Dantons Tod - Georg Büchner - E-Book

Dantons Tod E-Book

Georg Büchner

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Beschreibung

Die Reihe "Reclam XL – Text und Kontext" bietet Klassikertexte mit Kommentar und Seitenzählung der gedruckten Ausgabe. Sie ist damit speziell auf die Bedürfnisse des Deutschunterrichts zugeschnitten. Die Bände haben nicht nur ein größeres Format als die Universal-Bibliothek, sie sind vor allem auch inhaltlich gewachsen. Auf die sorgfältig edierten Texte folgt ein Anhang mit Materialien, die das Verständnis des Werkes erleichtern und Impulse für Diskussionen im Unterricht liefern: Text- und Bilddokumente zu Quellen und Stoff, zur Biographie des Autors, zu seiner Epoche sowie zur Rezeptionsgeschichte. Die Herausgeber sind erfahrene Schulpraktiker, die die Materialien nach den gegenwärtigen Erkenntnissen von Germanistik und Schuldidaktik für jeden Band neu erarbeitet haben. Die Bände von Reclam XL sind im Textteil seiten- und zeilenidentisch mit denen der Universal-Bibliothek. UB- und XL-Ausgaben sind also nicht nur im Unterricht nebeneinander verwendbar - es passen auch weiterhin alle Lektüreschlüssel, Erläuterungsbände und Interpretationen dazu.

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Seitenzahl: 179

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Georg Büchner

Dantons Tod

Ein Drama

Herausgegeben von Ralf Kellermann

Reclam

Der Text dieser Ausgabe ist seitengleich mit der Ausgabe der Universal-Bibliothek Nr. 6060.

 

2013 Philipp Reclam jun. GmbH & Co. KG, Stuttgart

Copyright für den Text © 2000 by Wissenschaftliche Buchgesellschaft Darmstadt

E-Book-Konvertierung: pagina GmbH, Tübingen

Made in Germany 2017

RECLAM ist eine eingetragene Marke

der Philipp Reclam jun. GmbH & Co. KG, Stuttgart

ISBN 978-3-15-960174-8

Inhalt

Dantons TodAnhang1. Zur Textgestalt2. Anmerkungen3. Die Französische Revolution: eine Zusammenfassung3.1 Der Weg vom Absolutismus bis zur konstitutionellen Monarchie (1789–1791)3.2 Die Herrschaft von Jakobinern und Girondisten3.3 Der Terror (1793–1794) und das Ende der Revolution (1794–1799)3.4 Revolutionäre Gruppen und Klubs4. Materialien für die Interpretation4.1 Einleitung4.2 Leben und Zeit: Büchner4.3 Dantons Tod – (k)eine Aussage zur Revolution? Stimmen der Forschung4.3.1 Viëtor4.3.2 Franzos4.3.3 Lukács4.4 Politische Aussagen von Georg Büchner4.4.1 Aus einem Brief an die Familie, Straßburg, den 5. April 18334.4.2 Georg Büchner und Friedrich Ludwig Weidig, Der Hessische Landbote4.4.3 Der Fatalismus der Geschichte: ein Brief an die Braut4.4.4 Ein Brief an Karl Gutzkow4.5 Büchners Verhältnis zu den Idealen der deutschen Klassik4.5.1 »Die sogenannte Unsittlichkeit meines Buches«: zwei Briefe Büchners an die Familie4.5.2 Friedrich Schiller, »Über das Pathetische«4.5.3 »Edles« und »Gemeines« im Widerstreit: Auszug aus Schillers Wilhelm Tell4.6 Büchners Nutzung der historischen Quellen4.6.1 Dantons Tod und Passagen aus der Zeitschrift Unsere Zeit4.6.2 Dichterische Freiheit? Die Frauengestalten zwischen Geschichte und Dichtung4.7 Warum inszeniert man Dantons Tod im 21. Jahrhundert? Kommentar zu den leitenden Ideen einer neueren Inszenierung5. Literaturhinweise5.1 Einführendes zu Büchner und zu Dantons Tod5.2 Einführendes zur Französischen RevolutionLeseprobeAnzeige

[3]Personen1

Deputierte

GEORG DANTON

LEGENDRE

CAMILLE DESMOULINS

HÉRAULT-SÉCHELLES

LACROIX

PHILIPPEAU

FABRE D’ÉGLANTINE

MERCIER

THOMAS PAYNE

Mitglieder des Wohlfahrtsausschusses

ROBESPIERRE

ST. JUST

BARÈRE

COLLOT D’HERBOIS

BILLAUD-VARENNE

Mitglieder des Sicherheitsausschusses

AMAR

VOULAND

CHAUMETTE, Prokurator des Gemeinderats

DILLON, ein General

FOUQUIER-TINVILLE, öffentlicher Ankläger

Präsidenten des Revolutionstribunales

HERMAN

DUMAS

PARIS, ein Freund Dantons

SIMON, Souffleur

SEIN WEIB

LAFLOTTE

JULIE, Dantons Gattin

LUCILE, Gattin des Camille Desmoulins

Grisetten

ROSALIE

ADELAIDE

MARION

MÄNNER und WEIBER aus dem Volk, GRISETTEN,

DEPUTIERTE, HENKER etc.

[5]Erster Akt

Erste Szene

HÉRAULT-SÉCHELLES, einige DAMEN (am Spieltisch). DANTON, JULIE (etwas weiter weg, Danton auf einem Schemel zu den Füßen von Julie).

DANTON.

Sieh die hübsche Dame, wie artig sie die Karten dreht! ja wahrhaftig sie versteht’s, man sagt sie halte ihrem Manne immer das Cœur1 und andren Leuten das Carreau2 hin. Ihr könntet einem noch in die Lüge verliebt machen.

JULIE.

Glaubst du an mich?

DANTON.

Was weiß ich. Wir wissen wenig voneinander. Wir sind Dickhäuter, wir strecken die Hände nacheinander aus aber es ist vergebliche Mühe, wir reiben nur das grobe Leder aneinander ab – wir sind sehr einsam.

JULIE.

Du kennst mich Danton.

DANTON.

Ja, was man so kennen heißt. Du hast dunkle Augen und lockiges Haar und einen feinen Teint und sagst immer zu mir: lieb Georg. Aber (er deutet ihr auf Stirn und Augen) da da, was liegt hinter dem? Geh, wir haben grobe Sinne. Einander kennen? Wir müssten uns die Schädeldecken aufbrechen und die Gedanken einander aus den Hirnfasern zerren.

EINE DAME.

Was haben Sie nur mit Ihren Fingern vor?

HÉRAULT.

Nichts!

DAME.

Schlagen Sie den Daumen nicht so ein, es ist nicht zum Ansehn.

HÉRAULT.

Sehn Sie nur, das Ding hat eine ganz eigne Physiognomie.3

DANTON.

Nein Julie, ich liebe dich wie das Grab.

JULIE

(sich abwendend). Oh!

DANTON.

Nein, höre! Die Leute sagen im Grab sei Ruhe und Grab und Ruhe seien eins. Wenn das ist, lieg ich in deinem Schoß schon unter der Erde. Du süßes Grab, [6]deine Lippen sind Totenglocken, deine Stimme ist mein Grabgeläute, deine Brust mein Grabhügel und dein Herz mein Sarg.

DAME.

Verloren!

HÉRAULT.

Das war ein verliebtes Abenteuer, es kostet Geld wie alle andern.

DAME.

Dann haben Sie Ihre Liebeserklärungen, wie ein Taubstummer, mit den Fingern gemacht.

HÉRAULT.

Ei warum nicht? Man will sogar behaupten gerade die würden am leichtesten verstanden. Ich zettelte eine Liebschaft mit einer Kartenkönigin an, meine Finger waren in Spinnen verwandelte Prinzen, Sie Madame waren die Fee; aber es ging schlecht, die Dame lag immer in den Wochen, jeden Augenblick bekam sie einen Buben. Ich würde meine Tochter dergleichen nicht spielen lassen, die Herren und Damen fallen so unanständig übereinander und die Buben kommen gleich hinten nach.

CAMILLE DESMOULINS und PHILIPPEAU treten ein.

HÉRAULT.

Philippeau, welch trübe Augen! Hast du dir ein Loch in die rote Mütze4 gerissen, hat der heilige Jakob ein böses Gesicht gemacht, hat es während des Guillotinierens geregnet oder hast du einen schlechten Platz bekommen und nichts sehen können?

CAMILLE.

Du parodierst den Sokrates. Weißt du auch, was der Göttliche den Alcibiades fragte, als er ihn eines Tages finster und niedergeschlagen fand? Hast du deinen Schild auf dem Schlachtfeld verloren, bist du im Wettlauf oder im Schwertkampf besiegt worden? Hat ein andrer besser gesungen oder besser die Zither geschlagen? Welche klassischen Republikaner! Nimm einmal unsere Guillotinenromantik dagegen!

PHILIPPEAU.

Heute sind wieder zwanzig Opfer gefallen. Wir waren im Irrtum, man hat die Hébertisten5 nur aufs Schafott geschickt, weil sie nicht systematisch genug verfuhren, vielleicht auch weil die Decemvirn6 sich verloren glaubten wenn es nur eine Woche Männer gegeben hätte, die man mehr fürchtete, als sie.

[7]HÉRAULT.

Sie möchten uns zu Antediluvianern7 machen. St. Just säh es nicht ungern, wenn wir wieder auf allen vieren kröchen, damit uns der Advokat von Arras8 nach der Mechanik des Genfer Uhrmachers9 Fallhütchen10, Schulbänke und einen Herrgott erfände.

PHILIPPEAU.

Sie würden sich nicht scheuen zu dem Behuf an Marats Rechnung noch einige Nulln zu hängen.

Wie lange sollen wir noch schmutzig und blutig sein wie neugeborne Kinder, Särge zur Wiege haben und mit Köpfen spielen?

Wir müssen vorwärts. Der Gnadenausschuss muss durchgesetzt, die ausgestoßnen Deputierten müssen wieder aufgenommen werden.

HÉRAULT.

Die Revolution ist in das Stadium der Reorganisation gelangt.

Die Revolution muss aufhören und die Republik muss anfangen.

In unsern Staatsgrundsätzen muss das Recht an die Stelle der Pflicht, das Wohlbefinden an die der Tugend und die Notwehr an die der Strafe treten. Jeder muss sich geltend machen und seine Natur durchsetzen können. Er mag nun vernünftig oder unvernünftig, gebildet oder ungebildet, gut oder böse sein, das geht den Staat nichts an. Wir alle sind Narren es hat keiner das Recht einem andern seine eigentümliche Narrheit aufzudringen.

Jeder muss in seiner Art genießen können, jedoch so, dass keiner auf Unkosten eines andern genießen oder ihn in seinem eigentümlichen Genuss stören darf.

CAMILLE.

Die Staatsform muss ein durchsichtiges Gewand sein, das sich dicht an den Leib des Volkes schmiegt. Jedes Schwellen der Adern, jedes Spannen der Muskeln, jedes Zucken der Sehnen muss sich darin abdrücken. Die Gestalt mag nun schön oder hässlich sein, sie hat einmal das Recht zu sein wie sie ist, wir sind nicht berechtigt ihr ein Röcklein nach Belieben zuzuschneiden.

Wir werden den Leuten, welche über die nackten Schultern der allerliebsten Sünderin Frankreich den Nonnenschleier werfen wollen, auf die Finger schlagen. [8]Wir wollen nackte Götter, Bacchantinnen12, olympische Spiele und melodische Lippen: ach, die gliederlösende, böse Liebe!

Wir wollen den Römern nicht verwehren sich in die Ecke zu setzen und Rüben zu kochen aber sie sollen uns keine Gladiatorspiele mehr geben wollen.

Der göttliche Epikur13 und die Venus mit dem schönen Hintern müssen statt der Heiligen Marat und Chalier14 die Türsteher der Republik werden.

Danton du wirst den Angriff im Konvent machen.

DANTON.

Ich werde, du wirst, er wird. Wenn wir bis dahin noch leben, sagen die alten Weiber. Nach einer Stunde werden sechzig Minuten verflossen sein. Nicht wahr mein Junge?

CAMILLE.

Was soll das hier? das versteht sich von selbst.

DANTON.

Oh, es versteht sich alles von selbst. Wer soll denn all die schönen Dinge ins Werk setzen?

PHILIPPEAU.

Wir und die ehrlichen Leute.

DANTON.

Das und dazwischen ist ein langes Wort, es hält uns ein wenig weit auseinander, die Strecke ist lang, die Ehrlichkeit verliert den Atem eh wir zusammenkommen. Und wenn auch! – den ehrlichen Leuten kann man Geld leihen, man kann bei ihnen Gevatter stehn und seine Töchter an sie verheiraten, aber das ist alles!

CAMILLE.

Wenn du das weißt, warum hast du den Kampf begonnen?

DANTON.

Die Leute waren mir zuwider. Ich konnte dergleichen gespreizte Catonen15 nie ansehn, ohne ihnen einen Tritt zu geben. Mein Naturell ist einmal so. (Er erhebt sich.)

JULIE.

Du gehst?

DANTON

(zu Julie). Ich muss fort, sie reiben mich mit ihrer Politik noch auf. (Im Hinausgehn.) Zwischen Tür und Angel will ich euch prophezeien: die Statue der Freiheit ist noch nicht gegossen, der Ofen glüht, wir alle können uns noch die Finger dabei verbrennen. (Ab.)

[9]CAMILLE.

Lasst ihn, glaubt ihr er könne die Finger davon lassen, wenn es zum Handeln kömmt?

HÉRAULT.

Ja, aber bloß zum Zeitvertreib, wie man Schach spielt.

Zweite Szene

Eine Gasse

SIMON. SEIN WEIB.

SIMON

(schlägt das Weib). Du Kuppelpelz16, du runzliche Sublimatpille17, du wurmstichischer Sündenapfel18!

WEIB.

He Hülfe! Hülfe!

(Es kommen Leute gelaufen.)

LEUTE.

Reißt sie auseinander! reißt sie auseinander!

SIMON.

Nein, lasst mich Römer, zerschellen will ich dies Geripp! Du Vestalin19!

WEIB.

Ich eine Vestalin? das will ich sehen, ich.

SIMON.

So reiß ich von den Schultern dein Gewand

Nackt in die Sonne schleudr’ ich dann dein Aas.

Du Hurenbett, in jeder Runzel20 deines Leibes nistet Unzucht.

(Sie werden getrennt.)

ERSTER BÜRGER.

Was gibt’s?

SIMON.

Wo ist die Jungfrau? sprich! Nein, so kann ich nicht sagen. Das Mädchen! nein auch das nicht; die Frau, das Weib! auch das, auch das nicht! nur noch ein Name! oh der erstickt mich! Ich habe keinen Atem dafür.

ZWEITER BÜRGER.

Das ist gut sonst würde der Name nach Schnaps riechen.

SIMON.

Alter Virginius verhülle dein kahl Haupt. Der Rabe Schande sitzt darauf und hackt nach deinen Augen. Gebt mir ein Messer, Römer! (Er sinkt um.)

WEIB.

Ach, er ist sonst ein braver Mann, er kann nur nicht viel vertragen, der Schnaps stellt ihm gleich ein Bein.

ZWEITER BÜRGER.

Dann geht er mit dreien21.

[10]WEIB.

Nein, er fällt.

ZWEITER BÜRGER.

Richtig, erst geht er mit dreien und dann fällt er auf das dritte, bis das dritte selbst wieder fällt.

SIMON.

Du bist die Vampirzunge die mein wärmstes Herzblut trinkt.

WEIB.

Lasst ihn nur, das ist so die Zeit, worin er immer gerührt wird, es wird sich schon geben.

ERSTER BÜRGER.

Was gibt’s denn?

DAS WEIB.

Seht ihr, ich saß da so auf dem Stein in der Sonne und wärmte mich seht ihr, denn wir haben kein Holz, seht ihr –

ZWEITER BÜRGER.

So nimm deines Mannes Nase22.

WEIB.

Und meine Tochter war da hinunter gegangen um die Ecke, sie ist ein braves Mädchen und ernährt ihre Eltern.

SIMON.

Ha sie bekennt!

WEIB.

Du Judas23, hättest du nur ein Paar Hosen hinaufzuziehen, wenn die jungen Herren die Hosen nicht bei ihr herunterließen? Du Branntweinfass, willst du verdursten, wenn das Brünnlein zu laufen aufhört, he?

Wir arbeiten mit allen Gliedern warum denn nicht auch damit; ihre Mutter hat damit geschafft wie sie zur Welt kam und es hat ihr wehgetan, kann sie für ihre Mutter nicht auch damit schaffen, he? und tut’s ihr auch weh dabei, he? Du Dummkopf!

SIMON.

Ha Lucretia! ein Messer, gebt mir ein Messer, Römer! Ha Appius Claudius24!

ERSTER BÜRGER.

Ja ein Messer, aber nicht für die arme Hure, was tat sie? Nichts! Ihr Hunger hurt und bettelt. Ein Messer für die Leute, die das Fleisch unserer Weiber und Töchter kaufen! Weh über die, so mit den Töchtern des Volkes huren! Ihr habt Kollern25 im Leib und sie haben Magendrücken, ihr habt Löcher in den Jacken und sie haben warme Röcke, ihr habt Schwielen in den Fäusten und sie haben Samthände. Ergo26 ihr arbeitet und sie tun nichts, ergo ihr habt’s erworben und sie haben’s gestohlen; ergo, wenn ihr von eurem gestohlnen Eigentum ein paar Heller wiederhaben wollt, müsst ihr huren und [11]bettlen; ergo sie sind Spitzbuben161 und man muss sie totschlagen.

DRITTER BÜRGER.

Sie haben kein Blut in den Adern, als was sie uns ausgesaugt haben. Sie haben uns gesagt: schlagt die Aristokraten tot, das sind Wölfe! Wir haben die Aristokraten an die Laternen gehängt. Sie haben gesagt das Veto frisst euer Brot, wir haben das Veto27 totgeschlagen, sie haben gesagt die Girondisten28 hungern euch aus, wir haben die Girondisten guillotiniert29. Aber sie haben die Toten ausgezogen und wir laufen wie zuvor auf nackten Beinen und frieren. Wir wollen ihnen die Haut von den Schenkeln ziehen und uns Hosen daraus machen, wir wollen ihnen das Fett auslassen und unsere Suppen mit schmelzen. Fort! Totgeschlagen, wer kein Loch im Rock hat!

ERSTER BÜRGER.

Totgeschlagen, wer lesen und schreiben kann!

ZWEITER BÜRGER.

Totgeschlagen, wer auswärts geht!

ALLE

(schreien). Totgeschlagen, totgeschlagen!

Einige schleppen einen JUNGEN MENSCHEN herbei.

EINIGE STIMMEN.

Er hat ein Schnupftuch! ein Aristokrat! an die Laterne! an die Laterne!

ZWEITER BÜRGER.

Was? er schneuzt sich die Nase nicht mit den Fingern? An die Laterne!

(Eine Laterne wird heruntergelassen.)

JUNGER MENSCH.

Ach meine Herren!

ZWEITER BÜRGER.

Es gibt hier keine Herren! An die Laterne!

EINIGE

(singen).

Die da liegen in der Erden,

Von de Würm gefresse werden.

Besser hangen in der Luft,

Als verfaulen in der Gruft!

JUNGER MENSCH.

Erbarmen!

DRITTER BÜRGER.

Nur ein Spielen mit einer Hanflocke30 um den Hals! ’s ist nur ein Augenblick, wir sind barmherziger als ihr. Unser Leben ist der Mord durch Arbeit, wir [12]hängen sechzig Jahre lang am Strick und zapplen, aber wir werden uns losschneiden.

An die Laterne!

JUNGER MENSCH.

Meinetwegen, ihr werdet deswegen nicht heller sehen!

DIE UMSTEHENDEN.

Bravo, bravo!

EINIGE STIMMEN.

Lasst ihn laufen!

(Er entwischt.)

ROBESPIERRE tritt auf, begleitet von WEIBERN und OHNEHOSEN31.

ROBESPIERRE.

Was gibt’s da Bürger?

DRITTER BÜRGER.

Was wird’s geben? Die paar Tropfen Bluts vom August und September haben dem Volk die Backen nicht rot gemacht. Die Guillotine ist zu langsam. Wir brauchen einen Platzregen.

ERSTER BÜRGER.

Unsere Weiber und Kinder schreien nach Brot, wir wollen sie mit Aristokratenfleisch füttern. Heh! totgeschlagen wer kein Loch im Rock hat.

ALLE.

Totgeschlagen! totgeschlagen!

ROBESPIERRE.

Im Namen des Gesetzes.

ERSTER BÜRGER.

Was ist das Gesetz?

ROBESPIERRE.

Der Wille des Volks.

ERSTER BÜRGER.

Wir sind das Volk und wir wollen, dass kein Gesetz sei. Ergo ist dieser Wille das Gesetz, ergo32 im Namen des Gesetzes gibt’s kein Gesetz mehr, ergo totgeschlagen!

EINIGE STIMMEN.

Hört den Aristides33, hört den Unbestechlichen!

EIN WEIB.

Hört den Messias34, der gesandt ist zu wählen und zu richten; er wird die Bösen mit der Schärfe des Schwertes schlagen. Seine Augen sind die Augen der Wahl und seine Hände sind die Hände des Gerichts!

ROBESPIERRE.

Armes, tugendhaftes Volk! Du tust deine Pflicht, du opferst deine Feinde. Volk du bist groß. Du offenbarst dich unter Blitzstrahlen und Donnerschlägen. Aber Volk deine Streiche dürfen deinen eignen Leib [13]nicht verwunden, du mordest dich selbst in deinem Grimm. Du kannst nur durch deine eigne Kraft fallen, das wissen deine Feinde. Deine Gesetzgeber wachen, sie werden deine Hände führen, ihre Augen sind untrügbar, deine Hände sind unentrinnbar. Kommt mit zu den Jakobinern. Eure Brüder werden euch ihre Arme öffnen, wir werden ein Blutgericht über unsere Feinde halten.

VIELE STIMMEN.

Zu den Jakobinern35! es lebe Robespierre!

(Alle ab.)

SIMON.

Weh mir, verlassen! (Er versucht sich aufzurichten.)

SEIN WEIB.

Da! (Sie unterstützt ihn.)

SIMON.

Ach meine Baucis, du sammelst Kohlen auf mein Haupt.

WEIB.

Da steh!

SIMON.

Du wendest dich ab? Ha, kannst du mir vergeben, Porcia? Schlug ich dich? Das war nicht meine Hand, war nicht mein Arm, mein Wahnsinn tat es.

Sein Wahnsinn ist des armen Hamlet Feind

Hamlet tat’s nicht, Hamlet verleugnet’s.

Wo ist unsre Tochter, wo ist mein Sannchen36?

WEIB.

Dort um das Eck herum.

SIMON.

Fort zu ihr, komm mein tugendreich Gemahl.

(Beide ab.)

Dritte Szene

Der Jakobinerklub

EIN LYONER.

Die Brüder von Lyon senden uns um in eure Brust ihren bittern Unmut auszuschütten. Wir wissen nicht ob der Karren, auf dem Ronsin zur Guillotine fuhr, der Totenwagen der Freiheit war, aber wir wissen, dass seit jenem Tage die Mörder Chaliers wieder so fest auf den Boden treten, als ob es kein Grab für sie gäbe. Habt ihr vergessen, dass Lyon ein Flecken auf dem Boden Frankreichs ist, den man mit den Gebeinen der Verräter zudecken muss? Habt ihr vergessen, dass diese Hure der [14]Könige ihren Aussatz37 nur in dem Wasser der Rhone abwaschen kann? Habt ihr vergessen, dass dieser revolutionäre Strom die Flotten Pitts im Mittelmeere auf den Leichen der Aristokraten muss stranden machen? Eure Barmherzigkeit mordet die Revolution. Der Atemzug eines Aristokraten ist das Röcheln der Freiheit. Nur ein Feigling stirbt für die Republik, ein Jakobiner tötet für sie. Wisst, finden wir in euch nicht mehr die Spannkraft der Männer des 10. August, des September und des 31. Mai, so bleibt uns, wie dem Patrioten Gaillard nur der Dolch des Cato.

(Beifall und verwirrtes Geschrei.)

EIN JAKOBINER.

Wir werden den Becher des Sokrates mit euch trinken.

LEGENDRE

(schwingt sich auf die Tribüne). Wir haben nicht nötig unsere Blicke auf Lyon zu werfen. Die Leute, die seidne Kleider tragen, die in Kutschen fahren, die in den Logen im Theater sitzen und nach dem Diktionär der Akademie40 sprechen, tragen seit einigen Tagen die Köpfe fest auf den Schultern. Sie sind witzig und sagen man müsse Marat und Chalier zu einem doppelten Märtyrertum verhelfen und sie in effigie41 guillotinieren.

(Heftige Bewegung in der Versammlung.)

EINIGE STIMMEN.

Das sind tote Leute, ihre Zunge guillotiniert sie.

LEGENDRE.

Das Blut dieser Heiligen komme über sie. Ich frage die anwesenden Mitglieder des Wohlfahrtsausschusses, seit wann ihre Ohren so taub geworden sind –

COLLOT D’HERBOIS

(unterbricht ihn). Und ich frage dich Legendre, wessen Stimme solchen Gedanken Atem gibt, dass sie lebendig werden und zu sprechen wagen. Es ist Zeit die Masken abzureißen. Hört! die Ursache verklagt ihre Wirkung, der Ruf sein Echo, der Grund seine Folge. Der Wohlfahrtsausschuss versteht mehr Logik, Legendre! Sei ruhig. Die Büsten der Heiligen werden unberührt bleiben, sie werden wie Medusenhäupter die Verräter in Stein verwandlen.

[15]ROBESPIERRE.

Ich verlange das Wort.

DIE JAKOBINER.

Hört, hört den Unbestechlichen!

ROBESPIERRE.

Wir warteten nur auf den Schrei des Unwillens, der von allen Seiten ertönt, um zu sprechen. Unsere Augen waren offen, wir sahen den Feind sich rüsten und sich erheben, aber wir haben das Lärmzeichen nicht gegeben, wir ließen das Volk sich selbst bewachen, es hat nicht geschlafen, es hat an die Waffen geschlagen. Wir ließen den Feind aus seinem Hinterhalt hervorbrechen, wir ließen ihn anrücken, jetzt steht er frei und ungedeckt in der Helle des Tages, jeder Streich wird ihn treffen, er ist tot, sobald ihr ihn erblickt habt.

Ich habe es euch schon einmal gesagt: in zwei Abteilungen, wie in zwei Heereshaufen sind die inneren Feinde der Republik zerfallen. Unter Bannern von verschiedener Farbe und auf den verschiedensten Wegen eilen sie alle dem nämlichen Ziele zu. Die eine dieser Faktionen43 ist nicht mehr. In ihrem affektierten44 Wahnsinn suchte sie die erprobtesten Patrioten als abgenutzte Schwächlinge beiseite zu werfen um die Republik ihrer kräftigsten Arme zu berauben. Sie erklärte der Gottheit und dem Eigentum den Krieg um eine Diversion45 zugunsten der Könige zu machen. Sie parodierte das erhabne Drama der Revolution um dieselbe durch studierte Ausschweifungen bloßzustellen. Héberts Triumph hätte die Republik in ein Chaos verwandelt und der Despotismus46 war befriedigt. Das Schwert des Gesetzes hat den Verräter getroffen. Aber was liegt den Fremden daran, wenn ihnen Verbrecher einer anderen Gattung zur Erreichung des nämlichen Zwecks bleiben? Wir haben nichts getan, wenn wir noch eine andere Faktion47 zu vernichten haben.

Sie ist das Gegenteil der vorhergehenden. Sie treibt uns zur Schwäche, ihr Feldgeschrei heißt: Erbarmen! Sie will dem Volk seine Waffen und die Kraft, welche die Waffen führt, entreißen um es nackt und entnervt den Königen zu überantworten.

Die Waffe der Republik ist der Schrecken, die Kraft der [16]Republik ist die Tugend. Die Tugend, weil ohne sie der Schrecken verderblich, der Schrecken, weil ohne ihn die Tugend ohnmächtig ist. Der Schrecken ist ein Ausfluss der Tugend, er ist nichts anders als die schnelle, strenge und unbeugsame Gerechtigkeit. Sie sagen der Schrecken sei die Waffe einer despotischen Regierung, die unsrige gliche also dem Despotismus. Freilich, aber so wie das Schwert in den Händen eines Freiheitshelden dem Säbel gleicht, womit der Satellit48 der Tyrannen bewaffnet ist. Regiere der Despot seine tierähnlichen Untertanen durch den Schrecken, er hat Recht als Despot, zerschmettert durch den Schrecken die Feinde der Freiheit und ihr habt als Stifter der Republik nicht minder Recht. Die Revolutionsregierung ist der Despotismus der Freiheit gegen die Tyrannei.

Erbarmen mit den Royalisten49