Tödliche Erinnerung - Tara Winter - E-Book

Tödliche Erinnerung E-Book

Tara Winter

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Beschreibung

Auf der Suche nach sich selbst und einem Mörder. Drei ehemalige Schulfreundinnen feiern bis in die späte Nacht ihr Wiedersehen. Am nächsten Morgen wird eine von ihnen, das Ex-Model Katja Nenninger, ermordet aufgefunden. Mirja Benner erinnert sich nur schemenhaft an den Abend. Welches schreckliche Geheimnis hatte die Tote ihr anvertraut? Worüber haben sie sich gestritten? Mirja entdeckt in ihrem Koffer das Halstuch der Toten, die vermeintliche Mordwaffe. Wurde sie etwa selbst zur Mörderin? Mirja gerät in Panik und trifft eine folgenschwere Entscheidung. Rebecca Friedrichsen will die Unschuld ihrer Freundin beweisen. Dadurch kann sie auch dem romantischen Wochenende mit ihrem Freund entfliehen, denn sie scheut feste Beziehungen. Keine Berührungsängste hat sie hingegen bei dem charismatischen Tierarzt Kai ... Ein totes Model, ein pädophiler Lehrer und eine große Lüge. Der zweite Fall für Rebecca Friedrichsen.

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Inhalt

Kapitel 1

Kapitel 2

Kapitel 3 Gebete eines Kindes

Kapitel 4

Kapitel 5

Kapitel 6 Spätere Gebete eines Kindes

Kapitel 7

Kapitel 8 Gebete eines Jugendlichen

Kapitel 9

Kapitel 10

Kapitel 11 Spätere Gebete eines Jugendlichen

Kapitel 12

Kapitel 13

Kapitel 14

Kapitel 15

Kapitel 16

Kapitel 17 Gebete eines Erwachsenen

Kapitel 18

Kapitel 1

Warum bin ich hier?, überlegte Kai.

Es gab so viele Gründe, nicht an diesen Ort zurückzukehren. Gute Gründe, die ihn vor langer Zeit veranlasst hatten wegzuziehen und alle Kontakte abzubrechen. Er seufzte. Trotz allem gab es aber auch Argumente, es doch zu tun. Er stellte den Motor ab und blickte zu dem erleuchteten Eingang des Gasthofes hinüber. Das Gebäude sah einladend aus, viel freundlicher als früher. Neben der breiten Doppeltür standen hohe Kübel, in denen Efeu, Ziergräser und irgendwelche Blumen wuchsen. Sie blühten in leuchtenden Rottönen. Wahrscheinlich dufteten sie verführerisch. Aber oft steckte hinter den Dingen, die gut aussahen, nicht viel mehr dahinter.

Kai betrachtete sich im Rückspiegel. Seine Haut war glatt und makellos, die Augenbrauen sorgfältig gestutzt. Der dunkle Schatten um sein Kinn verlieh ihm einen Hauch Verwegenheit. Gekrönt wurde dieses perfekte Zusammenspiel von seinen Augen. Wie ein schwarzes Loch dominierten sie sein Gesicht.

Niemand, der in ihren Bann geriet, konnte seinem Blick entkommen.

Diese Augen waren das Einzige, was er seinem spanischen Vater zu verdanken hatte. Er öffnete die Tür und stieg aus dem Wagen. Der Sand knirschte leise unter seinen Schuhen. Kai wusste, dass er nicht hätte kommen müssen. Aber er hatte der Verlockung nicht widerstehen können.

Vor fünfzehn Jahren war er gegangen. Seither hatte er kein einziges Mal daran gedacht, noch einmal zurückzukehren. Und doch stand er jetzt auf dem Parkplatz vor dem alten Gasthof. Es war ein merkwürdiges Gefühl.

Er ging um den glänzenden SUV herum, öffnete den Kofferraum und griff nach seinem eleganten Rollkoffer. Dann überquerte er den Parkplatz. Das Zimmer hatte er vor wenigen Tagen online reserviert.

Kai stieß die breite Eingangstür des Gasthofes auf und betrat den Empfangsraum. Es war ein Schritt in seine Vergangenheit, mit all ihren Erinnerungen.

Damals war in dem Gasthof auch eine Disco veranstaltet worden. Die Jugendlichen der umliegenden Dörfer hatten sich hier versammelt. Es waren tolle Partys gewesen und ein gelungener Schachzug der Besitzer. Sie verhinderten damit einen unrentablen Leerstand des großen Festsaals an vielen Wochenenden.

Der verführerische Duft nach Gebratenem und der Geruch von Holz stiegen ihm in die Nase. Tina Gudrow stand hinter dem rustikalen Tresen der Rezeption.

„Ich fasse es nicht, Kai!“, rief sie freudig.

Tina strahlte ihn an. Die kleinen Fältchen um ihre Augen waren bei ihrer letzten Begegnung noch nicht da gewesen. Sie waren ein stilles Zeugnis der Probleme, die sie als Inhaberin des kleinen Landgasthofes stemmen musste.

Tina war schon immer fröhlich gewesen und hatte selten gezeigt, was sie tief im Innern wirklich bewegte. Deswegen fühlten sich die Gäste hier so wohl. Das war schon früher so gewesen. Laut den Internetbewertungen hatte sich daran auch nichts geändert. Die Atmosphäre war herzlich und alle Probleme schienen weit weg.

Tina reichte ihm das vorbereitete Anmeldeformular hinüber.

„Soll ich dich zu deinem Zimmer bringen?“, fragte sie lächelnd und wedelte mit dem einfachen Schlüssel.

„Das finde ich schon noch, danke.“

Die Gästezimmer lagen im ersten Stock. Er griff nach seinem Koffer und stieg die dunkle Holztreppe hinauf.

Kai öffnete die Tür und betrat das Zimmer. Die Abendsonne tauchte den Raum in angenehmes Licht. Helle Vorhänge wehten in der leichten Sommerbrise, die durch die gekippten Fenster hereinwehte. Die Möbel waren gemütlich, die Farben der Tapeten und Bilder geschmackvoll aufeinander abgestimmt. Tina hatte ein gutes Händchen bei der Einrichtung bewiesen. Kai warf seine Jacke aufs Bett. Dieses Zimmer erweckte den Eindruck, man übernachte bei Freunden.

Er tippte eine kurze Nachricht auf seinem Handy und ging zum Fenster. Sein Blick schweifte über das weitläufige Tal. Der Bauernhof des alten Jessen lag friedlich zwischen den Wiesen, die sich hinter dem Gasthof entlangzogen. Am Horizont erblickte er einen dichten Wald, der sich um den See erstreckte. In den Sommern seiner Kindheit hatte er dort ganze Tage und manchmal auch die Nächte verbracht. Idenbrügg. Es sah noch immer aus wie früher.

Eine knappe Stunde später ging Kai wieder hinunter, vorbei an der inzwischen unbesetzten Rezeption. Er öffnete die Tür zum Gastraum. Zur Linken lag der geschnitzte Tresen. Ein rustikales Urgestein, das wohl schon seit Erbauung des Gasthofes hier seine Dienste tat. Ebenso wie die Frau, die mit mürrischem Gesicht dahinter stand.

„Kai, was für eine Überraschung“, begrüßte sie ihn mit rauchiger Stimme.

Kai musterte die Frau, die ihn aus zusammengekniffenen Augen ansah. Sie polierte ein Glas mit einem karierten Tuch.

„Gut siehst du aus. Du hast dich kaum verändert.“ In seinen Worten lagen ebenso wenig Charme wie Ehrlichkeit und er machte sich keinerlei Mühe, dies zu verbergen.

„Spar dir das. Bist wegen des Klassentreffens morgen hier?“ Die Frau polierte weiter, eine routinierte Bewegung, die ihr Körper wie im Schlaf ausführte. Kais Blick haftete auf ihrem hellen kurzen Haar. Er wusste nicht einmal, ob es noch blond oder schon weiß war. Diese hellen Strähnen hatte er noch nie leiden können.

Sie waren wie ein Schleier, der ihre Konturen verschwimmen ließ. Eine einzige Masse widerlicher Blässe, die sich von den Haaren bis über das Gesicht erstreckte.

„Warum sonst hätte ich zurückkommen sollen?“ Der Blick aus seinen dunklen Augen traf sie wie ein Pfeil. Fast unmerklich zuckte sie zusammen.

„Meinetwegen ja wohl nicht. Aber nett, dich einmal wiederzusehen, mein Sohn.“

Er nickte und wandte sich mit einem überheblichen Lächeln ab. Sein Blick glitt hinüber zu den Tischen, von denen an diesem Freitagabend nur wenige besetzt waren. Er sah die beiden Frauen sofort, die aufmerksam hinüberblickten und ihm zuwinkten.

„Hallo Kai, ich freue mich so, dass du da bist!“ Katja sprang auf und umarmte ihn herzlich. Er roch den Duft ihrer Haare und schloss kurz die Augen. Dann wandte er sich an die andere Frau.

„Hallo Jana. Coole Frisur, das Rot steht dir.“

„Danke. Sehr vernünftig, dass du unserem Ruf doch noch gefolgt bist“, neckte sie ihn mit einem breiten Grinsen.

„Wer kann denn zwei so wundervollen Frauen schon widerstehen? Ihr hättet ein Foto von euch beilegen sollen, dann hätte ich sofort zugesagt.“ Er zwinkerte beiden zu.

„Ihr zwei habt euch echt total aus den Augen verloren?“, fragte Jana. „Ich meine, das ist voll krass, ihr wart doch immer so dicke. Eigentlich hatte ich wie alle anderen gedacht, dass ihr heiratet, sobald ihr von der Schule seid.“

Mit ihren großen Augen beobachtete sie Kai und Katja.

Beide waren in der Schule unzertrennlich gewesen, galten als Traumpaar. Nach fünfzehn Jahren Funkstille spürte Jana sofort wieder ihre Vertrautheit. Die beiden hatten sich unglaublich viel bedeutet.

„Das hat sich einfach nicht mehr ergeben. Ich habe gemodelt und Kai ist für sein Studium weggezogen.“

„Stimmt, du bist ja unser Supermodel! Voll aufregend.“ Jana strich sich eine Strähne ihres leuchtend rot gefärbten Haares hinter das Ohr. Katja lächelte und ihr Rücken straffte sich ein wenig.

„Als Model hatte ich wirklich eine aufregende Zeit. Ich war auch zweieinhalb Jahre in New York. Ich kann dir ja mal ein paar Zeitschriften mit Fotos von mir zeigen.“

„Klar, gerne. Nach New York will ich auch unbedingt mal. Aber irgendwie ist bei mir immer Ebbe in der Kasse.“ Jana zupfte an der groben Holzkette, die sie trug. „Ich finde Berlin richtig abgefahren, aber es ist schon teuer. Außerdem verdient man als Künstlerin nicht solche Summen, um mal eben um die Welt zu jetten.“

„Was genau machst du denn?“ Kai blickte sie aufmerksam an, so dass die schrille Jana einen Augenblick brauchte, um sich von seinem Blick zu lösen.

„Skulpturen. Viel Holz, manchmal auch Metall. Ich habe auch immer wieder kleine Ausstellungen. Es macht mich nicht reich, aber glücklich. Ich komme ganz gut über die Runden. Und du bist nach der Schule nie wieder hier gewesen?“

Kai schüttelte den Kopf.

„Nein, und den liebevollen Worten meiner Mutter kannst du wahrscheinlich auch entnehmen, warum“, sagte er sarkastisch.

„Ein Herz und eine Seele seid ihr offensichtlich nicht gerade. Ich verstehe mich total gut mit meinen Eltern. Ich bin schon ein paar Mal im Jahr hier. Meine große Schwester und mein Bruder leben auch noch hier. Ich finde Familie total schön. Also, wenn es klappt mit denen. Sorry.“ Sie hob entschuldigend die Hände.

„Nicht deine Schuld.“ Kai warf einen kurzen Blick zum Tresen, hinter dem seine Mutter Bier zapfte. Ihre hinabhängenden Mundwinkel waren Zeugnis jahrelanger Enttäuschung und Verbitterung.

Kai schluckte. Er war für ihr Leben nicht verantwortlich.

Er blickte zu Katja.

Sie war immer auffallend schön gewesen und hatte als Schülerin schon gemodelt. Auch jetzt noch hatte sie ein wundervolles Lächeln, ebenmäßige Haut und tolle blonde Haare. Aber das Besondere waren Katjas Augen. Diese wundervollen grünen Augen in Verbindung mit einer Spur Überheblichkeit im Blick waren außergewöhnlich. Dieser natürlichen Extravaganz verdankte Katja viele der Jobs, die sie bekommen hatte.

Sie waren fünf Jahre zusammen gewesen. Kai wusste, dass jede Stelle ihres Körpers perfekt war. Auch wenn sie jetzt schon über dreißig war, sah sie unglaublich gut aus. Die Feinheit war aus ihren Zügen gewichen und durch eine attraktive Reife ersetzt worden.

Damals hatte es keine Trennung gegeben. Beiden war am Ende der Schulzeit einfach klar gewesen, dass jeder seiner Wege gehen würde.

Ein helles Piepsen ertönte. Katja griff nach ihrem Handy und blickte auf das Display.

„Mirja hat geschrieben. Sie steckt im Stau und verspätet sich.“

Kai erinnerte sich. Er, Katja und Mirja hatten damals ihre gesamte Freizeit miteinander verbracht. Vielleicht war es doch eine gute Idee von Jana gewesen, dieses Klassentreffen zu organisieren.

Katja nippte an ihrem Mineralwasser. Jana griff über den Tisch nach der Speisekarte.

„Dann lasst uns schon mal was zu Essen bestellen, ich verhungere.“

Tina Gudrow betrat den Gastraum, in dem die meisten Plätze mittlerweile besetzt waren. Seit sie den Gasthof von ihren Eltern übernommen hatte, steckte Tina ihre ganze Energie und viel Herzblut in den Betrieb. Dank wohlgesonnener Mitarbeiter der Sparkasse hatte sie hohe Investitionen tätigen können. Sowohl die Gästezimmer als auch die Küche waren inzwischen komplett renoviert worden.

„Ich hoffe, dir geht es gut, so ohne Idenbrügg?“ Sie legte Kai die Hand auf die Schulter.

„Danke, ich komme zurecht. Kompliment, du hast aus dem Gasthof ein echtes Schmuckstück gemacht.“

„Danke. Was kann ich euch bringen?“

Sie tippte die Bestellung in ihr Smartphone.

Eine Gestalt schlich sich von hinten an die Gruppe heran.

„Welch ein beschauliches Zusammentreffen!“

Alle drehten sich um. Mit verkniffenen Lippen stand ein Mann da und presste seine Finger zusammen, so dass die Knöchel weiß hervortraten.

„Timo, was machst du denn hier?“ Katja wurde blass.

„Was glaubst du denn? Ich komme nach einem echt anstrengenden Tag bei der Arbeit in den Gasthof, um meine Freundin zu überwachen.“

Katja schüttelte abwehrend den Kopf. Unsicher blickte sie zu den anderen Gästen, dann wieder zu Timo. Er wedelte siegessicher mit einem Zimmerschlüssel. Die gravierte Zimmernummer auf dem Anhänger leuchtete im Kerzenschein.

„Ich lasse bestimmt nicht zu, dass du hier mit anderen Männern herumflirtest, während ich Zuhause sitze und auf dich warte!“ Er zeigte auf Kai, der ruhig am Tisch saß.

„Sie übernachten meinetwegen hier im Gasthof?“, fragte dieser süffisant. „Das ist aber nett. Dann wünsche ich einen schönen Aufenthalt.“

Timo ballte die Hände zu Fäusten.

„Timo, hör bitte auf damit“, zischte Katja.

Tina trat resolut dazwischen. Sie kannte ihn schon viele Jahre. Er leitete den örtlichen Supermarkt und belieferte den Gasthof regelmäßig. Tina mochte ihn, obwohl er ihr ein wenig leidtat, denn seine Kompetenz wurde oft unterschätzt.

„Timo, es ist nichts los, beruhige dich. Du hast das Zimmer bekommen, aber mach hier bitte keine Szene. Es ist spät. Setz dich irgendwo hin und trink erstmal was.“ Ihr Tonfall war beschwichtigend. Sie hatte genügend Erfahrung, um auch mit schwierigen Gästen umzugehen. Timo ließ sich jedoch so schnell nicht beruhigen. Mit hasserfülltem Blick zeigte er auf Kai.

„Ich weiß genau, wer das ist. Und was ihr vorhabt. Ich werde euch nicht eine Sekunde aus den Augen lassen! Cowboy, das ist meine Freundin, damit das klar ist. Finger weg und das sage ich nur einmal!“

Kai musterte den jungen Mann mit den schmalen Schultern. Er war schlank und blass. Die rotblonden Haare verliehen ihm ein geradezu kindliches Aussehen. Kai tat viel für den guten Zustand seines Körpers und trainierte mehrmals die Woche im Fitnessstudio. Dieser Timo, der nun aufgebracht vor ihm stand, erweckte nicht den Eindruck, als sei er ihm gewachsen. Davon abgesehen, was glaubte dieser Hänfling denn, was hier vor sich ging?

„Von dem Tisch dort drüben können Sie uns wunderbar beobachten“, begann er mit sanfter Stimme. „Oder möchten Sie bei uns sitzen?“ Kai wies auf den freien Stuhl neben sich. Timo wandte sich wutschnaubend ab, ging zu einem der anderen Tische und ließ sich auf einen der Stühle fallen.

Tina räusperte sich und nahm in ihrer gewohnten Fröhlichkeit die Bestellung weiter auf.

„Darauf erstmal einen Schnaps für jeden. Was darf es sonst noch sein?“

Katja entschuldigte sich und stand auf. Sie schlich zu Timo und setzte sich neben ihn.

„Wow, das ist ihr Freund?“, platzte Kai heraus.

„Ja, bestimmt schon seit sechs oder sieben Jahren“, flüsterte Jana. „Als er herkam, waren wir aber längst weg. Er leitet hier den Supermarkt. Eigentlich ein ganz stiller Typ.“

Tina stellte drei Schnapsgläser auf den Tisch. Jana griff nach einem und leerte es in einem Zug. „Nur eben nicht, wenn es um Katja geht.“

„Aber ganz normal ist er ja offensichtlich nicht. Er wohnt hier im Ort und nimmt sich ein Hotelzimmer, damit er sie überwachen kann?“

„Das nenne ich Liebe“, spottete Jana.

Kai schüttelte verständnislos den Kopf. Er blickte zu dem anderen Tisch. Timo sah nicht gerade aus wie jemand, der den ganzen Tag schwere Kisten herumschleppte. Katja saß zusammengesunken neben ihrem Freund. Sie hatte ihre Hand auf seine Schulter gelegt und redete beruhigend auf ihn ein.

Tina beobachtete vom Tresen aus ebenfalls das Pärchen. Timo schien sich etwas beruhigt zu haben, wirkte nicht mehr ganz so angespannt. Allerdings verriet die blitzartige Geschwindigkeit, mit der er die Bierdeckel durch seine Finger gleiten ließ, eine gewisse Nervosität.

„Guck mal, wie fix er mit diesen Deckeln ist. Er macht dieses Speedstacking“, erklärte Jana.

„Dieses Stapeln von Plastikbechern?“ Kai verstand nicht, dass ausgerechnet Katja an einen so merkwürdigen Typen geraten war.

„So, bitteschön. Ich wünsche euch guten Appetit.“ Tina stellte zwei Salatteller und eine große Portion duftender Bratkartoffeln mit Roastbeef auf den Tisch.

„Es riecht hervorragend“, schwärmte Jana und verteilte Remoulade auf den dünnen Fleischscheiben. Katja kam zurück. Schweigend setzte sie sich wieder auf ihren Platz. Mit zittrigen Fingern griff sie nach der Gabel und begann, in ihrem Salat herumzustochern.

„Er will da drüben sitzen bleiben. Das ist mir jetzt etwas peinlich.“

„Quatsch, wenn er so ein Miesepeter ist, soll er ruhig da drüben schmollen. Wir lassen uns unser Wiedersehen nicht verderben!“, sagte Jana. Sie erhoben die Gläser und stießen klirrend miteinander an.

Tina ging an ihrem Tisch vorbei. Sie lächelte beim Anblick der wiedervereinten Kids, die ein Teil ihrer längst vergangenen Kindheit und Jugend gewesen waren.

„Kannst du uns hiervon bitte noch eine Runde bringen?“

Jana hielt ihr leeres Schnapsglas in die Höhe.

Tina nickte. „Natürlich, einen kleinen Moment.“

Sie wandte sich Timo zu, der mit verdrießlichem Gesicht vor sich hinstarrte.

„Hier, nimm besser dieses“, raunte sie und legte einen Gegenstand neben sein Glas. Im Gegenzug nahm Tina etwas anderes vom Tisch und steckte es ein. Timo blickte sie aus großen Augen dankbar an. Ehe er etwas sagen konnte, war die Wirtin schon wieder zur Bar geeilt.

Er warf einen düsteren Blick zu seiner Freundin, die mit Jana plauderte und mit diesem Kai flirtete.

Was für ein oberflächlicher Aufreißertyp, dachte Timo verächtlich. Der hatte im Leben wahrscheinlich noch nie richtig gearbeitet. Aber solchen südländischen Typen rannten die Frauen ja scharenweise hinterher. Aber seine Katja nicht, da würde er schon aufpassen!

Mirja stieß mit der Schulter die Tür auf und zog ihren schwarzen Koffer ächzend in den Empfangsraum. Die geplante Fahrzeit von eineinhalb Stunden hatte sich mehr als verdoppelt. Zu verdanken war dies einer Baustelle, einem unerklärlichen Stau und einem Unfall. Sie hoffte, dass dabei niemand schwer verletzt worden war.

Bei ihrer Ankunft war es bereits stockdunkel, so dass Mirja von ihrem alten Heimatort nicht mehr viel hatte sehen können.

Sie blies sich eine Haarsträhne aus der Stirn, atmete einmal tief durch und ging auf die Rezeption zu. Tina hatte sie bereits auf dem Parkplatz entdeckt und war in den Vorraum gekommen.

„Wie schön dich zu sehen!“ Mirja begrüßte die Wirtin freudestrahlend. Ihre Erschöpfung war wie verflogen. Sie füllte schnell das Anmeldeformular aus und erklärte ihre Verspätung.

„Kein Problem. Die anderen warten schon.“ Tina wies mit dem Kopf in Richtung des Gastraums. „Soll ich meinen Mann bitten, deinen Koffer hochzubringen? Dann kannst du gleich zu deinen Freunden gehen.“

„Oh, das wäre lieb, wenn Michael das machen würde. Ich bin ja schon so aufgeregt, die anderen endlich wiederzusehen.“

Mirja betrat mit federnden Schritten den Gastraum. Fröhliches Gelächter und Stimmengewirr erfüllten den gemütlichen Raum. Sie wandte den Kopf nach rechts und entdeckte schnell den Tisch mit ihren Freunden.

„Ich bin zu spät, es tut mir leid. Ich konnte es kaum erwarten, euch wiederzusehen, ich habe mich so gefreut!“, sprudelte sie los. Sie umarmte Jana kurz, Katja lange und herzlich.

„Kai!“ Mirja schlang ihre Arme um seinen Hals und gab ihm einen Kuss auf die Wange. Sie ließ sich auf den freien Stuhl fallen.

„Ich habe euch so vermisst! Unglaublich, dass ich es ohne euch aushalten konnte!“ Mirja strahlte, während sie die Jacke auszog und den Zimmerschlüssel in ihre Tasche steckte.

„Es ist so schön! Jana, das mit dem Klassentreffen war eine super Idee von dir.“ Sie fuhr sich mit den Händen durch ihre etwas strubbeligen Haare. Dann blickte sie zu Kai und legte den Kopf schief. Sie legte den Finger an ihre Nase.

„Neu? Ist schick geworden.“

Kai lächelte sie an, seine Augen funkelten.

„Es war klar, dass dir das nicht entgeht.“

„Ich bin eben ein cleveres Kerlchen“, konterte Mirja und zwinkerte ihm zu. Katja starrte in Kais Gesicht. Ihre Augen weiteten sich überrascht.

„Das ist mir die ganze Zeit nicht aufgefallen. Unglaublich. Seit wann?“

Jana blickte fragend in die Runde. Sie hatte das Gefühl, die drei verstanden sich nur durch ihre Gedanken.

„Kai hat seine Nase richten lassen. Sie ist einen Hauch schmaler geworden“, erklärte Mirja.

Sie griff nach ihrem Glas und hielt es hoch.

„Auf die innere und äußere Schönheit!“

Lachend stießen sie an.

Jana griff nach ihrer Tasche und wühlte darin herum.

„Hätte ich ja fast vergessen. Ich habe Fotos dabei!“ Sie reichte einen kleinen Stapel Abzüge herum.

„Es fühlt sich an, als hätten wir gerade erst das Abi gemacht. Oh, waren wir da noch jung.“ Mirja kicherte, während sie die Fotos durchblätterte.

„Ihr drei seid unzertrennlich gewesen“, sagte Jana.

„Unglaublich, dass es schon über fünfzehn Jahre her ist“, sinnierte Katja melancholisch.

Jana nahm ihr Handy aus der Tasche und tippte darauf herum.

„Selfie-Time“, rief sie. Alle rückten zusammen und blickten lachend in die Kamera.

Mirja betrachtete eines der Fotos. Es zeigte Kai bei einem Schulausflug. Mit hängenden Schultern und traurigem Blick stand er abseits der anderen Jugendlichen.

„Trotz deiner Freundschaft mit Katja warst du so in dich gekehrt und bist nie auf andere zugegangen. Da musste ich natürlich eingreifen.“ Mirja zwinkerte ihm zu. „Das war ganz schön schwierig, erstmal an dich heranzukommen. Und als ich das endlich geschafft hatte, warst du so ein Haufen Arbeit, unglaublich. Aber ich denke, du bist mir ganz gut gelungen.“ Mirja lachte herzlich. Auf ihren Wangen bildeten sich lustige Grübchen.

Kai grinste spitzbübisch. Er konnte sich noch gut daran erinnern, als Mirja zu ihnen an die Schule gekommen war. Vom ersten Augenblick an war er von dem sprunghaften und lebensfrohen Mädchen fasziniert gewesen. Mirja hatte ihn sofort in ihr Herz geschlossen und es sich zur Aufgabe gemacht, den schüchternen Jungen in ein fröhliches Wesen zu verwandeln. Oft hatte er sie zurückgewiesen, aber Mirja war hartnäckig geblieben. Kai blickte in ihr strahlendes Gesicht. Sogar ihre Augen schienen zu lachen. Tina ersetzte die leeren Schnapsgläser regelmäßig durch neue und brachte weitere Bierflaschen. Katja bestellte noch ein Wasser.

„Habt ihr das auch bemerkt?“ Mirja beugte sich über den Tisch und kicherte beschwipst. „Der Typ da drüben beobachtet uns die ganze Zeit.“ Sie blickte verschwörerisch in die Runde. Mirja verschränkte die Arme und lehnte sich zurück, wobei sie fast das Gleichgewicht verlor.

Jana hob den Kopf, den sie erschöpft auf ihrem Arm abgelegt hatte.

„Der tut nichts, der will nur spielen“, bemerkte Kai mit etwas schwerer Zunge, bevor er seine Bierflasche leerte.

„Du bist gemein.“ Katja schlug Kai spielerisch auf die Hand, während sie ihre Unterlippe beleidigt vorschob. „Das ist Timo. Wir sind zusammen. Schon gaaaanz lange. Leider ist er ein klitzekleines bisschen eifersüchtig.“

Niemand wusste darauf eine Entgegnung.

„Du bist Tierarzt?“, unterbrach Jana die peinliche Stille. Jana wollte von dem brisanten Thema ablenken. Sie hatte viel Mühe in die Vorbereitung des Klassentreffens gesteckt und wollte jetzt keinen Ärger mit dem eifersüchtigen Freund von Katja bekommen.

Dieser Abend sollte einfach ein lockeres Treffen werden. Eine Einstimmung auf das morgige Wiedersehen, zu dem auch weitere Mitschüler von damals anreisen würden.

Jana war kein Teil der Clique gewesen, sondern hatte andere Freunde gehabt und sich von der Gruppe distanziert.

Ein merkwürdiges Gefühl beschlich sie, wie schon damals. Die drei waren so unterschiedlich. Wie ein Pulverfass, das jeden Moment hochgehen konnte. Ihre Nase begann zu jucken. Das geschah immer, wenn ihr Instinkt zur Vorsicht riet. Sie blickte zu den anderen. Katja war eine atemberaubende Schönheit. Kein Wunder, dass sie es später als Model bis nach New York geschafft hatte. Aber ihre Augen blickten ernst und wie schon damals umhüllte sie eine Aura von Traurigkeit. Das komplette Gegenteil war Mirja. Sie sprühte vor positiver Energie. Ihr Lachen kam aus tiefstem Herzen und erfüllte nicht nur sie selbst, sondern auch die Menschen um sie herum.

Die Freundschaft zwischen diesen unterschiedlichen Frauen empfand Jana schon als ungewöhnlich, die Ergänzung durch Kai wirkte geradezu skurril. Kai hatte schon immer sehr gut ausgesehen. Seine dunklen Haare und vor allem diese fast schwarzen Augen wirkten anziehend. Er war unglaublich charismatisch. Die drei waren eine brisante Mischung gewesen. Mirjas Einfluss hatte Kai verändert. Es war eine Metamorphose über mehrere Jahre gewesen, die ihn zu einem offenen und selbstbewussten Mann hatten werden lassen.

Vielleicht sollte sie aus dieser Konstellation eine Skulptur erschaffen? In ihrem Kopf wandten sich metallene Stangen umeinander, die sich um hölzerne Äste rankten und zu einem Feuerwerk der Farben verschmolzen.

Wie explosiv würde das Zusammentreffen von ihnen wohl an diesem Wochenende werden?

„Kai, jetzt erzähle endlich. Du hast drei wissbegierige Zuhörerinnen.“ Mirja lächelte ihn an und blickte mit glasigen Augen in die Gesichter der anderen. Sie konnte kaum erwarten, von deren Erlebnissen zu erfahren. Wie hatte es nur geschehen können, dass ihre Verbindung komplett abgebrochen war?

„Ich habe Tiere schon immer geliebt und beschloss, mir einen Job zu suchen, den ich mit Leidenschaft ausüben könnte.“ Er hob die Bierflasche und setzte an. „Nach dem Abi bin ich gleich nach Bremen gegangen und habe Veterinärmedizin studiert. Ich liebe meinen Beruf und habe inzwischen auch meine eigene Praxis.“

„Und die Frauen liegen dir zu Füßen, wenn du ihre Tiere gerettet hast, sei ehrlich.“ Mirja zwinkerte ihm zu und stupste gegen seinen Ellenbogen.

„Nein“, wehrte er mit einem geheimnisvollen Lächeln ab. „Ich muss das strikt trennen.“

„Und das sagt jemand mit so einem Körper. Und auch noch gemachter Nase“, warf Jana kichernd ein.

Kai lächelte. „Jetzt merkt ihr, wie schwer ich es habe.“ Alle lachten.

„Katja, jetzt will ich noch Storys von deiner Model-Karriere hören, bevor du uns hier einschläfst. Dabei hast du kaum Alkohol getrunken, da kennen wir dich aber anders.“

„Oh je, sorry.“ Katja rappelte sich hoch, ohne auf Kais Anspielung einzugehen. Sie war die Einzige, die nicht angetrunken war. „Nach dem Abi habe ich zwei Jahre als Model gearbeitet. Ich hatte sogar mal eine Fotostrecke in der Vogue. Die Arbeit war unglaublich aufregend. Ich habe das wirklich aus vollstem Herzen genossen und hart dafür gearbeitet. Die ganzen Leute, dann das eigene Bild in einem Hochglanzmagazin zu sehen, das ist schon wahnsinnig aufregend. Naja, schließlich musste ich aber eine Ausbildung machen. Ich wusste ja nicht, wie lange meine Karriere dauert. Eigentlich wollte ich Modedesignerin werden. Diese ganze Branche hatte es mir total angetan.“

„Cool, das ist toll.“ Jana blickte Katja mit glänzenden Augen an. „Warum hast du es nicht gemacht?“

Katja zuckte mit den Schultern und nippte an ihrem Wasserglas. „Meine Mutter meinte, es wäre das Beste, wenn ich in ihrem Salon eine Ausbildung machte. Sie hat mich bei meiner Karriere wirklich total unterstützt. Mit ihr als Chefin war es kein Problem, wenn ich mal frei nehmen wollte, weil ich einen Auftrag hatte. Woanders wäre das einfach schwieriger geworden.“ Katja starrte in ihr Wasserglas.

„Du bist Friseurin geworden?“, fragte Mirja staunend.

„Ziemlich glanzlos, was?“, antwortete Katja mit leiser Stimme. „Ich bin dann nach New York gegangen.“ Sie richtete sich auf und ihre Wangen röteten sich leicht. „Kurz nach Beendigung meiner Ausbildung bekam ich einen Job für ein Sportmagazin. Ich dachte mir, wann, wenn nicht jetzt? Also habe ich meine Koffer gepackt und bin in die Staaten geflogen.“

„Wow“, entfuhr es Jana. „Davon träume ich auch, einmal eine Ausstellung in New York zu haben.“ Sie hob die Hände und betrachtete ein imaginäres Plakat, ließ sie dann aber wieder sinken. „Vorerst muss ich mich mit Berlin begnügen. Aber träumen darf man ja mal.“

„Auf unsere Träume!“ Jana hob ihr Glas, und alle stießen an, wobei sich eine Schnapspfütze auf dem Tisch bildete. Mirjas Blick wanderte zu dem Nachbartisch, von dem aus Katjas Freund zu ihnen hinübersah. Er war blass, seine Wangenmuskulatur war angespannt, seine Augen wirkten verkniffen.

„Er hatte bestimmt einen harten Arbeitstag. Wir könnten ihn zu uns bitten“, meinte sie zu Katja, die entschieden abwehrte. „Das ist lieb, aber er ist in dieser Stimmung dort drüben besser aufgehoben. Er liebt mich und es ist ja irgendwie süß, dass er auf mich aufpassen will.“

„Na, Liebe kenne ich aber anders. Wenn meine Freundin sowas machen würde, hätte sich unsere Beziehung ganz schnell erledigt“, warf Jana ein und erntete dafür einen bösen Blick von Katja.

„Irgendwie fühle ich mich ja geschmeichelt. Immerhin ist er nur meinetwegen hier.“ Kai zog vielsagend eine Augenbraue hoch und nahm ein Schluck Bier. „Damit wir nichts miteinander anfangen.“

„Hör auf, Kai“, zischte Katja.

„Jaja, wir liegen dir alle zu Füßen. Träum weiter“, frotzelte Mirja. „Wusstest du eigentlich, dass ich damals überhaupt keine Probleme in Bio hatte?“

Kai drehte sich zu ihr und blickte sie aus großen Augen an.

„Dafür haben deine Eltern aber ganz schön viel für die Nachhilfe bezahlt.“

„Das macht nichts.“ Mirja kicherte. „Aber mir fiel kein anderer Weg ein, um endlich an dich heranzukommen.“

„Kleines Miststück“, lachte Kai und dachte an die gemeinsamen Stunden, in denen er ihr den Unterrichtsstoff näher zu bringen versucht hatte.

„Du warst zwar mit Katja befreundet, aber sonst ein total abgekapselter Einzelgänger. Ich wollte irgendwie an dich herankommen.“

Mirja grinste, wobei sich lustige Grübchen auf ihren Wangen bildeten.

„Das ist dir ja auch gelungen. Und dann wart ihr drei jahrelang unzertrennlich.“ Jana blätterte durch die Fotos, die in der Mitte des kleinen Tisches lagen.

„Es haben übrigens auch einige der Lehrer zugesagt. Frau Siemsen reist morgen an, ebenso Herr Lorber und Frau Ruth-Kemmtner. Und Herr Beckstein kommt auch. Ich finde es super, dass sie alle zugesagt haben. Oh.“ Janas Wangen liefen rot an und ihr Blick glitt zu Boden. „Oh nein, das hatte ich vergessen. Es tut mir so leid, ich wollte nicht“, sie brach mitten im Satz ab. Dann raffte sie mit zitternden Händen die Fotos zusammen und steckte sie in ihre Tasche.

„Es tut mir leid.“ Sie stand auf, griff nach ihrer Tasche und verschwand.

Mirja drehte sich verdutzt um, sie sah noch, wie Jana hektisch am Tresen bezahlte und dann durch die Tür in den Vorraum verschwand.

„Was war das denn gerade?“, fragte Mirja in die Runde. Ein Blick in die Gesichter von Katja und Kai verriet ihr, dass die beiden genau wussten, worum es hier ging.

„Was bitte ist hier los?“, hakte Mirja verwirrt nach. Niemand sagte etwas, stattdessen stand Kai auf.

„So, Mädels. Ich gehe jetzt auch in mein Zimmer. Wir sehen uns morgen.“ Er gab beiden einen Kuss auf die Stirn.

„Es war schön, euch wiedergesehen zu haben.“

Katja blickte ihn wie ein scheues Reh an. Aus ihren großen grünen Augen, die für einen winzigen Moment hilflos wirkten. Mirja spürte, dass Katja ihn gern noch an ihrer Seite gehabt hätte, doch schon war der Tierarzt in den Vorraum verschwunden, um in sein Zimmer im ersten Stock zu gehen. Mirja blickte ihm nach.

„Katja, ehe du auch noch wegrennst, kannst du mir erklären, was hier gerade vor sich ging?“

„Bestell dir noch einen Schnaps. Und dann erzähle ich es dir. Das ist alles passiert, bevor du nach Idenbrügg gekommen bist. Alle wissen es.“ Sie machte eine kleine Pause, richtete sich auf und blickte aus dem Fenster. Dann wandte sie sich wieder an ihre Schulfreundin. Ihre Stimme war nur noch ein Flüstern. „Aber vielleicht erzähle ich dir nicht nur das, was alle wissen, sondern endlich mal die ganze Wahrheit.“

Katja lachte und hob ihr Wasserglas.

„Auf die Wahrheit!“ Sie lächelte und Mirja überfuhr ein eisiger Schauer, als sie in Katjas Gesicht blickte. Ein wunderschönes Gesicht, makellos. Doch ihre Augen waren kalt und ihr Lächeln ließ Mirja das Blut in den Adern gefrieren.

Was für ein Geheimnis verbarg ihre ehemalige beste Freundin?

Kapitel 2

„Kommst du zum Frühstück?“, rief Benny gut gelaunt aus der Küche. Der Kaffeeduft zog bis ins Schlafzimmer.

Becky starrte auf ihre offene Reisetasche, die auf dem Bett stand. Es war noch eine ausreichende Lücke für ihre Kulturtasche vorhanden und Rebecca überlegte gerade, ob sie noch ihre kuschelige Strickjacke einpacken sollte.

„Becky!“, mahnte Benny.

„Moment noch“, antwortete sie hastig, zog die Jacke aus ihrem Schrank und stopfte sie in die Tasche. Dann holte sie das Kleidungsstück wieder heraus und legte es ordentlich zusammen. Ihre Finger waren eiskalt. Becky sah nicht auf ihre Hände, aus Angst zu entdecken, dass sie zitterten. Verdammt, was tat sie hier?

„Ich muss gleich nochmal kurz telefonieren, ob das klar geht mit den freien Tagen bis Dienstag.“

Plötzlich stand Benny in der Tür. Sein sonst so fröhlicher Gesichtsausdruck war verschwunden, wie so oft in den letzten Wochen.

„Das wirst du nicht tun. Fängst du schon wieder an?“

„Ich will nur sichergehen, dass die Kollegen ohne mich klarkommen, mehr nicht.“ Becky wandte sich der Strickjacke zu und legte sie in die Tasche.

„Du suchst nur eine Ausrede, damit du unser langes Wochenende in letzter Minute umgehen kannst.“

Becky wich seinem Blick aus. Sie konnte weder das wütende Funkeln, noch die Trauer darin, die sie unweigerlich sehen würde, ertragen.

„Natürlich nicht. Wir haben darüber gesprochen, wie wichtig dieses Wochenende für unsere Beziehung ist und wir werden fahren. Hier, ich bin schon fertig.“

„Kein Anruf“, forderte er.

„Kein Anruf.“ Rebecca gab ihm einen Kuss auf die Wange. „Und jetzt fordere ich meinen versprochenen Kaffee ein.“

Benny biss in sein Salamibrötchen, während Rebecca noch gedankenverloren Frischkäse auf ihre Brötchenhälfte strich. Sie hatten sich zuerst wieder gut verstanden. In den letzten Wochen war es jedoch wieder vermehrt zu Streitereien gekommen. Jede Kleinigkeit hatte die Beziehung in Frage gestellt. Dabei hatte Benny sie nicht gedrängt. Das Thema einer gemeinsamen Wohnung war nicht mehr angesprochen worden, seit es zu ihrer letzten Trennung geführt hatte. Benjamin war witzig, nett, verständnisvoll und nahm Rücksicht. Becky fühlte sich bedrängt, auch wenn er sie nicht unter Druck zu setzen glaubte. Sie fühlte, dass er mehr wollte und hätte sich am liebsten schreiend in einem Erdloch verkrochen.

Aber sie wusste, dass ihr Herz daran zerbrechen würde, Benny zu verlieren, ihn nicht mehr ständig um sich zu haben.

Ein Alltag ohne den sportlichen Grundschullehrer war für sie undenkbar. Warum war dann ein gemeinsames Leben ebenso schwer für sie zu ertragen?

Ohne den Geschmack des Brötchens wahrzunehmen, kaute Rebecca darauf herum.

„Es wird bestimmt ein schönes Wochenende. Das haben wir uns verdient.“ Benny lächelte sie an. Verdammt, er freute sich wie ein Kind auf die Tage an der Ostsee.

Mit leuchtenden Augen hatte er ihr vor zwei Wochen die Internetseite des Hotels gezeigt. Das Restaurant bot einen Panoramablick auf das Meer, das Zimmer mit Doppelbett war hell und modern eingerichtet, es gab einen großen Wellnessbereich mit Sauna und einem kleinen Pool. Ein schlichtes Apartment hätte Becky gereicht, sie gönnte Benjamin aber die Gewissheit, eine besonders komfortable Unterkunft für dieses entscheidende Wochenende gefunden zu haben. Sie wollten Erholung, die Seele baumeln lassen, die Beziehung fern des Alltags gemeinsam genießen. Einfach beieinander sein. Ohne Streit, ohne Forderungen. Verdammt, es schien so einfach.

Becky nahm den letzten Schluck Kaffee. Ihr Handy klingelte und sie warf einen kurzen Blick auf das Display.

„Keine Sorge, es ist nur Mirja“, beruhigte sie Benny, der erleichtert ausatmete. Rebecca telefonierte und kritzelte mit einem winzigen Bleistift dünne Linien auf einen Zettel. Benjamin überlegte, ob sie selbst die Bewegungen ihrer Hand überhaupt wahrnahm. Er nahm sich noch eine Tasse Kaffee. Beckys beste Freundin würde ihr Wochenende nicht in Gefahr bringen. Er ahnte nicht, wie sehr er sich irrte.

„Rebecca, dies ist unser Wochenende! Willst du das wirklich aufs Spiel setzen? Wir brauchen diese Auszeit, wir müssen endlich mal hier raus und was für unsere Beziehung tun.“

Rebecca stand in dem kleinen Badezimmer vor dem geöffneten Spiegelschrank. Hektisch warf sie Bürste, Zahnputzzeug und eine Cremetube in ihre Kulturtasche und drängte sich an Benny vorbei in den Flur. Er hielt sie am Arm fest, so dass sie sich umdrehen und ihn ansehen musste.

„Wenn du jetzt dahin fährst, dann war es das mit uns. Willst du das wirklich?“

„Es ist ein Notfall, Mirja braucht mich.“ Sie wandte sich ab und stopfte die Kulturtasche in ihre Reisetasche.

„Und du kannst mir nicht einmal sagen, worum es geht?“ Rebecca schüttelte den Kopf. Sie hatte es Mirja versprochen. Kein Wort. Zu niemandem. Auch nicht zu Benny. Sie schloss den Reißverschluss.

Benny fuhr sich mit den Händen übers Gesicht. Er sah so verloren aus, so verletzt. Schuldbewusst blickte Becky zu ihm hinüber in dem Wissen, dass sie ihren Entschluss nicht ändern konnte.

„Gut zu wissen, wie viel dir an unserer Beziehung liegt. Zumindest ich hatte mich auf dieses Wochenende gefreut. Aber wenn ich ehrlich bin, habe ich gemerkt, dass du Ausflüchte gesucht hast, seit ich den Vorschlag gemacht hatte. Du solltest dich endlich mal entscheiden, was du wirklich willst.“ Rebecca nahm ihre Tasche und ließ sie neben der Haustür auf den Boden fallen.

„Sie ist meine beste Freundin. Und sie hat mich um Hilfe gebeten. Ich muss zu ihr. Du kennst sie, Mirja macht keine Scherze. Es ist wirklich wichtig.“

„Ich weiß. Aber ich dachte, wir wären das auch.“

„Du bist gut darin, mir ein schlechtes Gewissen zu machen.“

„Einer muss es ja tun.“ Benny wandte sich ab. Warum konnte Becky sich nicht auf diese Beziehung einlassen? Er überlegte, ob er jetzt endgültig mit ihr Schluss machen sollte oder ihr ein Ultimatum stellen, damit sie nicht ging.

Was Rebecca wollte, zog sie gegen jeden Widerstand durch. Schade, dass sie es bei ihrem gemeinsamen Leben nicht schaffte. Benny senkte den Kopf. Er wollte Becky in den Arm nehmen, ihr sagen, wie viel sie ihm bedeutete, wie sehr er sie liebte. Und wie viel Kraft es ihn kostete, nicht mehr von ihr zu verlangen. Er wusste, dass er sie verschrecken würde, wenn er wieder den Vorschlag einer gemeinsamen Wohnung vorbrachte. Konnte er lernen, mit ihrer Art zu leben? Ihr die Freiheit lassen und versuchen, damit klarzukommen? Anders schien es nicht zu funktionieren. Würde er so wirklich glücklich werden können? Er wippte von einem Bein auf das andere. Benjamin wusste ganz genau, dass er ohne Becky nicht leben konnte oder wollte. Wie auch immer ihre Zukunft aussehen würde, er musste es akzeptieren.

Er würde ihr jetzt sagen, dass er sie liebte, so wie sie war. Und dass er damit klarkommen würde. Er atmete einmal tief durch, dann trat er zu ihr in den Flur. Benny wollte gerade ansetzen, sah aber nur noch ihren leichten Mantel durch den Türspalt verschwinden. Becky hatte die Wohnung verlassen. Er schlug mit der Faust gegen den Türrahmen. Wie schaffte diese Frau es immer wieder, ihm zu entgleiten?

Auf dem Fußboden lag ein Zettel. Benny hob ihn auf und blickte auf die Zeichnung, die Rebecca während des Telefonats angefertigt hatte. Es war eine zierliche Elfe in einem kurzen Kleid. Ihre Augen waren vor Angst geweitet und sie verbarg sich halb hinter einem großen Blütenblatt. Die filigrane Figur sah Benny direkt an. Voller Furcht.

Was hatte das zu bedeuten?

Rebecca ließ ihre Tasche in den Fußraum des Beifahrersitzes fallen. Einen Moment blickte sie zum Wohnhaus zurück. Benny stand jetzt in ihrer Wohnung, wieder einmal hatte sie ihn verlassen, wieder einmal hatte er gedroht, die Beziehung zu beenden.

Oder hatte er es schon getan?

Die letzten Minuten mit Benny schienen wie durch einen Schleier verhüllt, aber an Mirjas panische Worte konnte sie sich noch genau erinnern.

Rebecca schluckte, tippte Idenbrügg in ihr Handy und wartete, bis die Route berechnet worden war.

Jetzt hatte sie eineinhalb Stunden Zeit, sich mit den Gedanken über ihre Beziehungsunfähigkeit zu quälen. Sie startete den Motor, fuhr los und schaltete das Radio ein. Rebecca versuchte, sich auf die rockigen Klänge zu konzentrieren und drehte die Lautstärke höher. Ihre Gedanken sprangen trotz der Ablenkung zu Mirja und Benny. Und zu ihrem Vater. Verdammt, warum waren Beziehungen so kompliziert? Warum gab es immer Geheimnisse und Versteckspiele?

Das Leben ihrer Mutter war ein einziges Geheimnis für Rebecca gewesen. Erst nach deren Tod hatte sie erfahren, welch ein Mensch Verena wirklich gewesen war. Und dies hatte sich in keiner Hinsicht mit ihren eigenen Erfahrungen gedeckt.

Es war ein halbes Jahr her und Rebecca stand noch immer unter Schock und wusste nicht, ob sie das alles jemals verstehen konnte. Oder wollte. Ihre Mutter war eine bewundernswerte, mutige und starke Frau gewesen. All diese wunderbaren Eigenschaften hatte sie ihr Leben lang vor ihrer Tochter versteckt. Aus Liebe.

Sicherlich eine schwierige Entscheidung. Ob es auch die richtige gewesen war, wusste sie nicht.

Rebecca spürte, wie sehr ihr Vater seine Frau geliebt hatte. Nun war er allein. Tränen rannen ihre Wangen hinab. Wie konnte sie ein Wochenende mit Benny am Meer verbringen, wenn Paps vielleicht gerade an diesem Wochenende ihre Hilfe brauchte? Wenn er alleine nicht mit dem Verlust zurechtkam? Natürlich hätte er anrufen können. Aber selbstverständlich hätte er es nicht gemacht, da er wusste, dass sie sich mit Benny ein gemeinsames Wochenende gönnte, um mal wieder an der Beziehung zu feilen.

Sie raste über die Autobahn. Ihre Gedanken kamen langsam zur Ruhe, während sie die weiten Felder neben dem Asphalt betrachtete. Rebecca war froh, dass Mirja sie angerufen hatte. Sie war ihre beste Freundin. Gut, sie war auch ihre einzige. Es war selbstverständlich, dass sie ihr zu Hilfe eilte. Und es war eine hervorragende Möglichkeit, diesem Wochenende zu entfliehen, einem Gespräch über die Zukunft mit Benny auszuweichen.

Denn dieser Mann war erschreckenderweise kurz davor, die Mauer einzureißen, die sie um ihr Herz errichtet hatte. Und ob sie das zulassen wollte, wusste Rebecca nicht. Er hätte ihr gesagt, wie sehr er sie liebte und diese Worte konnte sie nicht immer ertragen.

Benny wusste, dass ihr Vater Verenas Tod noch lange nicht überwunden hatte. Aber ihre Ausflüchte, dass sie Paps daher nicht allein lassen könne, hätte Benny abgetan. Zu Recht. Ihr Vater war erwachsen und auf seine eigene Weise kam er seit einem halben Jahr mit diesem Verlust zurecht. Aber dies war Rebeccas einzige Chance gewesen, sich vor diesem egoistischen Wochenende zurückzuziehen.

Sie war Mirja zutiefst dankbar. Sie hatte ihr im allerletzten Moment eine gute Ausrede geliefert, sich all dem zu entziehen. Auch wenn der Preis sehr hoch war.

Rebecca dachte an die bebende Stimme ihrer Freundin zurück und schauderte. Sie hatte gestottert, dass sie unbedingt Beckys Hilfe bräuchte. Mirja hatte sie angefleht, niemandem ein Sterbenswort zu verraten. Diese Bitte war absolut untypisch für die quirlige und offene Mirja. Die Erklärung war umgehend gefolgt und bei den letzten Worten der Freundin war Rebecca wie erstarrt. „Ich glaube, ich habe jemanden getötet.“

Kapitel 3 Gebete eines Kindes

Lieber Gott,

weißt du noch, als ich das Hockeyspiel in der Schule gewonnen hatte? Ganz bestimmt, denn ich hatte dir davon erzählt. Ich war so aufgeregt! Ich habe zwei Tore geschossen, das war so toll! Das Beste war natürlich, dass Mama und Papa beide beim Spiel waren. Die ganzen Mitspieler haben mir hinterher auf die Schulter geklopft. Aber das war nicht wichtig. Wichtig war, dass meine Eltern, alle beide, zu mir gesehen haben. Mein Herz schlägt noch ganz schnell, wenn ich daran denke. Ich habe zu ihnen geguckt und beide waren so anders. Erst habe ich mich erschrocken. Und dann habe ich begriffen, was los war. Sie waren stolz, glaube ich. Da habe ich mich gefreut. Sie haben mir sogar zugewunken und gelächelt.

Jetzt habe ich Angst, dass ich mich daran gewöhne. Ich möchte diesen Augenblick so gerne für immer aufbewahren, aber ich weiß nicht, ob das geht.

Ich habe dann mit dem Training richtig angefangen, aber das hatte ich ja auch schon erzählt. Im Nachbarort. Ich bin zweimal in der Woche fünf Kilometer mit dem Rad gefahren. Weil ich unbedingt nochmal sehen wollte, dass meine Eltern mir zulächeln. Dieser Glanz damals in ihren Augen, das war wie ein Feuerwerk, ehrlich.

Vor ein paar Wochen hatte ich mein erstes Spiel mit der neuen Mannschaft. Und wir haben gewonnen. Aber das war nicht so schön, denn Mama ist nicht gekommen und Papa war auch unterwegs. Ich bin mit dem Fahrrad dann allein zum Spiel gefahren. Das Siegtor habe ich geschossen. Ich, der Anfänger! Ich war schon so froh, dass der Trainer mich aufgestellt hatte. Aber irgendwie hat sich das nicht so gut angefühlt, denn meine Eltern waren nicht da. Ich habe den ganzen Rückweg geweint. Als Mama mich gefragt hat, hab ich einfach gesagt, wir hätten verloren. Ich war echt traurig. Ich habe mich die ganzen Wochen so ins Zeug gelegt und dann kommen sie nicht zu diesem ersten Spiel! Naja, vielleicht interessieren sie sich einfach nicht für Hockey. Ich kann ja auch was anderes ausprobieren. Es gibt noch Judo, das wär doch was. Oder auch Reiten, mir ist das egal. Ja, das wird es gewesen sein. Einfach der falsche Sport. Ich muss nur etwas finden, dass sie interessiert und dann kommen sie auch zu den Spielen oder Wettkämpfen. Ganz bestimmt. Sie haben mich lieb, das machen Eltern dann doch.

Lieber Gott,

ich habe mich geirrt. Ich dachte, bei der richtigen Sportart interessieren sie sich, aber das ist nicht wahr. Daran liegt es gar nicht. Es geht nicht um die Sportart, ich habe es inzwischen schon mit Volleyball probiert.