimmt war er wieder die halbe Nacht unterwegs, um die letzten aufzustöbern. Hat immer Angst, jemand anderer könnte ihm was wegschnappen.
»Morgen, Spanner!«
»Guten Morgen, Herr Nachbar.«
»Erwartest du Verwandtschaftsbesuch aus der Stadt?«
»Wenn das eine Anspielung auf meine Vorratswirtschaft sein soll – mach dich nur lustig über mich. Doch lass dir gesagt sein: So ein Winter hier im Wald kann sehr lang werden. Wer zuletzt lacht, lacht am besten.«
Der nun wieder.
Da fällt mir etwas ein: »Sag mal, wo du dich mit den Gebräuchen hier im Wald so gut auskennst. Weißt du, was es mit Mistelzweigen auf sich hat, unter denen man sich küssen soll, weil das angeblich Glück bringt?«
Spanner kratzt sich nervös am Ohr. »Ach, ihr Städter«, sagt er mitleidsvoll, »kennt die ältesten deutschen Bräuche nicht. Also: Es heißt, wenn eine junge Frau von ihrem Liebsten unter einem Mistelzweig geküsst wird, dann werden sie im Jahr darauf heiraten. Bleibt sie ungeküsst, wird es nichts mit der Heirat.«
»Ach du Scheiße«, murmle ich. »Die will einen Clan mit mir gründen.«
»Wie, bitte?«
»Nichts, nichts.«
Die Frage, ob Natalie und ich nächstes Jahr heiraten werden, bleibt fürs Erste unbeantwortet, denn als ich in die Savanne zurückkomme, sitzt Rufus auf dem Gefechtsturm unseres T-72 und versucht, mit seinem Solarpanel das nicht vorhandene Tageslicht einzufangen. Ist sein neues Hobby. Seit unserem Zirkusbesuch hat er nämlich wieder ein Smartphone. Aber keinen Strom. Macht ihn fertig.
Ach ja, hab ich noch gar nicht erwähnt: Wir waren neulich im Zirkus, um uns die Nummer mit den drei Bärenbrüdern anzusehen, die unserer Waldgemeinschaft so zugesetzt hatten. Bei dieser Gelegenheit trafen wir unglaublicherweise Phil und Lea und Mo wieder, meinen alten Partner aus Berliner Zeiten, zusammen mit seiner Frau und seiner Tochter. Und hinterher steckte plötzlich ein Smartphone in Rufus’ Klettgurt.
»Wo hast du das denn her?«, wollte ich wissen.
»Was denn?«
Ich zog es aus seinem Gurt und hielt es ihm vor die Nase. »Das hier?«
»Oh, ein iPhone 5.«
Als hätte ihm das jemand im Vorbeigehen in den Gurt gesteckt. Und als würde das die Frage beantworten. »Wo hast du es her?«
»Äh … gefunden. Lag zufällig unter der Tribühne im Zirkus.«
Aber sicher doch.
»Als du es gefunden hast, zufällig, unter der Tribüne«, sagte ich, »lag es da zufällig in einer Tasche oder so?«
»Könnte sein. Aber wie gesagt, ist nur ein iPhone 5. Für viele Anwendungen lässt sich das gar nicht mehr benutzen. Streng genommen ist das Elektroschrott.«
Seitdem also hat Rufus ein neues Hobby. Wobei »Hobby« ganz klar eine Untertreibung ist. Er selbst würde von einer Obsession sprechen, auch wenn ich nicht genau weiß, was das ist. Jedenfalls habe ich manchmal das Gefühl, dass nicht Rufus ein neues iPhone hat, sondern dass das iPhone einen neuen Rufus hat.
So oder so gibt es im Wald keinen Strom. Hinzu kommt, dass die Akkulaufzeit von Rufus’ iPhone voll für den Arsch ist, wie er selbst sagt. Beides zusammen führt dazu, dass er bei Tagesanbruch auf dem Gefechtsturm sitzt, sich seinen pelzigen Arsch abfriert und versucht, das nicht vorhandene Licht einzufangen.
Was mich zu seinem Solarpanel bringt. Unter »Panel« stellt man sich ja schnell etwas vor, das auf ein Hausdach montiert wird, krass spacig aussieht und so viel Strom macht, dass man sich für den Garten eine Flutlichtanlage zulegen muss, um das alles wieder zu verbrauchen. So ein Panel ist das von Rufus ganz klar nicht. Das von Rufus ist eher … winzig. Also kleiner als das Display seines iPhone 5. Er hat es bei Bauer Fröhlich mitgehen lassen, und eigentlich ist es dafür gedacht, die LED-Lichterkette eines schwedischen Möbelherstellers tagsüber so aufzuladen, dass sie, wenn es Nacht wird, so aussieht, als würden ein paar Glühwürmchen durch die Dunkelheit schwirren. Es dauert Tage, das iPhone damit zu laden, weshalb Rufus es immer nur minutenweise benutzt und sofort Schnappatmung bekommt, sobald es außer Sichtweite ist, weil er Angst hat, einer aus dem vierten oder fünften Wurf könnte es zum Zocken missbrauchen.
»Haben die Außerirdischen schon Kontakt mit dir aufgenommen?«, rufe ich meinem Bruder zu.
»Dir ist hoffentlich klar, dass das keine Antenne ist, oder?« Er richtet das Panel aus, nach was auch immer. »Dafür müsste es nämlich parabolförmig sein, außerdem müsste es im Brennpunkt über einen Empfangskopf verf …«
»Rufus!«
»Was?«
»Ich weiß, dass das keine Antenne ist.«
»Beruhigend.«
Ich klettere die Glieder der Panzerkette hinauf, schwinge mich auf die Metallschürze, erklimme den Gefechtsturm und setze mich neben Rufus. Schon ein cooler Ort hier oben, besonders wenn der Tag gerade erst anbricht und der Rest des Clans noch schläft. Fühlt sich an wie »die Herde hüten«.
»Ganz schön neblig«, sage ich.
Rufus sieht mich an. »Das ist dein Atem. Der kondensiert beim Ausatmen.«
Weiß ich natürlich. Also nicht das mit dem Kondensierdings. Aber dass es mein Atem ist, schon, bin ja nicht komplett bescheuert. »Ach, echt? Ist ja interessant.«
Rufus setzt zu einer Erklärung an, merkt, dass er verarscht wird, wendet sich seinem einzig wahren Freund zu – seinem iPhone – und knurrt: »Sieben Prozent. Damit komme ich nicht weit.«
»Wie weit willst du denn kommen?«
»Du verstehst es nicht, Ray. Dieses nachgerade antike Gerät ist unsere einzige Verbindung zur Außenwelt.«
»Und wozu brauchst du die? Wir haben doch hier unsere eigene Welt. Den Wald.«
»Ich sage doch – du verstehst es nicht.«
Neuerdings ist Rufus noch empfindlicher als sonst. Vielleicht hat es damit zu tun, dass er demnächst Vater wird. Also nicht richtig, aber irgendwie schon. Grete ist nämlich trächtig. Das Ding ist: Sie ist nicht von ihm trächtig. Denn Grete ist nicht nur die demokratisch gewählte Oberbeschützerin des Waldes und Rufus’ – äh – Geliebte, sondern außerdem Feldhäsin. Und Feldhäsinnen und Erdmännchen können sich – äh – vergnügen, so viel sie wollen, aber Nachwuchs kommt da nicht bei raus. Hat mit irgendwelchen Chromosomen zu tun. Wer’s genauer wissen will, muss sich an Rufus wenden. Was ich sagen wollte, ist, dass sich Grete von einem Durchhoppler hat schwängern lassen. Trotzdem wollen sie und Rufus ihre Jungen gemeinsam großziehen, als Familie. Nennt sich Patchwork. Wie bei Skipper und Ping und den Mandarinenten.
Ich denke an meine Geschwister, die unter uns in ihren Kammern liegen und schlafen. Ehrlich gesagt, denke ich vor allem an Natalie. Und die Geschichte mit dem Mistelzweig.
»Wie geht’s dir eigentlich damit«, frage ich Rufus, »dass du demnächst Familienvater wirst?«
Gut geht’s mir damit«, sagt Rufus sofort. »Großartig. Könnte besser nicht sein.«
Hm.
Als es darum ging, wer zum Oberbeschützer des Waldes gewählt werden soll, da hat Rufus auch immer gleich mehrfach betont, wie NICHT wichtig es ihm ist, weiterhin der Chef zu sein, dass er wirklich GARNICHT an der Macht klebt, WIRKLKICHNICHT. Abgeben wollte er sie trotzdem nicht.
»Was für eine Fügung des Schicksals«, sagt er. »Grete und ich gründen … eine … Familie.«
Hm.
»Andererseits …« Er checkt sein iPhone. »Immer noch nur sieben Prozent.«
»Andererseits?«, frage ich.
Er justiert sein Panel. »Andererseits bedeutet so eine Veränderung natürlich auch eine immense Verantwortung.«
Hm.
Mit seinen Klauen macht er eine Geste, als versuchte er, die Erde zu stemmen. »Also, gewaltig.«
Hm.
»Da kann einem schon mal mulmig werden.«
Sieh an.
Ich überlege, ob ich Rufus sagen soll, dass ich den Verdacht habe, dass Natalie sich das ebenfalls wünscht, also dieses Familiengründedings, mit mir und dass ich bei der Vorstellung auch ganz schön Eierflattern bekomme. Aber gerade, als ich es sagen will, schnarrt Rufus’ Sieben-Prozent-iPhone plötzlich über den Panzer, und das Display fängt an zu leuchten.
»Das ist Lea!«
Erfreut lehnt Rufus das iPhone gegen die Dekontaminierungseinheit und drückt den Button. Ist ein FaceTime-Anruf, was bedeutet, dass wir Lea sehen können. Damit sie von uns auch etwas erkennen kann, halten wir unsere Köpfe möglichst nah ans Display. So sehen wir zwar wie behaarte Luftballons aus, ist aber besser als nichts.
Lea winkt in die Kamera. »Hi, Ray, hi, Rufus!«
Wir winken zurück.
»Hallo, Lea!«, ruft Rufus.
Und ich so: »Krzfzmpkadzdudida!«
Lea weiß, dass wir sie verstehen können, aber da sie uns nicht verstehen kann, ist es völlig Rille, was ich sage. Ich versuche, meine Klaue wie ein Daumen-Hoch-Emoji aussehen zu lassen, was logisch behämmert aussieht ohne Daumen.
Lea dreht sich um die eigene Achse, damit wir ihr neu gestrichenes Kinderzimmer bewundern können. Die eine Hälfte ist Mint, die andere Pink. Mir dreht sich der Magen um, aber Lea findet’s »voll krass«.
»So eine Farbkombination kann Epilepsien auslösen«, flüstert Rufus.
Keine Ahnung, ob das was Gutes oder was Schlechtes ist, trotzdem sage ich: »Hey Lea, viel Spaß mit deiner Epilepsie!«
Rufus stößt mir eine Klaue in die Seite. »Das ist eine ganz schlimme Krankheit.«
»Ist doch Banane«, erwidere ich und rufe begeistert: »Sieht echt krass krank aus!«
Als Nächstes hüpft Lea aufs Bett und zeigt uns ihre Kuscheltiersammlung, achtunddreißig Stück, ein ganzer Kuscheltierzoo, und jedes hat einen eigenen Namen. Die beiden Erdmännchen-Kuscheltiere heißen Ray und Rufus und sehen aus wie Verwandtschaftsbesuch vom Südpol.
Man hört, wie die Tür aufgeht, und schon am Geräusch der schlackernden Ohren erkenne ich, dass das nur Leas dämliche Töle Susi sein kann, die auch sofort aufs Bett springt und Leas Smartphone beschnuppert, was Lea krass lustig findet.
»Guck mal«, kichert Lea und hält Susi das Display hin, »da sind Ray und Rufus.«
Susi starrt auf das Display, und ich schwöre, der Hohlraum hinter diesen Augen ist größer als die Milchstraße. Logisch hat sie längst vergessen, dass sie mich schon mal gesehen hat. »Ich bin Susi«, bellt sie. »Ich bin ein Hund!«
»Schön für dich«, sage ich.
Vor lauter Begeisterung darüber, ein Hund zu sein, fängt Susi an, wie blöd auf Leas Bett herumzuhopsen. »Ich springe!«, ruft sie. »Ich springe! Ich bin ein Springehund!«
»Grundgütiger«, seufzt Rufus.
Dann füllt plötzlich Susis Schnauze das gesamte Display aus, und ich bin froh, dass ich das nur sehen und nicht auch noch riechen muss. Offenbar versucht sie, das Handy zu fressen.
»Lass das, du Verrückte«, kichert Lea und bringt Susi auf Abstand.
»Wie heißt ihr?«, bellt Susi. »Seid ihr Ray und Rufus?«
»Nein«, sage ich, »wir sind Heinz und Erwin.«
»Und könnt ihr auch hüpfen?«
»Klar«, sage ich. »Ich kann sogar Salto.«
Susi hat einen Schreckmoment. »Echt?«
»Sogar doppelt, mit Schraube.«
Susi hüpft im Kreis. »Mach mal, mach mal, mach mal, mach mal!«
»Keinen Bock«, sage ich.
Wieder bleibt Susi in der Bewegung stecken. In so einem Hundegehirn geht es zu wie in Disneyland. Hinter jeder Ecke wartet eine Überraschung.
»Lea ist mein Frauchen«, bellt Susi jetzt, »und Mo ist auch mein Frauchen. Und Phil ist mein Herrchen!«
»Hammer«, sage ich.
»Habt ihr auch ein Frauchen?«
»Hundert«, sage ich.
Mal sehen, wie weit ich noch gehen kann, bevor Susi mitschneidet, dass sie verarscht wird. Ich glaube, die versteht das Konzept gar nicht. Lea findet’s lustig.
»Ui-iii!«, plärrt Susie. »Was seid ihr für Tiere?«
»Erdkröten!«
Jedes Mal, wenn sie innehält, ist es, als würde plötzlich das Bild einfrieren. Sie legt ihren Kopf schief, bis ihr Spanielohr in der Luft baumelt wie ein riesiger nasser Teebeutel.
»Erdkröten!« Susi ist so aus dem Häuschen, dass sie vor Begeisterung das Display abschleckt. »Erdkröten! Ihr seid süß, Erdkröten!!«
»Ich halt’s nicht aus«, stöhnt Rufus.
»Der Akku schmiert eh gleich ab«, tröste ich ihn.
In dem Moment hört man Phils Stimme, der ins Kinderzimmer ruft: »Viertel vor acht, Lea, wir müssen!«
Lea hat das Smartphone wieder an sich genommen, allerdings ist jetzt lauter Sabberschmiere auf der Kamera, wodurch sie irgendwie zerlaufen aussieht.
»Hier sind Ray und Rufus!«, ruft sie.
Phil kommt ins Zimmer. »Am Telefon?«
»Wir machen FaceTime!«
Phil lässt sich das Handy geben, und dann habe ich tatsächlich meinen alten Partner und Freund und mit ihm mein ganzes altes Leben vor Augen – verschwommen zwar, aber trotzdem –, und ich muss zweimal trocken schlucken, um nicht sofort in Tränen auszubrechen.
»Ray!«, Phil grinst in die Kamera, »Rufus!«
Ich winke zaghaft, sage »Hi, Phil« und versuche, so lässig wie irgend möglich zu klingen.
»Gut, dass ich euch sehe!« Phil blinzelt in die Kamera, als hätte er was im Auge. »Sagt mal, ist das ein Panzer, auf dem ihr da sitzt?«
»Ein alter T-72.« Rufus klopft mit einer Klaue gegen das gesprungene Glas des Zielgeräts. »Lange Geschichte.«
»Auf die bin ich schon gespannt. Ihr könnt sie mir ja heute Abend erzählen. Ich wollte nämlich …« In dem Moment wird das Display schwarz.
»Quod erat demonstrandum«, schimpft Rufus.
Ich sage nichts, sondern vergieße nur im Stillen ein paar Tränen in Erinnerung an vergangene Zeiten.
Erst als Rufus stöhnt, »das dauert einen halben Tag, ehe ich das Ding wieder hochfahren kann, mindestens«, wird mir klar, was Phil gerade gesagt hat.
»Rufus?«
Mein Bruder ist schon wieder damit beschäftigt, den Sonnenstand hinter der Wolkendecke abzuschätzen. »Was?«
»Heute Abend?«
»Ja?«
Ich reiße ihm sein lächerliches Panel aus der Klaue. »Phil!«
Rufus wartet. Als nichts weiter kommt, wiederholt er stumpf: »Phil.«
»›Ihr könnt sie mir ja heute Abend erzählen‹«, zitiere ich. »Das war es, was Phil gerade gesagt hat. Heute Abend.«
»In der Tat«, schnalzt Rufus. »Das wirft Fragen auf.«
Der heutige Aktivitätslevel meiner Familienmitglieder gleicht dem von Rufus’ Ladeanzeige. Irgendwann kommen Marcia, Minka und Mitzi aus dem Bau, bleiben kurz vor dem Eingang stehen und halten ihre zarten Näschen in den Wind. Es nieselt leicht.
»Voll der Abturn«, stellt Marcia fest.
»Echt ma«, bestätigt Minka, die immer bestätigt, was Marcia findet.
»Ohne mich, Leute«, sagt Mitzi, und schon sind sie wieder in den Bau gekrochen.
Später tauchen Kirk und Konrad, zwei von den Hängern aus dem vierten Wurf auf. Als sie Rufus und mich auf dem Panzer sehen, salutieren sie zum Spaß. Mit seinen Krallen formt Kirk etwas, das eine Zeigefingerpistole darstellen soll. »Wir gehen uns ein paar Harlekine schießen«, erklärt er, und gemeinsam trotten die beiden Richtung Wald.
Mit Harlekine sind Harlekin-Käfer gemeint. Die bilden im Herbst Kolonien, schmecken so mittel, sind aber dafür selbst im Dämmerlicht gut zu erkennen.
Kaum sind die beiden im Wald verschwunden, kommen sie auch schon wieder zurück. »Leck Arsch«, sagt Konrad, bevor sie wieder im Bau verschwinden.
Kirk erklärt: »Die Erde ist voll hart.«
»Und nass, Alter. Whallah.«
Apropos Dämmerlicht: Hell wird es heute nicht. Dafür wieder dunkel. Geht eigentlich nicht, weiß ich schon, dass es dunkel wird, ohne vorher hell geworden zu sein. Aber an so einem Tag wie heute geht’s dann eben doch.
Vorsichtig, als könnte es jeden Moment explodieren, schaltet Rufus das iPhone ein. Drei Prozent. Die Ausbeute eines ganzen Tages. »Bei dieser Lichtintensität dauert es einen Monat, bevor der Akku vollständig geladen ist.«
Das iPhone gibt ein zartes Ping von sich.
»Lea hat uns eine WhatsApp geschickt!«, ruft mein Bruder.
»Und?«
»Hier«, für einen Moment dreht er mir das iPhone zu, »lies selbst. Ach, nein«, schiebt er hinterher, »das geht ja nicht! Denn mein Bruder weigert sich ja beharrlich, das Alphabet zu lernen.«
Zu Rufus’ Entschuldigung muss ich sagen, dass er nicht immer so empfindlich ist. Ich schätze, es liegt an Grete und dass er bald Patchwork-Daddy wird. Und dass er keinen Strom hat. Zwei Dinge, die er nicht kontrollieren kann. Das sind zwei zu viel.
»Das A kann ich schon«, sage ich.
»Glückwunsch.«
»Was schreibt Lea denn jetzt?«
Rufus dreht das Display wieder zu sich hin. »Dass wir ihr unseren Standort schicken sollen, damit Phil … Zwei Prozent, fuck.«
Hektisch wischt Rufus über das Display, öffnet Apps, drückt Buttons.
»Zwei Prozent«, murmelt er, »zwei Prozent, zwei Prozent, zwei Pro …«
Und zack, ist das Display wieder schwarz.
»Und was machen wir jetzt?«, frage ich.
»Wir hoffen, dass meine WhatsApp noch raus ist, und warten.«
»Stand da was davon, weshalb sie kommen wollen?«
»Ja, aber das konnte ich in der Eile nicht mehr lesen.«
Die Nachricht, dass Phil kommt, setzt automatisch Dinge bei mir in Gang. Schließlich sage ich: »Glaubst du, Phil hat einen neuen Fall für uns?«
»Dieser Zug ist abgefahren, mein Lieber. Phil hat jetzt eine Festanstellung, eine Frau, ein Kind, einen Hund und ein Häuschen mit Garten. So jemand nimmt keine unnötigen Risiken mehr auf sich.«
Hat er wahrscheinlich recht, mein kleiner Bruder. Schön für Phil. Andererseits auch schade. Dass man im Leben aber auch immer nur das eine ODER das andere haben kann.
»Das A kann ich übrigens wirklich«, sage ich und scharre mit meiner Klaue über das kalte Metall.
»Welch große Leistung«, raunt Rufus.
»Merkst du selber, oder?«, frage ich.
»Was?«
»Wie scheiße du drauf bist – dafür, dass alles super ist.«
Ja, merkt er selber. »Entschuldige. Ich bin im Moment einfach etwas …«
Überfordert, denke ich.
»… angespannt«, sagt Rufus.
Sicher doch.
Ich denke an Natalie. Und dann denke ich, dass ich den ganzen Tag über nicht in meine Kammer zurückgegangen bin. Und alles nur, weil ich Schiss vor dem Mistelzweig habe.
Ich weiß nicht, wie lange wir schon warten. Gefühl hab ich in meinem Hintern längst keins mehr, auch wenn wir irgendwann auf die Idee gekommen sind, uns die Alu-Knisterdecke aus dem Schrottwagen unterzulegen. Die Sonne ist ebenfalls längst untergegangen. Nehme ich jedenfalls an, dass sie untergegangen ist. Gesehen haben wir es nicht. Nur Düsternis, die in Dunkelheit übergeht.
»Da«, sagt Rufus.
In einiger Entfernung zucken zwei LED-Leuchten durch den Wald. Kurz darauf hören wir Leas Stimme: »Hier lang, Papa.«
Wow, denke ich. Phil und Lea. Kommen tatsächlich. Und sie nennt ihn Papa. Bei den Haken, die das Leben schlägt, kommt kein Hase hinterher.
Rufus klemmt sich das iPhone in den Klettgurt. »Dann wollen wir unsere Besucher mal in Empfang nehmen.«
Wir erwarten sie auf dem Pfad am Rand der Savanne. Und dann stehen sie vor uns.
Lea geht auf die Knie, breitet die Arme aus, Rufus und ich laufen zu ihr, und dann drückt sie uns an sich, und ich, ganz der Onkel, denke: Wann ist die so groß geworden?
»Hey, ihr beiden«, sagt Phil und streicht mir über den Kopf. Früher war der nicht so sentimental. Kommt wahrscheinlich, wenn man Kinder hat, das weicht einen auf, Mistelzweig und so weiter. »Ich hätte nicht gedacht, dass ich das mal sagen würde, aber es tut wirklich gut, euch zu sehen.«
Da klingt Wehmut durch, finde ich. Also frage ich: »Ist wer gestorben?«
Phils Tasche sinkt auf den Boden. Er schlägt den Deckel zurück. Alles wie früher, sogar der Geruch. Krass, was ich in dieser Tasche alles erlebt habe.
»Dann steigt mal ein«, sagt Phil. »Den Rest erkläre ich euch im Auto.«
Rufus und ich klettern in die Tasche, die Phil extra mit einer Fleecedecke ausgepolstert hat, der Deckel schließt sich über uns, und ich denke, dass ich mich echt glücklich schätzen kann. Dass nicht viele Erdmännchen so viel erlebt haben wie ich, keins wahrscheinlich. Und dass Freundschaft echt krass geiler Scheiß ist.
Die gute Nachricht zuerst: Rufus kann in Phils Wagen sein iPhone laden. Applaus, bitte. Die Sicherheitsfirma, für die Phil arbeitet, hat ihm einen Dienstwagen spendiert, einen Skoda Fabia. Rufus meint, das sei heute das, was früher mal der Trabbi war. Wie auch immer: Kaum sind wir unterwegs auf der Autobahn Richtung Berlin, ist das iPhone auch schon auf siebzehn Prozent. Und als er das feststellt, klingt Rufus, als müssten die Sterne heute Nacht zum Greifen nah sein.
Jetzt die traurige Nachricht: Wir fahren nach Berlin, um uns von Kong zu verabschieden. Es passiert tatsächlich, sie verschiffen ihn nach Sydney. Windhoeck, der alte Windbeutel, hat nicht nur uns, sondern auch den Paten des Zoos verhökert. Sydney liegt in Australien, und Australien liegt, wie Rufus mir erklärt hat, am anderen Ende der Welt. Also wirklich: andere Seite.
Wir sitzen auf dem Beifahrersitz, Rufus und ich. Genau genommen hockt jeder von uns auf einem von Leas Beinen. Ich starre aus dem Seitenfenster und in die Nacht hinaus. Die Sterne sind wirklich zum Greifen nah. Sieht aber nur so aus. In Wahrheit sind die voll weit weg, weiß jedes Kind. Als wir losgefahren sind, hat Phil Musik angemacht – Paolo Conte, wie früher –, aber kurz darauf hat er sie wieder ausgemacht. Ist nicht der richtige Moment. Lea merkt, dass ich traurig bin, und krault mir vorsichtig den Nacken.
Eigentlich sollte es keinen Unterschied machen, ob Kong im Zoo in Berlin hockt oder im Zoo in Sydney. Wahrscheinlich bekomme ich keinen der beiden nach heute Nacht noch einmal zu sehen. Und doch fühlt es sich anders an – zu wissen, dass Kong nicht mehr da ist.
Gedankenverloren stochere ich im Seitenfach herum und fische zwischen einem Eiskratzer, verrotzten Taschentüchern und halb leeren Kaugummipackungen eine Schachtel mit Spielkarten heraus.
»Oh, ein altes Pokerdeck«, sagt Phil. »Glaube nicht, dass ich das noch mal brauche.«
Ich ziehe die Karten aus der Packung und sehe sie mir an.
»Poker ist wie das Leben«, sagt Phil. »Du spielst, weil du gewinnen willst – und zwischendurch tust du das auch –, am Ende aber gewinnt die Bank.«
»Und warum spielt man dann überhaupt?«
»Weil du bei jeder neuen Runde eine neue Chance hast, ganz groß abzuräumen. Kommt nicht oft vor, aber möglich ist es.«
»Es geht also um das, was passieren könnte?«
»Irgendwie schon.«
Auch Phil ist traurig über Kongs Abgang. Wenn er früher einen philosophischen Moment hatte, hat er als Nächstes in sein Jackett gegriffen, den Flachmann herausgeholt und … Na bitte, da ist er ja, der Flachmann.
Phil starrt ihn an, wirft einen Seitenblick auf Lea und steckt ihn wieder ein, ohne daraus getrunken zu haben. Stellt sich die Frage, was trauriger ist: einer, der trinkt, oder einer, der sich das Trinken verkneift.
»Was ist eine gute Karte?«, frage ich.
»Das Kreuz As schadet selten«, gibt Phil zur Antwort.
Die Firma, für die Phil arbeitet, ist für die Security im Zoo verantwortlich. Deshalb braucht er nur Sekunden, um mit seinem iPad die Kamera im Anlieferungsbereich zu deaktivieren. Glaubt er zumindest. Wir stehen vor dem Tor, durch das die Waren angeliefert werden, Phil, Lea, Rufus und ich.
Phil zwinkert uns zu und tippt auf dem iPad herum. »Sesam, öffne dich.«
Erwartungsvoll sieht er das Tor an. Es passiert nichts. Wieder tippt er auf seinem iPad herum. »Sesam, fucking öffne dich.«
Wieder passiert genau nix.
Ich will jetzt nicht überheblich klingen oder so, und ich finde ja auch cool, dass Phil es geschafft hat, die Kamera zu deaktivieren. Aber ihm beim Umgang mit kabelloser Technik zuzusehen, ist wie Shabby zuzusehen, wenn er versucht, mit drei Nüssen zu jonglieren.
»Soll ich mal?«, fragt Rufus.
»Das liegt nicht an mir«, erklärt Phil. »Das ist die Software.«
»Soll ich trotzdem mal?«
Phil beugt sich zu uns herunter, lehnt das iPad gegen den Torpfosten und verschränkt die Arme vor der Brust.
Rufus wischt und scrollt und tippt, sagt »verstehe« und »tricky« und dann: »Benutzername?«
»Phil Mahlow«, sagt Phil.
Rufus tippt.
»Kennwort?«
»Phil Mahlow.«
Die Klauen über dem Display blickt Rufus zu unserem Freund auf. »Dein Benutzername und dein Kennwort sind i-den-tisch?«
»Yep.«
»Und so einer arbeitet für eine Sicherheitsfirma.« Rufus vertieft sich wieder in Phils iPad.
Nach einer Weile schlägt Lea vor: »Wir können doch einfach drüberklettern.«
Während Phil Leas Idee abwägt, sagt Rufus: »Sesam.«
In der Geschwindigkeit eines Baummarders klettert Lea die Streben hinauf, schiebt sich über die Kante und lässt sich auf der anderen Seite wieder herunter. Anschließend grinst sie ihren Vater durch die Streben hindurch an. »Ta-taa«, sagt sie und dreht die Handflächen nach oben.
Rufus’ sportlicher Ehrgeiz lässt meinen Bruder derweil mit dem iPad verschmelzen: »Öffne.«
»Der Fehler hätte längst behoben sein sollen«, sagt Phil. »Aber der Programmier-Jens von dieser dämlichen App-Entwicklerfirma kennt sich in seinem eigenen Programm nicht aus.« Er umfasst die Streben und macht das, was Lea gemacht hat. Allerdings sieht es bei ihm weniger nach Marder, sondern eher nach Siebenschläfer aus. »Ging auch mal einfacher«, schnauft er.
Ist nur so ein Gefühl, aber ich glaube, Rufus lässt seine Kralle extra so lange über dem Display schweben, bis Phil sich mühsam auf die Oberkante gehievt hat, ein Bein auf der einen, eins auf der anderen Seite. Dann erst tippt er auf den Button und sagt: »Dich.«
Mit einem dunklen Brummen schwingt das Tor auf, Phil klammert sich an die Streben, und Lea quiekt vor Vergnügen über ihren hilflosen Vater.
Bis wir an dem albernen Wasserspielplatz vorbeigetrabt sind, der mal unser Gehege war, und uns vor Kongs Stahlzaun aufreihen, bin ich von den Hinterklauen bis zu den Ohrspitzen von Wehmut erfüllt. Es gibt kein Zurück, denke ich. Nie. Was vergangen ist, ist vergangen.
Da steht eine helle Holzkiste in Kongs Gehege herum. Also »Kiste« ist ganz klar untertrieben, aber ich weiß nicht, wie ich das Ding sonst nennen soll. Container? Jedenfalls wäre sie groß genug, um unseren kompletten Clan zu verschiffen. An der Seite ist ein fetter Aufkleber angebracht mit einem Scancode und einem Schriftzug. Sie ist aus frischem Holz. Kiefer. Seit wir im Wald leben, kann ich das: Hölzer am Geruch unterscheiden.
Jedenfalls hebt sie sich von der Dunkelheit ab und sieht aus, als würde sie schweben, unheimlich irgendwie. Alles drum herum ist kurz vor schwarz. Das Rascheln des Schilfs vom Nachbargehege weht herüber. Am Bahnhof Zoo fährt ein Nachtzug durch.
Ich versuche, etwas zu erkennen. »Wo ist er denn?«
»Vermutlich im Haus«, sagt Rufus.
Lea wendet sich an ihren Vater. »Ist er schon weg?«
»Glaube ich nicht.« Phil legt ihr eine Hand auf die Schulter. »Sonst würde ja nicht die Transportkiste noch im Gehege stehen.«
»Kong?«, rufe ich. »Kong, bist du da irgendwo?«
Ein Schaben ist zu hören, dann, wie bei einer Zugbrücke, öffnet sich eine Seite der Transportkiste. Ich sehe Kongs Pranke, die die Kante umfasst, dann schiebt sich der Pate des Zoos langsam ins Freie, stützt seinen massigen Oberkörper auf die Fäuste, und ich denke nur: Abschied nehmen ist voll Kacke.
»Was für eine angenehme Überraschung«, knarzt Kong, »in Zeiten wie diesen.«
Ich kann nicht anders, schlüpfe zwischen den Streben durch und laufe ihm direkt in die Pranke, die mir so oft das Rückgrat gestaucht hat.
Kong wickelt mich in seine Finger ein und hebt mich hoch. Riesige schwarze Augen blicken mich aus einem schwarzen Fellberg an. »Da wird mir doch ein kleines Erdmännchen nicht auf den letzten Metern noch sentimental werden?«
»Schon passiert«, schluchze ich und werfe mich ihm an den Hals, was wahrscheinlich so aussieht, als würde ihm eine Klette im Fell kleben.