Dark Silence - Lisa Jackson - E-Book
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Dark Silence E-Book

Lisa Jackson

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Beschreibung

Denn deine Schuld wird nie vergehen. Ein rasanter Psychothriller und die Frage, wer bin ich und wem kann ich trauen von Bestseller-Autorin Lisa Jackson Brutaler Mordanschlag auf einem Highway in San Francisco: Schwerverletzt überlebt Marla Cahill, doch sie kann sich an nichts mehr erinnern. Nicht an ihr Baby, das nach dem Autounfall spurlos verschwunden ist. Nicht an ihre Beifahrerin, die den Unfall nicht überlebt hat. Und nicht an ihren Ehemann, der sie im Krankenhaus vehement von der Außenwelt abschottet – nur zu ihrem Besten, versteht sich. Doch ist Marla wirklich Marla? Und wem kann die Frau ohne Gedächtnis noch vertrauen, wenn ein wahnsinniger Serienkiller ihr nach dem Leben trachtet? Als Marlas Erinnerungen langsam und in Bruchstücken zurückkehren, ist es beinahe schon zu spät … »Dark Silence« von Lisa Jackson ist ein eBook von Topkrimi – exciting eBooks. Das Zuhause für spannende, aufregende, nervenzerreißende Krimis und Thriller. Mehr eBooks findest du auf Facebook. Werde Teil unserer Community und entdecke jede Woche neue Fälle, Crime und Nervenkitzel zum Top-Preis!

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Lisa Jackson

Dark Silence

Denn deine Schuld wird nie vergehen

Knaur e-books

Über dieses Buch

Marla Cahill hat schwer verletzt einen Autounfall überlebt. Sie hat dabei nicht nur ihr Gedächtnis verloren\ – ihr Gesicht muss von einem Schönheitschirurgen neu rekonstruiert werden. Schon bald wird ein wahnsinniger Serienkiller versuchen, sein Werk an der “Frau ohne Gedächtnis” zu vollenden.

Inhaltsübersicht

DanksagungProlog1. Kapitel2. Kapitel3. Kapitel4. Kapitel5. Kapitel6. Kapitel7. Kapitel8. Kapitel9. Kapitel10. Kapitel11. Kapitel12. Kapitel13. Kapitel14. Kapitel15. Kapitel16. Kapitel17. Kapitel18. Kapitel19. Kapitel20. KapitelLeseprobe Raubtiere
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Danksagung

Allen, die mir bei der Recherche und Strukturierung dieses Buches geholfen haben, möchte ich meinen Dank und meine Wertschätzung aussprechen. Ohne ihre Hilfe wäre es nicht möglich gewesen. Dank an all meine Freunde und meine Familie und ganz besonders an: Nancy Bush, Ken Bush, Matthew Crose, Michael Crose, Mary Clare Kersten, Nancy O’Callaghan, Michael O’Callaghan, Ari Okano, Kathy Okano, Betty Pederson, Jack Pederson, Sally Peters, Robin Rue, John Scognamiglio, Larry Sparks, Linda Sparks, Celia Stinson und Mark Stinson, der für sein Leben gern ein Schurke in einem meiner Romane sein möchte. Ihr seid die Besten!

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Prolog

Nordkalifornien, Highway 17

Sie sitzt im nächsten Wagen, einem schwarzen Mercedes Coupé, Modell S500, fährt in südliche Richtung, genau nach Plan.«

Er duckte sich tief ins Unterholz, wo Nebel über die nasse Erde kroch, und lauschte der drängenden Stimme, die, von Knistern unterbrochen, aus seinem Sprechfunkgerät drang. »Ich dachte, sie fährt einen Porsche.«

»Es ist ein Mercedes«, fauchte die Stimme wütend. »Dir bleiben noch etwa neunzig Sekunden.«

»Verstanden.« Mit schmalen Augen konzentrierte er sich ganz auf die Straße, die sich in diesem Teil Kaliforniens durch Schluchten und Berge wand. Tatsächlich, durch Nebel und Dunkelheit hörte er das sanfte Schnurren eines hochgezüchteten Motors. Der Wagen kam den Berg herauf. Kam näher.

Sie kam näher.

Sein Herz hämmerte. Er erinnerte sich an den Duft ihrer Haut. An den Ausdruck in ihren Augen. An das Ausmaß ihres Verrats.

Sie hatte es nicht anders verdient, dieses selbstgerechte Miststück. Wenn sie doch nur wüsste, dass er es war, der ihr den Tod brachte.

Adrenalin schoss ihm ins Blut.

»Keine Patzer. Es ist unsere einzige Chance«, war er ermahnt worden.

»Ich weiß, ich weiß.«

»Und es ist hundert Riesen wert.«

Bedeutend mehr als das, dachte er, sagte aber nichts. Verdammt viel mehr. »Ich erledige das.« Er schaltete das Walkie-Talkie aus, schob die Antenne zusammen und verstaute das Headset in der tiefen Tasche seiner Jacke. Schweiß sammelte sich auf seiner Kopfhaut und rann ihm am Hals hinunter, obwohl es in diesem Teil des Waldes kaum wärmer als fünf Grad sein durfte. Er zog die Skimütze über sein bereits schwarz gefärbtes Gesicht und lief über den Laubteppich. Seine alten Armeestiefel waren immer noch robust, und sein Tarnanzug schützte ihn perfekt in der nebelverhangenen Nacht.

Zweige klatschten ihm ins Gesicht. In der Luft lag der typische Geruch von modrig nasser Erde, aber da war noch etwas: Es roch nach seiner Angst. Was, wenn er versagen würde? Und sie irgendwie überlebte? Sie würde ihn auslachen.

Ausgeschlossen. Völlig ausgeschlossen, verdammt noch mal.

Irgendwo in der Nähe ertönte der Schrei einer Eule, beinahe übertönt vom Hämmern seines eigenen Herzens. Dann das Brummen eines schweren Motors in niedrigem Gang … Aber es war nicht der Motor des Mercedes. Das Geräusch kam aus der entgegengesetzten Richtung. Sein Mund wurde trocken.

Ruhig, ermahnte er sich, als er an der Straßenbiegung aus dem Wald trat. Er hoffte von Herzen, der Laster möge noch ein paar Meilen entfernt sein. Geräuschlos huschte er über das nasse Pflaster, wie das Mitglied eines Sondereinsatzkommandos. Er sah auf die Uhr. Noch dreißig Sekunden. Der verdammte Wagen hörte sich an, als sei er schon ganz nahe. Er biss die Zähne zusammen, sah durch Nebel und Bäume Scheinwerferlicht aufblitzen.

Los, du Miststück, beeil dich!

Lauter, von Süden her, der Laster – den Geräuschen nach ein Sattelzug. Er legte Tempo zu. Scheiße.

Tief geduckt lief er über die schmale Straße und postierte sich zwischen den scharfen S-Kurven. Seine ganze Aufmerksamkeit war auf das Singen der Reifen des Coupés auf dem nassen Pflaster gerichtet. Beeil dich, beschwor er sie stumm. Du kannst schneller sein als der Laster. Du musst.

Der Wagen kam näher.

Gut.

Er sah erneut auf die Uhr, die Zeiger auf dem Leuchtzifferblatt zählten seine Herzschläge. Alles lief genau nach Plan, bis auf den Laster. Noch ein paar Sekunden … Erwartungsvoll fuhr er sich mit der Zunge über die Lippen.

Bremsen kreischten in der Nacht. Zu nah. Verdammt noch mal, zu nah. Sein Kopf ruckte herum in Richtung Süden, von wo aus sich das Dröhnen näherte. Das Getriebe des Neunachsers knirschte, als der Fahrer herunterschaltete.

Mit angespannten Muskeln lauschte er. Er durfte keinen Zeugen riskieren. Schweiß lief ihm über den Rücken.

Noch konnte er einen Rückzieher machen.

Aber wann würde er eine zweite Chance bekommen?

Hundert Riesen. Und das war erst der Anfang.

Außerdem hatte sie es nicht besser verdient … und die Gelegenheit war ihm geradezu in den Schoß gefallen.

Der Motor des Lasters grollte laut, das Geräusch hallte durch den Wald aus Mammutbäumen und Eichen. Ein mächtiger Sattelzug, der den steilen Abhang hinunterrollte.

In der entgegengesetzten Richtung schnurrte der Mercedes – sofern es tatsächlich einer war – immer weiter den Berg herauf, und die Fahrerin war völlig arglos, ahnte nicht, dass sie gleich sterben würde.

Sein Atem ging in kurzen Stößen. Ruhig. Betrachte es als eine Art Übung – wie vor Jahren, als du in der Spezialeinheit warst. Du schaffst das. Noch ein paar Sekunden, dann bist du sie los. Sein Herz schlug einen Trommelwirbel. Seine Hände in den enganliegenden Handschuhen waren schweißnass.

Zwei Lichtsäulen bogen von unten um die Kurve. Von oben kreischten die Bremsen des Sattelzugs.

Jetzt! Während der schnittige Wagen beschleunigte, sprang er vor, stand mitten auf der Fahrspur in Richtung Süden. Als er im Scheinwerferlicht stand, legte er rasch die Spiegel frei, die an seinem Gürtel befestigt waren.

Die Fahrerin trat heftig auf die Bremse.

Mit einem Quietschen blockierten die Reifen des Mercedes, der Wagen brach nach rechts aus, geriet ins Kiesbett am Straßenrand und drehte sich. Flüchtig sah er die Fahrerin, den Ausdruck des Entsetzens auf ihrem schönen Gesicht, während sie schrie und verzweifelt versuchte gegenzulenken. Eine weitere Person saß neben ihr auf dem Beifahrersitz. Scheiße! Man hatte ihm versichert, sie würde allein sein!

Er sprang auf die Fahrspur nach Norden. Wich mit knapper Not dem Kotflügel aus. Stolperte. Stürzte. Die Spiegel an seinem Gürtel zerbrachen. Glas splitterte, glitzerte im Scheinwerferlicht. Mist. Keine Zeit, es aufzusammeln. Keuchend kam er auf die Füße. Rannte in Richtung Wald.

Nichts wie weg hier.

Der Schwerlaster bog um die Kurve, bannte ihn im Licht seiner riesigen Scheinwerfer, flutete das nasse Pflaster mit blendendem Licht. Er sprang zur Seite. Dabei sah er einen kurzen Moment die Panik im Gesicht des Fahrers. Dieser bärtige, kräftige Bär von einem Mann schrie so laut, dass er das Kreischen der Bremsen übertönte. Achtzehn breite Reifen quietschten, es roch nach verbranntem Gummi.

Ach du Scheiße, Scheiße, Scheiße! Lauf, Mann!

Er sprang über die Leitplanke, stürzte sich in das schützende Dickicht. Bei der harten Landung vertrat er sich den Knöchel, das Fußgelenk knackte schmerzhaft, doch er durfte sich nicht aufhalten. Nicht jetzt. Sein Herz klopfte wie wild. Der Schweiß lief ihm übers Gesicht. Aus den Augenwinkeln sah er, wie der Mercedes auf der gegenüberliegenden Straßenseite die Leitplanke streifte. Funken flogen. Mit einem durchdringenden Kreischen riss polierter Stahl auf.

Der Mann stürmte den Hang hinunter. Er hörte das Ächzen von reißendem Metall, als der Wagen auf die vorbereitete Schwachstelle in der Leitplanke traf, sie durchbrach und geradewegs in die dichtstehenden Bäume raste.

Wie geplant.

Aber auch der Laster war außer Kontrolle geraten und rumpelte den Hang hinunter. Der Mann rannte weiter, ohne den stechenden Schmerz in seinem Fußgelenk und das Brennen in seiner Lunge zu beachten. Der Laster raste weiter bergab. Reifen blockierten. Metall kreischte. Der gesamte Wald erzitterte, als der Schwerlaster durch die Leitplanke brach, in seine Richtung, ein wütendes Metallungetüm, das ihn jagte, Tonnen von verbeultem Metall, die durchs Unterholz pflügten. Sein Herz hämmerte, er rannte um sein Leben.

Schneller, schneller! Sein Fußgelenk schmerzte höllisch, seine Lunge schien zu bersten.

Er rollte sich ab, rannte weiter, allem Schmerz zum Trotz, lief im Zickzack zwischen den Bäumen hindurch. Wo zum Teufel war er? Und wo stand sein Jeep? Verzweifelt versuchte er, der tödlichen Gefahr aus Metall auszuweichen. Mit einem Hechtsprung setzte er über einen umgestürzten Baumstamm. Dornen zerrten an seiner Kleidung. Er konnte nur hoffen, dass er rechtzeitig seinen Jeep fand, in dem er den Unfallort so weit wie möglich hinter sich lassen konnte.

Der Boden bebte.

Es riss ihm die Beine weg, so dass er bäuchlings auf dem Waldboden landete.

Ein greller Blitz, dann schoss ein Feuerball zwischen den Bäumen zum Himmel auf, ein leuchtend rot-orangefarbener Pilz. Die Nacht war plötzlich taghell.

Gequälte Schreie, grauenhafte, gepeinigte Laute, die ihn für immer verfolgen würden, gellten durch die Nacht, als der Laster explodierte. Ein Funkenregen prasselte auf den Wald nieder und versengte sein Haar, die Skimütze und seine Jacke. Rauch, der nach Diesel und verbranntem Gummi stank, quoll durch den Wald. Einen Augenblick lang glaubte der Mann, er müsse sterben.

Verdient hätte er es, weiß Gott.

Dann sah er ihn. Als hätte der Teufel ihn bereitgestellt: Sein Jeep stand direkt vor ihm. In den getönten Scheiben spiegelten sich blutrote Flammen. Der Wagen stand immer noch auf der verlassenen Holzabfuhrstraße, wo der Mann ihn abgestellt hatte.

Er rappelte sich auf, öffnete den Reißverschluss seiner Tasche, kramte nach den Schlüsseln und riss die Fahrertür auf. Geschafft. Beinahe. Halb erstickt vom Rauch warf er sich auf den Fahrersitz. Er zitterte, sein Knöchel pochte schmerzhaft. Als er den Zündschlüssel drehte, sprang der Motor gleich an. Der Wald war in ein gespenstisches Licht getaucht. Die Skimütze, die er sich über das Gesicht gezogen hatte, behielt er vorsichtshalber an.

Er schlug die Tür zu, legte den ersten Gang ein und gab Gas. Auf der schlammigen Straße drehten die Reifen durch. »Mach schon, los, los!« Der Jeep machte einen Satz. Kam ins Schleudern. Dabei spritzte Schlamm auf.

Scheiße, er brauchte eine Zigarette. Dringend.

Endlich griffen die Reifen. Er warf im Rückspiegel einen Blick auf sein Werk. Feuer und Rauch stiegen zum dunstigen Himmel auf.

Sie ist tot. Du hast sie umgebracht. Hast ihre schwarze Seele auf direktem Weg zur Hölle geschickt.

Und sie hat es, verdammt noch mal, nicht besser verdient!

Er schaltete das Radio ein. Aus den Lautsprechern grölte über das Heulen des Motors hinweg Jim Morrisons Stimme die vertrauten Verse.

»Come on, baby, light my fire …«

Tja, nie wieder. Das Miststück würde keinen Mann mehr heißmachen.

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1.

Sie konnte nicht sehen, nicht sprechen, nicht … O Gott, sie konnte ihre Hand nicht bewegen. Sie versuchte, die Augen zu öffnen, doch ihre Lider waren schwer wie Blei und schienen auf ihren Augen zu kleben, die grauenhaft schmerzten.

»MrsCahill?«

Sie spürte kühle Finger auf ihrem Handrücken. »MrsCahill, können Sie mich hören?« Die freundliche Frauenstimme klang wie aus weiter Ferne … wie von weit her, von einem Ort jenseits der Schmerzen. Ich? Ich bin MrsCahill? Das erschien ihr nicht richtig, aber sie hatte keine Ahnung, warum.

»Ihr Mann ist zu Besuch gekommen.«

Mein Mann? Aber ich habe keinen … O Gott, was ist los mit mir? Verliere ich den Verstand?

Die Finger waren fort, und eine Frau seufzte schwer. »Es tut mir leid, sie reagiert immer noch nicht.«

»Sie liegt nun seit beinahe sechs Wochen in dieser Klinik.« Eine Männerstimme. Barsch. Hart. Fordernd. »Sechs Wochen, um Himmels willen, und zeigt keinerlei Anzeichen von Genesung.«

»Das kann man so nicht sagen. Sie atmet selbständig, hat gehustet und versucht zu gähnen. Und ich habe Augenbewegungen hinter den Lidern festgestellt. Lauter gute Zeichen, Hinweise darauf, dass das Stammhirn nicht geschädigt ist …«

O Gott, sie redeten über Hirnschäden!

»Warum wacht sie dann nicht auf?«, wollte er wissen.

»Ich weiß es nicht.«

»Scheiße.« Er sprach jetzt leiser.

»Lassen Sie ihr Zeit«, erwiderte die Frau sanft. »Wir können natürlich nicht sicher sein, aber es besteht sogar die Möglichkeit, dass sie uns in diesem Moment sprechen hört.«

Ja, ja, ich höre euch, aber ich heiße nicht MrsCahill, ich bin nicht verheiratet und ich sterbe vor Schmerzen. Helft mir, um Gottes willen! Wenn ich hier in einer Klinik bin, sollte es doch so etwas wie Kodein oder Morphium oder … oder wenigstens Aspirin geben. Der Nebel umfing sie wieder, und sie wollte sich einfach fallenlassen, nichts mehr spüren.

»Marla? Ich bin’s, Alex.« Sein tiefer Bariton klang jetzt viel näher. Lauter. Als stünde er nur Zentimeter von ihr entfernt. Kurz darauf spürte sie einen Druck an ihrem Arm. Sie wollte ihn wissen lassen, dass sie ihn hören konnte, doch es gelang ihr einfach nicht, sich zu bewegen. Der Geruch eines Duftwassers stieg ihr in die Nase, und sie wusste instinktiv, dass es eine teure Marke war. Doch woher sollte sie das wissen? Die Fingerspitzen auf ihrer Haut waren glatt und weich … Alex’ Hände. Die Hände ihres Mannes.

Herrgott, warum konnte sie sich nicht erinnern?

Sie versuchte, sich sein Gesicht vorzustellen, seine Haarfarbe, seine Schulterbreite, seine Schuhgröße, irgendetwas, doch es gelang ihr nicht. Seine Stimme rief keine Bilder hervor. Nur ein schwacher Geruch nach Rauch ging von ihm aus, als sein Ärmel ihr Handgelenk streifte und sie den rauhen Wollstoff seines Jacketts spürte.

»Liebling, bitte wach auf. Du fehlst mir, die Kinder …« Seine Stimme brach, die Gefühle übermannten ihn.

Kinder?

Nein! Ausgeschlossen, dass sie Kinder hatte und es nicht wusste. So etwas musste eine Frau, selbst eine Frau, die halb komatös in einem Krankenbett lag, doch instinktiv wissen. Ihre Intuition würde ihr sagen, dass sie Mutter war, oder nicht? Bewegungslos in dieser Schwärze gefangen, wusste sie nichts. Wenn sie doch nur die Augen hätte öffnen können … Doch andererseits war die anheimelnde Wärme der Bewusstlosigkeit so verlockend … Bald würde sie sich erinnern … Es war nur eine Frage der Zeit …

Kaltes Grauen kroch ihr über den Rücken, als ihr bewusst wurde, dass sie nicht einen einzigen Moment ihres bisherigen Lebens heraufbeschwören konnte. Es war, als hätte es sie nie gegeben.

Das ist ein Alptraum. Eine andere Erklärung gibt es nicht.

»Marla, bitte, komm zurück zu mir. Zu uns«, flüsterte Alex heiser, und tief im Herzen wünschte sie sich, etwas zu empfinden, einen Hauch von Gefühl für diesen gesichtslosen Fremden, der angeblich ihr Mann war. Seine geschmeidigen Finger verschränkten sich mit ihren. Sie spürte den Druck auf ihrem Handrücken, das Ziehen der Infusionsnadel. »Cissy vermisst dich, und der kleine James …« Wieder brach seine Stimme, und sie gab sich alle Mühe, eine Spur von Zärtlichkeit in ihrem Unterbewusstsein für ihn zu finden, ein bisschen Liebe zu diesem Mann, den sie nicht sehen und an den sie sich nicht erinnern konnte. In der Leere, die ihre Vergangenheit war, fand sie keinen Anhaltspunkt, was Alex Cahills Aussehen betraf, seinen Beruf, seine Art, sie zu lieben … Daran müsste sie sich doch erinnern. Und ihre Kinder? Cissy? James? In ihr stiegen keinerlei Bilder von kleinen Engelchen mit laufenden Nasen und roten Wangen auf oder von schlaksigen Halbwüchsigen, die sich mit Akne herumschlugen. Sie merkte, dass sie plötzlich in einen Dämmerzustand sank. Offenbar hatte man endlich etwas in den Tropf getan, denn ihr war, als würde sie sich aus ihrem Körper lösen … forttreiben …

»Wie lange noch?«, fragte er und zog seine Hand zurück. »Wie lange soll das noch so weitergehen?«

»Das kann Ihnen niemand sagen. Solche Dinge brauchen Zeit«, erwiderte die Schwester, und ihre Stimme klang fern, als käme sie aus einem Tunnel. »Manchmal dauert ein Koma nur ein paar Stunden und … na ja, manchmal bedeutend länger. Tage. Wochen. Das kann niemand voraussagen. Es könnte sogar noch länger dauern …«

»Sprechen Sie es nicht aus«, fiel Alex ihr hastig ins Wort. »Sie wird wieder zu sich kommen.« Seine Stimme war hart wie Stahl. Offenbar war er es gewohnt, Befehle zu erteilen. »Marla?« Er musste sich wohl wieder dem Bett zugewandt haben, denn seine Stimme klang nun lauter. Ungeduldig. »Herrgott noch mal, kannst du mich hören?«

Unter Aufbietung all ihrer Kräfte versuchte sie, sich zu bewegen. Konnte es nicht. Es war, als sei sie festgeschnallt, auf die Matratze mit dem unangenehm gestärkten Laken gefesselt. Sie konnte nicht einmal einen Finger rühren, aber merkwürdigerweise war es ihr auch irgendwie gleichgültig …

»Ich will den Arzt sprechen«, verlangte Alex nachdrücklich. »Ich sehe keinen Grund, warum sie nicht zu Hause betreut werden kann. Ich stelle alle Pflegekräfte ein, die sie benötigt. Krankenschwestern. Betreuer. Wir haben im Haus Platz genug für Leute, die sie rund um die Uhr versorgen.«

Es folgte eine lange Pause, in der sie die unausgesprochene Missbilligung der Krankenschwester spürte – wenigstens nahm sie das an. Inzwischen mühte sie sich weiter ab, die Augen zu öffnen, irgendeinen Körperteil zu bewegen, um zu zeigen, dass sie hören konnte, was gesprochen wurde.

»Ich weiß zwar nicht, ob er sich zurzeit in der Klinik aufhält, aber ich werde Dr.Robertson mitteilen, dass Sie ihn sprechen möchten«, sagte die Schwester schließlich. Ihre Stimme klang jetzt nicht mehr nachsichtig und geduldig. Eher fest. Professionell.

»Tun Sie das.«

Marla versank wieder in der Bewusstlosigkeit, verlor Sekunden, vielleicht Minuten. Dann nahm ihr träger Verstand erneut Stimmen wahr, Stimmen, die ihren Schlaf störten.

»MrsCahill braucht jetzt Ruhe«, sagte die Schwester.

»Wir gehen gleich.« Eine andere Stimme. Älter. Vornehm. Die Stimme kam näher, begleitet von Schritten, fest und energisch, ein starker Kontrast zu dem Alter, das die Stimme vermuten ließ. »Wir sind ihre Familie, und ich wäre gern für ein paar Minuten mit meinem Sohn und meiner Schwiegertochter allein.«

»Schön. Aber fassen Sie sich um MrsCahills willen kurz.«

»Das werden wir«, versprach die ältere Frau, und Marla spürte die Berührung von kühler, trockener Haut auf ihrem Handrücken. »Komm, Marla, nun wach schon auf. Cissy und der kleine James vermissen dich so. Sie brauchen dich.« Ein dunkles Lachen. »Ich gebe es nur ungern zu, aber die Nana kann ihnen nicht ganz die Mutter ersetzen.«

Nana? Großmutter? Schwiegermutter?

Kleidung raschelte, weiche Sohlen tappten über den Fußboden. Offenbar verließ die Schwester das Zimmer.

»Manchmal frage ich mich, ob sie überhaupt noch einmal aufwacht«, knurrte Alex. »Herrgott, ich brauche eine Zigarette.«

»Hab doch Geduld. Marla hatte einen grauenhaften Unfall, und dann noch all diese Operationen … Sie wird wieder gesund.«

Himmel, warum konnte sie sich nicht erinnern? Wieder war ein langer, sorgenvoller Seufzer zu hören, und sie spürte Finger, die liebevoll ihren Handrücken streichelten. Ein Hauch von Parfüm … Ein Duft, den sie kannte, aber nicht benennen konnte.

Warum war sie im Krankenhaus? Über welchen Unfall redeten sie? Marla versuchte, sich zu konzentrieren, nachzudenken, doch die Anstrengung brachte ihr nur pochende Kopfschmerzen ein.

»Ich hoffe nur, dass sie nicht zu sehr entstellt sein wird«, sagte die alte Frau.

Wie bitte? Entstellt? Bitte nicht! Sekundenlang wurde sie aus ihrer Benommenheit gerissen. Ihre ohnehin schon ausgedörrte Kehle war vor Angst wie zugeschnürt, ihr Magen krampfte sich zusammen. Sie wollte sich daran erinnern, wie sie aussah, aber es war ja gleichgültig … Ihr Herz raste vor Angst. Ganz bestimmt saß irgendwo jemand vor den Bildschirmen und sah, dass sie aufnahmefähig war, dass sie reagierte. Doch keine eiligen Schritte waren vom Flur her zu hören, keine eindringliche Stimme rief: »Sie regt sich. Sehen Sie, sie wacht auf!«

»Sie hatte die besten Ärzte. Sie … sie sieht dann vielleicht nicht so aus, wie wir es erwarten, aber schön wird sie bestimmt trotzdem noch sein.« Alex’ Stimme klang, als müsse er sich selbst überzeugen.

»Weißt du, Alexander«, sagte die Frau, die sich Nana nannte, »manchmal kann Schönheit für eine Frau auch ein Fluch sein.«

Ein unbehagliches Lachen von diesem Mann, der ihr Gatte war. »Ich glaube nicht, dass sie dir da zustimmen würde.«

»Nein, natürlich nicht. Aber sie lebt noch nicht lange genug, um das zu begreifen.«

»Ich möchte nur wissen, woran sie sich erinnert, wenn sie aufwacht.«

»Hoffentlich an alles«, sagte die Frau, doch in ihren Worten schwang Anspannung mit, deutliche Angst.

»Nun ja, wir werden sehen.«

»Wir können von Glück sagen, dass sie den Unfall überhaupt überlebt hat.«

Nach kaum merklichem Zögern sagte der Mann: »Allerdings. Sie hätte überhaupt nicht fahren sollen. Zum Teufel, sie war doch gerade erst aus dem Krankenhaus entlassen worden.«

Noch ein Krankenhaus? Wieder setzte diese Benommenheit ein, die Worte verwirrten sie. Hatte sie richtig gehört?

»Es bleiben noch so viele Fragen offen«, flüsterte die Frau, die anscheinend ihre Schwiegermutter war.

Ja, so viele, aber ich bin zu müde, um jetzt darüber nachzudenken … So schrecklich müde.

 

Nick Cahill pfiff gellend nach seinem dreibeinigen Hund. Er schaltete den Motor seiner Notorious aus, warf die Leine um einen schwarz angelaufenen Pfosten am Dock und machte sein Fischerboot daran fest. »Komm schon, Tough Guy, gehen wir nach Hause«, rief er über die Schulter. Das Boot schaukelte auf den Wellen der abgelegenen Bucht in Oregon. Nieselregen ging vom bleigrauen Himmel nieder, der Wind frischte auf, schlug ihm ins Gesicht und setzte den Wellen Gischtkronen auf. Am Himmel zogen Möwen unter Geschrei ihre Kreise. Die Gerüche von Diesel, modrigem Holz und Brackwasser vermischten sich in der Winterluft dieses Novembertags.

Nick schlug den Kragen seiner Jacke hoch, griff nach seinem Eimer mit lebenden Krebsen und stieg auf den Anleger. Im selben Moment schoss sein Hund wie ein schwarzweißer Blitz an ihm vorbei. Tough Guy, ein Schäferhundmischling, sprang auf die schlüpfrigen Planken und kletterte die Treppe zum Parkplatz auf dem Felsvorsprung hinauf. Nick folgte ihm etwas langsamer, vorbei an schiefen Pfosten voller Seetang und Krebse.

»Da ist jemand, der dich sprechen will«, knurrte Ole Olsen, der alte Kerl im Fenster des Köderladens am Anleger. Er wies mit einer Kopfbewegung zum Kopf der Treppe, sah Nick jedoch nicht in die Augen, sondern arbeitete weiter an seiner Köderfliege, wie immer.

»Mich sprechen?«, vergewisserte sich Nick. In den fünf Jahren, die er in dieser Gegend verbracht hatte, war noch nie jemand zum Jachthafen gekommen, um ihn zu treffen.

»Ja. Das hat er gesagt.« Ole, der auf seinem Hocker inmitten von Blinkern und Kühlkisten voller Köder und Royal Crown Cola saß, war fester Bestandteil des Jachthafens. Wie immer steckte ein erloschener Zigarrenstummel in seinem Mundwinkel, ein Halbkreis roten, teils ergrauten Haares umkränzte seine Glatze, und Falten umränderten seine Augen hinter der Vergrößerungsbrille. »Hab ihm gesagt, dass du noch eine Weile draußen bleibst, aber er wollte warten.« Er biss den Faden ab und drehte das kleine orangefarbene Büschel um, das einen Haken verbarg und eine Fliege zum Lachsangeln darstellen sollte. »Dachte mir, wenn er unbedingt will, kann ich ihn nicht dran hindern.«

»Wer?«

»Hat mir nicht gesagt, wie er heißt. Aber du findest ihn schon.« Endlich hob Ole doch den Blick über die Halbgläser der Brille. Durch das offene Fenster konnte man Zigarettenschachteln, Gezeitentabellen und Dutzende der bunten Fliegen sehen. »Er ist nicht aus dieser Gegend. Das hab ich sofort gemerkt.«

Nick straffte die Schultern. »Danke.«

»Keine Ursache«, erwiderte Ole und nickte knapp. Tough Guy stieß ein scharfes Bellen aus.

Nick stieg die Treppe hinauf und überquerte einen Kiesplatz, auf dem Pick-ups, Anhänger und Wohnwagen chaotisch durcheinanderstanden. In der Mitte des Platzes stand ein silberner Jaguar mit kalifornischem Kennzeichen. Der Motor lief, verstummte jedoch plötzlich, als Nick näher kam. Die Fahrertür schwang auf, und ein Mann von beachtlicher Körpergröße, in Anzug, glänzend polierten Schuhen und Regenmantel, stieg aus.

Alex Cahill höchstpersönlich.

Toll. Einfach … toll.

Er hatte sich ja einen großartigen Tag für seinen Besuch ausgesucht.

»Wird aber auch Zeit«, sagte Alex, als hätte er schon stundenlang gewartet. »Ich dachte schon, du wärst da draußen krepiert.« Er wies mit einer Kopfbewegung zum Meer.

»Pech gehabt.«

»Vielleicht klappt’s beim nächsten Mal.«

»Vielleicht.«

Alex’ stechende Augen, die mehr grau als blau waren, blitzten auf. »Immer noch der alte respektlose Mistkerl.«

»Ich gebe mir Mühe.« Nick gestattete sich kein Lächeln. »Ich will doch niemanden enttäuschen.«

»Scheiße, Nick, du hast doch noch nie was anderes getan.«

»Mag sein.«

Nick nahm an, ihre Mutter müsse gestorben sein. Kein anderer Grund hätte Alex dazu bewegen können, das Profil seiner Dreihundert-Dollar-Reifen derart abzunutzen. Andererseits war es schwer vorstellbar – Eugenia Haversmith Cahill war die zäheste Frau, die jemals in Highheels auf Erden gewandelt war. Nein, entschied Nick, ihre Mutter konnte nicht tot sein. Eugenia würde ihre beiden Söhne überleben.

Nick ging zu seinem Pick-up und stellte den Eimer auf die Ladefläche. Um den Parkplatz herum verlief ein Zaun mit abgeblättertem Lack, der zusammen mit den Fichten, die von Wind und Wetter gebeugt waren, den Jachthafen von einem Antiquitätengeschäft mit zugenagelten Fenstern trennte. Der Laden war schon geschlossen gewesen, als Nick vor fünf Jahren nach Devil’s Cove gezogen war.

Alex vergrub die Hände tief in den Taschen seines Mantels. Nick vermutete, dass es ein Designerstück war. Nicht dass er etwas davon verstanden hätte. Es war ihm auch gleichgültig. Aber irgendetwas war faul, das wusste er.

»Hör zu, Nick, ich bin hergekommen, weil ich deine Hilfe brauche.«

»Du brauchst meine Hilfe?«, wiederholte Nick mit einem skeptischen Grinsen. »Soll ich mich jetzt geschmeichelt fühlen?«

»Es ist mein Ernst.«

»Sicher.«

»Es geht um Marla.«

Verdammte Scheiße. Nick zog die Schultern in der Wildlederjacke hoch. Ganz gleich, was jetzt kam, er würde sich in nichts hineinziehen lassen.

Nicht von Marla.

Nie wieder.

»Sie hatte einen Unfall«, entgegnete Alex.

Nicks Magen krampfte sich zusammen. »Was für einen Unfall?« Er biss so fest die Zähne zusammen, dass es schmerzte. Von jeher traute er seinem älteren Bruder nicht. Und zwar aus gutem Grund. Solange Nick denken konnte, hatte Alex Cahill vor dem Altar des Dollars geopfert, das Knie vor jeder Börsennotierung gebeugt und die Schutzheiligen von San Francisco verehrt, die Elite, die man landläufig als »alten Geldadel« bezeichnete. Das traf doppelt auf seine Frau, die schöne Aufsteigerin Marla, zu.

Sein Bruder stellte für Nick nichts als eine bittere Erinnerung an seine eigene Tändelei mit dem Allmächtigen Dollar dar. Und mit Marla.

»Es ist schlimm, Nick«, sagte Alex und trat mit der Spitze seines glänzenden Schuhs nach einem Kiesel.

»Aber sie lebt.« Das wollte Nick dann doch wissen.

»So gerade. Liegt im Koma. Sie … nun ja, vielleicht schafft sie es nicht.«

Nicks Magen verkrampfte sich. »Warum bist du dann hier? Solltest du nicht bei ihr sein?«

»Ja. Ich war auch bei ihr. Aber … ich wusste nicht, wie ich dich sonst erreichen sollte. Du reagierst nicht auf meine Mails und … na ja …«

»Ich hab’s nicht so mit E-Mails.«

»Das ist eins deiner Probleme.«

»Aber nur eins.« Nick lehnte sich an den schmutzigen Kotflügel seines Dodge und nahm sich vor, sich nicht einspannen zu lassen. Sein Bruder war nichts weiter als ein glattzüngiger Scheißkerl, ein Mann, der mit seinem scheinbar aufrichtigen, festen Lächeln, einem kräftigen Händedruck und genau dem richtigen Maß an Blickkontakt einem Ertrinkenden die Schwimmweste abschwatzen konnte. Alex war drei Jahre älter als Nick, ein vornehmer, ehemaliger Stanford-Student. Seine Examensarbeit, in der er die Kniffe und Tücken der Juristerei bearbeitete, hatte er in Harvard geschrieben.

Nick hatte sich um so etwas nicht geschert. »Was ist passiert?«, fragte er jetzt, bemüht, die Ruhe zu bewahren.

»Ein Autounfall.« Alex besaß immerhin den Anstand, unter seiner Sonnenbräune bleich zu werden. Er griff in die Tasche, zog eine Schachtel Zigaretten heraus und bot Nick eine an. Der schüttelte den Kopf, obwohl er liebend gern tief den Rauch in die Lunge gesogen und die beruhigende Wirkung von Nikotin genossen hätte.

Alex ließ sein Feuerzeug aufflammen, zündete die Zigarette an und nahm einen tiefen Zug. »Marla fuhr den Wagen einer anderen Frau. Das war vor mehr als sechs Wochen. In den Bergen bei Santa Cruz, eine scheußliche Strecke. Die Frau, der der Wagen gehörte, Pamela Delacroix, war bei ihr.« Es folgte eine lange Pause. Ein tiefer, rauchiger Seufzer. Genau das richtige Maß an Zögern, um weitere schlechte Nachrichten anzukündigen. Nick wappnete sich. Ein Jeep mit schmutzigem Stoffverdeck fuhr auf den Parkplatz, holperte durch die Pfützen und blieb dicht vor dem Zaun stehen. Zwei Männer in den Zwanzigern stiegen aus und öffneten die Heckklappe, um Angelruten, Spulen und Kühltaschen auszuladen. Geräuschvoll polterten sie die Treppe hinunter.

»Erzähl weiter«, forderte Nick seinen Bruder auf.

»Pam hat es leider nicht überlebt.«

Nick wurde eiskalt. »Lieber Himmel.«

»Sie war auf der Stelle tot. Ein weiteres Fahrzeug war in den Unfall verwickelt, ein Schwerlaster, der ihr entgegengekommen war. Fernfahrer. Charles Biggs. Er hatte sechzehn Stunden am Steuer gesessen, und angeblich stand er unter Drogen. Speed, Meth oder so, wer weiß? Die Polizei schweigt sich aus. Möglicherweise war der Fahrer am Steuer eingeschlafen. Niemand weiß etwas Genaues. Außer Biggs, und der liegt mit Brandverletzungen im Krankenhaus. Über sechzig Prozent der Haut verbrannt, und dazu noch innere Verletzungen. Es ist ein Wunder, dass er noch lebt, aber es rechnet keiner damit, dass er durchkommt.«

Nick wischte sich den Regen aus dem Gesicht und blickte aufs Meer hinaus. »Aber Marla hat überlebt.«

»Wenn man es so nennen will.«

»Verdammte Scheiße.« Jetzt schmachtete Nick erst recht nach einer Zigarette. Er vergrub die Hände tief in den Jackentaschen und ermahnte sich, seinem Bruder nicht zu glauben. Alex als der Ältere und Gewitztere hatte sich, als sie noch Kinder waren, einen Spaß daraus gemacht, ihn als naiven Dummkopf hinzustellen. Nick hatte immer das Nachsehen gehabt. Heute würde es vermutlich nicht anders sein. »Der Kerl ist also am Steuer eingeschlafen und auf Marlas Fahrspur geraten?«

»Das ist nur eine Theorie.« Alex nahm einen weiteren Zug von seiner Marlboro. »Polizei und Versicherung ermitteln. Der Highway wurde gesperrt. Aber soweit bisher bekannt ist, haben die Fahrzeuge einander nicht mal berührt. Der Mercedes kam auf der einen Seite von der Fahrbahn ab, der Laster weiter unten auf der anderen Seite. Beide Fahrzeuge haben die Leitplanke durchbrochen, beide landeten im Gebüsch, und der Laster explodierte, bevor der Fahrer sich aus der Kabine retten konnte.«

»Verdammt«, stieß Nick leise hervor. »Der arme Kerl.«

Alex schnaubte zustimmend. »Die Polizei hat ein wahres Großaufgebot mobilisiert. Alle warten darauf, dass Marla aufwacht und ihre Version vom Unfallgeschehen darstellt.« Er starrte finster aufs Wasser der Bucht hinaus. »Man könnte sie wegen fahrlässiger Tötung vor Gericht stellen, schätze ich, wenn sie diejenige war, die die Mittellinie überfahren hat. Ich … ich habe mich noch nicht eingehender mit den juristischen Fragen beschäftigt. Noch nicht. Das alles … es ist … nun ja, es ist ein Alptraum. Schwer für uns alle.«

Nun glaubte Nick die Geschichte allmählich. Wäre die Lage nicht so düster gewesen, hätte Alex die Fahrt zu ihm nicht auf sich genommen. Zum Teufel. Der Regen lief ihm übers Gesicht, als er die Tür der Fahrerkabine öffnete, nach einem angebrochenen Sechserpack Henry’s suchte und eine Dose herausriss. Er warf sie Alex zu und öffnete eine weitere für sich selbst.

»Falls Marla durchkommt …«

»Falls, Alex? Falls? Sie ist die stärkste, entschlossenste Frau, die ich kenne. Sie kommt durch. Um Himmels willen, gib sie nicht jetzt schon auf. Sie ist deine Frau, verdammt noch mal!«

Zögern. Unausgesprochene Vorwürfe. Erinnerungen, die niemals wieder an die Oberfläche hätten kommen dürfen – verführerisch, erotisch, heiß und intensiv. Nicks Gaumen wurde trocken. Der Wind peitschte ihm ins Gesicht. Er nahm einen tiefen Zug vom Bier, während Tough Guy zu seinen Füßen winselte. Doch seine Gedanken waren bereits in den dunklen Winkel vorgedrungen, den er jahrelang gemieden hatte, auf dem schmalen Pfad, der geradewegs zur Frau seines Bruders führte. Verbotene Bilder tauchten auf, Tabubilder einer berauschend schönen Frau mit perlendem Lachen und Schalk in den Augen. Er hörte das leise Plätschern des Wassers unten am Dock und das Summen des Verkehrs auf dem Highway, das dumpfe Tosen der Brandung, die jenseits der Mole an die Küste schlug, das Schreien der Möwen, doch nichts war so laut wie das Pochen seines eigenen Herzens.

Nick forderte Alex mit einem Kopfnicken auf weiterzureden. Er trank noch einen Schluck und versuchte vergeblich, die Gedanken an Marla abzuschütteln. Regen tropfte von seiner Nase. Er überlegte, ob er seinem Bruder vorschlagen sollte, in die Fahrerkabine des Pick-ups zu steigen, entschied sich jedoch dagegen.

»Falls sie überlebt, besteht die Möglichkeit, dass sie sich an gar nichts mehr erinnert oder dass sie zumindest teilweise ihr Gedächtnis verloren hat. Ich verstehe nicht ganz, was es mit dieser Amnesie auf sich hat, aber es ist ein seltsames Phänomen. Unheimlich.« Alex stand rauchend im Regen und schien gar nicht zu bemerken, dass er schon bis auf die Haut durchnässt war. Das braune Haar klebte ihm am Kopf, und seine italienischen Lederschuhe sogen sich voll mit Wasser aus der Pfütze, die sich zu seinen Füßen gebildet hatte. »Himmel, Nick, du solltest sie sehen … Oder vielleicht lieber nicht.« Alex’ Stimme zitterte, er zögerte kurz und zog so heftig an seiner Zigarette, dass sie im Dämmerlicht rot aufglühte. »Du würdest sie nicht wiedererkennen. Ich selbst hätte sie fast nicht erkannt, und dabei lebe ich schon fast fünfzehn Jahre mit ihr zusammen. Ach, verdammt!« Er stieß den Rauch aus dem Mundwinkel aus, riss seine Bierdose auf und trank einen tiefen Zug. »Sie war so schön … Na ja, du erinnerst dich sicher …« Alex’ Stimme brach, als litte er entsetzlich.

Nick trank sein Bier und versuchte, das Bild der Frau, die beinahe sein Leben zerstört hätte, zu verdrängen. Er blickte auf die Hängebrücke, die sich über den schmalen Zufluss der Bucht spannte und über die der Highway 101 den Autoverkehr entlang der zerklüfteten Küste Oregons ermöglichte. Doch vor seinem inneren Auge sah er Marla … hinreißend, lachend, bereit zu jedem Spaß. »Abgesehen von dem Gedächtnisverlust – wird sie wieder ganz gesund werden?«

»Du meinst, bis auf die Tatsache, dass sie nicht mehr aussehen wird wie früher.«

»Das ist nicht so wichtig.«

»Für sie schon.«

Nick schnaubte. »Du kannst dir Schönheitsoperationen leisten. Ich denke eher an körperliche oder geistige Behinderungen.«

»Das wissen wir noch nicht.«

»Und wenn sie das Gedächtnis verloren hat, wird sie es dann irgendwann wiederfinden?«

Alex zuckte die Achseln und blickte aufs Meer hinaus. »Ich hoffe es.«

Für den Bruchteil einer Sekunde, kaum einen Herzschlag lang, empfand Nick eine Spur von Mitleid für die Frau seines Bruders.

»Wir werden es sehen«, meinte Alex.

»Das sagt man so.«

»Aber sie wird verändert sein.«

»Pech«, sagte Nick sarkastisch und betrachtete dabei den wassergetränkten Kies und die schlammigen Pfützen.

»So ist es.«

Nick nahm einen letzten Schluck Bier, zerdrückte die Dose in der Hand und warf sie auf die Ladefläche seines Pick-ups. Verstohlen schob sich Marlas Bild wieder vor sein inneres Auge. Alex übertrieb nicht. Marla Amhurst Cahill war eine hinreißende Frau. Verführerisch. Frech. Verteufelt sexy. Mit seidiger Haut, die unter der Hand eines Mannes heiß wurde, und einem verlockenden Lächeln, das Marilyn Monroe zur Ehre gereicht hätte. Sie ging einem Mann so sehr unter die Haut, dass er nicht mehr von ihr loskam. Für Jahre nicht. Vielleicht nie. Nick wandte sich abrupt zu Alex um. »Komm zur Sache, Alex. Warum erzählst du mir das alles?«

»Weil du zur Familie gehörst. Mein einziger Bruder …«

»Blödsinn.«

»Ich dachte, du solltest es wissen.«

»Da steckt doch mehr dahinter.« Davon war Nick absolut überzeugt. »Sonst wärst du wohl kaum die ganze Strecke bis hierher gefahren, nach sechs Wochen.«

Alex nickte bedächtig und runzelte nachdenklich die Stirn. »Sie ist … sie kann nicht sprechen, ihre Kiefer sind mit Drähten fixiert, und sie ist noch nicht aufgewacht, aber sie hat gestöhnt und versucht, ein paar Worte zu sagen.« Er holte tief Luft, wie um sich selbst Mut zu machen. »Das einzige Wort, das wir verstanden haben, war ›Nicholas‹.«

»Hör bloß auf«, versetzte Nick wütend. Der Wind schlug ihm ins Gesicht.

»Sie braucht dich.«

»Sie hat noch nie jemanden gebraucht.«

»Wir dachten …«

»Wir?«

»Mutter und ich und, na ja, wir haben auch mit den Ärzten darüber gesprochen. Wir dachten, du könntest vielleicht zu ihr durchdringen.«

»Du und Mutter«, knurrte Nick. »Zum Teufel.«

»Es ist einen Versuch wert.«

Nick warf einen Blick aufs Wasser, wo die Boote an den Docks trostlos dümpelten, kleine Segelboote mit skelettartigen Masten, die sich wie Dutzende knochiger Finger, im Gebet erstarrt, zum gleichgültigen Himmel reckten. Für Nick war es undenkbar, Marla wiederzusehen. Bei der bloßen Vorstellung krampfte sich sein Magen zusammen.

Alex warf seine Zigarette auf den Kies, wo sie zischend neben dem heruntergefahrenen Reifen eines uralten Buick verglühte. »Da ist noch etwas.«

»Noch mehr?« Jetzt kommt’s, dachte Nick voller Unbehagen. Er hatte das Gefühl, dass ihm die Schlinge des Familiengalgens um den Hals gelegt wurde.

»Ich muss dich um einen Gefallen bitten.«

»Um noch einen? Außer Marla zu besuchen?«

»Das ist kein Gefallen. Das ist deine Pflicht.«

Nick zuckte die Achseln und ließ das unkommentiert. »Spuck’s aus.«

»Es geht ums Geschäft … Seit diesem Unfall kann ich mich nicht richtig konzentrieren. Ich bin die meiste Zeit bei Marla im Krankenhaus. Und wenn ich gerade nicht im Krankenhaus bin, muss ich mich um die Kinder kümmern.«

»Die Kinder? Plural?«

»Ach, das weißt du ja noch gar nicht. Ein paar Tage vor dem Unfall hat Marla ein Kind bekommen. Und der Unfall geschah am Tag ihrer Entlassung aus dem Krankenhaus.« Alex hielt inne, zog ein Taschentuch aus seiner Manteltasche und wischte sich das Gesicht ab. »Dem Baby geht es gut, Gott sei Dank. Der kleine James gedeiht so prächtig, wie man es sich nur wünschen kann in Anbetracht der Tatsache, dass ihm die Mutter fehlt.« In Alex’ Stimme schwang etwas wie Stolz mit und noch etwas anderes … Angst? Was ging hier vor?

Nick kratzte sich das bartstoppelige Kinn und strich mit der Fingerspitze über die Narbe, die er Alex verdankte, eine Kampfwunde aus der Zeit, als er elf Jahre alt war. Er ahnte, dass noch viel mehr hinter dieser Geschichte steckte – dass sein Bruder bewusst etwas verschwieg. »Das Kind war nicht bei ihr?«

»Nein, Gott sei Dank nicht. Der Kleine ist jetzt zu Hause, mit seinem Kindermädchen. Und was Cissy betrifft – sie ist eben ein Teenager und, ach, du weißt ja, wie die sind. Sie ist ziemlich mit sich selbst beschäftigt.« Rasch fügte Alex hinzu: »Natürlich ist sie traurig, weil ihre Mutter immer noch im Krankenhaus ist, aber …« Er zuckte die Achseln, und ein Ausdruck stiller Resignation trat auf sein aristokratisches Gesicht. »Manchmal habe ich den Eindruck, dass sie sich mehr Sorgen darum macht, wer sie zum Winterball einlädt, als um die Frage, ob ihre Mutter überlebt. Ich weiß schon, das ist nur Theater. Cissy sorgt sich auf ihre eigene Art, aber das ist eben die Art, mit der sie Marla schon immer begegnet ist.«

»Das wird ja immer besser«, knurrte Nick.

»Nicht wahr?«, schnaubte Alex, dann schniefte er und strich sich das Haar aus dem Gesicht.

»Es überrascht mich, dass Marla noch ein Kind bekommen hat. Ich dachte, sie mag keine Kinder.«

»Sie ist tatsächlich erwachsener geworden«, sagte Alex mit einem verstohlenen Blick zu seinem Bruder.

Trotzdem fand Nick es merkwürdig, dass sie so viele Jahre nach dem ersten Kind noch ein zweites gewollt hatte. Dazu war sie einfach zu selbstsüchtig. Starrsinnig. Egozentrisch. Eine gottverdammte Prinzessin. Er schniefte, sah zu seinem Boot hinüber und dachte, dass noch vor einer halben Stunde sein einziges Problem seine Kopfschmerzen gewesen waren, nachdem er sich am Vorabend allzu eng mit einer Flasche Cutty Sark angefreundet hatte. Aber das hier … Scheiße. Nick blinzelte in die düsteren Regenwolken.

Alex räusperte sich. »Also schau, Nick, es ist nun mal so, dass ich zurzeit deine Hilfe brauche.«

»In welcher Form?«, fragte Nick misstrauisch. Der grobe Hanf der Cahill-Familienschlinge zog sich fester um seinen Hals. Es regnete immer noch.

»Du bist ein Troubleshooter für Unternehmen.«

»Das war einmal.«

»Du bist es immer noch.«

»Nein. Das liegt lange zurück. Seitdem habe ich eine Menge anderer Sachen gemacht. Jetzt fische ich. Oder versuche es.«

Mit düsterer Miene ließ Alex den Blick über den Jachthafen wandern, dann richtete er ihn auf den Eimer in Nicks Pick-up. Alex schien nicht überzeugt zu sein. »Vor ein paar Jahren hast du mehrere Firmen gerettet, die kurz vor dem Ruin standen, und jetzt könnte ich, ob du es glaubst oder nicht, diese Art von Sachverstand brauchen. Cherise und Monty rebellieren, weil sie nicht an unserem Unternehmen beteiligt sind. Offenbar glauben sie, als Cahills stünde ihnen ein Stück vom großen Kuchen zu.«

»Cherise und Monty. Na toll.« Es wurde immer schlimmer. Das war anscheinend das Schicksal aller Cahills. Er lehnte sich gegen den Pick-up. Tough Guy setzte sich neben ihn und blickte zu ihm auf, weil er erwartete, am Kopf gekrault zu werden. Nick tat ihm den Gefallen.

»Tja, diese dumme Geschichte mit Onkel Fenton und seinen Kindern war ja angeblich schon lange geklärt, bevor ich ins Geschäft einstieg«, fuhr Alex fort. »Dad hatte sich mit seinem Bruder geeinigt, aber Fentons Kinder haben es offenbar vergessen. Wenigstens Cherise. Sie ist diejenige, die keine Ruhe gibt. Wahrscheinlich liegt es an ihrem Mann. Ein Prediger. Herrje! Das alles ist doch Schnee von gestern. Von vorgestern. Oder sollte es sein.«

»Dad hat Fenton behandelt, wie er jeden anderen auch behandelt«, sagte Nick über den Tyrannen, der ihr Vater gewesen war. Samuel Jonathan Cahill war ein abgebrühter Mistkerl gewesen. »Er kannte nur die eine Art, mit Menschen umzugehen. Punkt.«

»Egal. Es geht doch darum, dass Fenton schon vor Jahren seinen Anteil am Unternehmen ausbezahlt bekommen hat. Damit ist die Sache erledigt. Cherise und Monty können verdammt noch mal selbst für sich sorgen. Ich habe genügend eigene Probleme.«

Dieses Argument hörte Nick schon, solange er lebte. Er hatte es satt, konnte aber nicht anders, als den Anwalt des Teufels zu spielen, besonders wenn es um seinen Bruder ging. »Du kannst es ihnen im Grunde nicht verübeln, dass sie sauer sind. Beide hatten gedacht, sie würden Millionäre werden, aber ihr verdammter Vater hat ihnen alles versaut.«

»Ich verüble ihnen überhaupt nichts. Nein, mir sind die beiden scheißegal. Monty hat in seinem ganzen Leben noch nicht einen Tag gearbeitet, und Cherise hat auch kaum etwas anderes getan, als eine Reihe von Ehemännern zu verschleißen und eine religiöse Spinnerin zu werden. Ich habe es mit ihr versucht, habe dem letzten – diesem Pfaffen, ausgerechnet – sogar eine Stelle besorgt. Scheiße! Du kannst dir nicht vorstellen, was für eine Katastrophe daraus wurde.« Alex machte eine wegwerfende Handbewegung. »Egal. Ich wollte, Cherise und Montgomery würden einfach beide verschwinden. Für immer.« Angewidert leerte er seine Bierdose in einem Zug und wischte sich den Mund ab. »Es sind Blutsauger. Verdammte Blutsauger, alle beide.« Alex lehnte sich an den verbeulten Kotflügel des Dodge. »Und wenn sie sich übergangen fühlen, tja, sollen sie doch sehen, wo sie bleiben«, stieß er ohne jedes Mitgefühl hervor. »Aber es ist zu kalt und nass, um hier herumzustehen und über sie zu reden. Sie sind nur ein kleines Ärgernis am Rande.«

»Das würden sie selbst wahrscheinlich anders sehen«, kommentierte Nick.

»Pech. Jedenfalls bin ich nicht ihretwegen hergekommen.«

»Sondern wegen Marla.«

»Unter anderem.« Alex sah Nick in die Augen.

»Kommen wir jetzt endlich auf den Punkt?«, fragte Nick. Der Wind wechselte die Richtung und pfiff über den Parkplatz.

»Ja, ganz recht. Kommen wir.« Alex’ Stimme klang todernst. Ganz geschäftsmäßig. »Cahill Limited braucht eine Vitaminspritze.«

»Oder eine Kugel in den Kopf.«

»Es ist mein Ernst.« Um Alex’ Mund zeigten sich kleine weiße Furchen, und einen Moment lang wirkte er tatsächlich verzweifelt. »Und dir würde kein Zacken aus der Krone brechen, wenn du ein bisschen Familiensolidarität aufbringen würdest. Wir könnten sie brauchen. Mutter. Ich. Die Kinder. Und Marla.«

Nick zögerte.

»Marla ganz besonders.«

Die Schlinge war plötzlich so eng, dass Nick keine Luft mehr bekam. Tough Guy kratzte am Trittbrett des Pick-ups. Nick öffnete die Tür und ließ den durchnässten Hund in die Fahrerkabine springen, um Zeit zu gewinnen. Doch die Entscheidung war bereits getroffen. Das wusste er so gut wie Alex. »Ich muss jemanden auftreiben, der so lange den Hund und mein Haus versorgt.«

»Ich übernehme sämtliche Unkosten.«

»Vergiss es.«

»Aber …«

»Es geht hier nicht um Geld, klar?« Nick stieg in den Wagen, schob Tough Guy auf seinen Platz an der Beifahrertür und steckte den Schlüssel ins Zündschloss. Wohl wissend, dass er einen Fehler beging, den er sein Leben lang bereuen würde, sagte er: »Ich komme, okay?« Wütend auf sich selbst und seine ausgeprägte, völlig unangebrachte Loyalität, fügte er hinzu: »Ich sehe mir deine verdammten Bücher an, mache mich lieb Kind bei Mutter und besuche Marla, aber du schuldest mir keinen Cent. Kapiert? Ich komme aus reiner Herzensgüte nach San Francisco, und ich gehe wieder, wann immer ich will. Ich lasse mich auf keine Verpflichtung ein, und ich bleibe nicht ewig.«

»Reine Herzensgüte, also, das ist mal eine interessante Vorstellung«, versetzte Alex, ohne auf Nicks Bedingungen einzugehen.

»Nicht wahr?« Nick streckte die Hand nach dem Türgriff aus. Wind und Regen schlugen in die Kabine. »Das ist das Äußerste, worauf ich mich einlasse, Alex. Mein einziges Angebot. Ich komme in ungefähr einer Woche. Wenn dir das nicht passt, vergiss das Ganze.« Ohne eine Antwort abzuwarten, drehte Nick den Zündschlüssel und trat aufs Gas. Der Motor des Dodge sprang stotternd an.

Unzufrieden mit der Welt im Allgemeinen und mit sich im Besonderen, schlug Nick die Tür zu und schaltete die Scheibenwischer ein. Ob es ihm passte oder nicht, er musste nach San Francisco fahren.

»Zum Teufel«, knurrte er. Die Scheibenwischer kämpften gegen den Regen. Nick legte den Rückwärtsgang ein. Kies spritzte auf, und Tough Guy hätte auf dem Beifahrersitz beinahe das Gleichgewicht verloren.

»Entschuldige«, murmelte Nick, schaltete in den ersten Gang und spähte finster durch die beschlagene Windschutzscheibe. Alex stand auf dem von Pfützen übersäten Parkplatz. Sein Wollmantel flatterte im Wind, seine Miene war düster wie die eines Bestattungsunternehmers. Nick schaltete das pfeifende Gebläse ein und suchte einen Sender im Radio, hörte jedoch nichts als Störgeräusche.

Er dachte an Marla, und sein Magen krampfte sich zusammen. Er begehrte sie immer noch. Nach fünfzehn Jahren. Nach fünfzehn verdammten Jahren. Seitdem hatte es in seinem Leben mehr als ein Dutzend Frauen gegeben, aber keine von ihnen hatte ihn je so nachhaltig beeindruckt, so tiefe Narben an seiner Seele hinterlassen. Er sah sein eigenes Gesicht im Rückspiegel, und seine Augen wurden schmal, sein Blick hart und wütend. »Du bist ein Esel, Cahill«, knurrte er. »Ein gottverdammter Esel.«

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2.

Wird Mom sich an mich erinnern?«, fragte eine freche Mädchenstimme, und Marla versuchte krampfhaft, die Augen zu öffnen. Die Schmerzen hatten nachgelassen, wahrscheinlich dank irgendwelcher Medikamente, doch sie konnte den Mund nicht bewegen. Ihre Zunge fühlte sich dick an und schmeckte grässlich, ihre Augenlider waren zu schwer, als dass sie sie heben konnte, und sie hatte keinerlei Zeitgefühl. Sie wusste nur, dass sie immer wieder in diesen Zustand halber Bewusstlosigkeit eintauchte und dass sich dann ihr Verstand verwirrte. Aber sie wollte ihre Tochter sehen. Marla kämpfte mit aller Macht darum, die Augen zu öffnen, doch es gelang ihr nicht.

»Natürlich wird deine Mutter sich an dich erinnern«, sagte ihre Schwiegermutter leise. Ihre festen Stakkato-Schritte hallten laut, als sie sich dem Bett näherte. Leises Klimpern von Schmuck, der Duft des bereits vertrauten Parfüms, das sie nicht benennen konnte. »Keine Sorge.«

»Aber sie sieht schrecklich aus.« Wieder das Mädchen – ihre Tochter. »Ich dachte, es wäre inzwischen besser geworden.«

»Ist es auch, aber es dauert, Cissy. Wir müssen uns alle in Geduld üben.« Eine milde Zurechtweisung schwang in der Stimme der älteren Frau mit, fast eine Warnung.

»Ich weiß, ich weiß«, sagte Cissy mit einem theatralischen Seufzer.

In den letzten paar Tagen hatte Marla in ihrem mehr oder weniger halb bewussten Zustand gelernt, das Pflegepersonal, Dr.Robertson und Mitglieder ihrer Familie am Parfüm, am Gang und an der Stimme zu erkennen, wenngleich sie oft verwirrt war und in diesem Stadium zwischen Wachen und Schlafen nie recht wusste, ob sie träumte oder ob sie wegen der Medikamente so benommen war.

Sie hatte sich zusammengereimt, dass die ältere Frau, ihre Schwiegermutter, Eugenia Cahill war und dass Eugenias Mann nicht anwesend war. Vielleicht war er tot oder behindert oder einfach nicht interessiert; jedenfalls war er, soweit sie sich erinnerte, nie zu Besuch gekommen … Aber ihre Erinnerung war ja gerade das Problem. Das ganz große Problem.

Ihre Schwiegermutter wirkte aufrichtig und fürsorglich und hatte sie oft besucht – das glaubte Marla zumindest. Cissy war bisher noch nie bei ihr gewesen … oder doch? Marla erinnerte sich nicht. Und dann war da noch ihr Mann. Alex. Ein Fremder und doch jemand, für den sie zärtliche Gefühle empfinden sollte. Aber die blieben aus. Ihr Kopf begann wieder zu pochen, schmerzte so heftig, als würden Eisläufer auf rasiermesserscharfen Kufen Pirouetten in ihrem Gehirn drehen. Das starke Medikament, das sie immer wieder in die Bewusstlosigkeit eintauchen ließ und ihren Verstand umnebelte, hatte seine Vorteile.

»Und wenn sie sich nicht … du weißt schon … erinnert … oder wenn die Narben nicht weggehen oder … wenn sie nicht mehr sie selbst ist?«, flüsterte Cissy, und Marla erschauderte innerlich.

»Du machst dir unnötige Sorgen. Von jetzt an geht es mit ihr bergauf.«

»Ich hoffe es«, sagte das Mädchen inbrünstig, doch eine gewisse Skepsis in ihrem Tonfall war nicht zu überhören. »Braucht sie noch mehr Schönheitsoperationen? Dad sagt, sie hat schon jede Menge hinter sich.«

»Gerade genug, um die Schäden zu beheben. Aber wir sollten wirklich nicht mehr darüber reden.

»Warum nicht? Glaubst du, dass sie uns hören kann?«

»Ich … ich weiß es nicht.«

Eine Pause folgte, doch Marla spürte, dass jemand sich ihrem Bett näherte. Warmer Atem streifte sie, und sie hatte das Gefühl, studiert zu werden wie ein Einzeller unter dem Mikroskop. Wieder mühte Marla sich vergeblich ab, einen Finger zu heben. Wenn sie ihnen doch nur zeigen könnte, dass sie bei Bewusstsein war.

»Sie hört nix …«

»›Nichts‹, ›sie hört nichts‹, heißt das«, kam prompt Eugenias Tadel.

»Ach ja?«, konterte die Kleine, und Marla erkannte, dass das Mädchen sich über die Großmutter lustig machte. »Ich versuche, daran zu denken, okay?«

»Und vergiss nicht, es ist schon ein großes Glück, dass deine Mutter diesen grauenhaften Unfall überlebt hat«, mahnte Eugenia eindringlich. »Natürlich sieht sie jetzt nicht mehr so aus wie früher, aber du wirst schon sehen, wenn sie aufwacht und die Drähte aus ihrem Kiefer entfernt werden und die Schwellungen zurückgehen, dann ist sie fast wieder die Alte.«

»Wird sie laufen können?«

Marla stockte das Herz.

»Natürlich. Ihre Beine sind unverletzt, das weißt du doch. Wie ich schon sagte, sie wird wieder gesund.«

»Warum wacht sie dann nicht endlich auf?«

»Der Körper braucht Ruhe, um zu genesen. Das ist wichtig.«

Cissy schnaubte leise, als ob sie nicht ein Wort von dem glaubte, was ihre Großmutter sagte. »Sie mag mich ja sowieso nicht.«

Wie bitte? Ausgeschlossen! Was für ein schrecklicher Gedanke, und wie falsch. So falsch. Doch das war sicher nur die verzerrte Wahrnehmung eines halbwüchsigen Mädchens. Ganz sicher würde sie ihre Tochter mögen, nein, lieben.

»Natürlich mag sie dich.« Eugenia lachte nervös. »Sei nicht albern. Sie liebt dich.«

Ja!

»Warum hat sie sich dann so dringend ein Baby gewünscht? Einen Jungen? Warum war ich den beiden nicht gut genug? Ach, vergiss es«, murrte sie und entfernte sich vom Bett.

»Ja, ich vergesse es, denn es ist Unsinn«, erwiderte Eugenia mit schmalen Lippen.

Es folgte ein lauter, gequälter Seufzer, als ob das Mädchen Erwachsene im Allgemeinen und ihre Großmutter im Besonderen für Idioten hielte. »Ich weiß sowieso nicht, was ich in dieser Familie soll. Ich passe da einfach nicht rein.«

Da haben wir etwas gemeinsam, dachte Marla, aber ihr wurde weh ums Herz. War sie so grausam und gedankenlos gegenüber ihrer eigenen Tochter gewesen?

»Du gibst dir ja alle Mühe, nicht hineinzupassen, statt dich mal ein bisschen anzustrengen. Alle vor dir waren hochbegabte Schüler. Dein Vater hat Stanford besucht und in Harvard sein Examen abgelegt, und deine Mutter hat in Berkeley studiert. Ich selbst war in Vassar, und …«

»Ich weiß, Grandpa war in Yale. Na und? Ich hab nie behauptet, eine Intelligenzbestie zu sein. Und überhaupt, was ist mit Onkel Nick? Hat er nicht das Studium abgebrochen?«

Angespannte Stille folgte. Marla spürte, wie Eugenia die Stacheln aufstellte. »Nick ist seinen eigenen Weg gegangen, aber über ihn wollen wir jetzt nicht reden«, wehrte sie ab. »Komm, es ist Zeit für das Treffen mit deinem Vater …« Eugenia musste das Mädchen wohl aus dem Zimmer gescheucht haben, denn plötzlich war Marla allein. Sie entspannte sich, hörte eine Krankenschwester ins Zimmer kommen, fühlte, wie sie nach ihrem Puls tastete. Ein paar Sekunden später sickerte dieser warme, vertraute Nebel der Geborgenheit in ihre Adern und vertrieb den Schmerz, die Sorge, die Angst …

Sie döste eine Zeitlang … Wie lange, hätte sie nicht sagen können, aber irgendwann hörte sie, wie sich leise knarrend die Tür öffnete und dann mit einem kaum hörbaren, aber nachdrücklichen Klicken wieder geschlossen wurde. Sie erwartete, dass eine Krankenschwester an ihr Bett kam und etwas zu ihr sagte, versuchte, sie zu wecken, oder wenigstens die Kissen aufschüttelte, wieder einmal ihren Puls oder die Temperatur oder den Blutdruck maß, aber dieser Besuch war ungewöhnlich leise. Es war, als würde er oder sie sich an ihr Bett anschleichen.

Oder da war überhaupt niemand im Zimmer.

Vielleicht hatte sie sich getäuscht, oder sie hatte geträumt und sich nur eingebildet, die Tür habe sich geöffnet und jemand sei hereingekommen. Ihr Verstand war so umnebelt. Am besten, sie schlief wieder ein. Aber sie konnte es nicht, und sie glaubte, das Scharren einer Ledersohle auf dem Boden zu hören. Aber … Nein … vielleicht doch nicht … Und dann roch sie es, einen Hauch von Zigarettenqualm und noch etwas … den Geruch nach nassem Wald … erdig, modrig … fehl am Platz und, das spürte sie, böswillig.

Die feinen Härchen in ihrem Nacken richteten sich auf. Angst durchströmte sie. Sie versuchte zu schreien, konnte es aber nicht. Versuchte, die Augen aufzuschlagen, doch alle Bemühungen waren vergebens. Ihr Herz hämmerte wie wild. Sie war doch sicher an einen Monitor angeschlossen, auf dem man den Herzschlag sehen konnte. Irgendeine Pflegekraft würde jeden Augenblick in ihr Zimmer stürzen. Bitte! Helft mir!

Nichts.

Kein Geräusch.

Ihre Kehle war staubtrocken.

O Gott, was wollte diese Person von ihr?

Warum sagte sie nichts?

Wer war sie? Was wollte sie?

Beinahe geräuschlos wich die Person zurück. Mit einem Klicken öffnete sich die Tür und fiel leise wieder ins Schloss.

Sie war allein.

Und halb wahnsinnig vor Angst.

 

»Ich weiß, es ist verrückt«, sagte Nick zu Tough Guy und packte ein paar Pullover in seine Campingtasche. Er ging durchs Schlafzimmer ins Bad, kramte sein Rasierzeug unter dem Waschbecken hervor und packte seinen Elektrorasierer und einen Deo-Stift in den Kulturbeutel. Er warf ihn von der Badezimmertür aus in die offene Tasche.

Der Hund lag auf einer geflochtenen Matte am Fußende seines Bettes, den Kopf auf den Pfoten, und verfolgte Nick mit den Augen.

»Ich komme ja zurück«, versprach Nick, als könnte der Hund ihn verstehen. »Schon bald.« Er nahm zwei Jeans aus dem Schrank und verstaute sie in der Tasche. »Ole passt auf dich auf, und das wird dir gefallen, glaub mir. Er hat ein Dobermannweibchen, eine verdammt heiße Lady.«

Tough Guy zeigte keinerlei Interesse.

»Dir wird es an nichts fehlen«, versicherte Nick dem Hund. »Da geht’s dir besser als mir.« Er zog den Reißverschluss der Campingtasche zu und sah sich flüchtig um. Diese Hütte mit ihren vier mit Kiefernholz vertäfelten Zimmern war für ihn mehr als nur ein Zuhause; sie war seine Zuflucht, der Ort, an dem er nach der erbarmungslosen Hetze Frieden gefunden hatte. Irgendwann zwischen der Pubertät und der Gegenwart war es ihm gelungen, seinen Komplex abzuschütteln, die Bürde, ein Cahill zu sein und den Erwartungen der Familie entsprechen zu müssen.

»Das war alles Blödsinn«, erklärte er dem Hund, als Tough Guy sich erhob und auf seinen drei Beinen hinter ihm her ins Wohnzimmer hinkte, wo die kalte Asche vom Vorabend noch im Kamin lag und der Geruch von Holzfeuer in der Luft hing. Mit finsterer Miene dachte Nick daran, dass er den Ansprüchen der Cahills nie genügt hatte. Sein Vater hatte verlangt, dass er endlich aus Alex’ Schatten trat, dass er seinen älteren Bruder überflügelte.

Samuel Cahill war enttäuscht worden. Das geschah dem Mistkerl recht. Sollte der Alte in seinem Grab vermodern. Nick war es gleichgültig.

Das Telefon klingelte. Nick fluchte und hätte sich am liebsten gar nicht gemeldet. Doch dann ließ er die Tasche fallen, war mit drei raschen Schritten beim Apparat, nahm den Hörer ab und knurrte: »Hallo?«

»Nick?«, fragte eine Frau mit leicht erregter Flüsterstimme. »Nicholas Cahill?«

»Wer ist da?«

»Cherise.«

Seine Cousine. Er ahnte Böses. Ganz gleich, was sie wollte, es konnte nichts Gutes sein.

»Meine Güte, du bist ja schwer zu erreichen. Beinahe hätte ich einen Privatdetektiv angeheuert, um dich ausfindig zu machen.« Sie lachte nervös.

»Hast du aber nicht.«

»Nein. Am Ende hat doch das Telefonverzeichnis gereicht.«

Übellaunig setzte sich Nick auf sein mit Cordsamt bezogenes Sofa. Er stellte sich Cherise vor, wie er sie zuletzt gesehen hatte, mit blondem Haar, blassgoldenen Augen und ohne ein Gramm Fett an ihrem zierlichen Körper. Sie war dauergebräunt, übermäßig geschminkt und war ihm, als sie noch Kinder waren, auf Schritt und Tritt nachgelaufen. Damals hatte er sie gemocht, bevor sie beide, jeder auf seine Art, in Schwierigkeiten gerieten und sich auseinanderlebten. Die schönen Zeiten waren vorbei, schon seit zwanzig Jahren. »Und, Cherise, wie geht’s?«

»Gut«, antwortete sie wenig überzeugend. »Neuerdings im Grunde sogar wunderbar. Ich habe zum Herrn gefunden.«

Toll, dachte Nick zynisch. Einfach toll. »Ach ja?«

»Mein Leben … mein Leben hat sich völlig verändert.«

»Das klingt gut.« Nick war kein religiöser Mensch und hielt nicht viel von der Kirche, aber wenn Cherise gern wiedergeboren werden wollte, schön und gut. Sie war schon immer dem neuesten Trend nachgejagt. Wenn Cherise also ihre Liebe zu Gott kundtat, dann musste wohl der christliche Glaube in Mode gekommen sein.

»Ja. Es ist gut. Ich danke Gott jeden Tag.«

»Und die Kinder?« Er blickte aus dem Fenster in den grauen Tag hinaus.

»Ach, denen geht’s … gut. Prima. Sind halt Teenager.« Sie seufzte theatralisch. »Die drei werden dem Herrn noch gehörig Arbeit machen, fürchte ich.«

Nick wartete. Schluss mit den Höflichkeitsfloskeln. Es gab doch sicher einen Grund dafür, dass sie ihn aufgespürt hatte. Seit über fünfzehn Jahren hatte er nicht mehr mit ihr gesprochen. Nach ein paar spannungsgeladenen Schweigeminuten holte sie tief Luft.

»Ich, hm, ich rufe wegen Marla an.«

Seine Eingeweide zogen sich zusammen, aber er war nicht überrascht. »Ich habe von ihrem Unfall gehört«, gab er zu. »Alex hat mich aufgesucht.«

»Ach.«

Das überraschte sie und verschlug ihr für einen Augenblick die Sprache. Doch Cherise war eine Schnelldenkerin. Sie landete immer wieder auf den Füßen.

»Tja, wir alle können dem Herrn danken, dass sie noch lebt.«

Amen.

»Ihre Freundin hatte weniger Glück«, fuhr sie fort. »Kanntest du Pam? Bist du ihr mal begegnet?«

»Nein.«

»Mhm.« Ein missbilligendes Schniefen. Nick fragte sich, was es mit der Beifahrerin im Unfallwagen auf sich haben mochte. Doch Fragen stellten sich ihm in großer Menge, wenn es um seine Schwägerin ging. »Hör zu, Nick, ich rufe an, weil du zur Familie gehörst und ich auf dein Verständnis hoffe. Du und Marla, ihr habt euch doch mal gut verstanden, und du weißt ja, dass sie und ich uns immer gemocht haben. Ich liebe sie wie eine Schwester, und ich … na ja, nicht nur ich, auch Montgomery«, fügte sie rasch hinzu, als sei ihr Bruder ihr gerade erst eingefallen. »Ich … wir würden sie gern besuchen. Das Problem ist nur, dass Alex es nicht zulässt. Er besteht immer noch darauf, dass nur der engste Familienkreis sie besuchen darf.«

Also darum ging es. Nick warf einen flüchtigen Blick auf die alte Seth-Thomas-Uhr neben der Kochnische. »Liegt sie nicht immer noch im Koma?«

»Schon, aber ich möchte ihr gern Gesellschaft leisten und ihr ein paar Verse vorlesen. Die Bibel hat oft heilsame Wirkung, weißt du?«

»Wenn ich mich recht erinnere, war Marla nicht allzu gläubig.«

»Darauf kommt es nicht an«, versicherte Cherise hastig. »Jesus hört unsere Gebete, alle Gebete.«

Nick äußerte sich nicht dazu.

»Wie auch immer«, preschte sie vor, wie eine Lok unter Volldampf. »Weißt du, ich habe für sie gebetet. Und … und für Pam. Und für den armen Kerl in dem Sattelschlepper, den mit den Verbrennungen, der wahrscheinlich nicht durchkommt …« Sie unterbrach sich kurz. »Ich möchte sie einfach gern besuchen, Nick, ihre Hand halten und ihr sagen, dass ich sie liebe und dass der Herr sie ebenfalls liebt.«

»Vielleicht, wenn es ihr bessergeht.«

Er hörte einen gequälten Seufzer und ahnte, wie sich in Cherise’ Kopf die Rädchen drehten. Sie war wie ein Hund mit einem Knochen, gab nie auf, setzte sich durch und bekam am Ende immer, was sie wollte. Drei Ehemänner, allesamt ehemals eingefleischte Junggesellen, waren die lebenden Beweise für ihre Überredungskünste. »Sieh mal, Nick, du wirst sie doch sicher besuchen, schließlich kennst du Marla … nun, schon sehr lange.«

Die Andeutung stand im Raum.