Dämmersee - Johanna Mo - E-Book

Dämmersee E-Book

Johanna Mo

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Beschreibung

Eine Insel lässt dich nicht entkommen. Bis du für deine Sünden bezahlt hast

Fast ein Jahr ist vergangen, seit Hanna Duncker nach Öland zurückgekehrt ist und sich den Schatten ihrer Vergangenheit gestellt hat. Inzwischen ist sie Mutter, und in wenigen Tagen wird sie heiraten. Doch dann erreicht sie ein Anruf von ihrem Kollegen Erik Lindgren: Ihr ehemaliger Chef wurde ermordet. Ove war erst seit Kurzem im Ruhestand. Hat sein Tod womöglich etwas mit dem Verbrechen zu tun, das Hannas Vater hinter Gitter brachte? Musste er für sein Schweigen mit dem Leben bezahlen? Hanna weiß nur eins: Wenn sie Oves Mörder finden will, ist es an der Zeit, auch das letzte Kapitel im schwierigsten Fall ihres Lebens aufzuschlagen …

Die »Hanna Duncker«-Reihe:

Band 1: Nachttod

Band 2: Finsterhaus

Band 3: Dunkelwald

Band 4: Nebelstunde

Band 5: Dämmersee

Alle Bände können auch unabhängig voneinander gelesen werden.

Das E-Book können Sie in Legimi-Apps oder einer beliebigen App lesen, die das folgende Format unterstützen:

EPUB
MOBI

Seitenzahl: 514

Veröffentlichungsjahr: 2025

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Zum Buch

Hanna ist glücklich mit ihrer kleinen Familie. Sie kann immer noch nicht glauben, wie sehr sich ihr Leben verändert hat, seit sie zurück in ihre Heimat Öland gezogen ist. Doch dann erreicht sie ein Anruf von ihrem Kollegen Erik Lindgren: Ihr ehemaliger Chef und Mentor Ove Hultmark wurde ermordet. Er war erst seit Kurzem im Ruhestand. Hat sein Tod womöglich etwas mit einem alten Fall zu tun? Warum stand er in Kontakt mit der Mutter des Mannes, der nun für die Taten einsitzt, für die Hannas Vater einst verurteilt wurde? Hanna weiß nur eins: Wenn sie Oves Mörder finden will, ist es an der Zeit, auch das letzte Kapitel im schwierigsten Fall ihres Lebens aufzuschlagen …

Zur Autorin

Johanna Mo wuchs in Kalmar, im Süden Schwedens, auf und lebt mit ihrer Familie in Stockholm. Neben dem Schreiben arbeitet sie seit zwanzig Jahren als Redakteurin, Übersetzerin und Literaturkritikerin. Als Teenager musste Johanna Mo erleben, was es heißt, jemanden zu kennen, der zum Mörder wurde. Diese Erfahrung hat sie nie wieder losgelassen und zu der SPIEGEL-Bestsellerreihe um Polizistin Hanna Duncker inspiriert.

Lieferbare Titel

Nachttod

Finsterhaus

Dunkelwald

Nebelstunde

Dämmersee

JOHANNA

MO

DÄMMERSEE

KRIMINALROMAN

AUSDEMSCHWEDISCHENVONULRIKEBRAUNS

WILHELMHEYNEVERLAGMÜNCHEN

Die Originalausgabe Brottsjön erschien erstmals 2024 bei Romanus & Selling, Stockholm.

Der Inhalt dieses E-Books ist urheberrechtlich geschützt und enthält technische Sicherungsmaßnahmen gegen unbefugte Nutzung. Die Entfernung dieser Sicherung sowie die Nutzung durch unbefugte Verarbeitung, Vervielfältigung, Verbreitung oder öffentliche Zugänglichmachung, insbesondere in elektronischer Form, ist untersagt und kann straf- und zivilrechtliche Sanktionen nach sich ziehen.

Der Verlag behält sich die Verwertung der urheberrechtlich geschützten Inhalte dieses Werkes für Zwecke des Text- und Data-Minings nach § 44 b UrhG ausdrücklich vor. Jegliche unbefugte Nutzung ist hiermit ausgeschlossen.

Deutsche Erstausgabe 02/2025

Copyright © 2024 by Johanna Mo

Published in Agreement with Grand Agency

Copyright © 2025 der deutschsprachigen Ausgabe by Wilhelm Heyne Verlag, München, in der Penguin Random House Verlagsgruppe GmbH, Neumarkter Str. 28, 81673 München

[email protected]

(Vorstehende Angaben sind zugleich Pflichtinformationen nach GPSR)

Redaktion: Sibylle Klöcker

Umschlaggestaltung: www.buerosued.de unter Verwendung von mauritius images / Schweden / Alamy Stock Photos

Satz: satz-bau Leingärtner, Nabburg

ISBN 978-3-641-32316-5V001

www.heyne.de

Der letzte Tag

In der Tür zum Wohnzimmer bleibt er stehen. Birgitta sitzt im Lesesessel – dem riesigen, geblümten Teil, das sie sich bei einer Internetauktion erklickt hat. Die Beine hat sie unter sich gezogen, ihr Blick huscht über die Buchseiten. Gerade liebt sie historische Biografien. Das Buch über Selma Lagerlöf war ein Geschenk von ihm, und sobald sie es ausgelesen hat, wird sie darüber sprechen wollen. Sicher eine Minute lang steht er da und beobachtet sie, bevor sie ihn bemerkt. Sie schaut im selben Moment auf, in dem sie umblättert.

»Möchtest du was?«

»Nur dir sagen, wie schön du bist.«

Sie lächelt kurz und widmet sich sofort wieder dem Lesen.

Er zögert, fährt dann fort: »Ich wollte noch einen Abendspaziergang machen. Kommst du mit?«

Birgitta dreht den Arm, schaut auf die Uhr.

»Es ist schon nach zehn. Ich überlege eigentlich, ob ich nicht ins Bett gehe. Außerdem können wir Penny ja wohl kaum allein lassen.«

»Nein, stimmt«, sagt er. »Dann geh ich eben allein. Und du, warte nicht auf mich.«

Ja, es war ein langer Tag. Sein Kopf ist noch so voll und gleichzeitig so leer, dass er sich schämt. Wieso hat er überhaupt gefragt, ob Birgitta mitkommen will? Selbst wenn sie im Ort blieben, könnten sie das Enkelkind ja schlecht allein zurücklassen. Penny ist erst zweieinhalb. Sollte sie aufwachen und merken, dass sie allein ist, würde sie bestimmt Panik bekommen. Vielleicht würde sie aufstehen und sich verletzen. Schon die Vorstellung beunruhigt ihn.

Seine Frau neigt den Kopf etwas. In ihrem Blick liegt kein Vorwurf, nur leichte Sorge.

»Willst du wirklich um die Zeit noch raus?«, fragt sie.

Die Sonne ist vor etwas über einer halben Stunde untergegangen, aber bis die Dunkelheit vollends siegt, dauert es sicher noch eine knappe Stunde.

»Ich nehme eine Taschenlampe mit«, sagt er.

Birgitta nickt und versinkt wieder in ihrem Buch. Ein paar Sekunden lang zögert er noch, will ihr eigentlich erzählen, was alles an diesem Tag passiert ist – aber er wüsste nicht, wo er anfangen sollte. Nein, er muss jetzt erst mal spazieren gehen. Den Kopf freikriegen. Einen Entschluss fassen. Sie können morgen reden.

Er geht in den Flur, zieht die Turnschuhe an, aber lässt die Taschenlampe liegen. Im Ort gibt es schließlich Straßenlaternen, richtig dunkel wird es ja doch nie.

Er tritt hinaus auf die Veranda und atmet tief die noch warme Juliluft ein. Es riecht nach Tang und Salz. Es ist windig, das Meeresrauschen ist das lauteste Geräusch. Wie nah sie der Natur hier sind. Lindsdal hinter sich zu lassen und ein Haus in Össby im Südosten von Öland zu kaufen, hat das Rentnerdasein erträglich gemacht.

Direkt vor dem kleinen Gartentor bleibt er noch einmal stehen. Er schaut zum Ort, hat aber keine Lust, in diese Richtung zu gehen. Das Meer übt eine wesentlich größere Anziehungskraft aus, also startet er dorthin. Normalerweise kann er mit Blick auf das Wasser bestens seine Gedanken ordnen. Schon bald hat er die letzte Laterne hinter sich gelassen, der Asphalt ist Kies und Gras gewichen.

Ein Knistern lässt ihn herumfahren, aber da ist niemand. Er bezweifelt, dass zu dieser Uhrzeit noch einer der Nachbarn unterwegs ist. Vermutlich war es ein Tier. Oder der Wind. Der ist nämlich stärker, seit er aus dem Schutz der Häuser herausgetreten ist.

Vielleicht hätte er doch besser die Taschenlampe mitgenommen. Es wimmelt nur so von Schatten. Er schiebt das mulmige Gefühl beiseite und folgt dem Pfad durch das hohe Gras. Noch kann er diesen leicht erkennen. Unten am Strand, wo Penny so gern im Wasser planscht, biegt er ab. Früher hatten sie nur einen Garten und eine Schaukel zu bieten, jetzt können sie zu Fuß ans Meer und zum Alvar.

Wenige Meter vom Ufer entfernt, bleibt er stehen und schaut auf die Ostsee. Der Wind heult. Das müssen ordentlich Knoten sein, draußen auf dem Meer. Eine Welle rollt heran, und als sie bricht, bildet sich weißer Schaum. Die See ist wild.

Wieder knackt es hinter ihm, lauter diesmal, und er schaut sich um, aber auch jetzt ist nichts zu entdecken. Diese Ängstlichkeit ist neu für ihn. Seit er nicht mehr arbeitet, grübelt er viel mehr, außerdem ist da eine Rastlosigkeit in ihm, die er einfach nicht loswird.

Er schließt die Augen und lauscht den tosenden Wellen. Etwas lässt ihn die Augen öffnen. Fast direkt vor ihm stürzt sich eine Sturmmöwe aufs Wasser. Sie wird von einer dunklen, falkenähnlichen Erscheinung verfolgt. Die Möwe hat einen Fisch im Schnabel und ändert abrupt die Richtung, steigt wieder in den Himmel. Ihr Verfolger ist ebenfalls eine Möwe, vermutlich eine Schmarotzerraubmöwe. Die Sturmmöwe versucht vergeblich, ihre Beute zu verteidigen, doch die Raubmöwe ist zu dicht dran, sie muss ihre Beute fallen lassen. Der Fisch knallt auf die Wasseroberfläche, und die Raubmöwe taucht hinter ihm her.

Er hat die Szene noch vor Augen, als die Vögel längst weg sind. So etwas hat er noch nie aus nächster Nähe beobachtet. Die Raubmöwe ist so aggressiv und gleichzeitig so dosiert vorgegangen. Die natürliche Ordnung. Manche Dinge lassen sich kaum ändern. Er hat es versucht, aber so kann er nicht weitermachen, er muss sich den Konsequenzen stellen. Die ganze Wahrheit sagen. Erst Birgitta, dann Hanna.

Er will sich gerade umdrehen, als ihn ein heftiger Schlag am Kopf trifft. Der Länge nach fällt er auf den Strand. Eine Welle rollt über ihn. Das Wasser ist eiskalt. Er richtet sich auf, dreht sich um und stöhnt schmerzerfüllt. Durch Wasser und Schmerz kann er kaum sehen, erkennt das Gesicht erst, als es direkt über ihm ist. Vor Wut und Hass ist es hässlich verzerrt. Er will danach schlagen, aufstehen, aber sein Körper gehorcht nicht.

Wäre ich bloß zu Hause geblieben, denkt er, als sich die Hände um seinen Hals schließen.

MITTWOCH, 21. JULI

1

Hanna Duncker riss den Stoffbeutel aus dem Fahrradkorb an sich und eilte zu Isak, der mit seinem Rad kämpfte, damit es nicht kippte. Hedvig hatte die Kühe entdeckt, die sich frei an dem Steinstrand unterhalb der Wallburg von Sandby bewegten.

»Muuuuh!«, kreischte sie und wippte in ihrem Fahrradsitz auf und ab.

Muh war eins von fünf Wörtern, aus denen sich ihr derzeit noch stark begrenzter Wortschatz zusammensetzte. Die anderen waren Mama, Papa, hell und Aje. Letzteres war die Universalbezeichnung für alles, was sie mochte. Hanna übernahm das Rad, damit Isak ihre Tochter abschnallen und aus dem Sitz heben konnte.

»Aje«, sagte Hedvig und drückte mit den Händen gegen Isaks Oberkörper.

Offensichtlich wollte sie auf den Boden gestellt werden. Isak unternahm einen halbherzigen Versuch, ihr zu erklären, dass sie wesentlich schneller ans Ufer kamen, wenn er sie noch ein Stück trug, aber ließ ihr schon bald ihren Willen.

»Du wirst immer besser«, sagte Hanna und schüttelte lachend den Kopf. »Diesmal hast du ganze drei Sekunden gegengehalten.«

Schon häufiger hatten sie darüber gescherzt, dass Hedvig eine verwöhnte Göre werden würde. Eine große verwöhnte Göre: Isak war etwas über einsneunzig, Hanna selbst einsfünfundachtzig. Isak musste den Oberkörper fast im Neunziggradwinkel abknicken, um Hedvig an den Händen zu führen. In einem Monat wurde sie ein Jahr alt, aber allein laufen konnte sie noch nicht.

»Muuuuh!«, kreischte Hedvig noch mal und zog an Isaks Armen, um schneller voranzukommen.

Kühe lockten offenbar mehr als die Aussicht, im Wasser zu planschen.

»Denk doch mal an den Rücken deines armen Vaters«, protestierte Isak und sah sich nach Hanna um, die wieder über ihn lachte.

»Wenn du Mitleid willst, suchst du es bei der Falschen.«

Hanna schleppte die Sachen mit. Nach wenigen Metern blieb sie stehen und breitete die Decke auf einem Fleckchen Sand aus. Es war kurz nach acht, und abgesehen von den Kühen waren sie allein. Hedvig war um sechs aufgewacht. Dann hatten sie gefrühstückt und sicher eine Stunde mit Bauklötzen gespielt, ehe sie sich zu diesem Fahrradausflug entschlossen. Als Lehrer hatte Isak einen Großteil des Sommers Ferien. In den letzten Wochen hatten sie das meiste zusammen unternommen. Ab August würde er in Elternzeit gehen, und sie würde wieder anfangen zu arbeiten.

Hanna erschauderte und setzte sich auf die Decke. Obwohl sie eine Strickjacke trug, war ihr kalt. Laut Thermometer waren es knapp über zwanzig Grad gewesen, als sie das Haus in Södra Näsby verlassen hatten, aber dort war es bedeutend weniger windig. So waren die Sommer auf Öland eben, dachte sie. Eigentlich suchte man ständig nach einem windstillen Plätzchen.

Sie beobachtete Isak und ihre Tochter. Am liebsten hätte sie das Kind Iris genannt, nach ihrer Großmutter, die wenige Wochen vor Hedvigs Geburtstag an Corona gestorben war, aber Isak hatte Einwände gehabt. Eine Ex-Freundin von ihm hieß so. Also waren sie bei Hedvig gelandet. Einfach, weil der Name schön war und weil sie sofort wie eine Hedvig ausgesehen hatte. Der Gedanke, dass Hedvig und ihre Uroma sich nie kennenlernen würden, machte Hanna immer noch traurig.

Zum Ende hin war es schnell gegangen, an den letzten Tagen war Hannas Oma praktisch nicht mehr ansprechbar gewesen. Die letzte nennenswerte Unterhaltung lag aufgrund der Demenz bereits lange zurück, trotzdem hatte Hanna erst nach ihrem Tod richtig trauern können. Als es nicht mal mehr eine Hülle gab, an die sie sich klammern konnte. Die Beerdigung war klein und still gewesen. Außer Hanna und Isak waren nur ein paar ältere Freunde erschienen. Hannas Bruder Kristoffer hatte sich gegen die Teilnahme entschieden, weil er London nicht verlassen wollte.

Ich habe eine Familie. Der Gedanke verwirrte Hanna noch immer. Hedvigs erste Lebensmonate waren eine einzige Achterbahnfahrt der Gefühle gewesen. Mittlerweile fühlte sich Hanna stabiler, trotzdem war die Umstellung enorm und manchmal noch schwierig. Vor weniger als drei Jahren hatte sie noch allein in Stockholm gewohnt und praktisch nur für ihren Job gelebt. Die Entscheidung, wieder nach Öland zu ziehen, hatte wirklich alles verändert. Sie hatte nicht nur die Liebe gefunden und war Mutter geworden. Ihr Vater war nicht länger ein Mörder. Axel Sandsten und Sven-Otto Jensen saßen wegen des Mordes an Ester Jensen im Gefängnis, und das würde auch noch mindestens zehn weitere Jahre so bleiben. Die Berufung war abgelehnt worden. Hanna hatte das Gefühl, dass sie endlich aus einem langen Albtraum aufgewacht war. Kristoffer hatte sich mit seiner Tochter Ella zum Besuch angekündigt, und Hanna freute sich darauf, dass die beiden Cousinen einander nun bald kennenlernen würden.

»Muuuh!«

Hedvig streckte die Hand nach den Kühen aus. Sie wollte die Tiere anfassen, aber Isak hielt sie zurück.

»Aje!«

Frustriert versuchte Hedvig, sich loszureißen. Die Kühe setzten sich langsam in Bewegung, weg von ihnen, hin zur Wallburg von Sandby. Von allen Wallburgen auf Öland war diese die Einzige, die direkt am Wasser lag. Im 5. Jahrhundert hatte dort ein Massaker stattgefunden. Viele hielten diesen Ort deshalb noch immer für unheilvoll, aber Hanna war nicht abergläubisch. Sie nahm hier eigentlich nur die wohltuende Stille wahr.

»Aje!«, kreischte Hedvig noch einmal.

Hanna stand auf und ging zu ihrer Tochter.

»Komm, wir gehen baden«, sagte sie.

Hedvig schaute den Kühen sehnsüchtig nach, aber protestierte nicht, als Isak sie in die andere Richtung drehte. Sie ließ sich bis zur Decke bringen. Hanna krempelte sich die Hosenbeine hoch, zog sich und Hedvig die Schuhe aus und der Tochter auch noch die Hose.

»Ich bleibe hier«, sagte Isak.

Seine Toleranzgrenze für kaltes Wasser war bedeutend niedriger als ihre. »Baden« bedeutete für Hedvig gerade glücklicherweise auch erst, im Wasser zu stehen und mit den Beinen zu stampfen, dass es spritzte. Als Hanna klein war, hatte sie hier nie ins Wasser gedurft. Teils wegen der Burg, teils wegen der Strömung. Ein Nachbar war mal abgetrieben worden und ertrunken. Darüber würde Hanna noch mit Hedvig sprechen, wenn sie alt genug war. Sie wollte ihrer Tochter beibringen, wie sie sich vor echten Gefahren schützte, ihr aber nicht grundlos Angst machen.

Der Wind kam aus westlicher Richtung, und das Wasser war ziemlich kalt, aber irgendwie war diese Kälte angenehmer als die der Luft. Das Meer hatte schon immer eine große Anziehungskraft auf sie gehabt. Das kalte Wasser machte sie richtig munter. Der schlimmste Schlafmangel gehörte der Vergangenheit an, denn seit ein paar Monaten schlief Hedvig meist schon durch, auch wenn sie sehr früh wach wurde.

So fühlt sich Glück an, dachte Hanna, die Hedvigs Hände hielt. Ihre kleinen Finger waren so warm. Sie hob das eine Bein, blieb kurz so stehen, bis sie den Fuß ins Wasser rammte.

»Baaa!«, quietschte sie vergnügt.

Vielleicht näherte sie sich ihrem sechsten Wort an. Baden. Hedvig machte gerade rasend schnelle Fortschritte.

Nur eins trübte gerade Hannas Glück, denn ihre Gedanken schweiften immer wieder zu jemandem, an den Hanna absolut nicht denken wollte: zu Markus Bergman, dem Halbbruder Axel Sandstens, den sie anfangs nur unter seinem Spitznamen Soffan gekannt hatte. Er hatte bereits mehrfach versucht, Hanna zu töten. Erst wollte er sie überfahren, dann hatte er ihr Haus in Brand gesteckt, dann versucht, sie zu erstechen, und vor einem knappen Jahr war er plötzlich bei ihr und Isak aufgetaucht und durchs Küchenfenster eingebrochen. Isak hatte sich im Schuppen versteckt, sie war davongelaufen, um Markus vom Hof zu locken. Ein weiteres Mal war sie entkommen, und seither hatte sie nichts von ihm gehört. Allzu gern hätte sie geglaubt, dass er beschlossen hatte, sie in Ruhe zu lassen, aber das bezweifelte sie stark.

2

Erik Lindgren schloss sein Fahrrad vor der Wache an den Ständer, nahm den Helm ab und fuhr sich mit der Hand durch das verschwitzte Haar. Dieses Jahr nahm er seinen Urlaub etappenweise, weil sie wegen der Weltlage die Indienreise ausfallen ließen. Sie wollten nicht riskieren, in Mumbai zu stranden, sollte sich die Pandemielage zuspitzen. Im Juni waren er, Supriya und Nila eine Woche in Abisko gewesen. Erik hatte zum ersten Mal Nordschweden im Sommer besucht, die Mittsommersonne erlebt. Anfang August hatte er wieder Urlaub, damit er so viel Zeit mit seiner Tochter verbringen konnte wie möglich, bevor die Schule wieder anfing und Nila in die dritte Klasse kam.

Erik betrat das Polizeirevier und nickte einem Kollegen zu. Im Sommer lief alles in gemäßigterem Tempo. Man konnte die Pandemie fast vergessen. Denn mit dem Anstieg der Temperaturen war die Zahl der Ansteckungen gesunken, und es war viel leichter, draußen Dinge zu unternehmen. Derzeit fehlten zwei Mitglieder ihrer Ermittlungsgruppe: Hanna Duncker war in Elternzeit und Carina Hansson im Urlaub. Sie schien auch im Begriff, sich aus dem Dienst zu verabschieden, ganz wie ihr ehemaliger Chef Ove Hultmark. Man merkte richtig, dass die Polizeiarbeit sie nicht mehr erfüllte, da war kein Funke mehr. In der letzten Woche vor ihrem Urlaub hatte sie pausenlos von ihrem Garten erzählt, sodass Erik ihr irgendwann aus dem Weg gegangen war.

Aus dem Großraumbüro hörte er Daniel Lilja laut lachen. Erik blieb in der Tür stehen, hätte gern was von dem Telefonat aufgeschnappt, aber der Kollege hatte schon aufgelegt.

Daniel schaute auf, sah ihn und wirkte ertappt.

»Mit wem hast du gesprochen?«, fragte Erik.

»Niemand Besonderem«, sagte Daniel, dabei wurden seine Wangen leicht rot.

»Du kannst es ja doch nicht lange geheim halten«, sagte Erik.

»Ich weiß nicht, was du meinst.«

Daniel hatte offenbar jemanden kennengelernt, aber anders als sonst wollte er nichts über ihn erzählen. Als einziger Grund dafür kam Erik in den Sinn, dass irgendetwas mit diesem Menschen besondere Vorsicht nötig machte. Oder aber es war diesmal was Ernsteres. Wenn es jemanden gab, dem Erik wünschte, endlich die große Liebe zu finden, dann Daniel. In den fünf Jahren, seit er Daniel kannte, war dieser auf unzähligen Dates gewesen, aber mit keinem hatte es funktioniert.

Gertrud Nylander betrat das Büro direkt nach Erik, weshalb er das Thema ruhen ließ. Gertrud war nun schon ein knappes Jahr ihre Chefin. Sie war nur etwa einen Meter fünfzig groß und hatte kurzes weißes Haar – wodurch sie älter aussah als neunundvierzig. Sie stammte ursprünglich von Gotland, aber ihr Akzent hatte sich etwas verschliffen. Der eigentlich so sanfte Dialekt kollidierte mit ihrer direkten, schroffen Art. Soweit Erik wusste, hatte sie zuvor fast ausschließlich in Stockholm gearbeitet.

»Amer macht heute frei, sein Sohn ist krank«, sagte Gertrud. »Ihr beide müsst als Erstes nach Össby im Südosten Ölands fahren.«

»Was ist passiert?«, fragte Daniel.

»Ein Toter wurde im Wasser gefunden. Noch ist unklar, ob es sich um ein Verbrechen handelt.«

»Wer hat es gemeldet?«

»Jemand, der ihn beim Morgenspaziergang gefunden hat.«

»Weißt du sonst noch was?«, fragte Daniel weiter.

»Nein.« Ihre Irritation zeigte sich an einer Falte zwischen ihren Augenbrauen. »Fahrt einfach hin und stellt erst mal fest, ob es sich überhaupt um einen Todesfall handelt, in dem wir ermitteln müssen.«

Sie verließ das Büro, und Erik schluckte die Frage herunter, die ihm selbst auf der Zunge gelegen hatte. Die nach der Identität des Toten. Daniel schaltete seinen Computer ab und stand auf.

»Ove wohnt in Össby«, sagte er.

»Ich weiß«, sagte Erik. »Aber er ist wohl kaum der Einzige, der dort wohnt. Zumindest im Sommer.«

Schweigend gingen sie in die Tiefgarage. Erik hatte keine Ahnung, wie viele Einwohner es im Ort gab. Hundert? Fünfzig? Vielleicht noch weniger? Im Sommer vervielfachte sich die Zahl aber immer. Vermutlich handelte es sich um einen Touristen, der ertrunken war. Der die Strömung unterschätzt hatte. Vielleicht gab es auch eine natürliche Todesursache, auf der Insel lebten schließlich viele alte Menschen.

»Ich fahre«, sagte Daniel, als sie fast beim Auto waren.

»Okay«, sagte Erik. »Wenn du mir erzählst, wer …«

»Keine Chance.«

Kaum saßen sie im Wagen, zückte Erik das Handy und schickte Ove eine SMS.

Wir sind unterwegs nach Össby. Wird dir das Rentnerleben schon langweilig? Dann kannst du gern dazustoßen.

Ove und seine Frau Birgitta hatten das Haus in Össby vor etwa einem Jahr gekauft, und bisher schien er ganz glücklich mit dem Entschluss, in Pension zu gehen. Bisher wusste er offenbar noch nicht, was er mit seiner Zeit anfangen könnte, aber innerhalb des Teams liefen schon die Wetten. Amer hatte hundert Kronen darauf gesetzt, dass Ove in die Alpakazucht einsteigen würde, Daniel darauf, dass er über kurz oder lang nach Spanien zog, nur Erik glaubte, dass er es sich noch mal überlegte und wieder zurückkam. Sein Ruhestand war wirklich eine Überraschung gewesen. Anfangs dachte Erik, dass Birgitta oder Ove selbst ernsthaft krank geworden war, aber das schien nicht der Fall zu sein.

»Hast du was von Amer gehört?«, fragte Daniel.

»Nicht seit er sich gestern verabschiedet hat«, sagte Erik. »Wieso?«

»Er hat letzte Woche erzählt, dass sie mit dem Ältesten zur Kinderärztin wollen, um ihn durchchecken zu lassen. Er hat vielleicht eine Krankheit, die sein Immunsystem schwächt.«

Amers Sohn war sechs und seine Tochter zweieinhalb. In den letzten Monaten hatte er oft nicht zur Arbeit kommen können. Erik zückte erneut das Handy und schickte auch ihm eine SMS:

Hab gehört, dass du heute zu Hause bist. Wie ist die Lage im Krankenzimmer?

Die Antwort kam sogleich:

Er hat Fieber, sonst geht es ihm aber gut. Frühstückt gerade Eis vorm Fernseher.

Während sie über die Ölandbrücke fuhren, schaute Erik aufs Meer. Hanna hatte ihm mehrfach erzählt, wie schön sie es fand, in diese Richtung über die Brücke zu fahren. Weil das ihr Heimweg war. Klar, die Aussicht war toll, aber die Richtung spielte für Erik dabei tatsächlich keine Rolle. Vor fünf Jahren war er nach Kalmar gezogen, und er fühlte sich dort sehr wohl – aber das tat er eigentlich immer, egal, wo er wohnte. Ihm hatte es in Malmö gefallen, wo er aufgewachsen war, in Stockholm, wo er studiert hatte, und in Mumbai, wo er und Supriya ihre ersten gemeinsamen Jahre verbracht hatten.

Im August würde Hanna endlich aus der Elternzeit zurückkommen. Ihm fehlte es, mit ihr zu arbeiten, mehr als er je hätte vorhersehen können. Es hatte ja ein bisschen gedauert, bis sie sich eingespielt hatten. Er hatte sie sehr verschlossen und kompliziert gefunden, und ihr war sein ewiges Geplapper auf die Nerven gegangen. Er fand, dass er sich in dem Punkt etwas verbessert hatte, war sich aber nicht sicher, ob Hanna das genauso sehen würde.

»Entschuldige, aber dir ist schon klar, dass ich nicht lockerlassen kann, oder?«, fragte Erik. »Es ist nicht meine Schuld, dass ich so neugierig bin.«

Daniel lächelte übertrieben und zog auf die äußerste Spur, um ein Auto mit Wohnwagen zu überholen. Eigentlich gab es nicht weniger Stau als sonst im Sommer. Zwar waren gerade keine ausländischen Touristen da, dafür machten mehr Schweden im eigenen Land Urlaub. Kaum hatten sie die Brücke hinter sich gelassen, steuerten die meisten den nördlichen Teil der Insel an. Össby lag an der Südspitze, und Google Maps hatte eine Stunde Fahrtzeit vom Revier bis dorthin veranschlagt, aber sie schafften es schneller.

»Warst du schon mal hier?«, fragte Daniel, als sie das Ortsschild passierten.

»Nein, noch nicht, obwohl Ove ja ausdrücklich gesagt hat, wir sollten ihn mal besuchen. Du?«

»Seit über zehn Jahren nicht. Eine aus meiner Klasse hat da gewohnt, und als ihre Eltern mal in Griechenland waren, hat sie eine riesige Party für die ganze Klasse geschmissen.«

»Manchmal vergesse ich, wie jung du bist«, sagte Erik. »Unfassbar, in den Neunzigern geboren.«

»Du verdrängst wohl eher, wie alt du bist«, konterte Daniel. »Ich bin zwar in den Neunzigern geboren, aber trotzdem schon einunddreißig.«

Sie fuhren durch das spärlich besiedelte Dorf, so weit die Straße es zuließ. Irgendwann ging der Asphalt in Kies über. Ein Mann mittleren Alters in Tarnhose und grauer Kapuzenjacke stand auf einem Hügel. Er eilte auf sie zu, und Daniel parkte, damit sie aussteigen konnten.

»Sind Sie von der Polizei?«

»Ja«, sagte Erik. »Am besten zeigen Sie uns den Weg.«

»Er liegt direkt hier unten«, sagte der Mann. »Ich wollte ihn nicht aus den Augen lassen.«

Sie folgten dem Mann auf den Hügel. Der Strand war schmal, aber lang, und wenige Meter entfernt lag ein Mensch im Wasser. Turnschuhe, Jeans, Pulli. Mehr war nicht zu erkennen.

»Ein paar Leute wollten hier vorhin schwimmen gehen«, erklärte der Mann. »Aber ich habe sie weggeschickt, bevor sie was sehen konnten. Ich habe ihnen gesagt, dass die Polizei unterwegs ist, aber nicht warum …«

Er biss sich auf die Lippe und wandte sich vom Meer ab.

»Ich bin Reservist«, fuhr er fort, »hab einige Übungen mitgemacht, aber ich habe noch nie … Ich hätte nicht gedacht, dass ich so reagiere.«

»Waren Sie bei ihm?«, fragte Daniel.

»Ja«, antwortete der Mann. »Ich wollte schauen, ob er Hilfe braucht, aber man hat direkt gesehen, dass er tot ist. Dazu musste ich ihn nicht anfassen.«

»Bleiben Sie bitte hier«, sagte Erik.

Er machte sich auf den Weg über den schmalen Strand, Daniel dicht auf den Fersen. Anfangs ging er langsam, dann immer schneller.

Der Mann lag auf dem Bauch, direkt am Ufer. Schuhe und Jeans kamen ihm bekannt vor, aber das waren so gewöhnliche Kleidungsstücke, daraus konnte er noch nichts schließen. Als sie noch wenige Meter entfernt waren, schwappte eine Welle über den Kopf, spülte die Haare vom Gesicht. Erik blieb wie angewurzelt stehen.

Ove.

Ove lag tot am Ufer.

Erik schaute zu Daniel, der nun neben ihm stand. Er schien die Reaktion seines Kollegen zu brauchen, um sich zu vergewissern, dass er da wirklich sah, was er sah. Vielleicht ging es Daniel ähnlich, denn einen verzweifelten Augenblick lang starrten sie einander an. Dann richtete Erik den Blick wieder nach vorne.

Er hatte schon so viele Tote gesehen, das ließ sich gar nicht mehr zählen. Aber nun lag Ove vor ihm. Oves Jeans. Oves Schuhe. Jede gemeinsame Erinnerung schien gleichzeitig über ihn hereinzubrechen. All die Stunden bei Morgenbesprechungen, bei ihm im Büro, im Großraumbüro. Dort gehörte er hin. Am liebsten wäre Erik zu ihm gerannt, hätte ihn aus dem kalten Wasser gezogen. Er wusste zwar, dass das keinen Unterschied machen würde, trotzdem war das Bedürfnis da. Eine weitere Welle spülte über Oves Kopf, legte ihm die Haare wieder übers Gesicht.

Ein Schrei ließ Erik herumfahren. Der Mann, der Ove gefunden hatte, hielt Birgitta fest, wollte verhindern, dass sie zu ihnen rannte. Sie sackte zu Boden, und Daniel eilte zu ihr. Nach einem letzten Blick auf Ove wandte sich auch Erik ab und folgte ihm.

»Bitte«, schluchzte Birgitta. »Bitte, sagt, dass er es nicht ist.«

3

Mit einem Grunzen rollte Hedvig sich vom Rücken auf den Bauch, aber sie wachte nicht auf. Hanna betrachtete ihre Tochter. Ihre kleine, runde Nase, das weißblonde Haar, den Windelpopo, der sich in die Höhe schob, die zuckenden Augenlider. Offenbar träumte sie. Isak kam mit zwei Kaffeetassen aus dem Haus, und Hanna ließ vom Kinderwagen ab. Sie setzten sich auf die kleine Steintreppe. Hedvig war nach dem Ausflug zur Sandby borg so aufgedreht gewesen, dass es fast eine Stunde gedauert hatte, bis sie endlich eingeschlafen war. Hoffentlich würde sie jetzt lange schlafen.

»Prost«, sagt Isak und stieß mit der Tasse an.

Hanna trank vorsichtig einen Schluck Kaffee. Sie liebte ihn schwarz, Isak nahm immer etwas Milch dazu. Schweigend saßen sie da, bis sie ausgetrunken hatten. Hanna mochte es, mit Isak zu schweigen. Ihre früheren Beziehungen ließen sich an einer Hand abzählen, und zusammen hatte sie mit keinem ihrer Ex-Freunde gewohnt. Einer hatte sich mal beklagt, dass sie zu still war. Ein anderer, dass sie zu viel arbeite. Bei Isak hatte sie das Gefühl, einfach so sein zu können, wie sie war.

»Was machen wir heute Nachmittag?«, fragte sie.

»Du wolltest backen«, sagte er. »Oder hast du schon vergessen, dass du dich um den Nachtisch kümmern wolltest?«

»Ach, stimmt ja.«

Sie hatten Rebecka Forslund und ihre Familie eingeladen. Rebecka war eine Kindheitsfreundin von Hanna, die nie aus Gårdby weggezogen war. In den sechzehn Jahren, die Hanna in Stockholm lebte, hatten sie den Kontakt verloren. Das lag vor allem daran, wie Hanna damals aufgebrochen war. Wenige Tage nach dem Schulabschluss war sie einfach ohne ein Wort abgehauen. Hanna war der Meinung gewesen, keine andere Wahl zu haben. Ihr Vater saß wegen Mordes im Gefängnis, und Hanna hatte gefürchtet, das Ganze nicht durchzuziehen, wenn sie vorher mit Rebecka gesprochen hätte. Jetzt war der Mord an Ester Jensen nicht länger etwas, das zwischen ihnen stand, nein, er verband sie vielmehr. Als Ester ermordet wurde, war Rebecka mit Axel Sandsten zusammen gewesen, der nun für den Mord verurteilt war. Und sie wusste nur zu gut, was ein Verlust bedeutete, denn vor zwei Jahren war ihr fünfzehnjähriges Kind getötet worden.

»Ich kann zum Einkaufen zu Almérs fahren«, sagte Isak.

»Ich schau erst mal, was wir noch haben«, sagte Hanna. »Wenn noch Kakao da ist, mache ich einfach einen Schokokuchen. Mehl und Butter sind auf jeden Fall noch da, das weiß ich, und Eier sind ja immer in Greifnähe.«

Einer ihrer Nachbarn hielt Hühner. Isak wollte gern selbst welche anschaffen, aber Hanna war nicht überzeugt. Eine Katze erschien ihr einleuchtender. Es war ihnen erstaunlich leicht gefallen, einen Rhythmus zu finden, nicht zuletzt dank Hedvig. Als sie auf die Welt kam, hatten sie gerade mal seit acht Monaten zusammengelebt.

»Ein Glück, dann musst du dich nächsten Samstag nicht um den Nachtisch kümmern«, sagte Isak.

Er grinste, und Hanna tat so, als wollte sie sich auf ihn stürzen. Eine alte Klassenkameradin von ihr kümmerte sich um das Essen, sogar um die Torte. Rebecka hatte den Kontakt vermittelt, sie wusste, wer noch auf der Insel lebte. In zehn Tagen würde Hanna heiraten. Sie würde Isak heiraten. Der Gedanke ließ sie lächeln.

»Woran denkst du?«, fragte Isak.

Hanna öffnete gerade den Mund, um zu antworten, da fing ihre Tochter an zu schreien. Hanna stellte die leere Tasse auf die Stufe und stand auf. Hoffentlich bekam sie Hedvig schnell dazu, wieder einzuschlafen. Doch nach gerade mal einem Schritt zum Kinderwagen klingelte ihr Handy. Sie zog es aus der Tasche: Erik. Sie war sich ziemlich sicher, dass er gerade im Dienst war. Da würde er nicht anrufen, um zu plaudern.

»Das muss ich annehmen«, sagte sie.

Also eilte Isak zu Hedvig. Aus dem Augenwinkel sah Hanna, dass er anfing, den Kinderwagen vor- und zurückzuschieben. Um die beiden nicht zu stören, entfernte sie sich ein Stück, ehe sie ans Telefon ging.

»Was machst du gerade?«, fragte Erik.

Schon am Ton erkannte Hanna, dass etwas passiert sein musste.

»Was ist los?«

»Bist du zu Hause?«

»Ja. Isak und Hedvig sind auch hier.«

Sofort packte sie die Panik. War Markus Bergman unterwegs zu ihr? Sie fuhr zu Isak und Hedvig herum. Sie mussten sofort weg. Sollten sie lieber zum Nachbarn oder direkt den Wagen nehmen? Hedvig schrie noch immer, wenn auch etwas leiser, Isak schob auch schon langsamer.

»Ove ist tot.«

Ihr Kopf war so sehr mit potenziellen Fluchtmöglichkeiten beschäftigt, dass sie nicht gleich verstand, was Erik gesagt hatte. Aber offenbar hatte es nichts mit Markus zu tun. Sie erstarrte.

»Wie bitte?«

»Ove ist tot.«

Der einzige Ove, den Erik meinen konnte, war ihr ehemaliger Chef. Sie schloss die Augen im Versuch, den Schock abzuwenden. Fast hätte sie Erik gebeten, es ein weiteres Mal zu wiederholen. Dabei war sie sicher, dass sie ihn richtig verstanden hatte. Ove war tot. Vielleicht war er also doch wegen einer Krankheit in den Ruhestand gegangen? Aber wieso hatte er nichts gesagt?

»Wie?«, fragte sie. Mehr brachte sie einfach nicht heraus.

»Er wurde ermordet«, sagte Erik.

»Ermordet?«, wiederholte Hanna. »Von wem?«

Isak hörte auf, den Wagen zu bewegen, und blickte sie alarmiert an. Sofort wurde Hedvigs Gebrüll lauter.

»Unklar«, sagte Erik. »Er wurde gefunden. Am Strand. Wenige hundert Meter von seinem Haus entfernt.«

»Bist du gerade vor Ort?«

»Nein, Daniel und ich fahren gerade zurück zum Revier.«

»Ich mache mich auf den Weg.«

Irgendwie schaffte sie es, das Telefonat zu beenden, aber sie musste sich wappnen, bevor sie Isak in die Augen sehen konnte.

»Ove ist tot«, sagte sie.

Erst als sie die Worte laut ausgesprochen hatte, wurde ihr die Bedeutung vollends bewusst. Hanna hatte das Gefühl, es zerriss sie innerlich. Isak ließ den Wagen los und kam zu ihr.

4

Die Holztonne, in der Disa Sandsten Regenwasser sammelte, war leer. Also nahm sie die Gießkanne mit zur Seite des Hauses. Der alte Hahn war ordentlich verrostet und knirschte dumpf, als sie ihn aufdrehte. Erst nach ein paar Sekunden gluckerte Wasser heraus, aber obwohl er bis zum Anschlag aufgedreht war, blieb der Strahl dünn. Vielleicht sollte sie jemanden anrufen, um nach dem Hahn zu sehen, aber den Gedanken verwarf sie gleich wieder. Kaj hielt das sicher für Geldverschwendung. Am Anfang ihrer Beziehung hatte er sich selbst um so was gekümmert.

Unendlich langsam füllte sich die Gießkanne, und als sie etwa halb voll war, verlor Disa die Geduld und drehte das Wasser ab. Sie schaute von der Kanne zum Garten. Ihr Kopf war leer. Gerade wollte ihr nicht einfallen, welches Beet sie gießen musste.

Disa ließ die Kanne stehen und setzte sich auf die kleine gusseiserne Bank. Sitzfläche und Lehne bestanden aus zierlichen Blumen. Sie war sehr schön anzusehen, aber schrecklich unbequem. Die Sitzgruppe mit Kissen auf der Rückseite des Hauses war wesentlich schöner, doch bis dort schaffte sie es unmöglich. Disa schloss die Augen und reckte das Gesicht zur Sonne. Das Thermometer hatte zweiundzwanzig Grad gezeigt, als sie herausgekommen war. Aber in der Sonne, im Schutz des Hauses und der hohen Hecken, war es wärmer. Wärme konnte sie gut brauchen, denn ihr war kalt bis ins Mark.

»Hier versteckst du dich also?«

Disa öffnete die Augen und schaute den Mann an, mit dem sie seit achtunddreißig Jahren verheiratet war. Sie war gerade mal siebzehn gewesen, als sie sich kennengelernt hatten. Ausgerechnet in einem Bus. Er hatte sich neben sie gesetzt, und sie hatten angefangen, sich zu unterhalten. Ein Kaffee hatte zu einem Kinobesuch und dann einem gemeinsamen Restaurantbesuch geführt. Einen Monat später waren sie ein Paar, aber mit der Heirat hatten sie gewartet, bis Disa sieben Jahre später schwanger war.

»Ich verstecke mich nicht«, sagte sie.

»Was willst du denn zum Essen machen?«

Sie warf einen Blick auf die Armbanduhr.

»Es ist erst elf.«

»Ich weiß, ich habe aber schon Hunger.«

Darum kreisten ihre Gespräch mittlerweile. Was es zum Essen gab, was eingekauft werden musste. Praktisches. Bloß nichts sagen, was die schwarze Masse in ihrem Innern streifte: dass ihr einziges Kind wegen Mordes im Gefängnis saß. Wobei man das vorsichtiger formulieren musste. Es war ihr, Disas, einziges Kind. Kaj hatte schlussendlich zugegeben, dass er noch ein weiteres Kind mit einer anderen Frau gezeugt hatte, wobei er die Sache sofort heruntergespielt und schlecht von der Mutter dieses Kindes gesprochen hatte. Er behauptete, es habe sich um einen Flirt gehandelt und die Frau habe sich als totaler Psycho entpuppt, dabei war sie seine Assistentin gewesen. Disa wollte ihm glauben. Die Umstände konnten sich ändern, und zwar sehr schnell, das wusste sie jetzt besser als die meisten.

»Omelette mit Salat.«

Sie stand auf, ohne Kajs Reaktion abzuwarten. Seit dem Prozess und dem anschließenden Urteil war sie krankgeschrieben. Es war unmöglich geworden, im Pflegeheim zu arbeiten. Einerseits wurde getuschelt, andererseits wurde sie offen angegangen. Besonders von den Pflegebedürftigen. Einer der Bewohner hatte sie rausgeschmissen, eine andere hatte ihr an den Kopf geworfen, dass jemand, der zum Mörder wurde, keine gute Erziehung genossen haben konnte. In Anbetracht ihres eigenen Alters ging Disa davon aus, dass sie die Arbeit im Pflegeheim nicht wieder aufnehmen würde. Kaj schlug genau ins andere Extrem, er hatte noch nie so viel gearbeitet wie im Augenblick. Das hatte dazu geführt, dass die gesamte Hausarbeit an ihr hängen blieb. Sie kaufte ein, kochte, putzte und wusch. Früher hatte er manchmal gekocht. Dabei hatte sie gar nichts dagegen, das selbst zu übernehmen. Es hielt die Gedanken in Schach.

Kaj folgte ihr in die Küche.

»Der Zug fährt um kurz vor fünf, ich muss also gegen halb vier los, ungefähr.«

»Okay«, sagte sie.

Sie bekam das Gefühl, dass er etwas von ihr wollte, aber sie wusste nicht, was. Sie öffnete den Kühlschrank und holte die Eier heraus. Sammelte die Zutaten für den Salat zusammen. Tomaten, Mozzarella und Avocado.

»Was machst du in Kopenhagen?«

»Einfach ein Termin mit der Bank«, sagte Kaj.

Die Frage hatte ihn offenbar verärgert. Vielleicht hatte er sie ja schon einmal beantwortet. Ihr Gedächtnis ähnelte gerade einem Sieb. Jede Information flutschte einfach hindurch. Kaj hatte ihr vorgeschlagen, sich mal des wild wuchernden Gartens anzunehmen, schließlich hatte sie ja gerade Zeit. Und obwohl sie fast jeden Tag hinausging, kam sie kein Stück weiter. Sie hatte noch nie einen grünen Daumen gehabt. Am liebsten hätte sie Kaj gebeten, die Küche zu verlassen, aber sie konnte nicht.

»Hast du schon gepackt?«, fragte sie.

»Ja«, sagte er. »Ich bleibe höchstens zwei Nächte.«

Disa holte eine Schüssel aus dem Schrank und starrte die Eier an. Versuchte daraufzukommen, was noch fehlte.

»Soll ich Parmesan reintun?«, fragte sie.

»Gern«, sagte Kaj. »Außerdem möchte ich, dass du Axel etwas ausrichtest.«

Weil Kaj so viel arbeitete, besuchte sie ihren Sohn meist allein. Er saß in Kristianstad, und morgen wollte sie wieder hin. Die Fahrt dauerte zweieinhalb Stunden. Das war eigentlich viel zu lang für sie, schließlich war sie in den letzten fünfzehn Jahren fast nie Auto gefahren, aber sie musste Axel einfach so oft wie möglich sehen. Wollte von ihm wissen, wie es dazu hatte kommen können. Zumindest hatte sie das am Anfang gewollt. Jetzt war sie sich nicht mehr so sicher. Denn jeder Besuch bei ihm schien sie nur weiter auszuhöhlen, ohne sie der gewünschten Antwort auch nur ein Stück näherzubringen.

»Was soll ich ihm ausrichten?«, fragte sie.

Besser, es einfach zu machen. Einmal hatte sie ihm vorgeschlagen, selbst zum Telefon zu greifen oder einen Brief zu schreiben. Da hatte er sie nur ausgelacht, fand schon den Vorschlag lächerlich, schließlich fuhr sie ja hin.

»Die Privatdetektivin hat was über Rebecka zutage gefördert, das alles für uns ändern könnte.«

»Was denn?«

»Es ist besser, wenn ich dazu erst mal nichts sage. Aber mach dem Jungen ein bisschen Hoffnung.«

Kaj befürchtete wohl, dass sie sich verplapperte, wenn ein Vollzugsbeamter in der Nähe war. Disa nickte und schlug die Eier auf. Ein Stück Schale fiel in die Schüssel. Sofort überkam sie wieder die Schwere, und sie musste schluchzen. Natürlich wollte sie Axel Hoffnung schenken, aber sie wünschte, das ginge nicht auf Rebeckas Kosten. Die hatte schon genug gelitten. Weil Kaj neben ihr stand, nahm sie einen Löffel, um das Stück Schale aus der Schüssel zu fischen. Wäre sie allein gewesen, hätte sie den Finger genommen.

»Das kommt schon wieder in Ordnung«, sagte Kaj und legte ihr eine Hand an den Rücken. »Bald ist er wieder zu Hause.«

Disa nickte noch einmal, obwohl sie keineswegs glaubte, dass es schon wieder in Ordnung käme, egal, was diese Privatdetektivin auch fand. Ihr einziges Kind saß wegen Mordes im Gefängnis. Selbst wenn er bei einem weiteren Prozess freigesprochen werden sollte, blieb er doch für immer abgestempelt.

Der letzte Tag

Es ist gerade sieben Uhr durch, als Ove auf dem Parkplatz bei Seby aus dem Auto steigt. Toivo ist noch nicht da. Sie haben sich vor einer Stunde via Textnachricht hier verabredet. Das Unwetter der vergangenen Nacht könnte ein paar Regenpfeiferartige zur Zwischenlandung gezwungen haben.

Ove setzt die Kapuze seiner Regenjacke auf. Es nieselt nur, mehr nicht. Der Himmel ist mittelgrau mit helleren Flecken. Als könnte er jederzeit aufreißen. Ove liebt diese frühen Morgenstunden. In der Natur zu sein, wenn die sich praktisch reckt und streckt und langsam zum Leben erwacht. Es erfüllt ihn mit so tiefer Ruhe. Er geht zum Kofferraum, um das Spektiv zu holen, das Birgitta ihm zur Pensionierung geschenkt hatte. Birgitta ist fünf Jahre älter als er, aber als die Architekturfirma, für die sie gearbeitet hat, in Konkurs ging, entschieden sie sich beide für den Ruhestand. Und das, obwohl er erst in zwei Jahren sechzig wird. Das Spektiv ist ein Swarovski ATX mit Karbonstativ. Benutz das bitte oft, sagte Birgitta dazu. Für das Geld hätten wir auch ein ordentliches Auto bekommen. Er hat ihr einen Kochkurs geschenkt.

Heute Morgen hat er versucht, sich hinauszuschleichen, ohne sie zu wecken, aber ohne Erfolg. Und das, obwohl er sich extra eine Smartwatch mit allen möglichen Funktionen angeschafft hatte. Die hatte sogar einen Alarm allein mit Vibration, die er auch über Nacht trägt. Birgitta war mit ihm aufgestanden und hatte einen Kaffee mitgetrunken. Jetzt sitzt sie bestimmt auf der Veranda und liest. Sofern Penny noch nicht aufgewacht ist. Ihre Enkelin ist die ganze Woche bei ihnen, weil Emma gerade zur Filialleitung befördert wurde und ihr Mann ebenfalls viel zu tun hat. Kommende Woche fahren sie in Urlaub. Alle Töchter haben so unterschiedliche Wege eingeschlagen: Emma hat sofort nach dem Schulabschluss zu arbeiten angefangen, Julia hat in Uppsala Jura studiert und reist gerade durch Australien, wo sie sich mit Gelegenheitsjobs über Wasser hält. Die Jüngste, Ida, hat noch ein Jahr Schule vor sich. Als Schwerpunkt hat sie Kunst gewählt, und er geht stark davon aus, dass sie mal etwas Kreatives machen wird.

Da entdeckt er, dass sich der Spillkråkan langsam nähert. So nennen sie Toivos schwarzes Auto mit dem roten Dach, es ist das schwedische Wort für Schwarzspecht. Heute sind sie nur zu zweit. Jan-Åke ist im Krankenhaus, irgendwas wird am Bauch operiert, was genau, hat Ove vergessen.

Toivo steigt aus und nickt zur Begrüßung. Mehr ist nicht nötig. Ove setzt den Rucksack auf, und mit geschultertem Stativ machen sie sich auf den Weg zum Strand. Toivo und Jan-Åke sind schon lange Vogelbeobachter, und Jan-Åke zieht Ove nur zu gern wegen all dem auf, was er nicht weiß. Toivo ist ruhiger und einsilbiger. Es ist wesentlich angenehmer, mit jemandem Vögel zu beobachten, der sich nicht die ganze Zeit profilieren muss. Nach wenigen hundert Metern bleiben sie an einem Busch stehen und stellen die Stative auf.

»Da sind ein paar Kiebitze«, sagt Toivo.

Ove dreht am Fernglas, bis er sie ebenfalls entdeckt. Durch die Federholle auf dem Kopf ist der Vogel leicht zu erkennen. Ove beobachtet die Kiebitze eine Weile, dann sieht er einen hellen Watvogel mit langem, geradem Schnabel.

»Das ist eine Pfuhlschnepfe, oder?«, fragt er.

Wenn Jan-Åke dabei ist, hält Ove sich mit der Bestimmung sehr zurück. Einmal hat Jan-Åke ihn nämlich einen Blender genannt. Ove hatte nicht mal gewusst, was das heißen sollte, aber dann herausgefunden, dass man so Leute nennt, die so tun, als wüssten sie was, dabei verstehen sie eigentlich nichts davon. Aber wie soll er denn dazulernen, wenn er nicht versucht, auch Arten zu bestimmen, die er vor sich hat?

»Genau, eine Pfuhlschnepfe«, sagt Toivo.

Dabei hat Ove Kiebitze und Pfuhlschnepfen längst abgehakt. Er arbeitet nur die Schwedenliste ab, Toivo und Jan-Åke sind wesentlich ambitionierter, haben auch lokale Listen. Heute kann Ove nur eine Stunde bleiben, weil er und Birgitta Penny versprochen haben, nach Ottenby zu fahren. Penny möchte auf den Leuchtturm und Robben beobachten. Aber wer weiß, vielleicht flattert Ove ja selbst in dieser einen Stunde ein neuer Vogel vor die Linse.

Die Pfuhlschnepfe streckt sich, und plötzlich erheben sich alle Watvögel in die Luft. Ein großer Schwarm Alpenstrandläufer wendet hastig ab, ihre hellen Unterseiten werden von der Wasseroberfläche gespiegelt. Was für ein unglaublich schöner Anblick. In Momenten wie diesen vermisst er die Polizeiarbeit kein Stück, in anderen beschleicht ihn mehr und mehr der Zweifel: Hat er wirklich den richtigen Entschluss gefasst? Ihm fehlt die Aufregung. Klar, mit seiner kleinen Privatermittlung kompensiert er dies ein bisschen, aber allein zu arbeiten ist einfach nicht dasselbe. Besonders nicht, wenn seine treibende Kraft Schuldgefühle sind.

Ove schiebt die Gedanken weg und konzentriert sich wieder auf die Vögel. Ein Schatten erregt seine Aufmerksamkeit, also justiert er das Spektiv, stellt wieder scharf. Da ist ein Seeadler, sicher einen Kilometer entfernt.

»Wollen wir ein bisschen weiterziehen?«, fragt Toivo.

Sie packen zusammen und folgen dem Ufer bis zu dem Schild, das zum Schutz der Vögel den Zutritt nur auf den ausgezeichneten Wegen erlaubt.

Sie haben gerade alles wieder aufgebaut, als ein Jogger quer über den geschützten Bereich auf sie zuläuft.

»Idiot«, murmelt Toivo.

Der Jogger trägt Kopfhörer, bemerkt sie nicht mal. Jan-Åke hätte ihn vermutlich zur Rede gestellt. Einmal hat er eine Frau beschimpft, die sich einem Vogel zu weit genähert hat, um Fotos zu machen. So, wie er das sah, wollte sie lieber schöne Fotos rumzeigen als wirklich Vögel beobachten.

»Hast du den Teichwasserläufer schon abgehakt?«, fragt Toivo.

»Nein, noch nicht.«

»Ich habe einen im Visier.«

»Was? Im Ernst?«

Ove schaut zu Toivo, der nicht so wirkt, als würde er Witze machen. Hektisch fummelt Ove an seiner Ausrüstung herum, aber schlussendlich hat auch er den langbeinigen Watvogel mit dem dünnen, geraden Schnabel im Fokus. Trotzdem sticht er nicht so hervor, wie Ove gedacht hätte. Allein hätte er ihn wahrscheinlich für einen Bruchwasserläufer oder Grünschenkel gehalten. Wie gut, dass er ihn nicht zuerst entdeckt und dann laut das Falsche gesagt hat, auch wenn heute nur Toivo da ist.

Toivo zückt das Handy. Vermutlich will er die Sichtung mitteilen. Ove ist auch in ein paar Vogelgruppen aktiv, manchmal macht er sich auf den Weg, wenn ein interessanter Vogel nicht zu weit weg entdeckt wurde, aber er hat noch nie eine Sichtung durchgegeben. Bislang galt er nicht gerade als glaubwürdige Quelle.

Eine Weile lang beobachten sie den Teichwasserläufer. Soweit Ove weiß, ist dieser Watvogel in Südosteuropa heimisch. Offenbar ähneln sich die Feuchtgebiete sehr.

Die ersten Vogelbeobachter, die Toivos Nachricht angelockt hat, stoßen zu ihnen. Nach einem Blick auf die Uhr merkt Ove, dass er aufbrechen muss.

»Ich bleibe noch ein bisschen«, sagt Toivo. »Aber ich bringe dich noch zum Auto. Es gibt da was, worum ich dich bitten will.«

Ove nickt.

»Ich habe dir doch letztens von meiner Enkelin erzählt«, sagt Toivo. »Vielmehr von ihrem neuen Freund.«

Ove nickt noch einmal. Die Enkelin ist alles an Familie, was Toivo noch hat. Seine Tochter ist vor vielen Jahren bei einem Autounfall ums Leben gekommen, seine Frau starb wenige Monate später an einem Herzinfarkt. Ove weiß einiges über die Enkelin, unter anderem träumt sie davon, Architektin zu werden – wie Birgitta. Toivo ist allerdings davon überzeugt, dass der neue Freund ihre Zukunft zerstören wird.

»Ich habe wirklich in diese Gerichtsdatenbank Lexbase geschaut, wie du mir geraten hast«, fährt Toivo fort. »Und da gab es einen Eintrag. Er wurde mal wegen Verstoßes gegen das Betäubungsmittelgesetz verurteilt.«

Die Information erstaunt Ove. Beim letzten Mal hat er Toivo mit seinen Sorgen nicht wirklich ernst genommen, vielleicht, weil er sie ziemlich gut nachvollziehen kann. Seine jüngste Tochter Ida hat ebenfalls einen deutlich älteren Freund. Diesen Sommer haben sie Ida fast nicht gesehen. Nach einem weiteren Streit darüber, dass sie unbedingt mit diesem Freund zusammenziehen wollte, war sie mit einer Freundin nach Stockholm gefahren. Die Tasche mit dem Spektiv lastet nun schwer auf Oves Schulter, weshalb er sie auf die andere verlagert.

»Welche Strafe hat er bekommen?«, fragt er.

»Zwei Jahre Gefängnis. Er wurde vor fünf Jahren freigelassen.«

Bei einer so langen Haftstrafe musste es sich um ein grobes Vergehen gehandelt haben. Allmählich schwant ihm, was Toivo von ihm will.

»Das Urteil ist sieben Jahre alt«, sagt Ove im Versuch, ihn von dem Gedanken abzubringen. »Das muss erst mal nichts bedeuten.«

»Das ist mir klar«, sagt Toivo. »Aber auch ohne das Urteil macht der Kerl mich einfach nervös. Irgendwas stimmt mit dem nicht. Das ist mir schon bei unserer ersten Begegnung aufgefallen. Kannst du vielleicht etwas über ihn herausfinden?«

»Wie heißt er denn?«, fragt Ove – wenn auch in erster Linie, um Zeit zu gewinnen.

»Jacques Olsson.«

»Jacques?«

An den Namen würde er sich erinnern, wenn er ihm in den letzten Jahren dienstlich untergekommen wäre.

»Ja, die Mutter ist wohl aus Frankreich.«

Irgendwas an der Art, wie Toivo Frankreich sagt, lässt Ove lachen.

»Und du hast nicht nur Vorurteile gegenüber Franzosen?«

»Nein, absolut nicht. Bitte, Ove, kannst du den mal für mich prüfen?«

»Du, Toivo, das wird schwierig«, sagt Ove. »Ich arbeite ja nicht länger als Polizist, und selbst wenn ich noch im Dienst wäre, könnte ich nicht einfach so ins Register schauen.«

5

Hanna hatte gerade vor dem Polizeirevier geparkt. Sie starrte auf ihre Hände, die noch immer das Lenkrad umschlossen. Ove Hultmark war tot. Ermordet. Das fühlte sich immer noch schmerzhaft unwirklich an. An das erste Gespräch mit Erik erinnerte sie sich fast nicht. Sie hatte ihn unterwegs gleich zurückgerufen, um sich zu versichern, dass sie ihn richtig verstanden hatte. Da konnte Erik ihr schon weitere Details nennen. Ove hatte eine Platzwunde am Kopf und Würgemale am Hals. Außerdem hatte Treibholz mit Blutspuren neben ihm gelegen.

Langsam hob sie den Blick zu dem hellgrauen Gebäude, das in den vergangenen Jahren ihr Arbeitsplatz gewesen war. Vor allem war dies der Ort gewesen, an dem sie Ove regelmäßig sah. Als Hedvig drei Monate alt gewesen war, hatte Hanna sie hergebracht, um sie den Kollegen vorzustellen. Wenige Tage später bekam sie eine SMS von Ove, dass er das kleine Wunder ebenfalls gern kennenlernen wolle. Sie hatten sich in der Stadt auf einen Kaffee getroffen und fast nur über das Elterndasein gesprochen. Kleine Kinder, kleine Sorgen, große Kinder, große Sorgen, hatte Ove gesagt und Hedvig gekitzelt, bis sie lachte. Das hatte sie da gerade gelernt. Er hatte vom Verhältnis zu seinen Töchtern erzählt und dass er immer eine große Familie gewollt hatte, weil er ohne Geschwister aufgewachsen war. Sein kleiner Bruder war in der vierzigsten Woche im Mutterleib verstorben. Hanna war ihm bei diesem Treffen nähergekommen denn je.

Sie ließ das Lenkrad los und stieg aus. Das einzig Sinnvolle, was sie nach dem Mord an Ove tun konnte, war, sich an die Aufklärung zu machen. Zu diesem selbstverständlichen Entschluss war sie vor einer halben Stunde gekommen und stand noch genauso dahinter. Isak hatte vollstes Verständnis gezeigt, sich bloß gefragt, ob sie nicht zu sehr unter Schock stand, um Auto zu fahren, weshalb er anbot, er und Hedvig könnten sie bringen. Aber schlussendlich musste auch er einsehen, wie unpraktisch das wäre, und hatte sie allein fahren lassen.

Im Flur traf sie ein paar Kolleginnen und Kollegen, die sie verwundert grüßten und scherzten, dass sie sich wohl nicht fernhalten könne.

Sie wissen es noch nicht, dachte Hanna, aber sie sagte nichts, lächelte sie nur steif an.

Kaum hatte Hanna einen Fuß ins Großraumbüro gesetzt, hätte sie sofort in Tränen ausbrechen können. Alles an dieser Situation fühlte sich falsch an. Erik und Daniel saßen schweigend am ovalen Besprechungstisch. Mit einem tiefen Seufzer stand Erik auf und umarmte sie.

»Schön, dich zu sehen, aber …«

Er war der Kollege, mit dem sie während der Elternzeit am meisten Kontakt gehabt hatte. Ein paarmal hatten sie zusammen Mittag gegessen und einmal sogar nach seinem Feierabend ein Bierchen getrunken. Daniel kam ebenfalls zu ihr, um sie zu umarmen.

»Amer ist heute mit seinem kranken Sohn zu Hause, und Carina ist selbst krank«, sagte er. »Dabei hat sie ja eigentlich Urlaub. Sie will niemanden anstecken, glaubt aber, dass sie morgen kommen kann. Amer macht sich auf den Weg, sobald seine Frau übernehmen kann.«

»Wisst ihr schon was Neues?«, fragte Hanna.

»Nein, gerade …«

Erik wurde von Amer unterbrochen, der hereingerauscht kam, und sofort ging das Umarmen von vorn los. Dabei fiel Hanna erst auf, wie selten Umarmungen geworden waren. Obwohl die Ansteckungszahlen in den Sommermonaten nachgelassen hatten, schienen Umarmungen nach wie vor keine angemessene Begrüßung zu sein. Aber jetzt musste es einfach sein.

Ein Räuspern veranlasste sie, Amer loszulassen. Eine kleine weißhaarige Frau kam herein und schloss die Tür hinter sich. Das musste ihre neue Chefin Gertrud Nylander sein. Hanna war ihr noch nicht begegnet, aber Erik hatte ihr schon einiges erzählt. Kurz nach ihrem Amtsantritt hatte Gertrud ihr ein Treffen vorgeschlagen, aber Hanna hatte abgelehnt, weil sie so tief in der Elternzeit steckte. Sie bat um Aufschub, bis sie wieder die Arbeit aufnehmen würde. Seither hatte sie nichts mehr von ihr gehört. Gertrud sah sie nacheinander an und nickte Hanna dann zu.

»Hanna Duncker, nehme ich an«, sagte sie. »Sicherheitshalber sollten wir uns nicht näher kommen, ich bin ein bisschen verschnupft. Liegt aber vermutlich an meiner Allergie.«

Hanna erwiderte das Nicken.

Gertrud zog einen der Stühle unterm Besprechungstisch hervor und setzte sich. Wartete ab, bis alle anderen dies ebenfalls getan hatten.

»Es sind wirklich schlimme Umstände, die uns heute hier zusammenführen«, sagte sie. »Ihr habt mein vollstes Mitgefühl. Ein entsprechendes internes Memo wird bereits vorbereitet und bald verschickt.«

»Wer übernimmt die Ermittlungen?«, fragte Erik.

»Ich sehe keinen Grund, der dagegenspricht, dass wir das selbst machen«, sagte Gertrud. »Und die Vorgesetzten sind meiner Meinung. Ich habe nie mit Ove zusammengearbeitet. Aber es steht natürlich jedem und jeder von euch frei zu entscheiden, ob ihr euch beteiligen wollt oder nicht.«

»Ich bin dabei«, sagte Erik, und sowohl Amer als auch Daniel summten zustimmend.

»Ich auch«, sagte Hanna.

Gertrud schaute sie an. Ein Auge war blau, das andere braun. Irgendwie unheimlich.

»Du hast noch drei Wochen Elternzeit, nicht wahr?«, fragte sie.

»Das stimmt. Aber mein Partner hat gerade Ferien und kann sofort übernehmen.«

Sie wusste, dass Isak keine Einwände haben würde. Nicht, wenn es so wichtig war. Nach kurzem Zögern nickte Gertrud, aber ganz zufrieden schien sie nicht.

»Dieser Fall muss aufgeklärt werden«, sagte sie. »Ove Hultmark war ein Kollege, und es werden sich eine Menge Blicke auf uns richten.«

Die Aussage verärgerte Hanna. Es klang so, als käme es auf die Blicke an, darauf, dass jeder Handschlag genauestens beäugt würde, als ginge es gar nicht um Ove. Erik atmete so hörbar ein, dass sie ihn ansah. Sein Blick schien ihr zu raten, sich zurückzuhalten. Sofort war ihr Ärger verflogen. Sie lächelte ihn schwach an.

»Es ist nicht auszuschließen, dass der Mord mit seiner Arbeit zusammenhängt«, fuhr Gertrud fort.

»Ich habe schon angefangen, seine alten Fälle durchzugehen«, sagte Daniel.

»Gut«, sagte Gertrud. »Mach weiter damit. Oves Frau Birgitta muss ja nicht informiert werden, weil sie selbst am Fundort aufgetaucht ist. Aber Erik, fahr du mal zu ihr und sprich mit ihr. Nimm Hanna mit. Ein paar Kollegen sind schon vor Ort und nehmen Zeugenaussagen auf, außerdem sammelt die Kriminaltechnik Spuren am Strand. Der Leichnam ist unterwegs zur Obduktion nach Linköping.«

Da war sie wieder, die Wut. Ove war so viel mehr als ein Leichnam. Gertrud redete von Verbindungsnachweisen und Konten, die geprüft werden sollten. Das, was nach einem Mord immer gemacht wurde. Hanna hörte auf zuzuhören, das wusste sie alles. Gleichzeitig spielte Erfahrung aber auch keine Rolle, denn jetzt ging es um Ove. Den einzigen wirklichen Mentor, den sie bei der Polizei gehabt hatte. Die Wut wandelte sich in rohe schwarze Trauer.

6

Vor fünf Stunden war Erik mit Daniel unterwegs nach Össby gewesen. Obwohl er wusste, dass Ove dort wohnte, und obwohl er keine Antwort auf seine SMS bekommen hatte, war es ihm doch gelungen, die Sorge auf einem Minimum zu halten. Er hatte einfach vorausgesetzt, dass der Tote ein anderer war. Das kam ihm jetzt ziemlich dumm vor. Naiv. Aber es war so unvorstellbar gewesen. Irgendwie war es das noch immer.

»Ich finde das alles so unbegreiflich«, sagte er.

»Ich weiß.«

Hanna hatte nicht protestiert, als er an die Fahrerseite trat. Nun saß sie da und starrte auf die vorbeiziehenden Felder. Auf die Windmühlen und weidenden Tiere. Sie hatten ungefähr die Hälfte des Wegs zurückgelegt.

»Hat Gertrud was über mich gesagt?«, fragte Hanna.

»Nein, wieso sollte sie?«

»Keine Ahnung. Ich hatte den Eindruck, sie kann mich nicht leiden.«

»Damit bist du nicht allein«, sagte Erik. »Ich glaube einfach, ihr ist völlig egal, welchen Eindruck sie auf andere macht. Und wieso sollte sie dich nicht leiden können? Ihr kennt euch doch gar nicht.«

Hanna schwieg, dachte aber offensichtlich noch über Gertrud nach.

»Hältst du sie für die Richtige, um diese Ermittlung zu leiten?«, fragte sie irgendwann.

»Absolut«, sagte Erik. »Gertrud ist direkt und arbeitet hart. Vielleicht ein bisschen ungelenker als Ove, aber damit …«

»Ich weiß«, unterbrach Hanna ihn.

Aber damit solltest du ja kein Problem haben, hatte er sagen wollen. Vor der Elternzeit waren sie an einem Punkt angelangt, an dem sie sogar über ihre Unterschiede hatten scherzen können.

Erik musste den Fuß vom Gas nehmen, weil zwei Fahrradfahrer einen Großteil der Fahrbahn einnahmen. Die Straßen hier waren so schmal, dass er gerade nicht überholen konnte.

»Wie läuft es denn zu Hause?«

Er hatte seit über zwei Wochen nichts von Hanna gehört. Das erste Jahr mit einem Kind war wahnsinnig intensiv.

»Gut«, sagte Hanna und lächelte. »Hedvig hat heute ein neues Wort gelernt. Baa für baden.«

Das entgegenkommende Fahrzeug hatte es an den beiden Radfahrern vorbeigeschafft, also schwenkte Erik aus, um sie zu überholen. Als sie am Morgen den Fundort verlassen hatten, musste er sofort Supriya anrufen, musste einfach ihre warme Stimme hören. Nach einem halben Jahr Kurzarbeit war sie nun wieder richtig in die Praxis zurückgekehrt, allerdings jetzt als Teilzeitkraft. Ihre Sorge wegen Corona hatte nachgelassen. Diese und kommende Woche hatte sie allerdings Urlaub. Arbeite ruhig so viel du willst, hatte sie gesagt. Ich habe Nila einen Ausflug versprochen, wir wollen zum Baden nach Kattrumpan und später Filme schauen.

Sie näherten sich Össby, und Erik spürte, wie der Widerwille in ihm wuchs. Die arme Birgitta. Sie war so verzweifelt gewesen, da am Strand, sie hatten gar nicht mit ihr sprechen können. Und er konnte das so gut nachvollziehen. Wenn ihm Supriya plötzlich entrissen würde … Nein, was für ein Albtraum, das wollte er sich nicht mal vorstellen.

Als Erik durch den Ort fuhr, waren deutlich mehr Menschen unterwegs als am Morgen. Sofort fragte er sich natürlich, ob dies allein an der Uhrzeit lag oder ob sich die Information über den Mord bereits verbreitete. Vermutlich Letzteres, dachte er, als sie an dem Streifenwagen vorbeikamen, der an der Straße parkte. Zwei Kollegen gingen gerade von Haus zu Haus. Sie hoben die Hand zum Gruß. Erik bog auf den kleinen Parkplatz vor Oves Wohnhaus, schaltete den Motor ab und seufzte schwer.

»Ich weiß«, sagte Hanna. »Verdammte Scheiße, das alles.«

Langsam stiegen sie aus und näherten sich dem Haus. Kaum hatten sie das Gartentor passiert, öffnete Birgitta schon die Haustür.

»Ich hab euch durchs Küchenfenster gesehen«, sagte sie.

Ihr Blick blieb an Hanna hängen, deren Unterlippe zitterte. Birgitta ging zu ihr und schloss sie lange in die Arme.

»Schön, dass du gekommen bist«, sagte sie. »Ove hat viel von dir gesprochen.«

»Mein herzliches Beileid«, sagte Hanna leise.

»Bist du allein?«, fragte Erik.

»Nicht ganz, Penny ist da. Sie ist erst zweieinhalb, aber sie merkt natürlich trotzdem, dass etwas passiert ist. Sie hat schon nach ihrem Opa gefragt, aber ich konnte es ihr noch nicht sagen. Das muss Emma übernehmen, wenn sie da ist. Sie sollte eigentlich jeden Moment eintreffen.«

Birgitta schaute an ihnen vorbei, als rechnete sie damit, dass Emma in diesem Moment auftauchte. Sie war neunundzwanzig und die älteste Tochter von Ove und Birgitta. Sie hatten noch zwei weitere. Julia, die Mittlere, war sechsundzwanzig, und die Kleinste, Ida, war gerade achtzehn geworden. Erik hatte angeboten, sie zu benachrichtigen, aber Birgitta hatte das selbst machen wollen.

»Hast du alle erreicht?«, fragte er.

»Ja. Julia ist richtig zusammengebrochen, die Arme. Es ist gerade nicht leicht, an Flüge aus Australien zu kommen, aber ein Freund will ihr helfen. Ida ist in Stockholm und …« Birgitta musste sehr tief durchatmen, bevor sie weitersprechen konnte. »Sie hat einfach nur geweint und geweint. Ihre Freundin hat ihr irgendwann das Handy weggenommen, weil sie wissen wollte, was passiert ist. Sie wird die Zugtickets umbuchen und mit Ida herkommen.«

»Können wir uns irgendwo hinsetzen und uns ein bisschen unterhalten?«, fragte Hanna.

»Am besten gehen wir auf die Terrasse«, sagte Birgitta. »Ich möchte nicht, dass Penny etwas mitbekommt.«

Sie gingen zur Rückseite des Hauses. Penny saß in einem rosa Einhornkleid auf dem Sofa und schaute eine Zeichentrickserie. Keine, die Erik kannte. Birgitta trat zu ihr, streichelte ihr über den Kopf und lächelte angestrengt. Wobei das Angestrengte vermutlich nur er und Hanna sahen.

»Oma«, sagte Penny glücklich, stand auf und drückte den Hintern gegen die Sofalehne.

»Hast du alles, was du brauchst?«

Penny nickte heftig.

»Oma setzt sich mit dem Besuch auf die Terrasse und redet ein bisschen. Du kommst doch allein klar?«

Noch ein Nicken, dann ein schneller Blick zu Erik und Hanna.

»Komm gern raus zu Oma, wenn was ist, ja?«

Eine leichte Kopfbewegung. Ihre Aufmerksamkeit war schon wieder beim Fernseher. Das Sofa stand an der Wand, trotzdem schob Birgitta ihre Enkelin wieder in die Sitzposition. Kaum hatte sie sich abgewandt, verschwand das aufgesetzte Lächeln. Sie ließ die Terrassentür einen Spalt breit offen, und dann nahmen sie auf den Gartenmöbeln Platz.

»Meinst du, wir können dir ein paar Fragen stellen?«, fragte Hanna sanft.

»Ja«, sagte Birgitta. »Ich weiß ja, wie wichtig es ist, dass ihr gleich anfangt.«

»Wann hast du Ove zuletzt gesehen?«, fragte Erik.

»Gestern Abend. Er ist um kurz nach zehn zu einem Spaziergang aufgebrochen.«