Dunkelwald - Johanna Mo - E-Book

Dunkelwald E-Book

Johanna Mo

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Beschreibung

Eine Insel vergibt nicht. Egal, wie viel Zeit vergangen ist

Eine Schneedecke liegt über dem winterlichen Öland, als Ermittlerin Hanna Duncker von einem Knall geweckt wird. Ihr Haus steht in Flammen. Nachdem sie vor Kurzem herausgefunden hat, wer den Mord beging, für den ihr Vater verantwortlich gemacht wurde, ahnt Hanna, wer es auf sie abgesehen hat. Doch ihr fehlen Beweise, und sie muss sich auf ihren neuen Fall konzentrieren: Mitten im größten Wald der Insel wurde das Skelett eines jungen Mannes gefunden, der 1999 verschwand. Gibt es nach so langer Zeit noch Spuren, die zu seinem Mörder führen? Und kann Hanna endlich den Namen ihres Vaters reinwaschen, oder ist ihr der wahre Täter schon wieder einen Schritt voraus?

Die »Hanna Duncker«-Reihe:

Band 1: Nachttod

Band 2: Finsterhaus

Band 3: Dunkelwald

Band 4: Nebelstunde

Band 5: Dämmersee

Alle Bände können auch unabhängig voneinander gelesen werden.

Das E-Book können Sie in Legimi-Apps oder einer beliebigen App lesen, die das folgende Format unterstützen:

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Seitenzahl: 491

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DASBUCH

Dicht liegt der Nebel über dem winterlichen Öland, als Polizistin Hanna Duncker von einem Knall geweckt wird. Ihr Haus steht in Flammen. Doch anstatt sich zu fragen, wer es auf sie abgesehen hat, konzentriert sich Hanna lieber auf ihren neuen Fall: Mitten im größten Wald der Insel wurde ein Toter gefunden. Doch niemand scheint ihn zu vermissen. Wer ist der Mann und was wollte er im Wald? Hanna und Erik haben einen Mordfall zu lösen aber keinen Hinweis auf den Täter. Noch dazu muss Hanna feststellen, dass die Wahrheit über das Verbrechen, das ihr Vater einst begangen haben soll, vielleicht noch verstörender ist, als die Lüge, mit der sie bisher lebte.

DIEAUTORIN

Johanna Mo wuchs in Kalmar, im Süden Schwedens, auf und lebt mit ihrer Familie in Stockholm. Neben dem Schreiben arbeitet sie seit zwanzig Jahren als Redakteurin, Übersetzerin und Literaturkritikerin. »Nachttod«, der Auftakt zur Reihe um die Polizistin Hanna Duncker, war ihr großer internationaler Durchbruch und ist in siebzehn Ländern erschienen. Als Teenager musste Johanna Mo erleben, was es heißt, jemanden zu kennen, der zum Mörder wurde. Diese Erfahrung hat sie nie wiederlosgelassen und zu der Geschichte von Hanna Duncker inspiriert.

JOHANNA MO

DUNKELWALD

KRIMINALROMAN

AUS DEM SCHWEDISCHEN VON ULRIKE BRAUNS

WILHELM HEYNE VERLAG MÜNCHEN

Die Originalausgabe Mittlandet erschien erstmals 2022 bei Romanus & Selling, Stockholm.

Der Verlag behält sich die Verwertung der urheberrechtlich geschützten Inhalte dieses Werkes für Zwecke des Text- und Data-Minings nach § 44 b UrhG ausdrücklich vor. Jegliche unbefugte Nutzung ist hiermit ausgeschlossen.

Der Inhalt dieses E-Books ist urheberrechtlich geschützt und enthält technische Sicherungsmaßnahmen gegen unbefugte Nutzung. Die Entfernung dieser Sicherung sowie die Nutzung durch unbefugte Verarbeitung, Vervielfältigung, Verbreitung oder öffentliche Zugänglichmachung, insbesondere in elektronischer Form, ist untersagt und kann straf- und zivilrechtliche Sanktionen nach sich ziehen.

Deutsche Erstausgabe 03/2023

Copyright © 2022 by Johanna Mo

Published in Agreement with Ahlander Agency

Copyright © 2023 der deutschsprachigen Ausgabe

by Wilhelm Heyne Verlag, München,

in der Penguin Random House Verlagsgruppe GmbH,

Neumarkter Str. 28, 81673 München

Redaktion: Sibylle Klöcker

Covergestaltung: www.buerosued.de

unter Verwendung von © www.buerosued.de

Satz: Leingärtner, Nabburg

ISBN 978-3-641-27688-1V003

www.heyne.de

Der letzte Tag

Sein Mund ist voller Blut. Er spuckt aus, zwingt seine Beine, sich schneller zu bewegen. Die Schritte kommen immer näher. Der keuchende Atem. Die Bäume sind in der Dunkelheit kaum zu erkennen, aber wenn er auf dem Kiesweg bleibt, wird er automatisch zur Straße kommen. Muss er einfach. Schon bald sollte er Asphalt unter den Füßen haben.

Aber plötzlich liegt er auf dem Rücken. Was ist passiert? Er begreift nicht, wogegen er gelaufen ist, denn ein Baum war es nicht. Er rollt auf die Seite, um sich wieder aufzurichten, doch dann ist der keuchende Atem über ihm. Hände reißen ihn zurück, umklammern seinen Hals. Er bekommt keine Luft.

Aufhören! Er will flehen, um Entschuldigung bitten, erklären, dass das alles nur ein Missverständnis ist, aber er kann weder atmen noch sprechen. Wut und Hass pressen ihn zu Boden. Dringen in ihn ein. Aus dem Zorn, der in ihm aufkeimt, versucht er, Kraft zu schöpfen, doch sie versiegt schnell, sickert in den Boden. Etwas Feuchtes trifft auf sein Gesicht. Speichel, Tränen oder Regen? Er sieht nichts mehr und spürt auch die Hände nicht länger – nur die laue Sommerluft. Es ist wohl eine dieser tropischen Nächte oder wie die heißen.

Ich habe den Schulabschluss. Ich bin frei. Er will so gern lachen, wie so oft schon an diesem Tag, doch er kann nicht. Sein Körper zuckt. Protestiert, wehrt sich gegen die Lähmung. Irgendwie gelingt es ihm, den Kopf so zu drehen, dass ein bisschen Luft an den Händen vorbeifindet. Er kämpft mit seinem Körper, zwängt die Augen auf. Es leuchtet im Wald. Jemand hockt neben einem der Bäume. Erst ist er verwirrt. Dann erinnert er sich, und jetzt erst versteht er, was er da sieht, aber es ist zu spät. Der Griff an seinem Hals ist unerbittlich. Er versucht zu treten, zu schlagen, aber weder Arme noch Beine gehorchen ihm. Nichts gehorcht mehr. Die Hände an seinem Hals löschen alles aus.

FREITAG, 13. DEZEMBER

1

Im Bett war es wärmer als auf dem Sofa im Erdgeschoss, also war Hanna Duncker unter die Daunendecke gekrochen und lag nun gegen einen Haufen großer Kissen gelehnt, das Tablet auf dem Schoß. Sie war im Frühling nach Kleva gezogen. Jetzt herrschten Winter und Minusgrade, im Haus war es kalt und zugig, obwohl das Thermometer behauptete, es seien zwanzig Grad.

Hanna gähnte und startete eine neue Folge von Downton Abbey. Eigentlich war sie heute Abend mit Isak verabredet gewesen, schließlich war Luciatag. Aber Isak hatte ihr gleich morgens geschrieben, dass er Hals- und Kopfschmerzen hatte. Statt eines aufwendigen Drei-Gänge-Menüs hatte es also Reste aus dem Tiefkühler gegeben, gefolgt von Süßigkeiten und einem Serienmarathon im Bett. Bald hatte sie die dritte Staffel durch, und ihr war völlig schleierhaft, wie ihr die Serie bisher hatte entgehen können. Am besten war Maggie Smith in der Rolle der Lady Violet, dem bissigen Oberhaupt der britischen Oberklassefamilie.

Während des Vorspanns schweiften Hannas Gedanken ab. Ihr Bedürfnis nach fiktiver Liebe in schönem Umfeld hatte abgenommen, seit Isak in ihr Leben getreten war. Vorgestern waren sie zum Essen bei Rebecka und Petri gewesen. Rebecka hatte sie beide zum ersten Mal als Paar erlebt, und ihre Freundin schien sich sehr für sie zu freuen. Trotz ihres großen Verlusts tastete sich Rebecka im Leben voran. Der Tod ihres Sohnes Joel lag nun sieben Monate zurück. Rebecka meldete sich oft und wollte sich häufig treffen. Ihre Freundin brauchte sie, und eigentlich wollte Hanna nichts mehr, als für sie da zu sein. Trotzdem lehnte sie oft ab. Denn das, was sie Rebecka erzählen sollte, stand im Weg. Das, was sie im Herbst erfahren hatte, als ihr Bruder Kristoffer plötzlich bei ihr aufgetaucht war.

Hanna tippte auf Pause und reckte sich nach dem Handy. Suchte Rebeckas Nummer heraus. Starrte lange aufs Display. Aber um diese Uhrzeit konnte sie unmöglich anrufen. Es war fast zehn, sie wollte Molly nicht wecken. Also suchte sie das Foto heraus, das Rebecka ihr heute geschickt hatte. Es zeigte Molly in ihrem Lucia-Kleid mit Lichterkrone im Haar, die glücklich in die Kamera lächelte. Das Foto war vor der Grundschule in Gårdby entstanden, auf die Rebecka und sie als Kinder ebenfalls gegangen waren.

Sehnsucht nach Isak überkam sie, aber ihn konnte sie auch nicht anrufen. Er schlief sicher längst, wenn es ihm so schlecht ging. Bist du noch wach?, schrieb sie. Als sie nach mehreren Minuten noch keine Antwort bekommen hatte, schickte sie ein klopfendes Herz hinterher und legte dann das Telefon weg. Ein heftiger Gähnanfall veranlasste sie, auch das Tablet auf dem Nachttisch zu deponieren. So müde, wie sie war, konnte sie ja vielleicht doch schlafen. Sie schob die großen Zierkissen vom Bett und sank in die weiche Daune. Hoffentlich ging es Isak morgen schon besser.

Isak … Er lehnte an einer der Säulen vor dem Polizeirevier. Was will er bei mir auf der Arbeit?, dachte Hanna. Freudig überrascht lief sie zu ihm. Ihre Füße berührten kaum den Boden, aber als sie sein Gesicht sah, blieb sie wie angewurzelt stehen. Seine Augen waren vor Wut ganz schmal.

Isaks Gesicht wandelte sich in Kristoffers. Ihr Bruder öffnete den Mund, und sie wusste, was er sagen würde. Sie konnte das Gespräch auswendig. Das Gespräch, das sie geführt hatten, nachdem sie ihn widerwillig hereingelassen hatte.

Ich war dabei, als Ester Jensen starb.

Ihr Körper zeigte dieselbe Schockreaktion wie bei seinem tatsächlichen Besuch. Sonderbarerweise wusste Hanna, dass sie träumte, und irgendwie nahm der Traum alle Hemmungen. Sie konnte sich nicht wehren und wollte nur weg. Im Traum kniff sie die Augen fest zu. Als sie sie wieder öffnete, saß sie noch immer mit Kristoffer auf dem Sofa. Genau, wie es wirklich gewesen war. Selbst das halb leere Wasserglas stand auf dem Hocker, der ihr als Couchtisch diente.

Wie, dabei?, fragte sie. Hast du sie getötet?

Kristoffer verbarg das Gesicht in den Händen. Seine Erzählung wurde von Schluchzern unterbrochen. Wieso war es so warm? Ihre Sachen klebten schweißdurchtränkt an ihr. Das passte nicht. So warm war es nicht gewesen, als Kristoffer bei ihr saß. Hanna wollte gleichzeitig, dass sie aufwachte und dass der Traum weiterging. Sie hoffte, dass seine Schilderung sich ändern, sich zu einer wandeln würde, die leichter zu ertragen wäre.

Doch der Traum war weg. Sie lag da und starrte zur Decke hinauf, die nicht sichtbar war. Ihr müdes Hirn versuchte, die Eindrücke zu verarbeiten, die in der Wirklichkeit auf sie einströmten: die Hitze, das Knistern, den beißenden Geruch.

Verdammt. Das Haus brennt.

Hanna rammte sich den Kopf an der Dachschräge, als sie aufsprang. Alles drehte sich um sie, trotzdem erreichte sie die Tür. Sie war nicht ganz geschlossen, und so konnte sie sie mit dem Ellbogen aufschieben. Dichter Rauch drang aus dem Erdgeschoss herauf. Über die Treppe konnte sie also nicht entkommen. Sie drehte sich um und stürzte zum Nachttisch, um das Handy an sich zu reißen. Brauchte sie sonst noch etwas? Der Boden unter ihren Füßen war warm, sie konnte keinen klaren Gedanken fassen. Sie wusste nur, dass sie dringend wegmusste. Sie schob das Fenster auf, das zum Garten hinausging. Die kalte Luft erinnerte sie daran, dass sie nur Unterwäsche trug, also griff sie nach dem Bademantel. Während sie ihn anzog, schaute sie hinunter. Die Flammen züngelten an der Hauswand. Sie konnte sich also nicht am Fensterrahmen festhalten, um die Fallhöhe zu verringern. Sie musste springen.

Die Zeit drängte, reichte nicht, um vorher noch die Matratze oder etwas anderes aus dem Fenster zu schieben, das ihren Fall dämpfen könnte. Hanna steckte das Handy in die Manteltasche, schob dann den Stuhl ans Fenster und warf alle Kleider, die darüber hingen, hinaus. Dann stieg sie darauf, setzte einen Fuß auf die Fensterbank und klammerte sich an den Rahmen. Der Boden war schneebedeckt, aber die Schneedecke war nicht höher als dreißig Zentimeter. Direkt unter ihr war die hintere Veranda, die ein paar Meter breit war. Dahinter begann die Wiese. Die musste sie erreichen.

Hanna schluckte und sprang.

Noch im Flug wurde ihr klar, dass sie es nicht bis zur Wiese schaffen würde. Immerhin war ihre Veranda aus Holz, nicht aus Stein wie die ihrer Nachbarin Ingrid. Hanna versuchte, sich möglichst klein und locker zu machen. Ihr Bademantel ging auf, als sie auf der Veranda aufschlug und abrollte. Überall war Schnee. Eine eiskalte Umarmung, die ihr einmal komplett die Luft aus der Lunge presste, aber auch den Schmerz dämpfte. Ihr Sturz war vom Schnee abgefedert worden, und sie ging erst mal davon aus, dass sie sich nichts gebrochen hatte.

Hanna schaute zum Haus. Die Flammen reichten jetzt bis zu ihrem Fenster. Viel Zeit wäre ihr nicht mehr geblieben. Schnell griff sie nach ihrer Jeans. Ein Windstoß musste ihren dünnen Pullover zum Haus geblasen haben, denn er wurde gerade vom Feuer verschlungen. Die Hitze war unerträglich. Als sie sich weit genug entfernt hatte, zog sie die Jeans über, fischte das Handy aus der Tasche und wählte den Notruf.

Die Flammen trafen über dem Dach aufeinander und schienen sich dort freudig zu vereinigen. Das Haus war nicht mehr zu retten. Dann werde ich nicht länger darin frieren müssen, dachte sie noch, da kamen ihr auch schon die Tränen.

Das Haus in Kleva war ihre Rettung gewesen, als sie nach den vielen Jahren in Stockholm zurück nach Öland gezogen war. In der Woche nach ihrem Schulabschluss war ihr Vater wegen Mordes verhaftet worden, woraufhin sie geflohen war. Die Sehnsucht und der Zweifel hatten sie zurückgetrieben, und sie hatte recht gehabt: Ihr Vater war zwar verurteilt worden, schuldig aber war er nicht gewesen. Zumindest nicht am Mord.

Hanna starrte in die Flammen, aber sie sah nicht länger das Feuer, das ihr Haus auffraß, vor ihrem inneren Auge war ihr Vater Lars. Sein gequälter Gesichtsausdruck, als er ihr im Besuchszimmer des Gefängnisses gegenübersaß. Statt auf ihr Bauchgefühl zu vertrauen, hatte sie ihn mit Fragen bedrängt.

Wieso hast du Ester Jensen getötet?

Die Antwort hatte sie so wütend gemacht:

Das war keine Absicht.

Sie wünschte, sie hätte ihn damals in die Arme geschlossen, ihm so die Möglichkeit gegeben, sich zu öffnen. Aber stattdessen war sie aufgestanden und gegangen.

2

Kurz vor der Abzweigung nach Kleva sah Erik Lindgren schon die Flammen vor dem dunklen Winterhimmel. Offenbar war es der Feuerwehr noch nicht gelungen, den Brand zu löschen. Sein Chef Ove Hultmark hatte ihn mit einem Anruf aus dem Bett geholt, um ihm mitzuteilen, was vor sich ging. Hanna war angeblich in Ordnung. Zumindest körperlich. Sie selbst hatte den Notruf abgesetzt.

Erik bog in den Ort. In den meisten Fenstern brannte trotz der späten Uhrzeit Licht. Vermutlich waren die Anwohnerinnen und Anwohner durch die Sirenen geweckt worden und hatten dann nicht wieder einschlafen können. Immerhin war aufgrund der Jahreszeit die Gefahr gering, dass das Feuer auf die Nachbarhäuser übersprang. Die Straße war so schmal, dass er an den Feuerwehrwagen nicht vorbeikam. Der Schnee knirschte unter den Reifen, als er an den Straßenrand fuhr, um zu parken. Hannas Haus lag ein gutes Stück zurückversetzt, direkt am Feldrand. Trotz der Entfernung konnte er die Wärme des Feuers spüren, als er ausstieg. Der Rauch biss in der Lunge. Er zeigte dem nächstbesten Feuerwehrmann seinen Ausweis.

»Ich bin Hanna Dunckers Kollege«, sagte er. »Wo ist sie?«

Der Feuerwehrmann deutete zu einem Rettungswagen. Er musste aus der anderen Richtung gekommen sein, denn er stand mit der Motorhaube zu ihnen. Erik eilte hin und einmal um den Wagen herum. Hanna saß mit einer Decke um die Schultern auf der Trage. Sie trug eine Jeans und einen Bademantel. Eine Rettungssanitäterin stand daneben und suchte etwas aus einer Schublade. Hanna hatte eine Sauerstoffmaske über Nase und Mund, zog sie aber sofort ab, als sie sah, dass er in den Wagen kam.

»Was machst du denn hier?«

»Na, ich war doch noch nie bei dir zu Besuch«, antwortete er. »Dachte, es wäre mal Zeit.«

Hanna lachte, aber das Lachen ging sofort in einen Hustenanfall über. Also hielt sie sich die Sauerstoffmaske schnell wieder über Nase und Mund und holte ein paarmal tief Luft.

»Das klingt ja schrecklich«, sagte er.

»Ach, halb so wild«, sagte sie. »Wärst du mal besser gestern gekommen. Da hätte ich dir einen Kaffee anbieten können.«

Erik lag ein Scherz mit Supriya auf der Zunge, dass sie gern mitgekommen wäre, aber er schluckte ihn lieber runter, weil es nicht länger witzig war.

Dann musste er plötzlich daran denken, wie er einmal mit dem Kran aus seinem Wohnheimzimmer evakuiert worden war. Damals war er noch zur Polizeischule gegangen; ein Mitstudent hatte gemeint, mitten in der Nacht kochen zu müssen, und war darüber eingeschlafen. Am Fenster zu stehen und auf die Rettung zu warten, gehörte noch immer zu dem Schlimmsten, was er je erleben musste, und das, obwohl er nun schon eine Weile Polizist war. Nachdem sich der Rauch verzogen hatte, hatte er sich damals problemlos in sein Zimmer zurückziehen können, aber Hannas Haus stand dermaßen in Flammen, da war vermutlich nichts mehr zu retten. Die Sanitäterin bat ihn, ein bisschen aus dem Weg zu gehen, und wies Hanna an, das Bein hochzulegen. Dann verband sie ihren Fuß.

»Wie bist du rausgekommen?«, fragte Erik.

»Ich habe geschlafen, als das Feuer ausbrach«, sagte Hanna. »Mit anderen Worten: Ich bin aus dem Fenster im ersten Stock gesprungen. Aber das ist sicher nur eine Verstauchung.«

»Zum Glück bist du noch rechtzeitig aufgewacht.«

»Ja.«

Hanna zögerte, als wollte sie noch etwas sagen. Aber dann presste sie sich doch erst mal wieder die Maske ins Gesicht. Sie wusste genauso gut wie er, dass sie hätte sterben können. Oft war es just der Rauch, der verhinderte, dass die Leute bei einem Brand überhaupt aufwachten. Er hatte damals am Schreibtisch gesessen und gebüffelt, weil er für eine Prüfung spät dran war. Als der Rauchmelder zu piepen anfing, war der Flur schon so verqualmt gewesen, dass er die Tür lieber wieder zugemacht und in seinem Zimmer ausgeharrt hatte.

»Hast du keine Rauchmelder?«, fragte er.

»Doch, klar«, sagte sie, als sie die Maske wieder abnahm. »Aber die haben keinen Piep von sich gegeben. Wahrscheinlich waren die Batterien leer.«

»Hast du eine Ahnung, wie das Feuer ausgebrochen sein könnte?«, fragte er.

»Nein.«

Die Sanitäterin war fertig mit dem Fuß, und Erik hatte das Gefühl, im Weg zu sein.

»Ich sprech mal mit dem Einsatzleiter«, sagte er. »Vielleicht wissen sie schon was.«

Er ignorierte ihren Protest und sprang aus dem Rettungswagen. Dann blieb er einen Moment davor stehen und beobachtete die Feuerwehrleute. Sie bewegten sich konzentriert, aber nicht gestresst. Nicht zu übersehen, dass sie die Lage unter Kontrolle hatten.

Er ging zu dem Mann, der den Einsatz leitete. Der Schnee knirschte unter den Schuhen. Erik liebte diese Jahreszeit. Zu Weihnachten wollte er Nila ein paar Langlaufski schenken, damit sie gemeinsam die Gegend unsicher machen konnten. Eigentlich fuhr er lieber Abfahrtski, aber dafür fehlten hier einfach die Berge. Supriya hatte für den Wintersport rein gar nichts übrig. Er hatte sie nicht einmal davon überzeugen können, es auszuprobieren. Weihnachten liebte sie allerdings. Ihr erstes gemeinsames Weihnachtsfest hatten sie in Mumbai gefeiert, und er hatte versucht, ihr ein traditionelles schwedisches Festessen zu kochen, allerdings mit indischen und vegetarischen Zutaten. Sein Scheitern in der Küche hatte er wettzumachen versucht, indem er ihr Weihnachtslieder vorsang, und Supriya waren vor Lachen die Tränen gekommen.

Wir haben immer zusammen lachen können, dachte er. Die Angst, dass sie wieder nach Indien zurückziehen wollte, hatte sich gelegt. Vor knapp zwei Monaten hatten sie das indische Lichterfest Diwali gefeiert, und er hatte sich die größte Mühe gegeben, ihr Heimweh zu lindern. Hatte in der ganzen Wohnung Kerzen verteilt, allerlei Leckereien gebacken, ihr schöne Kleinigkeiten gekauft und mehrfach Videoanrufe bei den Schwiegereltern angeleiert.

Zum zweiten Mal zeigte Erik seinen Ausweis.

»Sie sind ja flott«, kommentierte der Mann.

»Was meinen Sie?«

»Ich habe gerade erst vor ein paar Minuten durchgegeben, dass es sich um Brandstiftung handelt.«

»Sicher?«

»Sehr«, sagte der Mann. »Dafür spricht die schnelle Brandausbreitung.«

»Ich bin nur als Kollege hier«, sagte Erik. »Das Ermittlungsteam ist aber bestimmt unterwegs.«

Er eilte zurück zum Rettungswagen.

»Brandstiftung«, sagte er.

Hanna nickte, als wäre sie kein bisschen überrascht.

»Weißt du, wer dahinterstecken könnte?«, fragte er.

Vielleicht hatte Ester Jensens Tochter Maria den Brand ja gelegt. Erst vor wenigen Monaten hatte sie Hanna Drohnachrichten geschickt, außerdem hatte seine Kollegin Drohanrufe bekommen, die niemandem zugeordnet werden konnten. Hanna öffnete den Mund, doch bevor sie etwas sagen konnte, krachte es ohrenbetäubend.

3

Wahrscheinlich hat das Dach nachgegeben, dachte Hanna. Alles, was sie besaß, war nur noch Schutt und Asche, und sie hatte kein Zuhause mehr. Schnell presste sie sich die Sauerstoffmaske ins Gesicht, damit sie nicht sprechen musste.

»Weißt du, wer dahinterstecken könnte?«, fragte Erik noch einmal.

Hanna schüttelte heftig den Kopf. Sie konnte es ihm nicht sagen. Nicht hier, nicht jetzt. Aber es gab nur einen Menschen, der infrage kam.

Sie schloss die Augen, aber dann hatte sie sofort wieder Kristoffer vor Augen. Begleitet von den Gefühlen des Traums, aus dem der Brand sie gerissen, die sie aber dennoch nicht hatte auslöschen können. Ich war dabei, als Ester Jensen starb. Wie hatte Kristoffer sie all die Jahre anlügen können? Seinetwegen hatte sie alles angezweifelt, was ihr Vater ihr je bedeutet hatte. Sie schlug die Augen wieder auf.

»Ich schätze, Sie gehen jetzt besser«, sagte die Sanitäterin.

»Ich ruf dich morgen früh an«, sagte Erik.

Hanna nickte. Kaum war er fort, nahm sie die Sauerstoffmaske ab. Die Sanitäterin war vielleicht dreißig. Sie hatte die Haare zu einem Dutt hochgesteckt, an der Halsseite waren ein paar chinesische Zeichen eintätowiert. Hanna legte die Hand auf ihre eigene Tätowierung. Die Nachtigall an ihrem linken Unterarm.

»Haben Sie Schmerzen?«, fragte die Sanitäterin.

»Nein«, sagte Hanna und ließ die Hand wieder sinken.

Ihre Großmutter hatte ihr eine Nachtigall aus Holz geschenkt und ihr erzählt, dass der Vogel sie vor Albträumen schützen würde. Hannas Nächte waren davon geprägt gewesen, nachdem sie mit zwölf ihre Mutter an den Krebs verloren hatte. Die Nachtigall hatte im Schlafzimmer auf der Fensterbank gestanden. Wieso hatte sie die nicht mitgenommen, bevor sie gesprungen war? Jetzt war auch sie verloren.

»Wie geht es Ihnen denn insgesamt?«

»Ging schon mal besser«, sagte Hanna.

»Untertreibung des Tages«, sagte die Frau und grinste.

»Nur des Tages?«

»Gestern war ich bei einem Autounfall. Der Typ ist von einem Verkehrsschild durchbohrt worden und meinte, ihm geht es hervorragend.«

»Hat er alles gut überstanden?«

»Ja, keine wichtigen Organe wurden beschädigt.«

»Und wie lautet mein Urteil?«, fragte Hanna.

»Die Lunge ist gereizt«, sagte die Sanitäterin. »Aber die Werte sind so weit zufriedenstellend. Trotzdem würde ich Ihnen raten, eine Nacht zur Beobachtung ins Krankenhaus zu gehen.«

»Nein danke.«

»Es könnte Komplikationen geben«, versuchte es die Sanitäterin.

»Nein danke«, wiederholte Hanna.

Die Lunge fühlte sich bereits besser an. So viel Rauch hatte sie gar nicht eingeatmet. Der verstauchte Fuß schmerzte, und sie hatte eine ordentliche Beule, weil sie so heftig gegen die Dachschräge gestoßen war, aber mehr auch nicht. Ich hätte sterben können. Hanna verdrängte den Gedanken.

»Aber wo wollen Sie dann hin?«, fragte die Frau. »Ihr Haus ist …«

»Meine Nachbarin hat mir bereits ein Nachtlager angeboten.«

Ingrid war wenige Minuten, nachdem Hanna die Feuerwehr verständigt hatte, angelaufen gekommen. Hanna hatte ihre verzweifelten Rufe von der anderen Seite des Hauses gehört, aber nicht antworten können. Stattdessen war sie zu ihr gehumpelt. Sie hatten es fast bis zu Ingrid geschafft, als die ersten Rettungsfahrzeuge eintrafen. Hanna war offenbar nicht die Einzige gewesen, die Hilfe gerufen hatte. Ingrid hatte zu sehr gefroren, also war sie wieder in ihr warmes Haus gegangen, während Hanna der Sanitäterin gefolgt war.

Sie zog das Handy aus der Tasche. Ihr Handy, eine Jeans, ein Unterhemd, eine Unterhose und ein Bademantel – das war alles, was sie mitgenommen hatte. Bei Isak war noch eine Zahnbürste und einmal Wechselkleidung.

Beim Gedanken an Isak kamen ihr die Tränen. Das war ein Telefonat, das sie gerade nicht bewältigen konnte. Beim Klang seiner Stimme würde sie garantiert zusammenbrechen. Sie rief lieber bei Ingrid an.

»Die freundliche Sanitäterin ist fertig mit mir. Aber du musst mich abholen, wenn sie mich denn gehen lässt.«

Die Frau lachte und schüttelte den Kopf.

»Mach ich«, sagte Ingrid.

»Welche Schuhgröße hast du?«, fragte Hanna.

»Siebenunddreißig.«

Hanna hatte zweiundvierzig. Eigentlich nicht weiter erstaunlich, sie war ja schließlich einen Meter fünfundachtzig groß.

»Wie schade. Aber hättest du vielleicht ein Paar Pantoffeln oder Socken für mich?«

Hanna wollte ungern barfuß in den Schnee hinaus.

»Ich schau mal, was ich finden kann«, sagte Ingrid.

Wenige Minuten später tauchte sie mit einer großen Wolldecke und einem Paar Badelatschen auf, die ihrem Mann oder Sohn gehört haben mussten. Ihr Sohn hatte den Hof übernommen, nachdem ihr Mann vor fast zwanzig Jahren gestorben war.

»Tut mir leid, was Besseres kann ich nicht bieten«, sagte Ingrid.

»Reicht doch.«

Hanna steckte die Füße in die Latschen und hängte sich die Decke um die Schultern. Die Sanitäterin half ihr aus dem Rettungswagen.

»Alles Gute«, sagte sie.

»Danke«, erwiderte Hanna.

Der Fuß ließ sich so verbunden schon besser belasten. Zwar wurden die Füße in den Badelatschen schnell kalt, aber immerhin musste sie nicht barfuß gehen. Der Einsatzleiter der Feuerwehr holte sie ein.

»Das Ermittlungsteam wird mit Ihnen sprechen wollen«, sagte er.

»Ich bin im Nachbarhaus«, antwortete sie. »Aber ich wäre wirklich froh, wenn das bis morgen warten könnte.«

Jemand rief nach ihm, also ließ er sie gehen. Langsam näherten sie sich Ingrids Haus. Der Nachbarin fiel das Gehen schwerer als Hanna. Einer der Nachbarn, die ein paar Nummern weiter wohnten, war vor die Haustür getreten und schaute neugierig herüber, aber immerhin kam er nicht zu ihnen. Hanna zog die Badelatschen in Ingrids Flur aus, die Decke behielt sie jedoch um die Schultern. Ihre Nachbarin hatte bereits das Sofa im Wohnzimmer in ein Behelfsbett umgewandelt.

»Mit meiner Hüfte ist es gerade wieder schlimmer«, sagte sie. »Leider kann ich dir nicht das Bett überlassen.«

»Das Sofa ist perfekt.«

Hanna verkroch sich unter die Daunendecke, während Ingrid in der Küche verschwand, um Tee und Whisky zu holen.

»Soll ich Isak anrufen?«, fragte sie, als sie gerade das Tablett auf den Couchtisch gestellt hatte.

»Das mach ich morgen früh, sobald ich wach bin.«

»Wenn du meinst, dass du überhaupt schlafen kannst.« Ingrid schnaubte. »Aber er muss es wissen.«

»Wird er ja auch«, sagte Hanna. »Nur nicht jetzt sofort. Wir haben uns nicht getroffen, weil er krank ist.«

»Es wird ihn verletzen, dass du ihn nicht gleich verständigst«, beharrte Ingrid.

»Ingrid«, begann Hanna. »Ich kann einfach nicht …«

Sie reckte sich nach einer der Tassen. Umschloss sie mit beiden Händen und führte sie zum Mund. Die Bilder von dem Gespräch mit Kristoffer überlagerten sich mit denen ihres brennenden Hauses. Ihre Hände fingen an zu zittern. Nichts war ihr geblieben. Ihr Portemonnaie hatte in der Jackentasche im Erdgeschoss gesteckt.

»Das war so schrecklich«, sagte Ingrid. »Die Flammen zu sehen und nicht zu wissen, ob du noch im Haus bist. Weißt du, wer den Brand gelegt hat?«

»Wieso fragst du das so?«

»Weil das Feuer nicht einfach so ausgebrochen ist. Es roch nach Benzin.«

Hanna versuchte, noch einen Schluck zu trinken, aber ihre Hände zitterten zu stark. Ich hätte sterben können. Diesmal ließ sich der Gedanke nicht so leicht verdrängen. Irgendwie gelang es ihr, die Tasse wegzustellen. Sie öffnete den Mund, wollte eigentlich nichts preisgeben, Ingrid gegenüber genauso wenig wie vor Erik.

»Es war Axel Sandsten«, platzte es aus ihr heraus.

Ingrid starrte sie fassungslos an, und Hanna hätte das Gesagte liebend gern wieder zurückgezogen. Was stimmte denn nicht mit ihr? Das musste der Schock sein. Sie war dabei gewesen, als ihre Mutter starb und als ihr Vater verhaftet wurde, aber soweit sie sich erinnern konnte, hatte sie dabei nicht komplett die Kontrolle verloren. Ihr Körper schlotterte vor Kälte, und sie schlang die Wolldecke und das Federbett noch enger um sich.

»Vielleicht hat er es nicht selbst angezündet«, fügte sie hinzu. »Aber dann hat er jemanden geschickt.«

Sie musste an die Silhouette unten am Strandweg denken. Was, wenn das nun doch kein Nachbar gewesen war?

»Wieso sollte Axel Sandsten dich töten wollen?«, fragte Ingrid.

»Weil er Ester Jensen ermordet hat.«

Ein weiteres Mal musste Hanna durchleben, was Kristoffer ihr erzählt hatte, weil sie es nun Ingrid wiedergab. Hanna hatte ihn gezwungen, es mehrmals zu wiederholen. So, wie sie es bei Vernehmungen machte, damit Verdächtige sich in Widersprüchen verstrickten. Kristoffer hatte ihr jedoch nur bei jedem Mal weitere Details geliefert. Er, Robin und Axel waren bei Ester Jensen eingebrochen. Sie hatten ihr einen Kissenbezug über den Kopf gezogen, sie an einen Stuhl gefesselt und nach Geld gesucht. Sie hatten nur ein paar Hunderter gefunden, weshalb Axel rasend vor Wut zu Ester gerannt war. Er hatte sie samt Stuhl umgekippt und angefangen, sie zu treten. Kristoffer und Robin waren zu schockiert gewesen, um einzugreifen. Zumindest in Kristoffers Version. Als sie Axel endlich stoppten, war es schon zu spät.

Ester war tot.

Ingrid schwieg sehr lange. Ihr Gesicht war völlig unbewegt, aber dass sie verarbeitete, was sie da gerade erfahren hatte, war trotzdem nicht zu übersehen. Hanna streckte sich diesmal nach dem Whisky. Es gelang ihr, die Hände still genug zu halten, um einen Schluck zu trinken. Sie hustete und presste sich die Hand gegen den Brustkorb. Vielleicht hätte sie doch ins Krankenhaus mitfahren sollen. Dann wäre ihr zumindest das hier erspart geblieben.

»Und wer hat Esters Haus angezündet?«, fragte Ingrid schließlich.

»Mein Vater«, sagte Hanna. »Um Kristoffer zu schützen. Er dachte, Kristoffer wäre der Mörder.«

Dieser Teil der Geschichte war unzusammenhängend gewesen. Laut Kristoffer hatte Axel Robin gezwungen, mit ihm zu kommen, aber Kristoffer bei der Toten zurückgelassen, der panisch Papa angerufen hatte, welcher sofort zu ihm geeilt war. Papa hatte er erzählt, dass er Ester erschlagen hätte, das aber keine Absicht gewesen sei.

»Hast du das bisher noch jemand anderem erzählt?«, fragte Ingrid.

»Nein.«

Und sie hätte es auch jetzt nicht erzählen sollen. Nicht in diesem Zustand.

»Esters Tochter muss das erfahren.«

»Ich weiß«, sagte Hanna.

Alle Verluste drängten sich in ihr Bewusstsein. Ihre Mutter, die an Krebs gestorben war. Ihr Vater, der das Trinken anfing und wegen Mordes verurteilt wurde. Kristoffer, der sie jahrelang in dem Glauben gelassen hatte, dass ihr Vater ein Mörder war. Ihr Vater, der aus der Haft entlassen wurde und sich zu Tode soff. Das Haus, das es nicht länger gab.

Nachdem Kristoffer ihr das alles erzählt hatte, hatte sie ihn rausgeworfen. Hatte mehrere Wochen lang nicht mit ihm sprechen können. Seine Version ergab einfach keinen Sinn. Wieso sollten Axel und Robin ihn dort allein zurückgelassen haben?

Schließlich hatte sich die größte Wut gelegt, sodass sie Kristoffers Entschuldigungsversuche ertragen konnte. Außerdem hatte sie angefangen, ihn übers Telefon zu bearbeiten. Sie wollte sich nicht ohne Kristoffer an ihren Chef Ove Hultmark wenden. Ove hatte vor sechzehn Jahren in dem Mordfall ermittelt. Wenn die Ermittlungen erneut aufgenommen würden, käme hoffentlich die ganze Wahrheit ans Licht.

Aber jetzt? Rational betrachtet wusste sie, dass sie nicht länger warten konnte. Was würde Axel als Nächstes versuchen, wenn er erfuhr, dass sie noch lebte? Vielleicht wusste er das ja sogar schon. Vielleicht hatte er wirklich da unten am Strandweg gestanden. Am liebsten wäre sie hinausgerannt, um nachzusehen, aber sie sollte gar nicht erst anfangen, einer solchen Paranoia nachzugeben.

»Ich habe nicht vor, Axel mit auch nur einer seiner Taten davonkommen zu lassen«, sagte sie.

»Davon bin ich überzeugt«, sagte Ingrid. »Aber schätzungsweise ist es nicht besonders klug, ihn allein zu konfrontieren.«

Darauf erwiderte Hanna nichts. Sie wusste, dass Ingrid recht hatte. Trotzdem zögerte sie noch, sich an Ove zu wenden. Sie kannte nur Kristoffers Version der Geschichte, und sie brauchte wenigstens einen Menschen, der seine Aussage stützen konnte.

Hanna trank noch einen Schluck Whisky. Ihre Hände zitterten nicht mehr ganz so stark. Langsam kam auch ihr Ermittlerinnenhirn wieder in Gang. Wo sollte sie ansetzen? Vielleicht bei Robins Schwester Klara. Klara hatte sich während der Suchaktion von Missing People an sie gewandt. Dann hatte sie angerufen, und Hanna war kurz vor Kristoffers Besuch bei ihr gewesen. Klara ging davon aus, dass Robin und Kristoffer in irgendetwas verwickelt gewesen waren und dass ihr Bruder sich deshalb das Leben genommen hatte, indem er seinen Wagen vor einen Baum setzte. Bloß hatte Klara noch immer keine Ahnung, was genau dahintersteckte. Allein beim Gedanken an das drohende Gespräch bekam Hanna Magenschmerzen.

Ingrid stand und auf verließ das Wohnzimmer. Vermutlich war diese Offenbarung zu viel für sie gewesen. Als Hanna begriff, dass sie telefonierte, eilte sie ihr hinterher.

»Ja, keine Eile«, sagte Ingrid. »Bis gleich.«

»Mit wem hast du gesprochen?«, fragte Hanna.

»Es tut mir sehr leid, dass ich mich einmische, aber das hier schaffst du nicht allein.«

»Mit wem hast du gesprochen, verdammt?«

»Isak. Er ist unterwegs.«

4

Der Schlaf wollte einfach nicht kommen. Therese Cedergren drehte sich auf die Seite und schaute zu Kasper, der auf dem Rücken lag und mit offenem Mund schnarchte. Sie waren seit zweiundzwanzig Jahren zusammen. Länger als ihr halbes Leben.

Ein besonders lautes Schnarchen ließ sie zusammenzucken. Seit ein paar Jahren arbeitete Kasper bei der Schutzpolizei. Heute war er nach einer besonders harten Schicht nach Hause gekommen, hatte das Essen in sich hineingeschaufelt und sich dann vor den Fernseher gesetzt. Hatte sie gebeten, ihm die Schultern zu massieren. Natürlich hatte sie das getan. Sie hatte massiert und seine Tirade über die Jugendlichen und ihr unmögliches Verhalten angehört. Sie wusste, dass er übertrieb. Das Luciafest war längst nicht mehr so ein Besäufnis wie früher. Aber vielleicht hatte sie auch einfach keine Ahnung.

Therese drehte sich auf die andere Seite und starrte die Wand an. Der Luciatag deprimierte sie jedes Mal. Während der Schulzeit war sie oft unterwegs gewesen und hatte gefeiert, aber es war gar nicht so sehr das Feiern, das ihr fehlte, sondern die ruhigeren Jahre nach der Schulzeit. Als sie sich mit den Mädels aus dem Stall auf ein Bier getroffen hatte. Den Mädels, die nicht weggezogen waren. Aber es war zehn Jahre her, seit sie zuletzt dabei gewesen war. Vor Lucas, als sie nur Wilma gehabt hatte. Sie fragten sie nicht mal mehr. Waren ihre ewigen Ausflüchte leid.

Kommendes Jahr würde Wilma ihren dreizehnten Geburtstag feiern, da wollte sie sicher mit Freunden losziehen. Heute Abend war sie noch mit ihrer Mutter und dem kleinen Bruder zufrieden gewesen. Sie hatten Popcorn gemacht und zusammen den ersten Harry Potter geschaut. Lucas war erst sieben, behauptete aber felsenfest, dass alle aus seiner Klasse den Film bereits kannten. Wilma hatte die Filme schon so oft gesehen, eigentlich hätte sie sich langweilen müssen, aber es hatte ihr gefallen, ihn mit ihrem Bruder anzuschauen.

Hoffentlich bekam Lucas keine Albträume. Therese lauschte nach Geräuschen aus seinem Zimmer, konnte aber keine hören.

Nach einem weiteren lauten Schnarchen von Kasper schlug sie die Decke zurück und stand auf. Sie freute sich nicht gerade auf den kommenden Tag. Ein riesiger Wäscheberg erwartete sie, außerdem musste das Haus geputzt werden, und überhaupt würde alles unfassbar viel anstrengender, wenn sie nicht ordentlich geschlafen hatte. Vielleicht würde sie ja noch einmal in den Schlaf finden, wenn sie jetzt in die Küche ging, eine Banane aß und sich eine warme Milch machte.

Therese blieb vor Lucas’ Tür stehen und öffnete sie einen Spaltbreit. Lucas lag in seinem Bett und umklammerte seine Supermannbettdecke, als wäre sie ein Monster, das er besiegt hatte. Sein Gesichtsausdruck war entspannt und selbstsicher. Therese lächelte, ging an Wilmas Tür vorbei und weiter zur Küche.

Es war nur noch eine Banane da, die Kasper fürs Frühstücksmüsli brauchte. Sie öffnete den Kühlschrank, füllte ein Glas zur Hälfte mit Milch und stellte es in die Mikrowelle. Wenn sie zu viel trank, würde sie doch nur mitten in der Nacht aufwachen, weil sie aufs Klo musste. Auf der Fensterbank stand die Weihnachtspyramide, die ihre Mutter ihr gegeben hatte. Als Mikael fünf oder sechs gewesen war, hatte er darauf bestanden, sie allein aufzustellen. Es war ihm nicht gelungen, und vor lauter Frust hatte er sie umgestoßen. Mama hatte übernommen und ihm zum Trost erlaubt, die kleinen Kerzen anzuzünden. Er hatte mit großen Augen die Figuren angestarrt und begeistert in die Hände geklatscht, als sie anfingen, sich zu drehen. Wie von Geisterhand bewegt.

Therese blinzelte die Tränen weg. Zwanzig Jahre waren seit Mikaels Verschwinden vergangen, es überraschte sie, wie sehr sie ihn noch immer vermisste.

Die Mikrowelle piepste, und Therese fluchte, weil sie sie nicht rechtzeitig gestoppt hatte. Kurz lauschte sie ins stille Haus, doch nichts regte sich. Sie holte das Glas heraus, rührte einmal um und trank die Milch. Nach einem kurzen Toilettenbesuch kehrte sie ins Bett zurück.

Mitternacht rückte immer näher, trotzdem musste Therese aufs Handy schauen. Keine Nachricht, kein verpasster Anruf von ihrer Mutter. Sie lebte noch in dem Haus in Rälla, in dem Therese und Mikael aufgewachsen waren, und ihr war es zu verdanken, dass Therese nicht weiter als bis nach Kalmar gekommen war. Therese hätte sie unmöglich vollkommen allein lassen können.

Therese hatte sie angerufen, nachdem sie Lucas ins Bett gebracht hatte, um zu fragen, ob sie schon etwas von der Polizei gehört habe. Hatte sie nicht, obwohl schon zwei Wochen vergangen waren, seit menschliche Knochen im Mittlandwald gefunden worden waren.

Ich glaube nicht, dass das Mikael ist, hatte ihre Mutter gesagt, so wie bei all ihren Telefonaten in den letzten Tagen. Sie war überzeugt, dass er noch lebte. Therese nicht. Und sie hoffte, dass sie jetzt endlich Antworten bekämen. Es konnte kein Zufall sein, dass die Überreste ausgerechnet im Mittlandwald entdeckt worden waren, denn genau dort hatten Mikael und seine Clique nach dem Schulabschluss übernachtet. Mikael wäre niemals untergetaucht und hätte sich so viele Jahre nicht bei ihnen gemeldet. Vielleicht hätte er sie, Therese, ohne einen Blick zurücklassen können, aber niemals Mama.

5

Es klingelte, aber im selben Augenblick wurde die Tür auch schon aufgerissen. Hanna schaute zum Whiskyglas und unterdrückte den Impuls, den Rest zu exen. Isak stürzte ins Wohnzimmer. Er hatte nicht mal die Schuhe ausgezogen, die nun nasse Spuren auf dem Holzboden hinterließen. Eine leise Stimme in ihrem Kopf riet ihr, das nicht zu kommentieren, sondern aufzustehen. Mit ausdruckslosem Gesicht gehorchte sie, ließ sich von Isak in den Arm nehmen.

»Das ist so schrecklich«, sagte er mit dem Mund an ihrer Schläfe. »Mir tut das so wahnsinnig leid für dich.«

Hanna erwiderte seine Umarmung, und dann konnte sie die Tränen nicht länger zurückhalten. Aus dem Augenwinkel sah sie, dass Ingrid das Zimmer verließ. Hanna wollte Isak am liebsten nie wieder loslassen. Er war das Floß, an das sie sich klammerte, um nicht in ihrer Trauer zu ertrinken. Schlussendlich löste Isak sich von ihr.

»Was kann ich tun?«, fragte er.

»Bring mich hier weg«, sagte Hanna. »Ich kann nicht länger hierbleiben.«

Hanna wollte fort von allem, was Ingrid jetzt wusste. Wenn sie blieben, würde Hanna auch Isak davon erzählen müssen, und sie war felsenfest davon überzeugt, dass sie das nicht überleben würde. Noch nicht. Ihr erstes Date war kurz vor Kristoffers Besuch gewesen, ihr zweites kurz danach. Die Zeit mit ihm hatte ihr gezeigt, dass Glück auch für sie möglich war. Am liebsten hätte sie Kristoffers Enthüllungen einfach vergessen, die Vergangenheit für immer ruhen lassen.

Isak ging zu Ingrid in die Küche, aber Hanna konnte nicht hören, was gesagt wurde. Sollte sie ihm folgen? Ihn zurückrufen? Nach ein paar Minuten kam Isak zurück. Sie suchte in seinem Gesicht nach Zeichen, dass sich alles geändert hatte, aber sie fand keine. Sein Blick war derselbe. Bevor sie das Haus verließen, umarmte Ingrid sie schnell und flüsterte ihr zu, dass sie mit Isak reden müsse.

Isak hatte ihr Schuhe und eine Jacke mitgebracht, die er im Flur hatte fallen lassen, also konnte Hanna sowohl Decke als auch Badelatschen ablegen. Sie warf einen Blick die Straße hinunter, aber dort stand niemand mehr. Sie versuchte, nicht zur Feuerwehr zu schauen, die noch immer arbeitete, doch das war unmöglich. Von ihrem Haus waren nur noch ein paar qualmende schwarze Wände übrig. Das hätte niemand überlebt. Der Verlust des Hauses stellte trotz allem ein geringeres Problem dar als Axel Sandsten. Was würde er als Nächstes machen? Er hatte sie doch sicher umbringen wollen, und das war ihm nicht gelungen.

»Dir scheint es besser zu gehen«, sagte Hanna, als Isak sie aus Kleva steuerte.

»Ich habe mich gesund geschlafen.«

Viel mehr sprachen sie nicht auf der Fahrt nach Södra Näsby. Hanna drohte immer noch zu ertrinken, und jetzt war sie allein. Isak saß am Steuer, aber selbst wenn sie sich an ihn hätte klammern können, hätte das nicht geholfen. Dann hätte sie ihn nur mit sich runtergerissen.

Isak parkte vor dem Haus in Södra Näsby. Hier lag mehr Schnee, und der Wind hatte ihn vor den roten Häusern zusammengeschoben. Als Isak den Motor abstellte, wurde es dunkel.

»Ich habe offenbar vergessen, das Nachtlicht einzuschalten«, sagte Isak.

Die Erinnerung an ihren ersten Besuch bei Isak überwältigte sie. Damals hatte er genau diesen Satz gesagt, und sie waren kichernd vor Vorfreude aus dem Wagen gepurzelt. Jetzt stieg er aus und kam zu ihrer Seite, um ihr die Tür zu öffnen. Stützte sie auf dem Weg zwischen den Gebäuden hindurch bis ins Haus. Hanna schluckte die Tränen, die ihr schon wieder kamen. Das hier würde ihre Beziehung nicht überstehen.

»Willst du duschen?«, fragte Isak.

Erst da begriff sie, wie sehr sie nach Rauch stank und wie gut ihr eine lange, warme Dusche tun würde.

»Gern«, sagte sie. »Machst du mir in der Zwischenzeit einen Tee?«

Gerade ertrug sie Isaks Blick nicht und wollte nichts lieber als allein sein. Nach kurzem Zögern nickte Isak.

Das warme Wasser umschmeichelte ihr Gesicht, und ein paar Sekunden lang konnte sie es genießen, aber dann kehrte die Angst zurück. Die Angst, die sie von Anfang an daran gehindert hatte, ihm alles zu sagen: dass sie Isak mit all ihren Sorgen und Problemen verschrecken würde. Die Angst teilte und vergrößerte sich. Alles war zerstört. Die Zukunft mit Isak, die Arbeit, das Leben, alles. Sie musste sich gegen die hellblauen Fliesen stützen, damit sie nicht zusammenklappte.

»Gut jetzt«, schluchzte sie. »Reiß dich gefälligst zusammen.«

Langsam nahm die Panik ab. Verzweifelt suchte sie nach einem Strohhalm, an den sie sich klammern konnte, und letzten Endes waren es die Gedanken an Axel Sandsten, die ihr den gesuchten Halt boten. Irgendwie musste sie an weitere Beweise kommen, ehe er noch einmal versuchen konnte, sie zu töten. Nur wie? Und dann wusste sie plötzlich, wen sie zuallererst kontaktieren sollte. Nicht Robins Schwester, sondern Henning Larsson.

Henning Larsson war Kriminalreporter beim Barometern. Im Herbst hatte er Kontakt zu ihr aufgenommen und ihr gesagt, er habe eine eigene Theorie zum Fall Ester Jensen. Wie so oft war sie vor ihm geflohen, aber sie hatte vorgehabt, ihn zu treffen, sobald die kräftezehrenden Ermittlungen vorbei waren. Dass Kristoffer bei ihr aufgetaucht war, hatte alle Vorhaben auf den Kopf gestellt, und die Beziehung zu Isak hatte in ihr den Wunsch ausgelöst, das alles zu vergessen. Nein: Sie hatte ihr geholfen, das alles zu vergessen. Aber Hanna konnte die Vergangenheit nicht für alle Zeit ausblenden. Sie musste herausfinden, was genau dieser Henning wusste und was nicht. Was, wenn er mehr Informationen hatte als sie? Den Eindruck hatte er zumindest erweckt.

Hanna stieg aus der Dusche und schickte ihm eine SMS, bevor sie sich umentscheiden konnte. Obwohl es so spät war, antwortete er sofort:

Ich bin übers Wochenende beruflich unterwegs, aber wir können uns gern Montagabend treffen.

Hanna bedauerte die SMS bereits, trotzdem antwortete sie mit: Passt. Langsam trocknete sie sich ab, und nachdem sie an ihrem Bademantel geschnüffelt hatte, schlang sie sich lieber in Isaks. Er roch leicht nach dem Aftershave, das er manchmal benutzte, dem mit Moschus. Sie eilte hinaus aus dem Bad, wollte dringend zu ihm, brauchte seine Nähe, um nicht länger an den Journalisten denken zu müssen.

»Ich hätte gedacht, du würdest länger duschen«, sagte Isak.

»Ich auch«, sagte sie. »Aber du hast mir gefehlt.«

Sie sank neben ihm aufs Sofa und starrte die Tasse an, die auf dem Tisch stand. Konnte sich einfach nicht danach recken. Stattdessen unterdrückte sie ihre Angst und lehnte sich an Isak. Er legte ihr einen Arm um die Schultern und strich ihr das nasse Haar aus dem Gesicht.

Alles würde gut werden. Das musste es einfach.

»Was hältst du davon, zu mir zu ziehen?«, fragte Isak.

MONTAG, 16. DEZEMBER

6

Mit einem Seufzer stieg Hanna aus dem Wagen und steuerte das Polizeirevier an. Ihr Fuß tat weh, war aber keine große Behinderung. Wesentlich schlimmer war die körperliche Erschöpfung: Jedes Gelenk, jeder Muskel schmerzte. Der Regen, der den Schnee in dreckig grauen Matsch verwandelte, hob ihre Laune nicht gerade.

Doch dann tauchte Isaks Gesicht fast beschwörend vor ihrem inneren Auge auf und verscheuchte alles Graue. Sie hatte dankend sein Angebot angenommen, bei ihm einzuziehen. In einem Hotel unterzukommen, war alles andere als verlockend. Sie hatte fast den gesamten Samstag im Bett verbracht und Isak hatte sie mit gutem Essen verwöhnt. Ihr einziger Ausflug war zur Werkstatt gewesen, um sich einen neuen Autoschlüssel zu besorgen. Isak hatte den Wagen abgeholt, weil Hanna sich noch nicht bereit gefühlt hatte, zum Haus zurückzukehren. Gestern waren sie zum Einkaufszentrum Giraffen nach Kalmar gefahren, um das Nötigste an Kleidung und Schuhen zu besorgen. Der Winter war die schlimmste Jahreszeit, um vom einen auf den anderen Tag alles zu verlieren. Dabei stellte das Finanzielle kein Problem dar: Für alles, was sie verloren hatte, kam die Versicherung auf, genauso für den Neubau. Aber eine ganze Reihe von Dingen konnte durch Geld einfach nicht ersetzt werden. Außer der Nachtigall hatte sie auch das wenige verloren, was ihr noch von ihren Eltern geblieben war: eine Angelrute, ein abgegriffenes Märchenbuch.

Hanna zog die Tür zum Revier auf und nahm die Treppe in den ersten Stock. Immerhin ihren Polizeiausweis hatte sie Freitag hiergelassen. Am nervigsten war eigentlich der Verlust der Kreditkarte. Die Shoppingtour am Samstag hatte Isak zahlen müssen, wofür sie ihm gleich den entsprechenden Betrag überwiesen hatte. Er hatte gesagt, dass das nicht nötig sei, aber es war viel Geld, und sie wollte ihm nichts schuldig sein. Eine neue Kreditkarte war unterwegs, und sie hatte gemeldet, dass ihr Führerschein zerstört war. Gefühlt hatte sie eine Million kleiner praktischer Dinge zu regeln. Am Samstag hatte sie mit der Versicherung telefoniert, und sofort war ihr ein sogenannter Schadenberater zugeteilt worden, den sie hatte kontaktieren sollen.

Brauchen Sie eine Therapie?, hatte er gefragt, und Hanna hatte nur geschnaubt.

Es ist traumatisch, sein Zuhause auf eine solche Art zu verlieren, hatte er beharrt.

Danke, aber eine Therapie ist nicht nötig.

Die würde das Problem Axel Sandsten auch nicht lösen. Heute Abend würde sie sich mit dem Kriminalreporter Henning Larsson treffen, und damit hatte sie vor sich selbst gerechtfertigt, noch keinen Kontakt zu Ester Jensens Tochter Maria oder Robin Svenssons Schwester Klara aufgenommen zu haben. Oder zu Rebecka. Was, wenn Henning etwas wusste, das alles verändern würde? Der Brand hatte sie erschüttert. Sie war nicht sie selbst gewesen, als sie Ingrid alles erzählt und Kontakt zu Henning aufgenommen hatte, aber gerade fühlte sich beides gut an. Sie konnte nicht länger auf Kristoffer warten. Vielleicht war seine ewige Verzögerungstaktik ja ein Zeichen dafür, dass er ihr doch nicht die ganze Wahrheit gesagt hatte.

Amer Moghadan war als Einziger schon am Platz. Wahrscheinlich hatte ihn das Nesthäkchen bereits früh geweckt. Seine jüngste Tochter würde im Januar ihren ersten Geburtstag feiern und schlief noch nicht so viel, wie ihre Eltern sich das gewünscht hätten. Kaum hatte Hanna das Dienstzimmer betreten, stand er auf und kam zu ihr. Umarmte sie erst mal lang und fest. Sie konnte sich nicht erinnern, dass er das je zuvor getan hätte.

»Ich habe von deinem Haus gehört«, sagte er. »Das tut mir wirklich leid.«

»Danke.«

»Was, meinst du, steckt dahinter?«

Hanna zuckte nur verlegen mit den Schultern.

»Entschuldige, ich wollte nicht indiskret sein, aber ich weiß ja, dass es Brandstiftung war.«

»Schon okay.«

Hanna setzte sich an ihren Platz und startete den Computer. Sie mochte Amer, wirklich. Meist trug er Anzug, und sein kleiner Bart war immer gepflegt. Niemand aus dem Team konnte sie so zum Lachen bringen wie Amer, und es war nicht zu übersehen, wie sehr ihm an seinen Kolleginnen und Kollegen lag. Nacheinander trafen auch sie ein: Daniel Lilja, Erik Lindgren und Carina Hansson. Nicht mal ein abgebranntes Haus konnte Carina dazu bewegen, freiwillig ein Wort mit Hanna zu wechseln. Carinas Vater war Maria Jensens Onkel, und sie hatte bereits für die Polizei in Kalmar gearbeitet, als Ester ermordet worden war. Daniel drückte Hanna sein Mitgefühl aus, und Erik hatte nicht mehr viel hinzuzufügen. Er hatte sie am Samstag angerufen und versucht, sie auszuquetschen. Offenbar war er davon überzeugt, dass sie mehr wusste, als sie zugeben wollte. Auch Ove hatte sich Samstag gemeldet, aber sich einfach nur erkundigt, wie es ihr ging.

Als es halb neun wurde, fanden sich alle im Besprechungszimmer ein. Die Morgenbesprechung machten sie meist hier, sonst blieben sie überwiegend im Dienstzimmer, in dem es außer den fünf Arbeitstischen noch einen großen, ovalen Tisch gab.

»An und für sich ein recht gewöhnliches Lucia-Wochenende«, sagte Ove. »Ein paar Trunkenheitsfahrten, aber eigentlich nicht mehr als an anderen Wochenenden auch. Ein paar Fälle von Körperverletzung und eine Vergewaltigung.«

Dann schaute er zu Hanna und rückte die schwarze Brille zurecht.

»Und einen Fall von Brandstiftung. Die Ermittlungen können wir aus offensichtlichen Gründen nicht übernehmen. Ein Kollege wird sich mit dir in Verbindung setzen, sofern wir den Fall nicht gleich an Växjö übergeben. Das ist noch nicht abschließend geklärt, aber unsere Kriminaltechnik wird im Laufe des Tages den Tatort untersuchen. Sofern er schon begehbar ist.«

Hanna wäre froh, wenn Växjö die Ermittlungen übernähme, damit sie so wenig wie möglich damit zu tun bekäme. Aber das sagte sie nicht, denn die Gefahr bestand, dass Ove dann genau das Gegenteil veranlasste.

»Wir konzentrieren uns hierauf«, sagte Ove und projizierte ein Foto an die Wand.

Hanna betrachtete den dunkelhaarigen Neunzehnjährigen. Der Pony fiel ihm bis über die Augen, und er trug einen grünen Kapuzenpulli. Sie hatte in den letzten Tagen vermehrt Bilder von ihm in der Tageszeitung gesehen, aber auch in den letzten Jahren immer mal wieder. Vor einem halben Jahr hatte Bo Tapper eine Dokumentation über ihn gemacht. Oder vielmehr über das Versagen der Polizei.

»Die Knochen, die im Mittlandwald gefunden wurden, sind identifiziert. Es handelt sich um Mikael Fransson, der 1999 verschwunden ist.«

»Dann hatte Bo Tapper recht«, sagte Carina.

»Es scheint so«, sagte Ove. »Die Rechtsmedizin hat die Knochen untersucht. Eine Fraktur des Zungenbeins legt nahe, dass er erwürgt wurde. Ein Wadenbein war ebenfalls gebrochen. Außerdem hat er sich wohl kaum selbst vergraben, wir müssen also von einem Mord ausgehen.«

Hanna hatte die Dokumentation noch nicht gesehen, aber mitbekommen, wie die Kollegen darüber sprachen. Viele hatten sich über die Kritik aufgeregt. Bo Tapper war ehemaliger Polizist und mittlerweile Krimiautor, der zu allem, was das Thema Verbrechen betraf, eine lautstarke Meinung hatte. In seiner Doku hatte er beschrieben, dass die gesamten Ermittlungen einem Desaster glichen und dass Mikael Öland vermutlich nie verlassen hatte.

Als Mikael Fransson verschwand, war Hanna fünfzehn gewesen. Sie erinnerte sich nur dunkel daran, weil so viel anderes wichtiger gewesen war. Sie hatte alle Hände voll zu tun gehabt, ihren Vater daran zu hindern, das Loch, das ihre Mutter hinterlassen hatte, mit Alkohol zu füllen. Mikael und ein paar aus seiner Clique hatten, um ihren Schulabschluss zu feiern, in der Nähe der Wallburg Ismantorp in einem verlassenen Haus übernachtet. Morgens war er weg. Trotzdem war die vorherrschende Meinung gewesen, dass er freiwillig verschwunden war. Zumindest anfangs. Als nach einem Jahr noch jede Spur von ihm fehlte, hatten die Theorien in den Zeitungen sich überschlagen – bis sie von einem anderen Thema abgelöst wurden. Schon bald quollen die Zeitungen über von Artikeln zu Ester Jensen und Lars Duncker. Trotzdem war zwischendurch immer mal wieder die Frage aufgetaucht: Was war mit Mikael Fransson passiert?

»Wieso ging man damals nicht von einem Verbrechen aus?«, fragte Daniel.

»Er hatte gerade die Schule abgeschlossen und eine Tasche gepackt, weil er tags drauf nach Deutschland fahren wollte«, sagte Ove. »Die Tasche war weg. Genau wie sein Pass, sein Portemonnaie und sein Handy. Außerdem kam eine SMS, dass er in Travemünde angekommen sei und sich später wieder melden würde, was er aber nie tat. Kanntest du ihn eigentlich, Amer?«

Erst da fiel Hanna ein, dass Amer 1980 geboren war, er also im gleichen Jahr wie das Opfer mit der Schule fertig geworden sein musste: 1999.

»Ich hatte auch den Schwerpunkt Sozialwissenschaft«, sagte Amer, »aber wir waren nicht im gleichen Kurs. Und ich muss zugeben, dass Mikael im Gegensatz zu mir zu den coolen Kids gehörte.«

»Was? Heißt das etwa, du warst zu Schulzeiten eher einer der Nerds?«

Hanna riss gespielt überrascht die Augen auf. Amer grinste sie an.

»Sind noch mehr Überreste gefunden worden?«, sagte Daniel.

»Kleidungsfasern, die sind schon zur Analyse im Labor«, sagte Ove. »Aber da gibt es noch keine Ergebnisse. Überprüfst du bitte die anderen, die mit ihm in dem verlassenen Haus übernachtet haben? Ich will wissen, was die seit 1999 getrieben haben.«

Daniel nickte.

»Das sind die Akten der Ermittlungen«, fuhr Ove fort und hielt einen braunen Papphefter hoch. »Ich setze einen der Analytiker auf die Passagierliste der Deutschlandfähre an, ansonsten gibt es leider nichts, was wir weiterverfolgen könnten. Erik und Hanna, fahrt ihr bitte und informiert die Mutter? Sie hat jeden Tag seit dem Fund angerufen, weil sie unbedingt Mikaels Zwillingsschwester sagen will, dass es nicht seine Überreste sind.«

»Wie, nicht seine?«, fragte Amer.

»Die Mutter ist immer noch davon überzeugt, dass ihr Sohn lebt.«

Der letzte Tag

Kaum öffnen sich die gewaltigen weißen Türen, fängt Mikael an zu schreien. Die Masse treibt ihn vorwärts. Endlich sind sie an der Reihe. Die Mädchen tragen weiße Kleider, die Jungs schwarze Anzüge, nur er nicht, der einen hellen wollte. Das ist schließlich keine Beerdigung, oder? Musik dröhnt aus den Lautsprechern, und die Sonne strahlt ihm ins Gesicht. Schreien reicht nicht, also fängt Mikael an zu hüpfen, und Sara wirft ihm Konfetti direkt ins Gesicht. Er lacht mit ihr.

So fühlt sich Freiheit an.

Sein Rucksack ist gepackt. Den hat er, seit er letzten Sommer durch Griechenland gereist ist. Heute will er feiern, als wäre es sein letztes Mal. Morgen fährt er nach Berlin, wo er machen wird, wozu er Lust hat. Nichts anderes. Dann will er weiter Richtung Süden, seinen Vater suchen oder bleiben. Das Geld wird eine Weile reichen, aber dann will er sich vielleicht einen Job in einer Bar suchen oder so. Mit Leuten ins Gespräch kommen, das kann er gut. Und den Rest kann er lernen.

Elvira und Torsten halten Händchen. Sie sind so ziemlich seit dem ersten Schultag zusammen. Während die Anwesenheit abgefragt wurde, saßen die beiden auch nebeneinander, und Torsten war so nervös, dass er nicht mal ein Ja herausbekam, als die Lehrerin seinen Namen sagte. Elvira zeigte auf ihn und sagte so laut, dass alle es hörten: Ich glaub, das ist der hier. Als jemand aus der Reihe hinter ihr lachte, drehte sie sich um und stauchte ihn zusammen. Mit einem Kreischen lässt Elvira jetzt Torsten los und boxt mit den Fäusten in die Luft. Sie fassen sich alle an den Händen und hüpfen im Kreis. Sara, Elvira, Torsten, Nosse und er.

Nie wieder Schule, nie wieder Schule, hurra, hurra, hurra!

Sie werden ihm fehlen. Wie oft sie zusammen gelacht und geweint haben. Aber wie schön, endlich nicht mehr in die Schule zu müssen. Sich nicht mehr mit so idiotischen Lehrern wie Paul abgeben zu müssen, die schlechtere Noten geben, nur weil sie im Englischunterricht mal kritisiert werden. Oder dem Musiklehrer, der lieber mit seiner beschissenen Rockband spielt, als zu unterrichten. Nur Loser werden Lehrer. Aber am allermeisten freut er sich drauf, morgens so lange schlafen zu können, wie er will.

Nie wieder Schule, nie wieder Schule, hurra, hurra, hurra!

Noch eine Runde, dann lösen sie den Kreis. Rennen über den Schulhof zu ihren Verwandten und Freunden. Ihn erwarten nur Mama, Oma und Opa. Seine Schwester wird erst in einer Stunde entlassen, sie werden sie noch in Empfang nehmen und dann nach Hause fahren und feiern.

Mama lächelt ihn an, hält den Holzstock in beiden Händen, an dem oben ein großes Kinderfoto angebracht ist. Er durfte es aussuchen. Darauf ist er vielleicht vier Jahre alt und trägt die Sonnenbrille seiner Mutter. Er ist ziemlich aufgebrezelt, trägt eine Jeans und ein T-Shirt, darüber eine winzige Lederweste. Er sieht ziemlich cool aus. Zur Abwechslung ist seine Schwester mal nicht mit auf dem Bild. Seine Schwester, die zehn Minuten älter ist als er, worauf sie ständig hinweist.

Mama hängt ihm einen Teddy um den Hals und einen blauen und einen gelben Ballon. Oma und Opa hängen jeder eine Blume dazu. Ein paar Leute von seinem Hallenhockeyteam tauchen auf und ein paar Mädels aus Rälla, aber die meisten seiner Leute feiern auch heute ihren Schulabschluss.

Mikael schaut sich Nosses Plakat an und muss lachen. Nosse kann das unmöglich selbst ausgesucht haben. Das Foto zeigt ihn in einem Planschbecken im Garten, und er trägt die volle Sicherheitsmontur: Badeanzug, Taucherbrille, Schwimmflügelchen und Schwimmreifen. Das sieht nicht normal aus, aber das ist halt Nosse. Immer Helm, Sicherheitsgurt, Gürtel. Der Badeanzug musste von einer seiner Schwestern sein. Nosse hat zwei große Schwestern und noch zwei jüngere Geschwister. Torstens Plakat ist nur minimal besser: Er sitzt im Kinderstuhl und ist von Kopf bis Fuß mit orangem Brei beschmiert. Dazu hält er die grüne Plastikgabel und den grünen Plastiklöffel in die Luft, als wäre er der King. Dieses Selbstbewusstsein könnte ihm heute nicht schaden. Sara war natürlich schon als Kind ebenso taff wie niedlich. Ihr Bild zeigt sie in Karatemontur, die Haare zu langen Zöpfen geflochten. Eine riesige Zahnlücke ist sichtbar, während sie Richtung Kamera tritt. Elvira ist eine glitzerrosa Ballerina, ein Bein in der Luft gebeugt, dazu eine hoch konzentrierte Miene. Es sieht aus, als wäre sie kurz vorm Umkippen.

Er schaut zur Elvira von heute hinüber. Ein echter Muskelprotz steht neben ihr und sieht ziemlich glücklich aus. Hat Torsten etwa Konkurrenz bekommen? Aber dann begreift er: Das muss ihr großer Bruder sein, extra aus Lund angereist, um mitzufeiern. Er hat ziemlich viel an Muskelmasse zugelegt und nicht länger diesen hässlichen Schnurrbart, deshalb hat Mikael ihn nicht gleich erkannt. Elvira macht einen guten Eindruck. Mikael betastet seine Oberlippe. Die Schwellung ist fast weg. Dann lacht er und lässt sich noch einmal von Mama umarmen. Er hat keine Lust auf schlechtes Gewissen, nicht heute.

7

Erik Lindgren schnallte sich an und schlug dann den dünnen braunen Papphefter auf, den Ove ihm gegeben hatte. Viel war nicht darin. Vernehmungsprotokolle der Mutter und der Zwillingsschwester, außerdem der Leute, mit denen Mikael zum Übernachten in dem verlassenen Haus gewesen war: Sara Jonsson, Oskar Holmberg (genannt Nosse) und Elvira Pavic. Niemandem war etwas Außergewöhnliches aufgefallen – weder in der Nacht noch bei den Feierlichkeiten. Alle waren überzeugt gewesen, dass Mikael die anderen zurückgelassen und sich auf den Heimweg nach Rälla gemacht hatte. Sein Rucksack fehlte ja, und später hatte er die Nachricht aus Travemünde geschickt. Die Passagierliste war angefordert und auch das Handy war geortet worden. Beides zeigte, dass Mikael nach Deutschland gefahren war. Im Vorjahr war er allein durch Griechenland gereist und hatte sich wochenlang nicht gemeldet. Die Polizei hatte das verlassene Haus durchsucht und weder Blutspuren noch sonst irgendwas gefunden, das darauf hindeutete, dass es dort zu einer Gewalttat gekommen war. Also wurden die Ermittlungen eingestellt.

»Hast du die Doku gesehen?«, fragte er.

»Noch nicht«, antwortete Hanna. »Du?«

»Nein, aber ich sehe auch nicht, wo die Polizei großartig versagt haben soll. Es deutete wesentlich mehr darauf hin, dass Mikael wirklich klammheimlich abgereist ist, als dass ihm etwas zugestoßen war.«

»Ich glaube, der zentrale Kritikpunkt ist, dass Mikael seit dieser Nacht nie wieder gesehen wurde«, sagte Hanna. »Und dass es zu wenige Vernehmungen waren und sie nicht gründlich genug geführt wurden. Außerdem war sein Schlafsack ja noch da. Wurden die Mutter und die Schwester nach dem Rucksack gefragt?«

»Ja. Der Mutter fiel erst am Vormittag auf, dass er nicht mehr da war. Den muss also jemand anders geholt haben, aber nach all den Jahren, die seither vergangen sind, wird man ja unmöglich noch Zeugen finden.«

Erik starrte auf die Scheibenwischer, die hin und her schnellten. Der Schneeregen hatte so gut wie aufgehört, und Hanna schaltete auf eine langsamere Frequenz. Was würde Mikaels Familie jetzt sagen, was seine Freunde, so viele Jahre später? Konnten sie sich überhaupt erinnern?

»Weißt du noch, was du vor zwanzig Jahren gemacht hast?«, fragte er.

Hanna wechselte auf die äußerste Spur der Ölandbrücke, bevor sie antwortete.

»Ja, da war ich in der Achten«, sagte sie. »Ich würde also behaupten, dass ich noch eine Menge weiß. Wieso? Du etwa nicht?«

Erik war 1979 geboren, ein Jahr vor Mikael und Amer – und im Gegensatz zu den beiden war er in Malmö aufgewachsen. Wenn er es sich recht überlegte, erinnerte er sich noch an ziemlich viel, was während seines Abschlussjahrs passiert war. An die vielen Partys in den letzten Wochen, daran, wie verknallt er in eine Mitschülerin gewesen war, in deren Anwesenheit er mächtig geschwitzt und nichts als gestammelt hatte. Aber er erinnerte sich auch noch daran, dass ein Mädchen erstochen worden war. Sein Vater hatte ermittelt. Gewisse Ereignisse vergaß man nicht.