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Die Vergangenheit darf sich nicht wiederholen. Aber es passiert wieder. Jetzt. Rebecca ertränkt Liebeskummer und Selbstzweifel in Alkohol. Dann verschwindet ihre Kollegin Mary, die kurz zuvor bei einem Treppensturz verletzt wurde. Viel zu spät entdeckt Rebecca deren Hilferuf auf ihrem Handy und beginnt zu ermitteln. War Marys Sturz ein Unfall oder wollte ihr Mann sie umbringen? Eine geheimnisvolle junge Frau taucht auf, die einiges zu wissen scheint. Dann wird eine Tote gefunden. Starb sie an den Folgen eines Überfalls oder war es Mord? Rebecca versucht ihre Kollegin und gleichzeitig ihre Beziehung zu Benny zu retten. Dabei enthüllt sie erschütternde Geheimnisse aus der Vergangenheit und nimmt den Kampf gegen ihre eigenen Dämonen auf. Eine verschwundene Kollegin, eine Frau mit dunklen Geheimnissen und eine Tote. Nach"Die andere Wahrheit" und "Tödliche Erinnerung" der dritte Fall für Rebecca Friedrichsen.
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Seitenzahl: 390
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Sommer 2019
September 2022
Montag - Mittwoch: Selina
Montag - Mittwoch: Rebecca
Donnerstag: Selina
Donnerstag: Rebecca
Donnerstagnacht
Freitag
Samstag
Samstag: Selina
Sonntag
Sonntagnacht
Später
Wieder erklang dieses Geräusch, das ihr einen kalten Schauer über den Rücken jagte. Wie ein eisiger Windhauch, der durch enge Ritzen pfiff. Leiser Atem.
„Hallo?“, sagte sie zaghaft und hielt den Telefonhörer starr an ihr Ohr.
Eine plötzliche Kälte überfuhr ihren Nacken, als stünde jemand hinter ihr, der seinen kalten Atem auf ihre Haut pustete. Sie blickte sich zögernd um, aber niemand anderes war in ihrem Wohnzimmer.
„Wer ist da?“ Ihre Stimme zitterte. Um ihre Nerven stand es seit einiger Zeit nicht zum Besten, wahrlich nicht.
Plötzlich wurde die Stille am anderen Ende der Leitung von leisem Keuchen durchbrochen. Eine Gänsehaut bildete sich auf ihren Armen und ihr Herz klopfte so stark, dass es kräftig an ihre Rippen schlug.
„Wer ist denn da?“, fragte sie energischer. Sie mochte keine Spielchen.
„Bitte. Du musst mir helfen!“
Sie erkannte die Stimme sofort und erstarrte.
Eine Woge liebevoller Erinnerungen an das Mädchen umspülte ihr Herz. Die tiefe Qual, die in der Stimme erklang, ließ sie zusammenfahren.
„Was kann ich tun?“
Sie hätte jedem Wunsch entsprochen und alles getan. Ohne Fragen zu stellen oder die Gründe wissen zu wollen. Es gab einige wichtige Menschen in ihrem Leben, die genau wussten, dass sie ihr blind vertrauen konnten, dass sie immer für sie da sein würde.
Einer dieser besonderen Menschen hatte sie gerade um Hilfe gebeten.
Sie hörte den leisen Worten des Mädchens aufmerksam zu. Was von ihr verlangt wurde, war nicht einmal viel. Sie beendete das Gespräch und eine schwere Dumpfheit legte sich auf ihr Herz.
Sie dachte an ihre Mutter, die sie vor vier Jahren zu Grabe getragen hatte. Sie war auch einer der Menschen gewesen, für die sie alles getan hatte.
Angefangen bei der Versorgung und Pflege nach ihrem Armbruch, dann bei ihrer beginnenden Demenz. Als liebende Tochter hatte sie an ihrer Seite gestanden und hilflos zusehen müssen, wie ein ehemals klarer Geist zunehmend hinter einem grauen Nebelschleier verschwunden und ein vitaler Körper zu einer kraftlosen Hülle verkommen war.
Sie hatte ihre Mutter viele Jahre begleitet.
In schweren und in noch schwereren Zeiten. Aber es war ihre Aufgabe, ihre Bestimmung gewesen, auch wenn sie fast daran zerbrochen war. Kurz vor dem Ende war die Stimme der Mutter dünn und brüchig gewesen.
Wie die Stimme des Mädchens eben am Telefon. Was war mit ihr geschehen?
Ihre Finger waren eiskalt. Sie hatte etwas übersehen.
Es musste direkt vor ihren Augen geschehen sein.
Sie schlug die Hände vors Gesicht und atmete schwer aus. Hatten ihre eigenen Probleme sie derart eingenommen, dass sie zu blind für die Schicksale um sich herum geworden war?
„Du musst mir helfen.“ Die Worte hallten in ihrem Schädel, schlugen an ihr Herz und ihren Verstand. Bei dem Anruf hatte sie gespürt, dass dieser eindringliche Hilferuf fast zu spät gekommen war.
Aber sie hatte sich zurückgezogen, nachdem ihr Mann sie auch noch verlassen hatte.
Kaum war ihre Mutter unter der Erde, hatte er ihr seine Affäre offenbart. Mehr als das. Wäre es doch bloß Sex mit irgendeiner anderen Frau gewesen, hätte man noch etwas versuchen können. Aber nein, es hatte ja gleich die große Liebe sein müssen.
Nächtelang hatte sie geweint und kaum klar denken können. Immer hatte sie die andere Frau und ihn vor sich gesehen. Wie lange es wohl schon so gegangen war? Dabei hatte sie so viele Zukunftspläne für beide geschmiedet. Nach den anstrengenden Jahren der Pflege hatte sie wieder ein eigenes Leben führen wollen, an sich selbst denken, die Beziehung wieder auffrischen.
Er hatte nicht warten wollen und dieses neue Leben schon begonnen. Ohne sie.
Die Trennung hatte ihr jeglichen Halt entrissen. Keine vier Jahre war das nun her. Seitdem hasste sie sich selbst, ihr Schicksal und ihr tristes Leben. Und wie sie seit dem Telefonat wusste, hatte sie nicht nur sich selbst gehasst und vernachlässigt. Sie hatte auch den Menschen um sich herum kaum Beachtung geschenkt.
Unruhig wanderte sie durch das Wohnzimmer, ging dann auf den Balkon und sah über die Häuser, die vom dritten Stock aus wunderbar zu überblicken waren. Die Vorwürfe drückten schwer auf ihr Gemüt. Wäre sie nur aufmerksamer gewesen, dann wäre es nie so weit gekommen. Sie blickte auf das Telefon und überlegte, ob sie das Mädchen zurückrufen sollte. Aber es war alles gesagt und eine Entschuldigung konnte nicht wieder gutmachen, was sie verpasst hatte.
Diesen Anruf hätte ich vor langer Zeit machen müssen, durchfuhr es sie schmerzhaft. Jetzt konnte sie nur noch tun, worum sie gebeten worden war.
Sie wusste nicht, warum das Mädchen so verändert war. Aber sie war sich ganz sicher, dass sie etwas hätte mitbekommen müssen. Sie hatte ihr Herz und ihre Augen verschlossen, während etwas Schlimmes geschehen war. Inständig hoffte die Frau, dass es nicht zu spät war.
Am nächsten Tag brachte sie das Mädchen zum Bahnhof. Das zierliche Wesen, das sie in das Abteil schob, war kaum wiederzuerkennen.
Was hatte das Mädchen durchmachen müssen?
Mühsam unterdrückte sie die Tränen, als sie den Arm des Mädchens berührte, der geradezu krankhaft abgemagert war. Ihr Körper war kraftlos und erschöpft, sie wirkte völlig desorientiert.
Das Mädchen formte mit den Lippen ein kurzes Danke, doch ihre Worte waren kaum zu verstehen.
„Schaffst du das?“ Ihre Stimme brach. Sie wusste nicht, wie das Mädchen die Zugfahrt überstehen sollte. Aber es nickte tapfer, hob dann den Kopf und blickte erschöpft zu ihr hoch.
Plötzlich erschien ein kurzes Aufblitzen in ihren Augen, das sie aufatmen ließ.
Er war noch da. Der alte Kampfgeist. Der eiserne Wille, es allen zu zeigen und niemals, egal, was geschehen würde, niemals aufzugeben. Die Frau atmete auf. Sie kannte das Mädchen so lange. Wenn von diesem Kampfgeist noch ein winziger Funke übrig war, dann konnte das Mädchen es schaffen.
Was auch immer vorgefallen war, sie würde es überwinden.
Sie verabschiedete sich, stellte sich auf den Bahnsteig und kämpfte erneut gegen die Tränen.
Als der Zug den Hamburger Hauptbahnhof verließ, drückte sie die Daumen und presste die Hände vor ihre Brust.
„Viel Glück, mein Schatz. Vergib mir“, flüsterte sie.
Es war noch nicht zu spät.
Das Mädchen würde es schaffen.
„Wir sind es definitiv nicht“, lallte Rebecca in ihr Schnapsglas.
Der Barkeeper zog fragend eine Augenbraue hoch.
„Füreinander geschaffen“, erklärte sie.
Rebecca schwenkte ihr Glas in großem Bogen, wobei einige Tropfen auf ihre Hand schwappten, und leerte es in einem Zug. Anschließend wischte sie die Hand an ihrer Jeans ab.
„Manche sind es. Für immer glücklich, für immer zusammen. Wir nicht. Ich habe es versaut.“ Sie tippte mit dem abgespreizten Zeigefinger auf das leere Glas. Der Barkeeper überlegte, wie viele Shots die Frau mit den langen braunen Haaren, die ihr über die Schultern und halb ins Gesicht hingen, bereits intus hatte. Aber solange die anderen Gäste sich nicht belästigt fühlten, war es nicht seine Aufgabe, sie zu maßregeln.
Schweigend goss er nach.
Rebecca beschloss indes, ihre gerade gewonnene Erkenntnis mit demjenigen zu teilen, den es am meisten anging. Benny.
Er war der Mann, den sie aus vollstem Herzen liebte und den sie aus ihrem Leben katapultiert hatte.
Das war schon oft passiert, aber noch nie durch einen Seitensprung. Das war das Ende ihrer Beziehung, für immer. Es würde nie wieder ein Becky & Benny geben.
„Sind nicht füreinander geschaffen“, tippte sie in ihr Handy, löschte die Buchstaben aber wieder.
Rebecca drückte auf die Kurzwahltaste.
In der Sportkneipe lief ein Basketballspiel der NBA, einige Fans jubelten in dem Moment laut auf, als die Mailbox ihre Bereitschaft signalisierte, eine Nachricht entgegenzunehmen.
„Das Universum will was anderes. Wir sind nicht füreinander geschaffen. Das weiß ich jetzt. Kannst aber trotzdem anrufen.“ Sie legte auf und ließ den Kopf auf den Tresen fallen.
„Ist deine Freundin heute gar nicht da?“
Rebecca hob den Kopf. Der Barkeeper hatte sich zu ihr vorgebeugt.
„Mirja hat heute keine Zeit. Und außerdem, die bekommst du nicht, die ist vergeben. Und so einen Mist wie ich macht sie nicht.“ Rebecca schob die Unterlippe vor. Sex mit Fremden war nicht gut, schon gar nicht, wenn man einen Freund hatte. Seit einer Ewigkeit. Verdammt, sie hatte durch dieses eine Mal alles kaputt gemacht. Sie würde das nie wieder in Ordnung bringen können. Es war vorbei.
„Aber ich kann ja für sie mittrinken.“ Rebecca grinste breit und bekam das nächste Glas eingegossen. Sie betrachtete die klare Flüssigkeit und dann die Flaschen hinter der Theke. Als Teenager hatte sie dieses Zeug getrunken. Irgendwann war Bier draus geworden, manchmal Wein.
Sie drehte den Kopf zu dem überdimensionalen Fernseher. Orlando Magic spielte gegen die Boston Celtics. Rebecca versuchte, den Ball mit den Augen zu verfolgen, doch es wurde ihr schnell zu anstrengend.
Stöhnend ließ sie ihre Schultern fallen und hob die Hand, um ihre Stirn zu massieren.
War dieser Arm schon immer so schwer gewesen? Sie erinnerte sich nicht. Ein paar junge Männer sprangen auf und jubelten, andere klatschten in die Hände. Rebecca hob langsam den Kopf. Irgendwer hatte den Korb getroffen. Super.
Benny hätte jeden der Spielzüge kommentiert. Er liebte Basketball. Und er kannte sich damit verdammt gut aus. Sie wandte sich wieder dem Glas auf dem Tresen zu. Hätte sie sich nicht von diesem verdammten Tierarzt verführen lassen, hätte sie das Spiel jetzt zu Hause geguckt.
Auf dem Sofa, mit Chips, ein paar Bieren und im Arm von Benny. Da, wo sie hingehörte.
Das wäre richtig gewesen. Nicht diese stinkige Sportsbar. Basketball war ulkig. Große Männer, die nicht mit dem Wachsen aufhören wollten, bis sie über zwei Meter hoch waren, die einem Ball hinterherstürmten, den man in ihren Händen kaum wiederfand und den sie dann in einem Korb versenkten, der ein klitzekleines Stück über ihren Köpfen angebracht war.
Aber ganz manchmal machten sie lustige Drehungen in der Luft. Rebecca kicherte. Diese Drehungen waren drollig. Drollig, lustiges Wort. Sie schüttelte ihre Haare zurück. Das war auch irgendwie nicht richtig. Die gehörten eigentlich zu einem Zopf geflochten.
Aber es war eben nichts mehr wie früher. Nichts so, wie es gehörte. Egal. Vielleicht sollte sie auch Basketball spielen. Oder Minigolf. Da bekam man zumindest einen Schläger und musste nicht so viel laufen. Kichernd ließ sie ihren Kopf auf den Arm sinken. Der Geruch von Alkohol stieg ihr in die Nase. In den letzten zwei Stunden hatten sich kleine Pfützen auf dem Tresen gebildet, die der Barkeeper immer weggewischt hatte. Mit diesem Lappen, der sich sein Leben bestimmt auch anders vorgestellt hatte. Rebecca schnaubte und schloss die Augen.
Irgendwann später wachte sie auf. Das Spiel lief noch. Sie wollte aufstehen und drehte sich auf dem Barhocker. Plötzlich kreiste alles um sie herum. Rebecca streckte die Hand aus, um irgendwo Halt zu finden.
„War ein bisschen viel heute Abend, was?“
Rebecca spürte den festen Griff um ihren Oberarm. Dann begann sie zu kichern.
„Ich wäre fast auf den Boden gerutscht. Lustig.“
Die Frau, die nun auch mit der zweiten Hand nach ihr griff, lächelte.
„Irre lustig“, kommentierte sie trocken.
„Ist dir auch gerade so schlecht?“ Rebecca wandte sich der Frau zu. Mit glasigem Blick erfasste sie helle Augen, kurze blonde Haare und ein sanftes Lächeln.
„Na komm, ich helfe dir“, sagte die Fremde und half ihr hoch. Die Frau legte Rebeccas Arm um ihre Schultern und zog sie Richtung Toiletten.
Das Taxi hielt vor dem Wohnhaus und Rebecca stieg mühsam aus. Die kalte Luft schlug ihr entgegen und sie blieb einen Moment auf der Straße stehen, ehe sie an ihrem pinkfarbenen Schal zerrte und in Zeitlupe einen Fuß vor den anderen setzte. An der Haustür lehnte sie sich an und fuhr mit der Hand suchend durch ihre Handtasche. Irgendwann berührte sie das Schlüsselbund und zog es heraus.
„Da bist du ja“, begrüßte sie es und betrachtete eingehend einen Schlüssel nach dem anderen.
Der zweite, den sie in das Schlüsselloch zu stecken versuchte, passte hinein. Rebecca betrat das Wohnhaus, erklomm mühsam die Stufen und zog sich an dem Geländer hoch. Sie öffnete die Tür, ließ sich erschöpft im Flur ihrer Wohnung zu Boden sinken und zur Seite fallen.
Etwas kitzelte an ihrer Wange und ein grollendes Schnurren drang an ihr Ohr. Rebecca öffnete die Augen.
„Hey, Buggy!“, quietschte sie erfreut, woraufhin ihr Kater erschrocken ein Stück zurücksprang.
Rebecca richtete sich stöhnend auf. Neben ihr auf dem Boden lagen einige Jacken und Schuhe, ein Fach des Schuhschranks stand offen. Rebecca streckte das Bein aus und kickte mit dem Fuß dagegen, so dass es zuklappte.
„Seit ich mich übergeben habe, geht es mir total viel besser“, erklärte sie Bug, der sie mit seinen blauen Augen misstrauisch anblickte. Rebecca winkte mit der Hand ab. „Das interessiert dich gar nicht, oder? Hab ich dich schon gefüttert?“
Nervös tänzelte Bug auf seinen Vorderpfoten. Jedes Wort, das nur annähernd mit Futter zu tun hatte, und er kannte sie alle, versetzte ihn in helle Aufregung.
Er maunzte erfreut.
Rebecca winkelte ein Bein an und stützte sich darauf ab, bis sie schließlich stand. Als ihr kurzer Schwindel nachgelassen hatte, ging sie in die gegenüberliegende Küche. Der Kater folgte ihr mit hocherhobenem Schwanz.
Rebecca öffnete den Kühlschrank und kniff bei dem hellen Lichtschein die Augen zusammen. Sie griff nach der angebrochenen Futterdose und ließ den Inhalt in die Schüssel auf dem Boden gleiten.
„Lecker“, kommentierte sie, als ihr Kater bereits die Hälfte der Mahlzeit verschlungen hatte. Mit der Dose in der Hand blickte Rebecca sich in der Küche um.
Im Gegensatz zu der Dose war ihr Mülleimer voll. Da auch die Arbeitsfläche mit Geschirr, Verpackungen, Tüchern und Obst übersät war, ließ sie die Dose in die Spüle fallen.
Neben dem Topf, in dem schmieriges Wasser gerade emsig neue Kulturen produzierte, war noch ein wenig Platz. Scheppernd landete die Verpackung in der Spüle.
Sie tapste ins Schlafzimmer und streifte sich die Jeans ab. Stöhnend fiel sie ins Bett und zog kraftlos die Decke über sich.
Bilder des Basketballspiels erschienen vor ihren Augen, das schiefe Grinsen des Barkeepers und das Gesicht der Frau, die so nett zu ihr gewesen war. Rebecca drehte sich zur Seite. Die Fremde hatte sie gestützt und später, als sie völlig neben der Spur über der Toilette gekniet hatte, sogar ihre Haare gehalten. Das hätte sonst Mirja getan. Mirja war immer für sie da. Und bei ihrer besten Freundin wäre ihr das auch nicht peinlich gewesen. Bei einer völlig fremden Frau schon. Hoffentlich sah sie diese Frau nie wieder.
Vier Stunden später hämmerte der Wecker direkt in ihr Ohr. Bug stimmte in das Getute mit lautem Miauen ein. Er saß neben ihr. Kerzengerade und offensichtlich gut gelaunt. Rebecca schubste ihn vom Bett. Es gab schließlich Grenzen, die zumindest hin und wieder mal eingehalten werden sollten. Und Montagmorgen war ein guter Zeitpunkt für Konsequenz.
Rebecca machte dem Lärm mit einem Schlag auf die Taste des Radioweckers ein Ende. Sechs Uhr eins. Sie stand auf, fühlte ein Stechen hinter der Stirn, ignorierte es und ging ohne Umwege direkt unter die Dusche.
Mit einem Handtuch um den Körper gewickelt, stand sie wenig später vor dem geöffneten Kleiderschrank. Viele leere Bügel starrten sie an, was den Wäscheberg im Bad erklärte. Rebecca hatte nur noch die Wahl zwischen einer cremefarbenen und einer dunkelblauen Bluse und entschied sich für erstere, die sie vorsichtig in ihrer Tasche verstaute. Von dem Fußboden im Schlafzimmer hob sie ein Sportshirt auf und streifte es sich über. Ihre Haare flocht sie schnell zu einem Zopf.
Anschließend fütterte sie Bug, stellte ihm noch einen Napf mit Trockenfutter hin und streichelte kurz über sein schwarzes Köpfchen. Er drückte sich an ihre Beine und schnurrte.
„Ich wünsche dir auch einen schönen Tag.“
Rebecca schlüpfte in ihre Jacke und setzte den Helm auf. Dann griff sie nach ihrer Tasche und füllte ihren Thermobecher mit Kaffee.
Gähnend verließ sie die Wohnung.
Vor dem Haus stieg sie auf ihr Rad und fuhr Richtung Innenstadt. Seit dem Sommer war sie auf das Fahrrad umgestiegen und benutzte ihren Wagen nur noch selten.
Rebeccas Schädel brummte gewaltig und sie hoffte, dass niemand von der Polizei heute Morgen Lust bekommen hatte, Jagd auf Fahrradfahrer mit Restalkohol im Blut zu machen. Sie nahm einen Schluck Kaffee und atmete tief durch.
An diesem Tag brauchte sie etwas über eine Stunde, bevor sie bei BENO IT-Solutions ankam. Ihr Rekord lag bei 45 Minuten. Rebecca schloss ihr Rad an, betrat das Gebäude und eilte auf die Lesegeräte zu. Hastig zog sie ihren Zugangsausweis durch und passierte das freigegebene Drehkreuz.
Zuerst machte sie sich in den Toilettenräumen frisch, tauschte das Sportshirt gegen die Bluse und trug ein leichtes Parfum auf. Sie blickte in den Spiegel. Ihre Augen waren matt. Seit der Trennung von Benny im Sommer war das Funkeln verflogen. Sie zupfte ihre Bluse zurecht und wandte sich ab. Rebecca schritt über den Flur und betrat ihr Büro, das sie sich mit drei Kollegen teilte.
„Morgen“, grüßte sie und stellte erstaunt fest, dass Tom und Lukas bereits da waren.
„Aus dem Bett gefallen?“, neckte Rebecca die beiden, während sie ihre Jacke aufhängte und die Tasche neben ihren Schreibtisch fallen ließ.
„Konnte es nach dem Wochenende kaum erwarten, wieder hier zu sein“, frotzelte Lukas mit hochgezogenen Augenbrauen.
Rebecca startete ihren Rechner.
„Ich hole mal Kaffee“, meinte Tom und stand auf. „Soll ich für die Neue auch gleich einen Becher holen?“
Rebecca fiel der Stift runter, den sie gerade durch die Finger hatte kreisen lassen. „Welche Neue?“
„Hallo ihr Lieben, ich wünsche euch einen schönen guten Morgen!“ Ingo betrat das Büro. Ausgeschlafen, gut gelaunt und offensichtlich bereit, vereint mit seinen Kollegen, in die neue Arbeitswoche zu starten.
„Du zwitscherst wie ein Vogel. Trill gefrühstückt?“, fragte Rebecca und verdrehte die Augen.
„Nein, Heide hat ein Bircher-Müsli mit Früchten gemacht.“ Das Strahlen aus Ingos Gesicht war nicht zu vertreiben. Rebecca überlegte, ob er sich Botox gespritzt hatte, damit es blieb.
„Kaffee?“, fragte Tom.
„Gern, danke“, freute sich Ingo.
Rebecca stöhnte auf. „Ehrlich Jungs, gleich wird mir schlecht.“
„Tom, Ingo, könnt ihr euch bitte an Büroregel Nummer eins halten? Vor dem ersten Liter Kaffee wird Becky nicht angesprochen. Ehrlich Kollegen, das sollten wir mittlerweile doch alle gelernt haben.“ Lukas warf seine Dreadlocks nach hinten und grinste fast noch breiter als Ingo.
„Ich kann auch Homeoffice machen, wenn euch das lieber ist“, bot Rebecca sarkastisch an.
Tom verschwand. Lukas hackte grinsend auf seiner Tastatur herum, während Ingo, leise vor sich hin summend, seiner Lieblingsbeschäftigung nachging, dem Aussuchen eines passenden Tees für den Vormittag. Mit spitzen Fingern tippte er die diversen Beutel an, die er in einer Metalldose im Schreibtisch wie einen Schatz verwahrte. Tom kam zurück und verteilte die gefüllten Becher.
Aromatischer Duft breitete sich in dem Raum aus und Rebecca atmete genussvoll den Dampf ein. Zweiter Kaffee vor acht Uhr morgens. Der Tag konnte beginnen.
Doch dann fiel es ihr siedend heiß ein. Was hatte Tom vorhin gesagt? Eine Neue? Verdammt, wie hatte sie das nur vergessen können. Rebecca ließ den Kopf in die Hände sinken und starrte vor sich auf die Tischplatte. Am Freitag hatten sie ein Meeting gehabt und ganz am Ende hatte der Projektleiter mitgeteilt, dass eine neue Kollegin am Montag anfangen würde. Verdammt. Rebecca zog die Stirn kraus. Sie hatte es total verdrängt. Oder am Wochenende im Suff ertränkt, was wohl eher zutraf, gestand sich Rebecca ein.
„Wie hieß die Kollegin nochmal?“, fragte sie verzweifelt in die Runde.
„Mary“, flötete Lukas. „Nachnamen weiß ich nicht mehr. War mir zu kompliziert.“
„Mary Okoro-Willke. So kompliziert ist das gar nicht.“
Alle drehten sich zur Tür. Dort stand eine junge Frau mit langen Rastazöpfen. Ihre Augen waren noch dunkler als ihre schokobraune, ebenmäßige Haut. Sie lächelte, wobei ihr Strahlen den ganzen Raum erhellte. Rebecca musterte die junge Frau von ihrem Schreibtisch aus. Ihre mangelnde Körpergröße glich sie mit stolzer Haltung und diesem unglaublich herzlichen Lächeln aus. Eine Frohnatur, dachte Rebecca, schlug kurz die Augen nieder und nahm noch einen großen Schluck Kaffee.
Björn Richter trat vor. „Mary ist gerade aus Hannover hierhergezogen. Es hat etwas gedauert, aber jetzt haben wir endlich die personelle Unterstützung bekommen, die wir schon so lange beantragt haben. Mary, dies hier sind Tom, Ingo und Lukas. Dort drüben sitzt Rebecca. Sie wird deine Einarbeitung übernehmen.“
Rebecca bemühte sich um ein Lächeln, stand langsam auf und reichte Mary die Hand.
„Herzlich Willkommen bei BENO und bei uns im Team.“
„Ich freue mich hier zu sein, vielen Dank.“
Rebecca bemerkte, wie die Gesichter von ihren Teammitgliedern leuchteten, als Mary mit ihrem einnehmenden Wesen in die Runde blickte. Rebecca hingegen versuchte, ihre Mundwinkel unter Kontrolle zu bringen.
Ihr Team funktionierte gut, jeder hatte seinen Platz, aber auch seine Eigenheiten, an die sie mittlerweile gewöhnt war. Die Mitglieder des Teams waren wie die Jumper auf einem Motherboard, diese kleinen Steckbrücken, die Pins miteinander verbanden. Jeder hatte seinen Platz, sie waren optimal gesetzt für höchste Effizienz. Und nun kam ein neues Bauteil hinzu. Ein verdammt fröhliches dazu.
Björn hatte sie am Freitag gebeten, die Einarbeitung für die Kollegin zu übernehmen. Mary hatte seit dem Studium erst wenig Berufserfahrung sammeln können. Rebecca sollte sich um sie kümmern, damit sie fachlich eingewiesen wurde und sich in dem neuen Unternehmen orientieren konnte.
Rebecca hatte in dem Gespräch mit aller Macht das Argument unterdrückt, dass sie sicher Kindergärtnerin geworden wäre, hätte sie sich um die Ausbildung von Anfängern kümmern wollen.
Rebecca biss sich auf die Unterlippe. Da hatte sie es einmal geschafft, nicht sofort auszuplappern, was ihr in den Sinn kam, und dies war der Dank.
Hoffentlich war diese Mary clever, dann würde diese ganze Einarbeitung nicht so lange dauern und sie selbst könnte wieder in Ruhe arbeiten.
„Möchtest du einen Kaffee?“, fragte Tom und war bereits aufgesprungen.
„Gerne, danke.“
Rebecca zeigte Mary ihren Schreibtisch, der direkt neben ihrem eigenen stand. Während Rebecca sich kurz ihren E-Mails zuwandte, holte Mary einen Stift mit einem bunten Puschel am oberen Ende aus ihrer Tasche, legte einen großen Notizblock daneben und sah sich mit großen Augen um.
„Ok, dann beginnen wir mal mit einer kleinen Führung durch die Räume.“
Rebecca stand auf und öffnete die Bürotür. Mary folgte ihr mit wippenden Schritten. Rebecca musste an Mirja denken, ihre beste Freundin. Sie hatte auch diesen federnden Schritt und war ebenfalls eine von diesen Frohnaturen.
Aber sie kannten sich schon eine Ewigkeit. Rebecca wollte definitiv keine weiteren Grinsebären in ihrem Leben haben.
„Hier ist das Herzstück der Etage.“ Rebecca zeigte auf die kleine Küche, in der bunte Stühle um vier runde Tische gruppiert waren. Auf einer Arbeitsfläche standen eine Mikrowelle, eine vor sich hin gluckernde Kaffeemaschine und ein Wasserkocher. Rebecca wies auf einen Kühlschrank.
„Da drin braucht alles deinen Namen, ansonsten futtern es irgendwelche Kollegen weg. Das geht schneller, als du denkst. Selbst Hyänen hätten keine Chance, hier etwas abzubekommen.“
„Hast du es schon mal mit Stromschlägen probiert?“, lachte Mary. Rebecca musste grinsen.
„Nein, aber das ist eine hervorragende Idee.“ Sie führte die neue Kollegin in alle Büros und stellte sie überall vor. Anschließend kehrten die Frauen wieder zu ihrem Team zurück.
Ingo war zu einem Meeting gegangen, während Tom und Lukas angestrengt auf ihre Bildschirme blickten. Nur das dumpfe Klappern der Tastatur von Tom durchbrach die Stille.
„Wir hängen hinter dem Zeitplan. Das ist so ungefähr das einzige, das Björn nicht leiden kann. Also hängen wir uns rein“, erklärte Rebecca. Mary nickte.
„Er ist ein guter Projektleiter, oder?“, fragte sie. Rebecca hob den Daumen. „Der Beste. Und darum leisten wir hier auch ordentlich. Du kannst mit deinem Stuhl zu mir herüberrücken. Und dann fangen wir an.“
Rebecca erklärte Mary den Aufbau des aktuellen Projektes.
„Unser Kunde ist ein Logistikunternehmen. Sie wollen eine flexible Software, mit der sie spontan auf Änderungen reagieren können. Es gibt die Dispositionssoftware, dann eine App für die Fahrer und ein Kundenportal zur Auftragserfassung.“
Mary nickte und machte sich eine kurze Notiz.
„Wir nutzen für dieses agile Projekt die Scrum-Methode“, ergänzte Rebecca. „Es erfolgt ein ständiger Austausch mit dem Kunden und seinen Mitarbeitern. Es gibt keine langfristige Planung, wir sind total flexibel.“
„Und das funktioniert? Ich kenne das bisher nur theoretisch“, fragte Mary interessiert nach.
Rebecca nickte. „Bei diesem Projekt klappt es sehr gut. Finde dich erstmal ein, dann wirst du es sehen.“
Am Nachmittag erhielt Mary ihre erste Aufgabe, bei der Rebecca erneut die Einweisung übernahm.
Um kurz nach siebzehn Uhr verließ Rebecca das Gebäude. Sobald sie auf dem Parkplatz stand und das Schloss von ihrem Rad abnahm, spürte sie, wie alle Kraft schlagartig ihren Körper verließ. Wie ein aufgeblasenes Schwimmtier, aus dem man die Luft rausließ.
Bevor sie Benjamins Bild vor sich sehen konnte, bevor sein Lächeln wieder schmerzhaft in ihrer Erinnerung auftauchen würde, legte sie schnell den Gurt ihres Helms an und fuhr los.
Rebecca schlängelte sich an parkenden Autos vorbei und wich zwei Hunden aus, die plötzlich vor ihr auf den Radweg sprangen.
„Mistviecher“, schimpfte sie, während sie noch stärker in die Pedale trat. Fluchend fuhr sie weiter, während sie den Osterbekkanal überquerte und die bunt dekorierten Schaufenster der Bramfelder Straße an ihr vorbeizogen.
Die Bewegung ihrer Beine war routiniert. Rebecca blickte auf den Radweg vor sich, wobei ihre Gedanken immer wieder abdrifteten. Sie dachte an Kai, an seine schwarzen Augen, an seinen Körper, dem sie erlegen war. Verdammte Scheiße. Er hatte sie nicht nur dazu gebracht, ihren Freund zu betrügen, er hatte sie benutzt und hintergangen.
Etwas hinter ihrer Stirn pochte, als sie daran dachte, dass in ihrem Leben nichts normal zu laufen schien. Als wäre ein Seitensprung nicht schon unverzeihlich genug, sie hatte sich dafür einen Mörder aussuchen müssen. Verdammt. Welcher vernünftige Mensch ließ sich so blenden und manipulieren? Die Beziehung mit Benny war nie reibungslos gewesen. Rebecca hatte schon vor langer Zeit eingesehen, dass sie selbst dafür viel zu kompliziert war. Aber dieser verdammte Sex mit Kai war der Todesstoß für Bennys Liebe gewesen. Er hatte ihr so viel verziehen im Laufe der vielen Jahre voller Unruhe, Hochs und Tiefs.
Er hatte seinen Traum aufgegeben, in den USA Fotografie zu studieren. Ihretwegen. Benny hatte all ihre Macken hingenommen und er hatte sogar akzeptiert, dass sie nicht mit ihm zusammenziehen konnte. Stoisch ertrug er die ganzen Probleme, die sie mit Gefühlen und Nähe hatte. Und doch liebte er sie. Weil er wusste, dass sie zusammengehörten. Weil er wusste, dass sie die Frau war, die für ihn bestimmt war.
Und dann hatte sie ihn im Sommer betrogen.
Tränenüberströmt betrat sie ihre Wohnung. Bug kam angelaufen, wobei seine Pfoten bei jedem Schritt auf dem Laminat klackerten.
„Hey, Bug.“ Rebecca schluckte und ließ sich zu Boden sinken. Bug rollte sich auf ihrem Schoß zusammen. Rebecca lehnte ihren Kopf an die Wohnungstür und strich mit den Fingern durch sein weiches Fell. Sein gurrendes Schnurren beruhigte ihren Herzschlag.
„Nicht, dass du eine andere Wahl hättest. Aber es ist schön, dass du bei mir bleibst.“
Bug maunzte leise und kuschelte seinen Kopf an ihren Bauch. Rebecca hob ihn hoch, drückte sich schwerfällig an der Wand ab und trug ihn ins Wohnzimmer. Sie ließ sich auf das Sofa sinken und Bug setzte sich neben sie, wobei er sich aufrichtete und durch seinen Stolz an Bastet erinnerte, die ägyptischen Katzengöttin.
„Kannst du den Kühlschrank öffnen und mir ein Bier holen?“, fragte Rebecca träge.
Bug maunzte und warf ihr einen abfälligen Blick zu.
„Ok, hab ich verstanden. Deine Erziehung in Bezug auf Kunststückchen wurde eindeutig vernachlässigt.“ Er reckte kurz den Hals und sobald Rebecca sich etwas aufrichtete, sprang er vom Sofa und sprintete in die Küche. Das Wort Kühlschrank hatte in ihm starke Sehnsüchte nach der nächsten Mahlzeit geweckt.
Langsam schlich Rebecca hinter ihm her. Sie griff sich eine Bierflasche aus dem Kühlschrank, öffnete sie und nahm einen großen Schluck. Bug schob mit der Nase den Futternapf über den Boden.
„Du bekommst nachher was.“ Beleidigt trollte er sich.
Rebecca ging wieder ins Wohnzimmer. Auf dem Tisch lag noch eine angebrochene Packung Chips, die sie als Abendessen verzehrte. Die Chips waren pappig und Rebecca überlegte, wie lange die Tüte dort schon lag, erinnerte sich aber nicht. Auch nicht an die asiatischen Nudeln mit Gemüse, deren bräunliche Reste an der Styroporverpackung und auf der Tischplatte klebten. Die Nudeln waren vermutlich ein Abendessen irgendwann in der letzten Woche gewesen.
Rebecca schob mit dem Fuß ein paar zerknitterte Kleidungsstücke vom Sofa und streckte sich aus. Sie blickte auf den Fernseher, ohne der Sendung wirklich zu folgen. Träge ließ sie das Programm über sich ergehen.
Als der Wecker klingelte, öffnete Rebecca die Augen. Bug lag neben ihr, den Kopf auf dem Kissen. Ihr Nacken schmerzte.
„Du weißt schon, dass das Bett nicht für dich ist?“ Hocherfreut drehte sich Bug auf den Rücken, damit sein Frauchen ihn am Bauch kraulen konnte.
„Hast du mir zugehört?“, fragte Rebecca skeptisch, woraufhin der Kater auffordernd maunzte.
Grummelnd begann sie, mit den Fingerspitzen durch das weiche Fell an seinem Bauch zu fahren.
Sanft drückte er seine Vorderpfote an ihre Nase.
„Gut, dass du kein Mann bist. Sonst würdest du es nicht so gut mit mir aushalten. Genug gekuschelt, ich muss jetzt aufstehen.“
Bug sprang aus dem Bett.
Er tänzelte mit hocherhobenem Schwanz, dessen Spitze leicht hin und her wippte, in die Küche. Rebecca drückte sich vom Bett hoch, rieb sich verschlafen über das Gesicht und schlich mit hängenden Schultern in das kleine Badezimmer.
Eineinhalb Stunden später goss Rebecca dampfenden Kaffee in fünf bunte Becher und verteilte diese auf den Schreibtischen.
„Womit starten wir heute?“, fragte Mary erwartungsvoll.
Da war es wieder, dachte Rebecca, dieses breite Lächeln, das mitten aus dem Herzen zu kommen schien. Sie griff nach ihrem Becher.
„Gleich haben wir unser Daily-Meeting mit dem Kunden. Ich stelle dich dann kurz vor. Sie kennen unser gesamtes Team, obwohl wir als Tester, und auch die Programmierer, natürlich nicht so viel mit ihnen zu tun haben wie die Entwickler.“
Rebecca unterdrückte einen Seufzer.
Je schneller und gründlicher sie Mary Okoro-Willke einarbeitete, umso eher hätte sie ihren Schreibtisch und ihre Arbeit wieder für sich allein.
Am späten Nachmittag verabschiedete sich Mary von den Kollegen und wünschte einen schönen Feierabend. Rebecca genoss es zu arbeiten, ohne jeden Arbeitsschritt kommentieren zu müssen. Eine Stunde später fuhr sie ihren Rechner herunter.
Auf dem Heimweg dachte sie wieder an Benny und kämpfte gegen den Brechreiz. Wann würde es endlich vorbei sein? Wann würden ihre Gedanken endlich verstehen, dass es kein wir mehr gab? Dass er für immer aus ihrem Leben verschwunden war?
In ihrer Wohnung angekommen, ließ sie ihre Tasche und die Jacke kraftlos im Flur zu Boden fallen, füllte mechanisch Bugs Fressnapf, stolperte durch den Flur und ließ sich auf das Sofa sinken. Rebecca griff nach der angebrochenen Bierflasche von gestern, oder stand sie dort schon länger?, und leerte sie in einem Zug.
Angeekelt verzog sie das Gesicht. Bug stolzierte ins Zimmer.
„Kannst du mir heute vielleicht ein Bier holen?“, fragte Rebecca ihn, doch er begab sich in das Körbchen auf seinem Kratzbaum, richtete sich kerzengerade auf und ließ seinen Blick überheblich durch das Zimmer schweifen.
„Ja, es ist ein bisschen unordentlich. Hat der Herr sonst noch etwas zu meckern? Immerhin habe ich dich gerade gefüttert.“
Er maunzte und widmete sich seiner weißen Stoffmaus Molli. Rebecca legte sich auf das Sofa.
Das Telefon klingelte.
Rebecca schreckte hoch und blickte sich nach dem Hörer um, das Klingeln war deutlich zu vernehmen. Sie entdeckte es auf dem Kratzbaum und wunderte sich, dass Bug es von dort noch nicht hinuntergeworfen hatte.
„Hey, Mirja hier. Soll ich vorbeikommen?“
Rebecca kniff die Augen zusammen.
„Du stehst vor der Tür, oder?“, mutmaßte sie.
„Wo denn sonst“, konterte Mirja und ihr helles Lachen schallte fröhlich durch die Leitung.
Rebecca ging zur Wohnungstür, drückte den Summer für die Haustür und hörte die hopsenden Schritte ihrer Freundin.
Dem strahlenden Lächeln folgte eine stürmische Umarmung. Beides ließ Rebecca über sich ergehen.
„Du siehst scheiße aus“, bemerkte Mirja und blies sich eine Haarsträhne aus der Stirn.
„Und ich dachte, ich wäre diejenige von uns, die ihr Mundwerk nicht unter Kontrolle hat. Lustig.“
„Keine Angst, ich bin nur zu dir so ehrlich und ansonsten kann ich meine süße Zunge sehr gut zügeln.“
Mirja grinste, wobei ihre dunklen Augen funkelten.
Sie ging in Richtung Wohnzimmer, stieg dabei über die am Boden liegenden Kleidungsstücke, gesammeltes Leergut und zerknüllte Werbeprospekte. Mirja setzte sich auf das Sofa und legte ihre Jacke neben sich. Ihr Blick glitt stumm über die Müllberge auf dem Glastisch und dem Boden.
Als sie sich gerade mühsam einen Kommentar zu dem chinesischen Essen verkniff, sprang Bug von dem Kratzbaum hinunter, flitzte an Rebecca vorbei und hopste auf das Sofa. Maunzend drückte er sich an Mirja.
„Hallo, Bug. Wie geht’s?“
Er schnurrte mitleidig in der Hoffnung, die ganze Aufmerksamkeit des Besuchs zu erhalten. Trotz seiner Bemühungen widmete Mirja sich wieder Rebecca, die sich neben sie setzte.
„Benny hat mich angerufen. Er meinte, du hättest ihm wieder eine von diesen Nachrichten auf die Mailbox gequatscht. Becky, ehrlich. Das solltest du sein lassen. Zumindest nachts, wenn du etwas getrunken hast.“
„Aber er sollte es wissen, denke ich“, maulte Rebecca, die sich nicht erinnern konnte, ihrem Ex eine Nachricht hinterlassen zu haben.
„Wie auch immer, das nächste Mal schickst du deine literarischen oder sprachlichen Ergüsse einfach an meine Nummer.“
Rebecca nickte schuldbewusst.
„Ich habe nachgedacht.“ Mirja wühlte in ihrer überdimensionalen Handtasche herum und Rebecca versuchte, jeden Gedanken an das, was auch immer kommen würde, zu verdrängen.
„Wein oder Bier?“, fragte sie stattdessen.
„Wasser, danke.“ Mirja tauchte noch tiefer in ihre Tasche ein und zog ein paar Zettel hervor. Rebecca holte Getränke aus der Küche. Als sie zurückkam, war die Tischplatte vom Müll freigeräumt und verschiedene Zettel lagen nebeneinander aufgereiht.
„Ich hab das mal kurz da unten hingelegt“, erklärte Mirja mit einem Blick auf den Müllberg am Boden und nahm ihr Glas entgegen. Rebecca blickte auf den kleinen Stapel, der nun auf dem Boden neben dem Tisch lag. Ihr Blick schweifte über die Fußleisten, an deren Rändern sich dicke Staubflusen gebildet hatten. Schulterzuckend setzte sie sich.
„Habe ich eine Chance, nicht zu erfahren, was das hier alles ist?“, fragte Rebecca skeptisch und nippte an ihrem Rotwein.
„Natürlich nicht.“ Mirja strahlte und riss die Hände in die Höhe. „Das sind ganz tolle Ideen. Von mir, für dich.“
„Äh. Danke?“
Mirja verdrehte in gespieltem Entsetzen die Augen und tippte mit dem Zeigefinger, an dem ein breiter silberner Ring funkelte, auf die ersten Zettel.
„Pass mal auf. Das Ganze mit Benny ist nun zwei Monate her. Es wird Zeit für dich, endlich nach vorne zu sehen.“
Rebecca ließ sich zur Seite fallen.
„Echt jetzt?“, fragte sie genervt.
„Ja“, frohlockte Mirja in hellem Singsang.
„Hier. Das ist Vorschlag Nummer eins. Ein Wochenende mit einem Glückscoach. Da lernst du, das Alte hinter dir zu lassen und mit offenen Armen das Leben in dein Herz zu lassen.“
„Boah, das klingt, als hättest du persönlich den Werbeprospekt dafür entwickelt.“
Rebecca raffte sich auf und nahm einen großen Schluck Rotwein. „Kann ich nicht einfach ...“
„Nein“, entschied Mirja. „Wir müssen etwas machen.“
„Wir?“ Rebecca zog die Augenbrauen hoch.
Mirja zuckte die Achseln. „Wir suchen aus, also ich. Aber natürlich lasse ich dich in dem Glauben, dass du mit aussuchst. Machen musst du es dann alleine. Bis auf den nächsten Vorschlag, denn da komme ich mit.“
„Super.“ Rebeccas Schultern sackten noch tiefer.
Mirja ging zum nächsten Papierhäufchen über.
„Das ist ein super Hotel an der Nordsee. Da könnten wir uns ein Wellness-Wochenende gönnen.“
„Und das soll mir helfen, weil ...?“, erkundigte sich Rebecca skeptisch.
„Weil ich mitkomme und wir ein schönes Wochenende haben. Quasi ganz ohne therapeutischen Ansatz.“
Der nächste Zettel war leer.
„Der ist für ein Abschiedsritual, das du selbst entwerfen kannst“, erklärte Mirja euphorisch. „Überlege dir, was du von deinem alten Ich behalten willst, was für ein neues Ich gebraucht wird, was dein neues Ich möchte und braucht.“
„Seine Ruhe?“ Rebecca streckte sich gähnend.
Mirja ignorierte den Einwand und zeigte auf eine leere Tabelle mit der Überschrift Zukunftsplan. Ihre Augen leuchteten vor Begeisterung.
„Schreib in die linke Spalte auf, was du ändern willst. In die rechte kommen dann die einzelnen Schritte zum Ziel hin. Also, was nehmen wir?“ Bug blickte interessiert auf, entschied dann aber, dass die Papiere auf dem Tisch es nicht wert waren, sich von der Stelle zu bewegen. Zumal Mirja ihn ununterbrochen kraulte.
„Ich will so einen Quatsch nicht.“
„Und ich will, dass du endlich über Benny hinwegkommst. Dabei fällt mir gerade die einfachste Variante ein, damit sparst du dir das alles hier.“
„Ok, die nehme ich.“
Verzückt griff Mirja zum Telefon, drückte eine Kurzwahltaste und reichte es Rebecca.
„Ruf ihn an.“
Bug schrak durch den lauten Knall auf, als das Telefon gegen die Wand prallte.
„Du musst irgendwas machen. So geht es wirklich nicht weiter, Becky. Sprich mit ihm.“
„Ich kann nicht.“ Rebecca kämpfte mit den Tränen und hasste sich dafür, ihr Leben nicht in den Griff zu bekommen.
Als Mirja später gegangen war, hallten ihre Worte noch in Rebeccas Ohren.
„Du traust dich nur nicht.“
Rebecca leerte die Flasche Wein und blickte zu dem Telefonhörer, der immer noch am Boden lag.
Mirja buchte ein Doppelzimmer in dem kleinen Hotel in Strandnähe, das sie bereits ausgesucht hatte. Voller Begeisterung zeigte sie die Internetseite Rebecca, die sich von der Euphorie ihrer Freundin jedoch nicht anstecken ließ. Rebecca buchte aber vorab zwei Wellness-Massagen, um Mirja für ihre Mühe zu danken. Sie fand es immer wieder erstaunlich, dass diese Frohnatur es mit ihr aushielt.
Zweieinhalb Wochen später verbrachten Mirja und Rebecca ein entspanntes Wochenende an der Nordsee und wie versprochen, unterließ Mirja jeden therapeutischen Ansatz.
Mirja gab sich damit aber noch nicht geschlagen und buchte ein Wochenendseminar bei einem Glückscoach für Rebecca.
„Als Dankeschön, dass du die Blumen bei uns gegossen hast, als Dirk und ich im Urlaub waren.“ Rebecca verdrehte die Augen bei dieser fadenscheinigen Ausrede, nahm aber widerwillig den Gutschein an.
Bereits drei Wochen nach dem Wellnessurlaub packte sie erneut ihre Tasche und brach an den Großen Plöner See auf. Gleich nach ihrer Rückkehr rief sie Mirja an.
„Das ganze Wochenende war eine Katastrophe!“, schimpfte sie durch den Hörer. „Wir haben meditiert, Tai-Chi gemacht, geredet und in uns hineingehört. Von den Gruppen- und Einzelgesprächen werde ich noch in zehn Jahren Albträume haben.“
Mirja lachte. „Komm, es war nur ein Wochenende.“
Rebecca brummte, während sie den Hörer zwischen Schulter und Ohr einklemmte und ihren Kühlschrank nach Alkohol durchsuchte. Rebecca griff nach einem Kellerbier und stieß mit der Hüfte die Kühlschranktür zu. Verwundert drehte sie den Kopf. Ihre Koffer standen im Flur, der merkwürdig geräumig wirkte.
„Du hast hier doch nicht etwa aufgeräumt?“, erkundigte sich Rebecca skeptisch.
„Nein. Nur etwas. Damit Bug besser durch die Wohnung flitzen konnte. Ich war ja nur zum Füttern da, er braucht schließlich etwas Bewegungsfreiheit.“
„Hä?“ Rebecca öffnete die Flasche.
„Ok“, gab Mirja zu. „Ich habe ein wenig Müll rausgebracht und einen Hauch Ordnung in dein Chaos gezaubert. Offensichtlich kann ich dir nicht helfen, dann vielleicht deiner Wohnung. Sorry.“
Rebecca ließ den Kopf hängen und lehnte sich an den Kühlschrank.
„Entschuldige. Ich kann gar nicht wieder gutmachen, was du alles für mich machst.“
„Quatsch. Das wird schon wieder. Bestimmt breche ich mir irgendwann mal das Bein und dann darfst du dich um mich kümmern.“
„Geht klar, ich werde da sein.“
Am nächsten Morgen wachte sie mit dröhnendem Schädel auf. Der Kopfschmerz verschwand, sobald Rebecca die Eingangshalle von BENO IT-Solutions betrat. Sie liebte Computer und Software wegen ihrer klaren Strukturen. Entweder war etwas richtig oder eben nicht.
Wenn etwas fehlerhaft war, musste die Hardware getauscht oder die Software umprogrammiert werden.
Das Leben konnte so einfach sein.
Wieso war sie nicht einfach als Computer zur Welt gekommen?
„Moinsen“, grüßte Lukas und wirbelte seine verfilzten Dreadlocks, wodurch er fast seinen Becher umgestoßen hätte.
„Du bist aber früh da“, erwiderte Rebecca überrascht.
„Ich hab mich so auf unseren morgendlichen Kaffee gefreut, nachdem du dich am Wochenende hast glücklich machen lassen, dass ich es gar nicht abwarten konnte“, grinste er.
„Dir erzähle ich nochmal was, du Spinner.“
„Einen Fröhlichen, wünsche ich euch!“ Ingo trat ins Büro und stellte seine Tasche ordentlich neben seinen Schreibtisch. „Es wird ein herrlicher Tag heute.“
„Wetterkanal geguckt oder hast du wieder in deinem Teesatz gelesen?“, mutmaßte Lukas grinsend.
„Gefühl, mein jugendlicher Kollege. Auch Intuition genannt.“ Ingo schob zufrieden seine Brille hoch und startete seinen Rechner.
„Für Lukas ist das definitiv ein toller Tag, wenn er mit knapp dreißig noch als jugendlich bezeichnet wird“, neckte Rebecca.
„Frechhörnchen“, maulte Lukas und kniff die Augen zusammen.
„Wo ist denn unser Sonnenschein? Also der zweite?“, erkundigte sich Ingo, wobei er Rebecca einen schnellen Blick zuwarf und sich dann wieder seiner Metalldose zuwandte, um nach einem passenden Tee zu suchen.
In dem Moment betraten Björn Richter und Tom gleichzeitig das Büro. Während Tom sich nach einem kurzen Gruß abgehetzt in seinen Stuhl fallen ließ, blieb der Projektleiter in der Tür stehen.
„Schön, dass ihr alle da seid. Mary hat mich angerufen.“ Er lehnte sich an die Türzarge. „Sie ist gestern Abend die Kellertreppe hinuntergestürzt und hat sich an der Schulter verletzt. Es sieht nach einer Schulterprellung aus, könnte aber wohl auch ein Sehnenriss sein. Dann würde sie für einige Wochen ausfallen. Sie wartet auf einen Termin für das MRT, erst anschließend können die Ärzte Genaueres sagen.“
Betretenes Schweigen folgte.
„So eine Schulterverletzung ist übel“, warf Lukas ein. „Ich hatte mal eine Prellung nach einem Unfall beim Kiten. Nur eine Prellung, wie gesagt, aber die war schon wirklich grenzwertig. Wenn da wirklich was gerissen ist, wird das lange dauern und verdammt schmerzhaft sein.“ Lukas fingerte an dem Lederband, das er um den Hals trug.
„Die arme Kleine. Was machen wir, Blumen vielleicht?“, schlug Ingo vor. Björn winkte ab.
„Wir warten erstmal die nächste Untersuchung ab, denke ich. Wenn wir Details wissen, könnt ihr euch ins Zeug legen. Ich bin natürlich dabei.“
Das Team nickte geschlossen. Rebecca blickte zu dem leeren Schreibtisch, auf dem der Kugelschreiber mit dem Puschelaufsatz lag. Seit über sechs Wochen war Mary nun hier und bereits ein Teil des Teams geworden. Es war ein merkwürdiges Gefühl, dass die Kollegin nicht da war.
Am nächsten Tag meldete Mary sich erneut.
Die Schulterprellung hatte sich nach weiteren Untersuchungen als Sehnenriss entpuppt. Rebecca hatte das Gespräch angenommen, weil Björn in einem Meeting war. Die Stimme am anderen Ende der Leitung klang müde.
„Ich soll drei- bis viermal pro Woche Physiotherapie bekommen. Wenn das nicht hilft, müssen sie operieren.“
„Das wird schon wieder“, versuchte Rebecca zu trösten.
Zwei Wochen später stand Rebecca vor dem kleinen Einfamilienhaus, in dem Mary mit ihrem Mann lebte.
Es lag in einer Straße, die in einem großen Bogen abseits der Hauptstraße verlief. Diese halbkreisförmige Straßenführung schirmte die Häuser ab, so dass sie wie in einer idyllischen Vorstadtsiedlung dalagen.
Rebecca blickte zu dem alten Reetdachhaus, über dessen Eingang eine schmiedeeiserne Laterne brannte. Die braunen Fenster schienen frisch gestrichen und bildeten einen ruhigen Übergang zu dem rötlichen Klinker, während der Giebel in einem hellen Blau gehalten war.
Das Licht der Straßenlaterne fiel auf die großen Steinplatten des Weges, der von hohen Büschen gesäumt wurde. Rebecca ging zum Eingang, drückte den Klingelknopf und betrachtete den Blumenkübel, aus dem üppige Blumen bunt leuchteten, während der restliche Vorgarten in spätherbstlicher Tristesse dalag.
Die Tür öffnete sich und Rebecca wich automatisch zurück. In kerzengerader Haltung blickte sie ein riesiger Mann an. Hüne, schoss es Rebecca durch den Kopf, während ihr Blick über die langen blonden Haare des Mannes, über seine breiten Schultern, bis zu dem T-Shirt, das über der muskulösen Brust spannte, huschte.
Rebecca räusperte sich.
Was hatte Lukas noch erzählt? Mary war verheiratet und ihr Mann sei Maler. Seinetwegen der Umzug nach Hamburg, weil er hier beruflich bessere Chancen und andere Möglichkeiten hatte.
„Hi, ich bin Becky. Ich wollte zu Mary“, begann Rebecca und presste ihre Hand um die Stiele der Blumen, die sie, von einer fröhlichen Floristin zu einem wunderschönen Strauß gebunden, mitgebracht hatte.
„Ich bin Tarek, komm herein. Ihre Physio-Tante ist gerade da. Aber sie müssten gleich fertig sein.“
Er wich zur Seite und Rebecca quetschte sich zwischen ihm und der geöffneten Tür in das Haus.
Draußen war es bereits dunkel, der lange Flur wurde nur spärlich beleuchtet, an seinem Ende erkannte sie die Küche. Tarek deutete auf die links abzweigende Tür, die ins Wohnzimmer führte.
Rebecca begrüßte kurz ihre Kollegin, die mit angespanntem Gesicht auf einem Stuhl saß und die Übungen machte, zu der eine schlanke Frau mit kurzer blonder Fransenfrisur sie anwies.
Rebecca wollte nicht stören und blickte sich schweigend in dem gemütlichen Wohnzimmer um.
Holz und Naturtöne dominierten den Raum, der in ein Esszimmer überging. Ihre Blicke wanderten sofort zu den Wänden, an denen große Leinwände hingen, die abstrakte Personen und Gesichter zeigten, die durch ihre knallbunten Farben ins Auge stachen.
Rebecca verstand nichts von Kunst, war auch nicht besonders interessiert daran. Aber diese Bilder waren faszinierend und fesselten den Blick des Betrachters. Neugierig trat sie näher heran.
„Ich muss zum Kurs, wir sehen uns heute Abend.“
Rebecca drehte sich um und sah, wie der Hüne sich zu Mary hinunterbeugte und ihr einen zärtlichen Kuss gab. Nun erst nahm Rebecca das Papier von den Blumen und schwenkte den Strauß.
„Kleiner Gruß von deinem Team“, begann sie. „Ich warte im Flur, ok?“ Rebecca fand es unangebracht, bei der Therapie zu stören.
„Wir sind auch gleich fertig. Magst du in der Küche vielleicht eine Vase suchen? Irgendwo in den oberen Hängeschränken. Das wäre nett.“
Rebecca zog sich leise zurück. Am hinteren Ende des Wohnzimmers stand ein großer Esszimmertisch mit dick gepolsterten Stühlen. Von dort ging linksseitig ein Wintergarten ab.
Rebecca wandte einen kurzen Blick dort hinein.
Es schien das Atelier von Marys Mann Tarek zu sein.
Sie entdeckte einen großen Tisch mit Behältern voller Pinsel, Farbtöpfen, Lappen und Flaschen.
Zwei Staffeleien waren aufgebaut und dutzende Leinwände lehnten an den Wänden. Rebecca wandte sich nach rechts zur Küche. Die Tür klemmte etwas, so dass sie in dem stillen Haus das Gespräch der Physiotherapeutin mit Mary mithörte.
„Malerei ist auch eine brotlose Kunst. Aber ich finde es gut, dass du ihm den Raum dafür gibst“, plapperte die Therapeutin.
„Es ist noch schwierig. Aber wir glauben beide an seinen Durchbruch. Seine Bilder sind so phantastisch.“ Marys Stimme war schwach, auch wenn sie Optimismus verbreiten wollte.
„Aber das kann doch noch dauern und eine Garantie für Erfolg von Künstlern gibt es nicht. Für mich wäre diese Unsicherheit nichts.“
„Für mich auch nicht“, quälte Mary sich ein Lachen ab. „Die Malerei ist sein Leben.“ Sie machte eine kurze Pause. „Ich verdiene gut und wir kommen zurecht.“
Rebecca fühlte sich unwohl dabei, das Gespräch der Frauen zu belauschen. Andererseits war sie froh, dass sich hier möglicherweise eine Freundschaft anbahnte.
Rebecca hatte die Fragen von Mary, ob sie nach der Arbeit noch etwas zusammen trinken wollten, stets abgelehnt. Mary und Tarek waren erst kurz vor ihrem Arbeitsbeginn bei BENO hergezogen. Logisch, dass die lebensfrohe Mary nach Anschluss suchte.
Rebecca fand im Eckschrank einige Vasen. Sie suchte eine passende heraus und füllte sie mit Wasser. Nachdem sie den Wasserhahn wieder zugedreht hatte, hörte sie ein unzufriedenes Grummeln und lauschte.