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Ein Mord, eine Tat, ein Verdacht. Nachdem die junge Wolfswandlerin Alva ihre Erinnerung aus der Nacht des Blutrituals verloren hat, wird sie des Mordes an einem Vampir beschuldigt. Ihr droht die Hinrichtung, wenn sie nicht innerhalb von 14 Tagen ihre Unschuld zusammen mit dem gefährlichen Vampirfürsten Zane beweist. Doch Zane ist anders, als die düsteren Geschichten über ihn vermuten lassen. Bald muss Alva sich von ihren Vorurteilen gegenüber dem Vampir lösen – oder hat sie bereits verloren?
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Veröffentlichungsjahr: 2024
Angelina Blosfeld
DANOSC
Scherben der Wahrheit
(Band 1)
DANOSC: Scherben der Wahrheit
© 2024 VAJONA Verlag GmbH
Originalausgabe bei VAJONA Verlag GmbH
Lektorat: Sandy Brandt
Korrektorat: Patricia Buchwald und Susann Chemnitzer
Umschlaggestaltung: Diana Gus
Satz: VAJONA Verlag GmbH, Oelsnitz
VAJONA Verlag GmbH
Carl-Wilhelm-Koch-Str. 3
08606 Oelsnitz
Für die Leser, die daran glauben,
dass ohne Bücher ihr Leben eine Katastrophe ist.
– Meins wäre es.
Weiße Mondstrahlen küssten meine Nase, strichen über meine Wangen und streichelten meine Seele. Fast wie zur Bestärkung. Die Nacht war länger, als mir lieb war und die Luna näher als jemals zuvor. Heute wachte die Göttin über mich. Sie beschützt jeden Wolfswandler sein ganzes Leben und besonders in der Nacht der Entscheidung. Gerade dann, hütet sie unsere Leben und die andere, wilde Seite in uns. Die Seite, die seit der Geburt tief verborgen war. Meine Wölfin. Sie war das Dunkle, das über Jahre Vergessene. Wenn der Mond seinen Zenit erreichte und in seiner vollen Pracht über den Köpfen der Wölfe stand, wird sie aus den Wölfen hervorkommen und nicht nur Körper und Geist mit sich reißen, sondern auch die Seele. Aber ich hatte keine Angst. Meine Brüder und das Rudel hatten mich lange auf diesen Tag vorbereitet.
Heute Nacht läutete die Stunde der Entscheidung. Mein Schicksal besiegelte sich durch die Größe und das Blut meiner Beute und durch die Farbe meines Fells. Denn diese Nacht fand das Blutritual statt. Und morgen früh, wenn die schwachen Sonnenstrahlen die Kronen der Bäume durchbrechen, würde ich Teil des Wolfsrudels sein. Endlich ein vollwertiges Mitglied. Ich werde einen Rang erhalten, meine Lebensaufgabe erfahren. Und das erste Mal würde ich mich vollkommen fühlen, endlich ein Teil der großen Familie werden. Ich warf einen raschen Blick auf die Armbanduhr, die mir mein Bruder zum Geburtstag geschenkt hatte, und wippte ungeduldig auf den Fersen auf und ab. Nur noch wenige Stunden, dann war es so weit. Wenn die Stunde Mitternacht schlug, gab es kein Zurück. Den Augenblick, vor dem sich jeder Wolf und jede Wölfin am meisten fürchtete, werde ich nach achtzehn Jahren des rastlosen Wartens erleben.
Kein Jüngling aus meinem Jahrgang konnte den Eltern eine Silbe über das Blutritual abringen. Das Rudel von Danosc hütete jene Nacht wie ein strenges Geheimnis. Alles geschah auf Weisungen des Alphas. Nur meine Brüder trauten mir etwas Verantwortung zu. Ihre Worte hatten sich tief in mein Herz eingenistet, ließen mich nicht eine Sekunde ruhen. »Du willst dir am liebsten die Haut von den Knochen reißen und schreien. Aber du kannst nicht. Du bist gefangen in dem Dunkeln und findest keinen Weg ins Freie. Erst, wenn dein Wolf seine Gnade findet, kannst du atmen. Doch dann hast du keine Zeit mehr. Du bist am Verhungern.«
Ein Zittern durchfuhr meinen Körper. Mit einem Satz sprang ich auf und wischte mir die schweißnassen Hände an der Hose ab. Mir war so, als hätte jemand Blei in meine Kehle gegossen. Nach Luft ringend, tigerte ich in meinem Zimmer auf und ab, warf immer wieder verstohlene Blicke auf meine Uhr. Wann ging es endlich los?
Tief in Gedanken versunken stieß ich mit der Hüfte gegen den Schreibtisch und wirbelte mit gefletschten Zähnen herum. Mit geschürzten Lippen trat ich näher an das Durcheinander von vollgekritzeltem Papier und leeren Buntstiften.
Ich blieb an einer Zeichnung hängen, betrachtete das erbärmliche Bild der Planetenkonstellation und packte den Zeichenblock mit beiden Händen. Meine Augen scannten jeden Bleistiftstrich und mit jedem neuen Entwurf rutschte mir mein Herz tiefer in die Hose.
Hatte ich wirklich gedacht, das bei den Feierlichkeiten nach meinem Blutritual vorstellen zu können?
Das Weiß meiner Knöchel stach so stark hervor, dass es schmerzte, so fest umklammerte ich den teuren Block. Und ich hatte wirklich gedacht, mit professionellem Material könnte ich besser zeichnen. Ein trockenes Lachen bahnte sich seinen Weg an die Oberfläche. Wenn sie nur wüssten, was ich war.
Eine Wölfin – gefährlich, furchterregend, wunderschön.
Ich zwang meine Mundwinkel nach oben und pfefferte den Zeichenblock, mit all den vergeudeten Stunden, in den Papierkorb. Der Inhalt der Schubladen folgte. Als der Korb überquoll, raste mein Herz so schnell, dass ich einen Moment innehielt, um Luft zu holen. Ich musste mich beruhigen. Aufregung schadete meiner Konzentration. Gerade diese brauchte ich heute Nacht.
Meine Brüder mussten mich vergessen haben oder durchstreiften noch den Wald. Sie wollten die beste Lichtung suchen, damit ich mir keine Sorgen machte, Menschen zu begegnen. Zwischen den unterschiedlichen Arten herrschte lange Frieden. Doch nur, weil die Wandler in Vergessenheit geraten waren. Deshalb riefen die Menschen sofort die Polizei oder die Jäger, wenn sie einem großen Wolf im Wald begegneten. Mit der Zeit wurden die Menschen immer gerissener, denn seit wenigen Monaten besaßen sie eigene Waffen und hatten bereits, mit den gefährlichen Kugeln ihrer Gewehre, auf Wölfe geschossen. In manchen Dingen waren die Homo sapiens ausgesprochen gut. Töten lag ihnen besonders.
»Bist du fertig oder polierst du deine Zähne?«, rief Nero von unten. Die Stimme meines leiblichen Bruders drang schwach durch die dicken Wände und ließ mich aufatmen. Endlich.
Ich vertrieb die quälenden Gedanken mit einem keuschen Lächeln und riss die Zimmertür auf. Meine Wölfin klopfte an meinen Geist und ich rang nach Luft. Sie war noch nie so präsent gewesen wie heute. Ein Kloß bildete sich in meiner Kehle und ich blinzelte die Feuchte aus meinen Augen. In Windeseile durchquerte ich den Flur und lief die Treppen zum Wohnzimmer in das Erdgeschoss, wo mir der holzige Duft der rustikalen Einrichtung entgegenschlug.
Die letzten Stufen sprang ich hinab und verfehlte um Haaresbreite Rave. Er schrie erschrocken auf und wirbelte zu mir herum.
»Vorsichtig, Kätzchen«, knurrte er, wie es nur ein Wolfswandler konnte. Ein verstecktes Grinsen zuckte über seine ernsten Züge.
Bei meinem Spitznamen rümpfte ich die Nase. Ich legte ein breites Lächeln auf und blinzelte ihm unschuldig entgegen. »Hallo, Raphael.«
Seine Augen verwandelten sich zu kleinen Schlitzen. Kopfschüttelnd trat er beiseite und gab den Blick auf das lederne Sofa frei. Zwei Wölfe – noch in Menschengestalt – streckten sich auf den Polstern aus und verunstalteten den Wohnzimmertisch mit ihren Füßen. Nero schwenkte ein Glas, stützte seinen Ellenbogen auf die Lehne und nahm einen Schluck von einer bernsteinfarbenen Flüssigkeit. Der Duft von Alkohol kroch aus dem kristallinen Glas, ließ mich die Nase rümpfen.
Rave trat zu den zwei Männern und bohrte mit hinterlistigem Lächeln seine Finger in Jesses Schulter. Dieser sprang auf und versuchte ihm mit seiner Baseballkappe eine Kopfnuss zu geben, aber verfehlte sein Ziel um Haaresbreite und fluchte wie ein wahrer Hexenmeister.
Ich verkniff mir ein Grinsen und trat zu dem Wolf, der mit wachsamen Augen die Szenerie beobachtete. Wie mein Bruder die beiden kennengelernt hatte, war mir ein unlösbares Rätsel. Genauso, wie er es nach all den Jahren immer noch mit ihnen aushielt und nie gedroht hatte, sie aus dem Haus zu werfen. Allerdings war eine Familie, eine Familie. Wölfe ließen sich nicht im Stich.
Kopfschüttelnd wandte er sich ab und sah mir entgegen. Seine rabenschwarze Kleidung verschmolz mit der hereinbrechenden Nacht und ließ seine blauen Augen umso stärker leuchten. Seine Mundwinkel zuckten nervös, als ich ihn von Kopf bis Fuß musterte. Er fuhr sich gestresst mit der Hand durchs kurze, dunkle Haar. »Bist du bereit?«
Ja. Nein. Vielleicht. Achselzuckend warf ich einen Blick zu meinen, sich raufenden Brüder, die, nachdem wir aus dem Norden nach Danosc gezogen waren, zu meiner Familie wurden. Sie hatten sich allmählich beruhigt und warteten still nebeneinander.
»Ich weiß es nicht«, gestand ich. Eine kühle Welle durchflutete mich, während ihr Druck nachließ. Einen tiefen Atemzug nehmend, erklärte ich: »Es kann so viel passieren und ich weiß nicht, ob ich es schaffe, die Kontrolle über sie zu behalten. Ich spüre sie in meinem Herzen, aber sie ist nicht, wie ich sie mir vorgestellt habe. Meine Wölfin ist wachsam, so ehrgeizig und will unbedingt in die Freiheit. Es ist fast so, als wollte sie hier und jetzt aus mir herausbrechen.«
»Sie ist wie du«, bemerkte Jesse. »Jeder Wolf ist das, was man selbst verkörpert. Deshalb fürchten sich die Wölfe vor ihrer ersten Verwandlung. Sie haben Angst, dem entgegenzublicken und die Kontrolle zu verlieren.« Ich presste die Lippen aufeinander. »Du verlierst nicht die Kontrolle, Alva. Wir haben dich vorbereitet, du kannst das.« Seine Mundwinkel zuckten in die Höhe.
Ich rang mir ein Lächeln ab und schob die Hände in die Taschen. Sie sollten nicht sehen, dass sich Schweißperlen auf meinen Handrücken bildeten. Für sie schaffte ich alles, was ich mir vorgenommen hatte. Aber ich konnte nicht immer alles erreichen. Das war nicht natürlich und vollkommen irrational. Der Gedanke, dass ich scheiterte – die Kontrolle verlor und die Wölfin mich übermannte –, spielte Fangen in meinem Kopf. Es gab keine freie Sekunde, in der ich nicht an das Loch dachte, in das mich die Wölfin zwängen konnte, wenn ich die Kontrolle verlor. Erst die warmen Sonnenstrahlen retteten mich aus meinem Gefängnis und drängten das Tier in mir zurück.
Nero drückte mir die Autoschlüssel in die Hand, aber ich wehrte sie ab. Meine Wangen wurden heiß wie die Strahlen der Sonne. »Ich schaffe das alles nicht«, platzte es aus mir heraus. Er sah mich unverständlich an. »Ich kann jetzt kein Autofahren.« Ich trat einen Schritt zurück und schüttelte den Kopf. Eine tiefe Falte legte sich zwischen seine Augen. Ich hasste diesen Gesichtsausdruck, die Sorge in seinem Blick. »Wenn ich fahre, fahre ich gegen einen Baum«, schob ich eilig vor.
Nickend ließ er den Arm sinken und klimperte mit dem Schlüsselbund in seiner geschlossenen Hand. »Dann eben nicht.« Seine Augen, deren Blau meinem so ähnlich sah, funkelten wie von Mondstrahlen erleuchtetes Wasser. »Vielleicht ist es auch besser so, bevor wir uns verfahren. Mitternacht kommt schneller, als mir lieb ist. Denk dran, Alva, die Menschen sind überall.«
Jesse murmelte zustimmendes, sodass Rave dem rangniederen Wolf einen schiefen Blick zuwarf. Augenblicklich verstummte er und senkte den Kopf. Dass Jesse zu meinen Brüdern gefunden hatte, glich einem Wunder. Normalerweise gaben sich die ranghohen Tiere nicht mit den unteren Wölfen ab und schickten Boten, um den Kontakt mit den Braunen und Grauen zu meiden. Deshalb war diese Nacht umso entscheidender. Mein Fell konnte schwarz, braun oder grau werden. Danoscs Rudel legte viel Wert auf die Fellfarbe, das je dunkler, desto besser war.
Die schwarzen Wölfe bekamen mehr Rechte im Rudel und erhielten eine Stimme bei den seltenen Abstimmungen, wenn es um neue Regeln und Gesetze ging. Das wollte ich unbedingt. Man erwartete es sogar von mir, dass ich mindestens genauso dunkel wie Nero wurde. Dagegen mussten die niederen Wölfe die Dinge akzeptieren und unter den abfälligen Blicken der Ranghohen leiden. Ihnen blieben die unbeliebten Lebensaufgaben wie die Pflege des Territoriums und das Übermitteln von Nachrichten zwischen den einzelnen Familien.
Die Fellfarbe eines jeden Wolfes war entscheidend. Sie sollte die Stärke des Wolfes offenbaren, wobei dieser Ritus so veraltet war, dass viele Rudel ihn abgelegt hatten. Doch Riten und Traditionen waren im Rudel von Danosc ein streng gehütetes Heiligtum.
Zusammen zogen wir vor die Haustür und stiegen in den Geländewagen. Ich wollte neben Nero einsteigen und die Kontrolle über das Radio übernehmen, als Rave mich anpfiff. »Raus da.« Er deutete auf die Rückbank. »Dein Platz ist hinten.«
»Nur, weil du Epsilion bist, hast du kein Recht, mich wegzujagen«, fuhr ich ihn an und stellte meinen Fuß auf die breite Trittfläche. Bevor er sich vordrängen konnte, beanspruchte ich den Sitz und schnallte mich mit flinken Fingern an. Rave umklammerte die Autotür so fest, dass seine Fingerknöchel weiß hervorstachen. »Der Alpha wird mir einen hohen Rang zusprechen, dann ist dein Platz sowieso hinter mir. Am besten gewöhnst du dich gleich an die Aussicht der hinteren Sitze.« Rave’s Kiefer mahlte.
Nero warf ihm vom Lenkrad aus einen scharfen Blick zu, dass der Wolf sich dem Willen des Beta unterwarf. Grummelnd schlug er die Tür zu. Sein schwarzer Schopf verschwand im Seitenspiegel, als ich die Rücksitztür mit einem Klicken aufspringen hörte. Mit einem Krachen ließ er sie zurück ins Schloss fallen. Ich grinste triumphierend.
»Alles gut?« Jesse legte mir von hinten eine Hand auf die Schulter. Seine von der Sommerhitze klebrige Haut saugte sich an mein Top, während wir von der Auffahrt auf die Straße zurücksetzten. Mich überkam ein unangenehmes Schaudern, als ich mir den Schweiß auf der Haut umso bewusster wurde.
»Ja.« Mehr brachte ich nicht über die Lippen. Stattdessen richtete ich den Blick auf das sich abwechselnde Spiel von Licht und Schatten auf der schwach erleuchteten Straße. Nachdem wir vor wenigen Jahren aus der Metropole von Danosc gezogen waren, hatten meine Brüder in den ersten Ausläufen des Waldes ein Haus bauen lassen. Der satte Duft von Blättern und Moos erfüllte jeden Zentimeter des Hauses, drang in jede Ritze und jeden Winkel ein. Es war traumhaft und besonders. Wenn der Regen in seichten Schlägen auf das Dach trommelte, die Luft den Geruch von feuchter Erde annahm, wagte ich mich in ein Paradies von Träumen und schönen Erinnerungen. Zu diesen Stunden vergrub ich mein Gesicht in weichen Kissen und lauschte der Musik des Waldes bei offenem Fenster und einem guten Buch. Dabei ließ ich mir die Wangen vom lauen Kuss des Windes streicheln und Kerzenlicht flackern.
Eben jene Windzüge strichen über meine Wangen und zerzausten mein blondes Haar, das ich mir aus den Augen strich. Ich warf einen raschen Blick zu meinen Brüdern. Wie zu Statuen erstarrt, stierten sie auf die Straße und in den immer dichter werdenden Wald. Keiner sagte ein Wort, sodass die Stille sich wie eine Decke über uns ausbreitete. Sie verschluckte uns beinahe wie die hohen Bäume, deren Dunkelheit das Auto einnahm. Die Scheinwerfer des Geländewagens warfen kegelförmige Lichtstrahlen in die Schwärze und zogen alle möglichen Motten an.
Durch die rabenschwarzen Baumkronen erahnte ich den dicken Mond. Er stand zu tief, um die Verwandlungen der Jungwölfe hervorzurufen. Denn diese Nacht war ich nicht die einzige Wandlerin, die sich in die dichten Wälder wagte. Überall auf der Welt gab es jeden Monat junge Wandler, die sich bei Vollmond allein zwischen der Düsternis von Bäumen und Gräsern treiben ließen. Meine beste Freundin July war eine von ihnen und wird um dieselbe Zeit im Norden zur Luna beten, wie ich es im Süden tat. Seit unserer Trennung schrieben wir uns regelmäßig und bemühten uns, jede Woche mindestens einmal zu telefonieren. Bevor meine Brüder und ich weggezogen waren, waren wir wie Schwestern gewesen und hatten jeden Moment unserer Kindheit zusammen genossen. Doch von einem Tag auf den anderen hatte sich alles verändert und nun war ich hier. Sie im Norden und ich im Süden – über tausende von Kilometern entfernt. Allerdings war in diesen Wochen der Kontakt eingeschlafen, was den strengen Vorbereitungen für das Blutritual zu verschulden war. Auch in nächster Zeit wird sich nichts ändern. Nach heute Nacht wird es viele und ganz besonders lange Feiern geben. Tanzen und Speisen mit der Familie, Freunden und dem Rudel nehmen nach jedem Blutritual ganze Tage ein. An Schlaf ist nach heute Nacht kaum mehr zu denken.
Nach einiger Zeit parkten wir im tiefsten Wald. Die Scheinwerfer des Geländewagens erloschen hinter uns mit einem leisen Surren. Kaum war das Licht verschwunden, schlug die Schwärze über mich zusammen. Mir blieb die Luft im Hals stecken. Langsam tastete ich mich mit kurzen Schritten im Unterholz voran. Es war so dunkel, dass ich meine eigene Hand nur erahnen konnte.
Mit aufgerissenen Augen stolperte ich über einen umgefallenen Baumstamm und schlug der Länge nach in den Dreck. Ich stöhnte vor Schmerzen, als ich den Kopf vom Boden hob. Zwei vertraute Hände packten mich an den Schultern und drehten mich um. Ohne zu wissen, wer von meinen Brüdern mir half, ließ ich mich auf die Füße ziehen. Zwei Finger zogen an meinen Haarspitzen und schnippten ein Laubblatt in die Dunkelheit.
»Vorsicht.« Rave’s raue Stimme drang von überall und nirgends an mein Ohr. Seine Haut kühlte mich von dem Feuer in mir, jagte unvorhersehbare Schauer über meinen Rücken. Seine dunklen Umrisse neigten sich in die Tiefe des Waldes. »Hier entlang, wenn du dir nicht deinen kleinen hübschen Kopf anschlagen willst.«
»Ganz sicher nicht, nicht heute«, flüsterte ich und ließ mich von ihm durch das vermeintliche Unterholz lenken. Wenn ich meine Verwandlung hinter mir hatte, konnte ich, wie meine Brüder, auch in menschlicher Gestalt, die empfindlichen Sinne meiner Wölfin nutzen. Bei dem Gedanken bogen sich meine Finger unwillkürlich zu Krallen. Ich schnappte nach Luft und versuchte mein rasendes Herz zu kontrollieren. Die tierische Seite nahm viel zu schnell von mir Besitz. Was, wenn ich die Kontrolle verlor?
Jemand drückte mir etwas Kaltes an die Brust. Ein Schauder durchfuhr mich, ließ mich die Finger nur widerwillig um die Kühle schließen. Was war das? Ein Stein? Eine Wurzel? Meine Finger flogen über tiefe Rillen, ertasteten einen Knopf. Nein, es war unnatürlich und fühlte sich wie Plastik an. Ich drückte die Erhebung hinunter. Ein Klicken hallte durch den Wald und ließ mich schaudern. Einen Herzschlag später teilte ein schwacher Lichtstahl die Finsternis.
Ich stieß einen schrillen Schrei aus, als ich meinem Bruder in die Augen blickte. Er stand direkt vor mir und grinste von einem Mundwinkel zum anderen. »Deine erste Lektion, erinnerst du dich noch?« Nero kniete sich auf den staubtrockenen Waldboden und deutete auf eine Stelle vor meinen Schuhspitzen.
Ich lenkte den Lichtkegel auf seine Finger. Sie schwebten direkt über zwei unscheinbaren Hufspuren. »Ein Reh?«, wagte ich zu fragen und schielte zu ihm.
»Bist du dir sicher?« Sein Grinsen fiel um einige Zentimeter.
Ich biss mir nervös auf die Unterlippe. War ich mir sicher?
In die Knie gehend, betrachtete ich die Stelle. Sie war für die Spur eines Rehs zu breit, was aber nichts bedeuten musste. Ein Wildschwein war es nicht. Dafür war die Spur zu zierlich. Vielleicht ein anderes Huftier?
Ich verzog den Mund und sah zu ihm auf. »Ein großes Reh«, bestimmte ich und nickte. »Ich bin mir sicher.«
Nero erhob sich, warf mir einen wissenden Blick zu und klopfte mir auf die Schulter. Seine Pupillen waren jeweils von einem goldenen Ring umgeben. Es war verblüffend, wie ähnlich sie meinen Augen waren. »Lass dich nicht so schnell verunsichern, Alva.«
Ich stieß erleichtert die Luft aus und rammte ihm spielerisch einen Ellenbogen in die Seite. Er gluckste amüsiert und nickte Rave beruhigend zu. Von einer Sekunde auf die andere nahm er mir die Taschenlampe ab und schaltete sie aus. Die Dunkelheit schlug über mir zusammen, ballte sich zu einem undurchdringlichen Netz aus Schwärze und brachte einen Keil zwischen meine Brüder und mich. Ich zog die Schultern hoch und hielt einen Aufschrei zurück. Rave’s Augen sprühten Funken, als wäre er von Sternenstaub durchtränkt worden. Manchmal, wenn ein Stern vom Himmel fiel, wirkte die Anziehungskraft unseres Planeten so stark, dass dieser Teile seines Seins verlor. Funkelnder Staub legte sich auf alles, was ihm am nächsten kam und im Moment glaubte ich, er lag auf Rave’s Augen.
»Du bist gemein«, stieß ich hervor.
Rave lachte und wurde von seinem Beta übertönt. Neros Augen hefteten sich wie heißes Eisen auf meine Haut. Sie verbrannten mich. Ich lachte nervös, als seine Stimme gespenstisch im Wald kreiste. »Lieber gemein und vorbereitet oder nett und dem Tod geweiht?«, knurrte er. Oder sein Wolf.
Ich ballte die Hände zu Kugeln, als ich seinen Atem in meinem Nacken spürte. Es war Zeit, meine Stellung als Jüngling auszunutzen. Ich wirbelte herum und hob die Fäuste, bereit, einen Schlag auszuteilen. Mir blieb die Luft im Hals stecken, als sich ein dichter Wald vor mir aufbaute. Von Nero keine Spur. Auch Rave und Jesse waren wie vom Erdboden verschluckt. Mein Magen machte einen Purzelbaum. Ich spürte, dass drei Wölfe mich umkreisten. Sie nahmen mich ins Visier, wie unzählige Male zuvor. Laufen und Verstecken oder Warten und Angreifen?
»Sagt der Richtige, der nicht einmal eine Ratte fangen konnte!«, rief ich und hob die geballten Hände schützend vors Gesicht. Die Ohren spitzend, drehte ich mich langsam um die eigene Achse und ließ meinen Blick durchs Unterholz gleiten. Ich trat einen Schritt näher, stockte. Ein schwarzer Wolf? Allmählich pirschte ich mich an den Schatten heran. Rabenschwarze Knäule bildeten sich zu meinen Füßen, die sich im seichten Mondlicht zu einem Dornengebüsch offenbarten. Enttäuscht wendete ich mich ab.
Das Unterholz knirschte unter meinen Turnschuhen, dann stolperte ich. Etwas Hartes stieß gegen meine Waden und brachte mich ums Gleichgewicht. Mit einem dumpfen Aufprall landete ich auf dem Hintern. Ein stechender Schmerz schoss meine Wirbelsäule hinauf. Kopfschmerzen, wie Messerstiche legten sich um meine tropfnasse Stirn, ließen mich schwer blinzeln. Mit zittrigen Fingern wischte ich mir den Schweiß vom Gesicht und rappelte mich auf.
Es war unmöglich. Nie im Leben konnte ich diese Nacht überstehen. Allein das Scheitern bei dieser Aufgabe war Beweis für meine Untauglichkeit. Wie sollte ich meine Brüder mit menschlichen Augen finden, wenn es stockfinster war? Gar nicht. Ich hatte es noch nie geschafft und das wird sich heute nicht ändern. Meine Brüder mochten vergessen haben, wie es sich anfühlte, ein Mensch ohne übernatürliche Sinne zu sein. Ich sah nichts, roch nichts und spürte nur die sachten Windzüge in meinem Haar. Mehr nicht. Da war kein Kribbeln, keine Erleuchtung. Nichts. Ich war einfach ich. Wie gestern, vorgestern und wie vor einem Jahr.
»Das ist nicht lustig!«, rief ich und fröstelte, als meine Stimme vom Wald verschluckt wurde. »Kommt endlich raus!«, schrie ich aus Leibeskräften.
Etwas knackte hinter mir. Ich wirbelte herum, hielt die Fäuste bereit. Haarscharf flog ein Schatten an mir vorbei und streifte meine Wange. Mit einem Rascheln ging es zu Boden und landete irgendwo hinter mir. Keuchend fasste ich mir an die feuchte Haut und riss die Augen auf, als ich eine warme Flüssigkeit auf meinen Fingern glitzern sah.
Ein Zischen, wie von einer Schlange, durchfuhr die Luft. Ich warf mich zu Boden und spürte einen Luftzug in meinen Haaren. Mit einem dumpfen Aufprall schlug es gegen einen Baumstamm und landete zwischen dunklen Wurzeln. Mir wurde eiskalt.
Flink sprang ich auf und rannte tiefer in den Wald. Irgendwohin. Es war egal. Hauptsache weg. Ein Wolf war mir auf den Fersen. Mein menschliches Gehirn schrie mich an, schneller zu laufen, während mein wölfisches Herz zum Kampf rief. Die Schwärze wurde mit jeden meiner Schritte dichter. Die Bäume hoben sich wie Säulen über mir empor, überragten mich um Meter und schlossen sich zu einer schützenden Decke zusammen. Doch ich preschte noch weiter, lieferte mir einen Zickzacklauf.
Ein dunkler Wolf huschte durch das Dickicht und an mir vorbei. Mir stockte der Atem. War das dunkelbraunes Fell? Rave? Ich legte mehr Kraft in meine Beine, überholte ihn, um ihm keine Gelegenheit zu geben, mich zu erschrecken.
Mein Herz raste. Wenn er mich erwischte … Ich schluckte. Für ihn war es nur ein Spiel, aber er hatte schon einmal die Kontrolle über seinen Wolf verloren. Der Jagdtrieb hatte ihn überkommen. An diesem Tag lief ich so lange, wie ich konnte, bis Rave mich im Sprung niedergerissen und die Zähne in meine Schulter gebohrt hatte. Wäre Nero nicht rechtzeitig Zuhause gewesen, hätte er meine Schreie nie gehört und ich hätte mehr erlitten als eine hässliche Narbe.
Ein Krachen durchzuckte die Luft, als ein Wolf aus dem Dickicht brach und mir entgegensprang. Mit gefletschten Zähnen und rasiermesserscharfen Krallen. Rave.
Ich schrie und wich nach rechts aus, konnte mich kaum bremsen. Den Baum sah ich zu spät. Ich prallte blindlings gegen ihn, stieß mich an ihm ab und rannte weiter in die Dunkelheit. Ich stolperte einen Hügel hinab. Die Luft schlug mir heiß ins Gesicht und Schweiß rann meine Beine hinab. Ein kräftiger Ruck durchfuhr mich, als mein Fuß zu langsam war. Halb stolpernd, halb fallend, flog ich den Hügel hinab und schlug der Länge nach auf dem Waldboden auf. Ich bremste mit der Schulter, spürte den vertrauten, scharfen Schmerz, wenn Fleisch aufriss und biss die Zähne zusammen, als ich über den Boden schrammte.
Irgendwann blieb ich liegen. Schon blickten zwei blaue Augen, mit goldenem Kranz um die Pupille, auf mich hinab. Nero.
Der schwarze Wolf baute sich bedrohlich über mir auf. Geifer tropfte von seinen Lefzen und auf meine Nase. Meine Augen wurden so groß wie Tennisbälle, als ein eiskalter Schauer mein Rückgrat hinabrann. Mir versagte die Atmung, als ich zwei Wolfssilhouetten am Rande meines Blickfelds erahnte. Sternenlicht verfing sich in ihrem Fell und ließ sie schimmern.
Vorsichtig sah ich an meinem Bruder vorbei und in den Nachthimmel. Hinter den Baumkronen offenbarten sich eine funkelnde Sternendecke und der dicke Mond. Ein Abbild der Göttin und ihre zahlreichen Töchter.
Am liebsten hätte ich ewig auf dem Grund gelegen und dem Funkeln zugesehen. Doch ein angestrengtes Seufzen riss mich von dem Mond zurück auf den Erdboden. Nero hatte seinen menschlichen Körper zurückerlangt und stützte sich mit den Händen links und rechts meines Kopfes ab. Ein wildes Grinsen zierte sein Gesicht und ließ seine Augen umso mehr glänzen. Langsam verebbte der Jagdtrieb und auch seine Atmung normalisierte sich zu einem regelmäßigen Herzschlag.
»Lektion Nummer zwei«, erinnerte er mich. Seine nackte Brust hob und senkte sich hektisch. Schweiß rann ihm die Schläfen hinab. Ich wollte die Finger ausstrecken, um sein rabenschwarzes Haar zurückzustreichen, das ihm vor die Augen gefallen war. Aber ich blieb reglos am Boden liegen, wagte kaum, zu atmen. »Laufe niemals schneller, als es deine Beine zulassen. Und Lektion Nummer drei …« Sein Mundwinkel verzog sich zu einer ernsten Miene. »… streng dich mehr an.«
»Das tue ich doch!«, schoss ich zurück.
Nero zog die Augenbrauen hoch und stützte sich vom Boden ab. Mein Blick flog zwischen die engen Bäume. Vergeblich. Nero wandte sich nicht ab. Niemals. Kein Wolf tat das. Ich durfte es ebenfalls nicht, wenn ich zum Rudel gehören wollte. Wölfe schämten sich nicht für ihre Körper. Sei es für die Blöße des Menschlichen oder für das Fell des Tierischen.
Trotzdem schaute ich weg, als ich aufstand und meine Hose mit den Handflächen abklopfte. Staub rieselte zu Boden und heftete sich an meine Schuhspitzen.
»Wie weit ist es zu dieser Stelle, die ihr vorhin gefunden habt?« Ich legte den Kopf in den Nacken und sah auf meine Armbanduhr. »Ihr müsst zurück zum Alpha. Es ist bald Mitternacht. Wenn ihr zu spät seid, könnte er denken, ihr habt mir bei der Verwandlung geholfen.« Ich warf ihnen einen raschen Blick zu und sorgte dafür, dass meine Augen oberhalb der Gürtellinie blieben. Meine Wangen färbten sich rosa. »Ich habe wirklich keine Lust, mit ihm oder dem Rudel Probleme zu bekommen.«
Nero nickte und trat einen Schritt auf mich zu. Sein Blick flog prüfend über mich, blieb an meinen Händen hängen. Ich sah hinab, erkannte zwei geballte Fäuste. Ich öffnete sie eilig, unterdrückte das Zittern und rieb mir stattdessen über die Handrücken. Ich holte tief Luft – so wie es mir Jesse gezeigt hatte. Es war wichtig, einen ruhigen Puls zu haben.
Es wird alles gut werden. Das Rudel hatte mich auf diese Nacht vorbereitet, mein ganzes Leben war diesen Stunden gewidmet worden. Mein Gehirn wollte mir Vernunft einreden, schaffte es aber nur wenig, als ich in Schweiß ausbrach und Rave mir einen mitleidigen Blick schenkte. Ich lächelte gequält zurück.
Nero warf mir einen wissenden Blick zu. »Die Stelle ist egal. Die Hauptsache ist, dass du weit weg von der Stadt bist. Du schaffst das, Alva. Du musst nur deiner Wölfin vertrauen, sie wird wissen, was sie braucht und wird dir bei der Jagd helfen. Nur, wenn du mit ihr im Einklang bist, behältst du die Kontrolle über deinen Körper. Deswegen darfst du sie nicht bedrängen und ihr nicht zu viel Freiraum lassen. Wölfe werden bei Freiheit gerne übermütig. Gerade dann, wenn es das erste Mal ist.« Er sah zu seinen Brüdern. Sie nickten bestätigend.
Ich seufzte und sah zwischen dem Trio hin und her. »Dann sehen wir uns morgen früh«, stieß ich mühsam hervor.
Nero schenkte mir ein schiefes Lächeln und kehrte mir den Rücken zu. Jesse folgte ihm stumm, hob zum Abschied die Hand. Doch Rave verharrte einen Augenblick, zwinkerte mir zu und folgte seinen Brüdern barfuß in die Dunkelheit zurück zum Auto. Nach wenigen Schritten verschluckte ihn die Schwärze der Nacht, als würde sie ihn nie wieder fortgeben wollen. Wie sie mich nicht freilassen wollte.
Schwer seufzend setzte ich mich ins Gras und spielte gedankenverloren mit den Grashalmen. Ich wartete …
… und wartete.
Ein Zucken durchfuhr meinen Körper, ließ mich rasch zum Nachthimmel sehen. Die Mondstrahlen leuchteten heller als jemals zuvor, verstärkten sich und trafen direkt in meine Netzhaut. Meine Pupillen weiteten sich und waren dem Licht vollends ausgeliefert. Wie in einen Bann gezogen, stierte ich zur Luna hinauf. Ich konnte den Blick nicht abwenden, war eine Gefangene ihrer Schönheit.
Dann schlug die Stunde Mitternacht.
Sekunden vergingen. Dann Minuten.
Der Mond verließ seinen Zenit, bewegte sich allmählich auf den Planeten zu. Nichts geschah. Da war kein besagtes Kribbeln in den Fingerspitzen oder ein Ziehen in der Wirbelsäule. Rein gar nichts. Auf meiner Armbanduhr spiegelte sich das Mondlicht, als ich einen Blick auf sie warf. Mitternacht war seit fünf Minuten vorüber. Seit fünf Minuten hatte ich Geburtstag, seit fünf Minuten sollte ich eine Wölfin sein. Aber ich war ein Mensch.
Mit flinken Fingern zog ich mein Mobiltelefon aus der Hosentasche. Ich suchte über das Kontaktfeld und tippte eine rasche Nachricht in das Textfeld. Vor dem Absenden verharrte mein Daumen über dem kleinen Pfeil. Sollte ich July schreiben? Schnell löschte ich den Text und steckte das Handy zurück.
Mir entkam ein frustrierter Laut, danach bettete ich mein Kinn auf die Hände und wartete. July hatte sich mit Sicherheit schon verwandelt und durchstreifte mit ihrer großen Schwester den Nadelwald. Das Northcourt Rudel war eines der moderneren Rudel und gestattete den Jünglingen, in der Nacht des Blutrituals ein Familienmitglied mitlaufen zu lassen. Sie sollten ihnen Schutz und Sicherheit geben, ihnen die Aufregung und Ängste nehmen. Die Angst vor dem Schmerz und vor dem Kontrollverlust. Doch all das gab es in Danosc nicht. Es war eines der ältesten Rudel auf dem Kontinent und hielt an seinen Regeln fest. Es änderte sich nichts. Der Alpha regierte seit Jahrhunderten und wird weitere Jahrhunderte herrschen. Es gab keine Nachfolger, denn nur Wölfe mit weißem – reinem – Fell führten die Rudel an. Das Weiße symbolisierte die Reinheit und war eine Seltenheit. Es war so besonders wie weißes Gold und genau deswegen hatte man vor Jahrhunderten diese Wölfe zu Anführern bestimmt.
Doch wenn der Alpha ohne einen Nachkommen mit reinem Fell starb, regierte der dunkelste Wolf. Stärke wog mehr als Wissen und Geschick. Ohne Stärke würde es uns heute nicht geben. Allerdings konnte es Jahrhunderte dauern, bis ein neuer Alpha geboren wurde. Deshalb konnten die Wölfe von Glück reden, dass sie bei bester Gesundheit über einige Jahrtausende leben konnten.
Schwer seufzend stand ich auf und verließ die Lichtung Richtung Norden. Der Wald war riesig und das Trio hatte mich weit von Danosc weggebracht. Ich würde keinem Menschen begegnen.
Die hohen Laubbäume wurden mit jedem meiner Schritte dichter, als mich die Schwärze mit jedem Meter einholte und vollends verschluckte. Ich ging den Hügel hinauf, den ich hinuntergefallen war, bis sich die Bäume ausdünnten, wie ein langer Faden. Lauer Wind strich mir um die Nase und zerzauste mein Haar. Meine Lungenflügel weiteten sich, als ich die Augen schloss und einen tiefen Atemzug nahm. Ein Gefühl der Freiheit überkam mich wie eine kühle Welle am Meer. Als ich die Augen öffnete, erhob sich der weiße Mond über meinem Kopf. So schön wie ich ihn im Planetarium beobachten konnte.
Die Luna und ihre Töchter waren mein Anreiz gewesen, mich nach der Schule dem Himmel und den Sternen zu widmen. Es war das Einzige, was mein wölfisches Herz erfüllte. Jeder Herzschlag wollte hoch hinaus, am liebsten die Sternendecke berühren und auf dem Mond wandern.
Meine Lider zuckten und ich setzte mich kerzengerade auf, als ein Stromstoß meine Wirbelsäule hinabfuhr. Angst packte mein Herz, umklammerte es mit eisernen Krallen und riss ein Loch in meine Seele. Todesangst. Mein Puls schoss in die Höhe.
Licht explodierte hinter meinen Augäpfeln, grell und blendend. Mir entkam ein schriller Schrei. Er zerriss mein Trommelfell, sodass die Vögel aus den Bäumen stoben. Wildes Flügelgeraschel hämmerte auf mich ein, drückte mich zu Boden und zwang mich in die Knie.
Meine Augen brannten wie Feuer. Ich kratzte mit den Fingernägeln über meine Augen, wollte sie am liebsten herausreißen. Aber es ging nicht. Mir war heiß, so unendlich heiß. Da war kein vorwarnendes Prickeln, keine leichte Wärme, um mich auf die Vorhölle vorzubereiten, die mich überkam. Meine Handgelenke knackten, verkrümmten sich zu etwas Urtümlichen. Zu Klauen.
Mein Körper zitterte. Bei dem Versuch aufzustehen, brach ich unter meinem Gewicht zusammen. Das Feuer war überall, fraß sich in mein Gehirn und hämmerte auf meine Schläfen ein. Es fühlte sich an, als würde etwas von innen nach außen gestülpt werden.
Meine Ellenbogen sprangen aus ihren Gelenken. Mein Schrei vermischte sich mit Tränen. Nässe rollte in dicken Tropfen meine Wangen hinab. Es sollte aufhören!
Ich brauchte Luft, ich musste atmen. Atmen.
Aber ich konnte nicht, konnte gar nichts. Da war nur der Schmerz. Und niemand kam, um mir zu helfen. Niemand war hier. Niemand rettete mich vor der Dunkelheit.
Ein Brüllen brachte die Luft zum Vibrieren, gefolgt von einem wilden Knurren. Meine Wölfin. Mein Herz schlug mir bis zum Hals. War sie hier? Mein Kiefer schmerzte, als ob ein Zahn ohne Betäubung gezogen wurde. Dann stachen mir spitze Zähne in die noch menschlichen Lippen. Ich schmeckte Blut, leckte mir über die empfindliche Haut. Augen verdrehten sich. Es war himmlisch. Nein, es war göttlich.
Menschenblut – mein Blut.
Ich war ein Mensch.
Als wäre die Wölfin in mir nicht einverstanden, jaulte sie und setzte ein Inferno frei, das mir die Knochen versenkte. Mein Körper veränderte sich und ließ mich zittern.
Ich blinzelte und als ich die Augen öffnete, nahm mich nichts als vollständige Dunkelheit ein. Sie war überall. Da war kein Mondlicht und kein Schimmern des Nachthimmels. Überall war diese undurchdringliche Schwärze, dieses Nichts. Holz knackte in der Ferne. Oder waren es Knochen?
Ich rannte los, ohne darüber nachzudenken. Schneller, als menschliche Beine je hätten laufen können.
Hunger.
Ich hatte Hunger. Ich war am Verhungern.
Eine Stimme hallte in meinem Kopf, durchdrang die Decke aus Dunkelheit wie ein scharfes Messer. Sie klang merkwürdig vertraut.
Lektion Nummer zwei: Laufe niemals schneller, als es deine Beine zulassen.
Sirenen weckten mich. Gähnend schlug ich die Augen auf und blinzelte gegen das grelle Licht. Rave musste erneut seine Haferflocken zu lange im Ofen gelassen haben. Er überhörte den Wecker viel zu oft und ließ seine Technomusik im Badezimmer, die Wände zum Einstürzen bringen.
Ich stöhnte genervt und hob eine Hand vor die Augen. Es war so furchtbar hell. Gemurmel riss meine Aufmerksamkeit aus meiner Trägheit. Was war hier los?
»Hallo«, sagte jemand. Die Person stand, in gleißendes Sonnenlicht gehüllt, neben mir und kniete sich nieder.
Hinter ihm ragte die Silhouette einer weiteren Person auf, die an einem großen Auto stand und in einer Kiste kramte. War das ein Gott? War ich tot? Ein Gesicht enthüllte sich. Nein, es war ein Mann mit leicht angegrautem Haar und rasiertem Kinn. Er lächelte gutmütig. »Wie fühlst du dich? Tut dir etwas weh?«
Eine fremde Hand berührte mich von hinten an der Schulter. Schweiß und der Gestank von Zigaretten stiegen in meine Nase. Sie juckte befremdlich.
»Alles gut«, krächzte ich. Ich fasste mir an die Kehle, befühlte meinen Hals. Hatte ich etwa geschrien?
Ich wollte aufstehen und nach meinen Brüdern sehen. Doch warmer Wind strich über meinen Bauch, ließ mich innehalten und an mir hinabsehen. Ich war nackt. Meine Haut war nicht sonnengebräunt, sondern rot wie Blut. Die Farbe blätterte von mir ab, wie ein alter Anstrich von Wänden und setzte einen metallischen Gestank frei. Ich rümpfte die Nase und konnte das breite Grinsen kaum zurückhalten.
»Hallo?« Der Mann schnippte mit den Fingern vor meinen Augen.
Ich lenkte den Blick auf ihn.
»Was?«, platzte es aus mir heraus. Unter Protest richtete ich mich auf. Alles drehte sich und ich sah das Gesicht des Mannes doppelt. Irritiert schüttelte ich den Kopf. Dabei spürte ich einen dicken Klumpen von Haaren in meinem Nacken und gegen meine Wirbelsäule drücken.
Der andere Mann kam dichter und kniete sich zu mir. Er legte mir seine Hand auf die Stirn. Sein Blick huschte prüfend über mich. Er zog eine goldige‒silberne Decke hervor und hielt sie mir zaghaft an die Schultern. Ein Lächeln umspielte seine Lippen, als ich den Überzug annahm und um mich schlang. »Alles wird gut«, versicherte er mir und stand wieder auf.
Ich zog die Brauen hoch und sah ihm nach, blieb auf meinem Hintern sitzen. »Wie bitte?« Es brauchte nichts gut zu werden, wenn alles gut war.
Die beiden tauschten eilige Blicke. Hinter ihnen drang das harte Rollgeräusch von Autos an meine Ohren und mischte sich mit lauten Rufen und leisem Vogelgezwitscher. Eine dicht befahrene Straße zog sich in geraden Linien neben einem breiten Fußgängerweg entlang. Menschen reihten sich auf ihm, stierten ohne Scham in meine Richtung und riefen irgendetwas. Ein grelles Aufblitzen ließ mich die Augen zusammenkneifen. Es blitzte immer wieder und wieder. Doch zwei Menschen drängten die Masse zurück, rissen ihnen die kleinen Apparate aus den Händen.
»Was haben die?«, fragte ich und zeigte mit dem Finger in die Richtung der Masse am Anfang der Gasse. Hohe Mauern umgaben mich und spendeten kühlenden Schatten.
Der Mann mit den ergrauten Haaren lächelte zaghaft. Er trug eine Uniform wie die eines Beamten. »Das ist nicht wichtig. Wichtig ist nur, dass du bald in ein Krankenhaus kommst.«
Mein Körper erstarrte. Krankenhaus?
Ich schluckte, als meine Handflächen feucht wurden. Als ich ein Kind war, war ich einmal in einem Krankenhaus gewesen. Damals lebten wir in den Bergen. Wir hatten einen Autounfall gehabt und ich war allein auf einer weißen Liege aufgewacht, hatte auf meine Familie gewartet. Der Gestank von Desinfektionsmittel und der bittere Geruch von Schmerz lagen wie eine dichte Wolke in der Luft und wollten mich auf dem Krankenbett drangsalieren.
Doch dank einer Schwester hatte ich es aus dem Zimmer und rechtzeitig an die frische Luft geschafft. Nein. Ich schlang die Decke enger um mich und wog mich vor und zurück. In ein Krankenhaus wollte ich nicht. Nie wieder. Ich konnte nicht. Das Rudel verbot es. Widersetzte ich mich, missachtete ich die Regeln und wurde schlimmstenfalls verbannt. Für einen Wolf und seine Familie – meine Brüder – war es die größte Schande. Ein Leben ohne Rudel – ohne Familie. Ein Leben als einsamer Wolf. Ein Schicksal, schlimmer als der Tod.
Mit einem Satz sprang ich auf und riss den knienden Mann nieder. Er rief etwas, doch seine Stimme versagte, als ich ihn rasch umrundete. Nur raus aus der Stadt. Die Decke schlang ich um mich, als ich mit großen Schritten auf die Menschen zuhielt. Sie wichen nicht beiseite und kreischten mit jedem zurückgelegten Meter lauter. Ihr Blitzlicht blendete mich und wollte mich vom Kurs abbringen. Aber ich lief direkt in sie hinein und sie stoben wild auseinander.
Barfuß rannte ich die Straße hinab und schüttelte die Schaulustigen ab, die mir folgten. Ich hatte das Gefühl, seitwärts zu laufen und erreichte nach einer Ewigkeit die ersten Baumlinien des Waldes im Norden von Danosc. Das Wolfslager befand sich in der Villa am Waldrand. Dort musste ich den Alpha treffen und würde meine Brüder wiedersehen.
Die Villa baute sich bedrohlich vor mir auf, als ich mit nackten Füßen auf das knarzende Holz des Eingangsbereiches trat und bei jedem Schritt zusammenzuckte. Splitter bohrten sich in meine Sohlen, ließen mich die Zähne zusammenbeißen. Meine Füße strichen über den abgewetzten Teppichboden, als ich im Wohnzimmer zum Stehen kam. Das wilde Grinsen, mit dem mich das Wolfstrio begrüßte, brachte etwas Tiefes in meinem Herzen zum Summen.
Ich war vollends entblößt und ließ die neugierigen Blicke meiner Brüder über meinen Körper wandern. Die Rettungsdecke hatte ich rechtzeitig zerknüllt und in eine Mülltonne geworfen. Es wäre eine Schande gewesen, wäre ich verhüllt in die Villa getreten.
Meine Wangen brannten wie Feuer, als ihre Blicke ein Ende fanden. Ich trat nervös auf der Stelle und versteckte meine Finger hinter dem Rücken. Es war totenstill, aber mein Herz hämmerte umso lauter. Fast so, als wollte es aus mir herausspringen.
Ich räusperte mich verlegen. »Hey.«
Die Wölfe standen von der ausgeblichenen Couch auf, die mehr zerfetzt, als ganz war. So wie alles in der Villa hatte auch die Couch bessere Zeiten gesehen. Nachdem ein Haufen Jünglinge bei der letzten Feier des Blutrituals das Wohnzimmer in einem Zweikampf auseinandergenommen hatten, hatte nicht nur das Sofa tiefe Krallenspuren erlitten, sondern auch die Wände und manche Ölgemälde, die im ganzen Haus verteilt waren.
Nero grinste von einem Ohr zum anderen. »Alva. Du siehst …« Er stockte und zeigte zu dem zerschlagenen Spiegel an der Wand. Er hing mehr in seinen Angeln, als dass er stand.
»Oh«, entkam es mir. Fasziniert trat ich näher. Deswegen waren die Menschen so aufgeregt gewesen. »Daran kann ich mich gar nicht mehr erinnern.« Mein Mund war blutverschmiert, meine Haare verklebt, meine Arme blutbefleckt, meine Beine … Dort, wo kein Anfang war, war auch kein Ende. Das Blut war überall. Sogar an den Stellen, wo eigentlich kein Blut sein sollte.
»Oh trifft es nicht im Geringsten.«
Mein Herzschlag verdoppelte sich. Ich drehte mich um, ein breites Lächeln auf dem Gesicht und sah direkt dem Alpha entgegen. Er überragte mich um Längen und sah aus ruhigen Augen auf mich hinab. Seine Hände hingen locker an den Hüften, während er langsam auf mich zukam. Der Blick des Alphas heftete sich auf meinen blutverschmierten Körper und brachte meinen Magen in Aufruhr. Was dachte er? Ob ich ihm gefiel?
Sein Haar schimmerte im Sonnenlicht so schneeweiß und rein wie sein Fell. Sie zeugten von der Anmut und Eleganz jeden Schrittes und jeder Kopfbewegung. Alles geschah aus sorgfältigem Kalkül. Seine grauen Augen, die auch sein Wolf teilte, flogen an mir hinauf und hinab. »Oder teilen wir eine andere Meinung, Alva?«, fragte er und schenkte mir ein warmes Lächeln. Mein Herz ging auf.
»Eigentlich nicht.« Ich lächelte und strich mir eine klebrige Haarsträhne hinters Ohr.
»Gut«, sagte er und zupfte eine Staubfluse von seinem Oberteil. Darunter verbarg sich eine breite Brust. »Von dir habe ich in diesem Jahr am meisten erwartet.« Er sah zu mir hinab und hielt in seiner Bewegung inne. »Das weißt du doch, oder?«
Ich wusste, dass er davon ausging, dass mein Fell genauso schwarz war wie Neros Fell und ich damit Zweite in der Rangfolge – Beta – werden könnte. Aber seine Stimme ließ mich zweifeln.
»Ich weiß«, antwortete ich und warf Nero einen unauffälligen Blick zu. Seine Stirn barg tiefe Falten, während er den Kopf schief legte. So war er immer gewesen. So waren alle Wölfe, die ihre Familien beschützten.
»Gut, denn das Blut an deinem Körper spricht für deine Qualitäten«, meinte der weiße Wolf. »Aber das war nicht anders zu erwarten, nicht?«
»Entschuldigt, dass ich Euch unterbreche, Alpha.« Rave meldete sich mit gesenktem Kopf zu Wort.
Der Blick des Alphas huschte zu ihm und heftete sich auf sein dunkles Haupt. »Sprich, Epsilion.«
Rave sah ihm nicht in die Augen, hielt den Kopf demütig gesenkt. »Hat das Rudel die Beute meiner Schwester nicht gefunden?«
Der Alpha schüttelte den Kopf, legte die Stirn in Falten und richtete den Blick wieder auf mich. Eine Speerspitze stach direkt in meinen Magen. »Ja, Epsilion«, antwortete er langsam. »Manche Wölfe sind sehr hungrig und verschlingen ihr erstes Opfer mit Haut und Haaren. Dennoch haben meine Wölfe eine Blutlache gefunden. Das Blut soll nahrhaft gewesen sein, weshalb es mich positiv stimmt. Allerdings scheint von dem Opfer kaum mehr als ein paar Haarbüschel übrig zu sein.« Er stockte kurz und ließ seine Aufmerksamkeit auf einem Bild eines weißen Wolfes ruhen. Ob er der Wolf war? »Derzeit wird das Haar von unseren Laboranten untersucht, um dein Opfer identifizieren zu können.«
Ich nickte dankend und senkte den Kopf. »Ich weiß eure Anerkennung sehr zu schätzen, Alpha.«
Der Wolf seufzte schwer und fuhr sich mit der flachen Hand durchs Haar. Meine Brüder rührten sich nicht von der Stelle, waren wie zu Eissäulen erstarrt. Ich spürte ihre Anspannung durch den Raum fegen und gegen eine Wand krachen. Danach sauste sie direkt auf mich zu.
»Dein Rang entscheidet sich, wenn du deine Verwandlung kontrollieren kannst und ich deine Fellfarbe sehe. Wenn du so weit bist, lass mich rufen und ich werde kommen«, bestimmte der Rudelführer von Danosc. Er wandte sich halb zur Tür und heftete seine grauen Augen auf mein Gesicht. »Ach, Alva?«
»Ja?«
»Sag, konntest du deine Fellfarbe in der Dunkelheit erahnen?«
Ich verzog den Mund zu einer geraden Linie und erinnerte mich an die Schwärze und die Enge meines Körpers, als jemand anderes sich in mich zwängte. Meine Finger krallten sich in meine nackten Oberschenkel und hinterließen dunkelrote Abdrücke. »Nein«, gestand ich.
»Gut.« Er drehte sich zum Ausgang und nickte seinen drei Wölfen knapp zu. Sie erwiderten die Geste, legten die Hand aufs Herz und senkten die Köpfe. Als der Alpha die Haustür am Ende des langen Flurs erreichte, drang leises Murmeln an mein Ohr, »Hauptsache nicht weiß …«
»Und du kannst dich wirklich an nichts erinnern?« Nero warf mir einen eindringlichen Seitenblick zu.
Seitdem wir die Villa verlassen und in den nachtschwarzen Geländewagen gestiegen waren, hielt er nicht eine Sekunde den Mund. Er und auch die anderen wollten alles wissen. Das Problem war, dass es ein alles nicht gab. Eher ein nichts. Und das verstanden sie nicht.
»Ja!« Ich schnaufte frustriert und starrte auf dem Beifahrersitz aus dem Fenster. Der Wald zog an mir vorbei. Genau wie meine Gedanken und der kaum zu durchdringende Nebelschleier in meinem Kopf.
Die Bremsen quietschten, als Nero langsam das Tempo drosselte und die Schotterstraße zu unserem Anwesen hinauffuhr. Das Haus war auf einem kleinen Hügel gelegen und so zwischen den hohen Buchen und Eichen versteckt, dass man das Ziegeldach von der Straße aus, nicht erkennen konnte. Genau wie das Wolfslager.
Nach wenigen Minuten erreichten wir das elektronische Tor und fuhren hindurch und auf die Tiefgarage zu. Sonnenstrahlen blendeten mich, als sie sich auf dem Tor brachen und es leise hochfuhr. Der herbe Geruch des Männershampoos in meinem Haar vermischte sich mit dem Duft der Tiefgarage. Nachdem der Alpha verschwunden war, hatte ich die Gemeinschaftsduschen genutzt und mich ewig dem Schrubben meiner Haut gewidmet. Langsam war das Blut in den verkalkten Abfluss geflossen und erst nach einiger Zeit hatte ich ein Shampoo auftreiben können. Und Kleidung. Alles gehörte dem Rudel und entsprang einer Willkür aus Dingen in einer riesigen Holztruhe vor den Duschen. Deshalb war die Hose mindestens zwei Nummern zu groß und mein Shirt zu knapp.
»Das kann gut vorkommen«, meinte Jesse. Im Seitenspiegel erkannte ich Rave’s fragende Miene. »Na, dass Wölfe ihre Erinnerung an das Blutritual verlieren. Aber keine Angst, Alva«, drang seine Stimme von hinten an mein Ohr. »Ich hatte meine Erinnerungen ebenfalls verloren und nach wenigen Tagen bekam ich Teile meiner Erlebnisse aus jener Nacht zurück. Manchmal muss man abwarten.« Er nickte zuversichtlich. Rave warf ihm einen skeptischen Blick zu.
Mir entkam ein leises Lachen, dass Nero lächeln ließ. »Jesse hat recht. Es kommt, wann es kommt.« Er lenkte den Wagen neben den ausgeblichenen Sportwagen von Jesse. Der rote Lack blätterte an der ganzen Längsseite des Autos ab. An manchen Stellen konnte ich mit meinem neuen, geschärften Sehvermögen einen Hauch von Metall erahnen.
»Was ist eigentlich mit deinem Auto, Rave?« Mit flinken Fingern schnallte ich mich ab, schlug die Tür auf und rutschte den Ledersitz hinunter. Eine kurze Zeit schwebte ich, bis ich auf hartem Beton landete und meinem Bruder in die Augen sah. »Ist es immer noch auf dem Sammelplatz?«
Rave’s Augen funkelten in den Farben des Waldes. Seine Lippen verzogen sich zu einem hämischen Grinsen, als wir den Weg zu den Treppen einschlugen. »Pass bloß auf, dass du nicht bald auf dem Sammelplatz landest, Schwesterherz«, zischte er das letzte Wort. Die Demütigung, dass sein Auto im Rennen gegen Jesse verloren hatte, lastete schwer auf ihm. Jesse hatte ihn auf der Rennbahn so hart von der Seite gerammt, dass sein Auto nicht mehr zu gebrauchen war. Nero lachte und Jesse stimmte glucksend mit ein. »Das ist nicht lustig!«, fuhr Rave ihn an und stürmte auf die geraden Stufen zu.
»Spielverderber!«, rief Jesse ihm nach und setzte ihm mit großen Sprüngen nach. Wildes Kampfgeschrei traf aufeinander und brachte die Wände ins Wanken.
Neros und mein Blick trafen sich. Kopfschüttelnd folgte ich ihm die Stufen hinauf.
In der Küche angekommen beschlagnahmten Nero und ich die Eistruhe. In die Hocke gehend öffnete er das Kühlfach, wühlte lautstark darin umher und fluchte, denn seine Finger saugten sich an der eiskalten Wand fest. Mit einem Ruck befreite er sich und warf mir einen verstohlenen Blick über die Schulter zu. Kopfschüttelnd zog ich zwei Eisbecher aus dem untersten Fach.
Mit einer Abkühlung bewaffnet, wagten wir uns auf die Terrasse und drängten uns auf einer Sitzecke in die Schatten der Bäume. Als ich den Deckel aufschraubte, stieg der Duft von bitterer Schokolade in die Nase. Mir lief das Wasser im Mund zusammen.
»Was ist das Letzte, an das du dich erinnern kannst? Wo bist du aufgewacht?«, fragte mein einzig vernünftiger Bruder. Über den Deckelrand schielend, sah ich zu ihm hinüber, beobachtete, wie er sich die dunkle Creme von den Lippen leckte. Seitdem ich laufen konnte, hatten wir uns nachts in die Küche unserer Eltern geschlichen und die Eisschokolade aus dem Froster geklaut. Dabei war es umso schwieriger gewesen, leise zu bleiben, wenn die Dielen der Treppe bei jedem falschen Schritt das ganze Haus aufweckten. Manchmal hatten wir sogar geglaubt, den Fuchs zu wecken, der sich im Brennholz des tiefsten Schnees versteckt gehalten hatte.
Mein Blick huschte von der großen Terrassentür, zu den dunkelgrünen, sich im seichten Wind wiegenden Samtvorhängen und der von Kissen bedeckten Leseecke auf der anderen Seite der Plattform. »Ich bin in Danosc aufgewacht.« Ich rammte den Löffel in die eiskalte Schokocreme. Der Löffel bog sich unter dem kläglichen Versuch, das viel zu kalte Eis aus der Verpackung zu lösen. Ein warmes Lächeln legte sich um seine Lippen. »Der Lärm der Straße ließ mich wach werden«, erinnerte ich mich. Mein Herz zog sich zusammen. Die Gasse mit den zahlreichen Menschen erschien wie ein Gespenst vor meinen Augen, huschte an mir vorbei und verschwand irgendwo in meinem Kopf. Ein eiskalter Schauer durchfuhr mich. Ich sägte mit dem Löffel im Eis und war erstaunt, wie schnell ich die Stücke aus der harten Masse befreien konnte. Ich hatte viel mehr Kraft als gestern. »Da waren zwei Rettungskräfte der Menschen. Sie wollten mich ins Krankenhaus bringen, aber ich bin weggelaufen, bevor sie mich mitnehmen konnten. Sie dachten wohl, mir sei etwas Schlimmes passiert.«
Nero nickte langsam und stellte den Becher auf den Glastisch. Ich lehnte mich zurück in die bunten Kissen und zog die Füße auf die Polster. Er rückte auf der Sitzecke ein Stück näher. Meine Nase reckend, erkannte ich, dass er den Becher kaum bis zur Hälfte aufgegessen hatte. Normalerweise ließ er sein Eis für keine Sekunde aus den Augen. »Wo in Danosc? In der Metropole?« In seine Augen mischte sich etwas Wachsames, sie huschten in alle Ecken und über meinen Kopf hinweg.
Plötzlich wurde das Eis schwer in meinem Magen. Den letzten Löffel schluckte ich mühsam hinunter, bevor ich den Becher beiseitestellte. »Warum?«, fragte ich langsam in seine Richtung.
»Ich will es nur wissen.«
»Ist das nicht egal?«
Seine Augen flogen über mein Gesicht, berechneten jedes kleinste Zucken meiner Muskeln. »Für mich nicht.« Er richtete sich kerzengerade auf, streckte die Brust raus. Er sackte zurück und gegen das Polster, reckte die Nase zu den Baumkronen über unseren Köpfen und zu den, auf seinen Wangen, tanzenden Sonnenstrahlen.
Ich tat es ihm gleich.
»Versteh mich …«, setzte er an. Ich drehte den Kopf in seine Richtung, sodass unsere Augen sich kreuzten. Er lächelte müde und fuhr sich mit den Händen durchs Gesicht, als er fortfuhr, »… ich bin dein Bruder, ich will alles wissen.«
Ich legte den Kopf schief. »Es war ein Randbezirk. Ich weiß nicht welcher, aber es waren viele Menschen auf den Straßen«, gestand ich.
»Im Line Quarter?« Ruckartig setzte er sich auf und sah mich aus geweiteten Augen an. Ich vernahm seinen rasenden Herzschlag und war wie hypnotisiert von dem befremdlichen Geräusch. Seine zaghafte Berührung meiner Schulter registrierte nur ein kleiner Teil meines Gehirns.
»Ähm …«, überlegte ich und ließ meinen Blick in den offenen Wald schweifen. Er mündete direkt an die Holzplattform und wenn man ein Stück weiterging, traf man auf eine große Lichtung mit einem kleinen See.
»Hattest du das Gefühl, die Straßen verliefen parallel?«
Ich blinzelte angestrengt in dem Versuch, mich an die Umgebung zu erinnern. Ich war so schnell gelaufen, hatte mein Ziel so fest vor Augen gehabt, dass die Straßen wie ein verwischter Schleier an mir vorbeigezogen waren. Oder war meine Erinnerungslücke so groß?
»Ja«, bestätigte ich langsam und legte die Stirn in Falten. Ich drehte den Eisbecher zwischen meinen Händen und betrachtete die Fingerabdrücke auf der reinen Glasplatte. Der Appetit war mir vergangen. »Ich glaube schon.«
Nero schluckte und schüttelte den Kopf. »Es ist auch egal, du hättest nicht dort sein dürfen.«
Ich wartete ab, aber er redete nicht weiter. »Warum? Ich war nicht das erste Mal im Line Quarter. Oder irgendwo sonst in der Stadt«, fügte ich hinzu.
»Dort leben die Toten.«
Ein Lächeln stahl sich auf meine Lippen. »Ich bin kein kleines Kind mehr, Nero. Ich bin alt genug und kann auf mich selbst aufpassen.«
Früher, als wir noch im Norden gelebt hatten, hatte er mir viele Gutenachtgeschichten erzählt, die von schaurigen Wesen mit fahlem Teint und spitzen Zähnen handelten.