Das amerikanische Versprechen - Kerstin Kohlenberg - E-Book

Das amerikanische Versprechen E-Book

Kerstin Kohlenberg

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Beschreibung

Ein Must-Read für alle, die verstehen wollen, worum es im US-Wahljahr 2024 wirklich geht Ein Kapitolstürmer, ein Black-Lives-Matter-Aktivist und eine Latina, deren Eltern illegal eingewandert sind. Drei Menschen, deren Lebenswege zeigen, warum die Mitte nicht mehr hält und die Demokratie in den USA vor dem Abgrund steht. Eine innere Geschichte Amerikas, die endlich diejenigen zu Wort kommen lässt, deren politische Einstellung über die Zukunft des Landes entscheidet. Ein herausragendes Buch von der preisgekrönten Journalistin und langjährigen US-Korrespondentin der ZEIT. Der Krankenpfleger Stephen wird der erste sein, der am 6. Januar 2021 die Absperrungen vor dem Kapitol überwindet. Drei Jahre später steht er vor Gericht, wie der Präsident, für den er das Kapitol gestürmt hat. Walter wächst in der Bronx, im Schatten des Trump Towers, auf und träumt von Ruhm und Erfolg. Erfolgreich wird er als Black-Lives-Matter-Aktivist, er traut keinem Politiker mehr, schon gar nicht den Demokraten. Magali ist das Kind einer mexikanischen Arbeiterin ohne Papiere. Im Sommer 2023 steht sie vor ihrem neuen Haus in Iowa, offene Küche, vier Schlafzimmer, Doppelgarage – der American Dream. In einem kleinen Ort, der mit großer Mehrheit Trump wählt. Warum steigt die Sympathie unter Latinos und Schwarzen für den Mann, der Mexikaner Vergewaltiger nannte und sich nie richtig von amerikanischen Neonazis distanziert hat? Wie kam es zur Erosion der bürgerlichen Mitte? Wer das verstehen will, muss dieses Buch lesen. »Dies ist ein intimes Porträt des amerikanischen Leidens. Kerstin Kohlenberg fängt das verlorene Versprechen und die unsichere Zukunft dieses Landes ein. Sie ist eine Beobachterin von außen, doch sie durchdringt den inneren Schmerz und den Kampf Amerikas. Bravo!« Michael Wolff, Autor des Bestsellers Feuer & Zorn

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Seitenzahl: 412

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Dies ist der Umschlag des Buches »Das amerikanische Versprechen« von Kerstin Kohlenberg

Kerstin Kohlenberg

Das amerikanische Versprechen

Vom Streben nach Glück in einem zerstrittenen Land

Tropen Sachbuch

Impressum

Dieses E-Book basiert auf der aktuellen Auflage der Printausgabe.

Tropen

www.tropen.de

© 2024 by J. G. Cotta’sche Buchhandlung Nachfolger GmbH, gegr. 1659, Stuttgart

Alle Rechte vorbehalten

Cover: Zero-Media.net, München

unter Verwendung einer Abbildung von © Walter Bibikow/GettyImages

Gesetzt von C.H.Beck.Media.Solutions, Nördlingen

Gedruckt und gebunden von GGP Media GmbH, Pößneck

ISBN 978-3-608-50197-1

E-Book ISBN 978-3-608-12351-7

Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek

Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der

Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten

sind im Internet über http://dnb.d-nb.de abrufbar.

Inhalt

Einleitung

1

 Der Sturm aufs Kapitol

Stephen: Liberty, Kentucky, 6. Januar 2021

2

 »Fuck tha Police«

Walter: The Bronx, New York, 25. Mai 2020

3

 Der Grenzübertritt

Magali: Denison, Iowa, 1990 bis 1998

4

 Ich will keinen Verräter im Haus

Stephen: Liberty, Kentucky, 1996 bis 2000

5

 Aufstieg eines linken Populisten

Walter: The Bronx, New York, 1987 bis 1994

6

 Aufstieg eines rechten Populisten

Magali: Denison, Iowa, 1998 bis 2002

7

 Fucking cool

Walter: The Bronx, New York, 1989 bis 1997

8

 Doppelschichten

Magali: Denison, Iowa, 2004 bis 2007

9

 Selig sind, die da Leid tragen

Stephen: Liberty, Kentucky, 2000 bis 2008

10

 Money, Bitches and Basketball

Walter: Midland, Texas, 1997 bis 2007

11

 Homecoming Queen

Magali: Denison, Iowa, 2007 bis 2008

12

 Barack Obama Superstar

Walter: The Bronx, New York, 2008

13

 Der Sensenmann der Republikaner

Stephen: Liberty, Kentucky, 2008 bis 2013

14

 Die Angst, es nicht zu schaffen

Magali: Denison, Iowa, 2009

15

 Respekt zeigt man in Dollar

Walter: The Bronx, New York, 2009 bis 2013

16

 Die Chinesen übernehmen

Magali: Denison, Iowa, 2009 bis 2012

17

 Die Geburt eines Aktivisten

Walter: The Bronx, New York, 2012 bis 2016

18

 Der YouTube-Kandidat

Stephen: Liberty, Kentucky, 2012 bis 2016

19

 Die Grenzen der Geduld

Magali: Denison, Iowa, 2014 bis 2018

20

 Black Lives Matter

Walter: The Bronx, New York, 2017 bis 2019

21

 Im Rabbit Hole

Stephen: Harrodsburg, Kentucky, 2019 bis 2020

22

 Das ist nicht fair

Magali: Denison, Iowa, 2020 bis 2021

23

 George Floyd

Hawk: The Bronx, New York, 2020

24

 Die gestohlene Wahl

Stephen: Harrodsburg, Kentucky, 2020 bis 2021

25

 Umzug in den Süden

Hawk: The Bronx, New York, 2023 bis 2024

26

 Den Wohlstand beschützen

Magali: Denison, Iowa, 2023 bis 2024

27

 Die Verurteilung

Stephen: Harrodsburg, Kentucky, 2023 bis 2024

Dank

Anmerkungen

Literatur und Quellen

Magali/Denison

Stephen/Kentucky

Hawk/The Bronx

Für Nina

Einleitung

Die Mitte hält nicht. An diesen Satz von Joan Didion musste ich in meiner Zeit als Amerika-Korrespondentin oft denken. Sie hat ihn von dem Dichter William Butler Yeats entliehen, um das aufbegehrende, radikale Amerika der 1960er-Jahre zu beschreiben, das sich gegen das Establishment wendete, den Krieg in Vietnam, die Polizeibrutalität, den Kapitalismus. Als ich 2014 in Amerika ankam, war das Land erneut in großer Unruhe. Es war jetzt ein Land der Handyvideos, auf denen zu sehen war, wie Schwarze Menschen bei der Verhaftung durch weiße Polizisten starben, in dem junge Schwarze Molotowcocktails auf Polizisten warfen, Nationalgardisten in Panzern durch die Straßen rollten, und Aktivisten begannen, das mit dem Hashtag Black Lives Matter zu beschreiben.

Auf meine Zeit als Korrespondentin habe ich mich sehr gefreut. Ich habe in den USA studiert und meinen Mann dort kennengelernt. Ich liebe Amerika, ich mag die Zugewandtheit der Menschen und ihre beeindruckende Bereitschaft, sich zu engagieren. Mein Schwiegervater sitzt seit Jahrzehnten unentgeltlich in verschiedenen Ausschüssen seiner Heimatstadt in Connecticut, meine Schwiegermutter unterrichtet seit ihrer Pensionierung als Grundschullehrerin Einwanderer aus der ganzen Welt in Englisch. Vielleicht auch deshalb nahm ich die Unruhe Amerikas zunächst nicht wirklich ernst. Zu den Aufständen in Ferguson, Missouri, im Sommer 2014 fuhr ich erst nach einer Woche. Dass ein Schwarzer Jugendlicher von der Polizei erschossen wurde, daran hatte man sich auf traurige Weise gewöhnt.

Als ich Amerika im Spätsommer 2021 wieder verließ, war es ein Land geworden, in dem ein großer Teil der Menschen nicht mehr an die zentrale Institution der amerikanischen Demokratie glaubte: freie und faire Wahlen. Am 6. Januar 2021 waren sie daher nach Washington, D.C. gefahren, um gegen eine vermeintlich gestohlene Wahl zu demonstrieren. Am Ende durchbrachen sie gewaltsam die Barrieren, die das Kapitol schützten, um die friedliche Übergabe der Macht an den nächsten Präsidenten zu verhindern. Der Wert des Aktienindex S&P 500 war in diesen sieben Jahren unbeirrt von alledem um 157,86 Prozent gestiegen.[1]

Es gibt viele kluge Bücher, die analysieren, wie es zu der Wut und dem Vertrauensverlust gekommen ist. Die Autoren haben die Auswirkungen von Globalisierung und politischen Entscheidungen untersucht, sie haben sich ökonomische Entwicklungen angeschaut, Arbeitslosenzahlen, Migrationsströme, die Qualität der Bildungsabschlüsse, die großen, in Zahlen messbaren Veränderungen. Darin haben sie nach Zusammenhängen gesucht und alles zu einer These verdichtet. Die unsichtbaren, die emotionalen Veränderungen beschreiben sie nicht. Der Stolz auf das eigene Land und die Kränkungen, die es einem zufügt; die Hoffnung auf ein glückliches Leben und den Zweifel, ob man es je erreichen wird; der Glaube, dass Amerika das beste Land der Welt ist und ein beschädigtes Gefühl von Fairness. Jene Gefühle eben, die das Verhältnis eines Menschen zu seinem Land prägen. Darum habe ich mich entschieden zuzuhören. Ich bin zu den Menschen gefahren und habe mir angehört, welche Geschichten sie selbst erzählen. Ich wollte ihre Vergangenheit kennenlernen und ihren Blick auf Amerika, ihre persönliche Erfahrung nachvollziehen, auch um die Fehler zu verstehen, die die Politik gemacht hat. Drei Menschen stachen dabei heraus. Der Kapitolstürmer Stephen, der Black-Lives-Matter-Aktivist Walter und die Latina Magali, drei Menschen, die vom Rand der Gesellschaft in die Mitte wollen, drei Menschen, die auf der Suche nach dem amerikanischen Versprechen sind.

Ich erzähle ihre Geschichten, weil ich glaube, dass man Amerika und drei der großen Debatten, die das Land im Wahljahr 2024 führt, so besser versteht. Da ist die Debatte über Einwanderung, und wie das größte Einwanderungsland der Welt damit in Zukunft umgeht. Da ist die Debatte über die Entfremdung der jungen Schwarzen von der Demokratischen Partei, eine ihrer treuesten Wählergruppen. Und schließlich die Debatte um die Übernahme der Republikanischen Partei durch Donald Trump.

Den Krankenpfleger Stephen führte die Suche nach dem amerikanischen Versprechen am 6. Januar 2021 von Kentucky nach Washington, D.C. Wenigstens einmal in seinem Leben wollte er etwas von Bedeutung machen. In Washington, D.C. ist er der Erste, der die Absperrungen vor dem Kapitol überwand. Dafür wird er Jahre später vor Gericht stehen, anders als der Präsident, für den er das Kapitol gestürmt hat.

Der Aktivist Walter wächst im Schatten des Trump Towers, in der New Yorker Bronx auf. Er träumt von Ruhm und Erfolg und wird das als Black-Lives-Matter-Aktivist erreichen. Da traut er keinem Politiker mehr, schon gar nicht den Demokraten.

Magali ist das Kind einer mexikanischen Arbeiterin ohne Aufenthaltsgenehmigung. Im Sommer 2023 steht Magali vor ihrem neuen Haus, offene Küche, vier Schlafzimmer, Doppelgarage. Sie hat sich ihren amerikanischen Traum erfüllt. In einem kleinen Ort in Iowa, der mit großer Mehrheit Trump wählt.

Ich habe die Familiengeschichten von Stephen, Walter und Magali rekonstruiert und in die politische und ökonomische Geschichte Amerikas eingebettet. Magalis Geschichte spielt vor dem Hintergrund der US-amerikanischen Einwanderungspolitik. In Walters Geschichte spiegelt sich Amerikas unvollendetes Gerechtigkeitsversprechen, Kriminalität und Polizeibrutalität sowie die Geburt der linkspopulistischen Aktivisten. Durch Stephen wird man den Folgen begegnen, die generationenübergreifende, strukturelle Armut hinterlassen hat, und den Erfolg rechts-populistischer Politiker miterleben. Die ganze Hoffnung, die Amerika immer noch zu geben fähig ist, steckt in diesen Leben, und auch die ganze Enttäuschung.

Stephen Randolph wurde in den Ausläufern der Appalachen in Kentucky geboren. Ich habe ihn am 6. Januar 2021 vor dem Kapitol in Washington, D.C. kennengelernt. Er wirkte wie ein Stück Treibholz, das sich am Rand in der Böschung verfangen hat, während Demonstranten auf das Kapitol zuströmten. Ich wollte über die Stop-the-Steal-Kundgebung von Donald Trump berichten, und ich war mir zuerst nicht ganz sicher, wer Stephen war. War er ein Demonstrant oder ein zufälliger Beobachter, gar ein anderer Journalist? Er trug keinen Pin, keine rot-weiße »Make America Great Again«-Basecap, keine MAGA-Fahne. Wir kamen ins Gespräch, und er zeigte mir mitten in dem Chaos Bilder der 102 Jahre alten Frau, die er zu Hause in Kentucky pflegte, und erzählte, dass er nach Washington gekommen war, weil er noch nie eine Trump-Veranstaltung live miterlebt hatte. Er schien erschüttert von den Ereignissen und zugleich stolz darauf. Wir blieben nach diesem Tag in Kontakt. Mit dünnen Strichen begann er am Telefon sein Leben vor dem 6. Januar zu umreißen. Die Urgroßeltern waren die Gefängniswärter seines Heimatortes Liberty gewesen, reich war die Familie nie, aber sie hatte lange einen guten Namen, ein geregeltes Auskommen und ein bisschen Land gehabt. Nach zwei Generationen war davon nichts mehr übrig. Stephen war das Kind einer drogenabhängigen Mutter, er wuchs bei seiner Tante und später bei seiner Großmutter auf. In jedem Gespräch malte er seine Lebensumstände etwas deutlicher aus. Aber ich wollte das ganze Bild sehen, und so flog ich nach Kentucky, einer der ärmsten Staaten Amerikas, um ihn zu treffen.

Es ist kein Geheimnis, dass die Demokraten sich mit ihrer Politik von den weißen Arbeitern abgewendet hatten und sich spätestens seit Bill Clinton auf die gut ausgebildeten Städter konzentrierten. 2002 erschien das Buch der Politikwissenschaftler John B. Judis und Ruy Teixeira, in dem sie die neue Koalition der Demokraten beschrieben, mit der sich die Partei, wie sie damals dachten, für die nächsten Jahrzehnte die politische Macht in Amerika sichern wollte: Akademiker, Frauen, Schwarze und die wachsende Zahl der Latinos. Dass Hillary Clinton 2016 aber derart schlecht bei den weißen Arbeitern abschnitt, dass sie darüber die Wahl verlor, hatte niemand erwartet. Waren die Demokraten nicht trotz alledem die Partei, die sich um die Schwachen kümmerte? Sie waren zwar ökonomisch mittlerweile auch neoliberal, aber eben netter. Sie kümmerten sich um eine bessere Krankenversicherung und höhere Sozialleistungen. Trotzdem gewann Donald Trump 2016 in Kentucky mit 30 Prozent Vorsprung vor Hillary Clinton, und vier Jahre später mit 26 Prozent vor Joe Biden. Stephen sagte bei einem unserer Gespräche, dass es natürlich absurd sei, dass er als Armer die Republikaner wählte, die Partei, die er immer mit den Reichen verbunden hatte. Aber er hatte das Gefühl, dass die Demokraten Armut eigentlich nur noch interessierte, wenn sie Schwarze oder Latinos betraf.

Der amerikanische Sozialpsychologe Jonathan Haidt hat 2014 die These aufgestellt, dass Menschen in ihren Entscheidungen intuitiv handeln, nicht rational. Wenn man Menschen moralische Fragen stellt und ihre Gehirne scannt, während sie ihre Antwort geben, zeigen ihre Gehirnaktivierungsmuster, dass sie schnell zu Schlussfolgerungen kommen und erst später Gründe dafür produzieren, um ihre Entscheidung zu rechtfertigen. Der Mensch, schreibt Haidt, sei nicht dafür geschaffen, auf die Vernunft zu hören.[2] Es sind die Erfahrungen und Gefühle, die das moralische Gerüst der Menschen prägen, schreibt Haidt. Mit diesem Gerüst bewerten sie Situationen und Probleme und bilden ihre politische Einstellung. Wenn ein armer Mensch wie Stephen also die Republikaner wählt, dann tut er das laut Haidt nicht, wie viele Demokraten glauben, weil sie ihn mit einer cleveren Rhetorik von Freiheit und Identität ausgetrickst haben, sondern weil das, was er von ihnen hört, mit seinen Vorstellungen von fair und unfair übereinstimmt. Um zu verstehen, warum Amerika so zerstritten ist, muss man diese unterschiedlichen Vorstellungen kennen, und die Geschichten ihrer Entstehung.

Zwei Tage nachdem ich damals wieder aus Kentucky abgereist war, wurde Stephen vom FBI verhaftet. Seine Freundin glaubte zunächst, ich hätte ihn an die Sicherheitsbehörde verraten. Bei meinem Besuch hatte ich lange Interviews mit ihm aufgezeichnet, und natürlich hatten wir auch ausführlich über den 6. Januar gesprochen. Es war ihr eigener Facebook-Account, durch den das FBI Stephen gefunden hatte. Seine Freundin hatte dort Bilder von ihm gepostet, auf denen er dieselbe graue Carhartt-Mütze trug wie am 6. Januar. Im November 2023, während Donald Trump sich erneut für das Präsidentschaftsamt bewarb, stand Stephen in Washington, D.C. vor Gericht. Er war angeklagt, den Sturm auf das Kapitol losgetreten und dabei zwei Polizisten mit einer tödlichen Waffe angegriffen zu haben, ihm drohten 45 Jahre Gefängnis. Die Zeit bis zum Prozess verbrachte er zuerst im Gefängnis und später mit einer Fußfessel in Kentucky. Die Eltern seiner Freundin hatten ihn aufgenommen, zwei Demokraten, die Donald Trump verachteten, auch das ist Amerika.

Als ich für das Buch zu recherchieren begann, musste ich oft an Deutschland denken. 2016 konnte sich keiner vorstellen, dass die AfD einmal in Umfragen bei über 20 Prozent liegen würde, oder dass sie in einigen Landtagen die Chance auf eine Mehrheit haben könnte. Ich gehe darauf im Buch nicht explizit ein, aber Stephen verfolgt, was die AfD in Deutschland sagt, mit großem Interesse. Wer versteht, was Stephen dazu gebracht hat, Donald Trump zu wählen, der versteht vielleicht auch ein bisschen besser, warum so viele Menschen die AfD wählen.

Im Februar 2024 wurde Stephen schuldig gesprochen. Sein Recht, im November zu wählen, hat er damit verloren. Auch der Black-Lives-Matter-Aktivist Walter »Hawk« Newsome wird im November 2024 nicht zur Wahl gehen, freiwillig. Damit gehört er zu den 20 Prozent der Schwarzen Wähler, die sich laut Umfragen von der Demokratischen Partei abgewandt haben.

Wobei Walter sich nicht nach rechts abgewandt hat, sondern nach links. Er, der ehemalige Schulabbrecher, hatte den Marsch durch die Institutionen angetreten und es bis zum Jurastudium geschafft. Aber so richtig fühlte er sich nie wohl in dem System. Die Black-Lives-Matter-Bewegung elektrisierte ihn. Doch je länger er in der Welt der Aktivisten lebte, desto mehr Zweifel kamen ihm an ihrem Ziel, den Rassismus zu besiegen, indem man die Weißen dafür sensibilisiert. Statt die Unterschiede zwischen Weiß und Schwarz zu betonen, wollte er die Gemeinsamkeiten hervorheben. Er hatte auf einer Veranstaltung von Trump-Fans in Washington, D.C. gesprochen und es geschafft, dass sie ihm, dem Black-Lives-Matter-Aktivisten, in vielen Dingen zustimmten. Und das, obwohl er für all das stand, was sie für den Niedergang Amerikas verantwortlich machten, den Zerfall der Familien, die Kriminalität, die Identitätspolitik der Demokraten. Walter hatte vor den Trump-Fans über die Probleme gesprochen, die Schwarze und weiße Arbeiter miteinander verbanden, und daran erinnert, dass sie nur erfolgreich sein würden, wenn sie gemeinsam kämpften. Gegen korrupte Politiker genauso wie gegen korrupte Polizisten.

In dieser Phase seines Lebens habe ich Walter zum ersten Mal getroffen. Er hatte sich gerade ein zweites Mal taufen lassen und sich den Namen »Hawk« (der Falke) gegeben. Nach dem Auftritt vor den Trump-Fans war Hawk plötzlich überall, auf CNN, in der New York Times, der Washington Post, die Mainstream-Medien rissen sich regelrecht um ihn. Er war die Stimme, die Hoffnung machte, dass es einen Ausweg aus der Polarisierung in Amerika gab. Von seiner eigenen Community, den Schwarzen Aktivisten, wurde das Ganze allerdings weniger positiv aufgenommen. Sie nannten ihn einen Verräter, der sich mit ihren Feinden eingelassen hatte (er hatte sogar ein Selfie mit einem Trump-Fan gemacht, auf dem er dessen jungen Sohn auf den Armen hielt). Darauf schlossen sie ihn aus der Black-Lives-Matter-Gemeinde aus. Und auch die weißen Veranstalter der Trump-Rally distanzierten sich in den nächsten Wochen von Hawk. Die Mitte, lernte Hawk, eignet sich nicht für den Aktivismus.

Nach dem Tod von George Floyd, der 2020 durch einen weißen Polizisten umkam, gingen monatelang so viele Menschen auf die Straße, wie seit den 1960er-Jahren nicht mehr.

Hawk verschärfte seine Rhetorik, er sprach nicht mehr von einer gemeinsamen Zukunft von Schwarzen und Weißen. Er sprach jetzt davon, dass die Schwarzen zu ihrer Schwarzen Identität zurückfinden müssten und ihr eigenes amerikanisches Versprechen wahrmachen sollten. Schließlich warb er dafür, dass sie sich bewaffneten und propagierte autonome Schwarze Gebiete in den USA, in denen sich die Schwarzen selbstverwalten und eine eigene Ökonomie aufbauen, black-owned. Es waren die Ideen, die die Black Panther in den 1970er-Jahren vertreten hatten, und mit denen Hawk aufgewachsen war. Immer häufiger fuhr er jetzt in den Ort Jackson in Mississippi, dort waren 83 Prozent der Bevölkerung Schwarz. Er ließ sich einen Bart wachsen und ein großes Tattoo auf den Rücken stechen. Er nannte es »Rache für Emmett Till«, das war ein junger Schwarzer, der 1955 in Mississippi gelyncht worden war. In Mississippi baut Hawk jetzt seine neue Organisation auf.

Magali ist die dritte Amerikanerin, von der ich erzählen werde. Sie gehört zu der in Amerika am schnellsten wachsenden Bevölkerungsgruppe, den Latinos. Die Demokratische Partei hatte sich lange als Wähler auf sie verlassen, und auch Magali hat bislang immer die Demokraten gewählt. Doch das ändert sich gerade. Einer von fünf Latinos in Amerika überlegt, 2024 die Partei zu wechseln. Donald Trumps Einwanderungspolitik und seine Rhetorik Mexikanern gegenüber schreckt sie nicht mehr ab.

Wie Stephen und Hawk ist auch Magali arm aufgewachsen. Sie wurde während eines kurzen Aufenthaltes ihrer Eltern Anfang der 1990er-Jahre in Kalifornien geboren, wuchs aber zunächst in Mexiko auf. 1998 überquerten ihre Eltern erneut illegal die Grenze, dieses Mal, um in den Schlachthöfen des kleinen Ortes Denison in Iowa zu arbeiten. Die Kinder der weißen Arbeiter waren in die Städte zum Studieren gezogen und kamen nicht zurück. Die Schlachtereien suchten nach Arbeitern, und die Mexikaner besetzten die freien Stellen. Wie Magalis Eltern arbeiteten die meisten mit gefälschten Papieren.

Dass Denison einer der konservativsten Bezirke Amerikas ist, dessen Abgeordneter Steve King einer der frühesten und radikalsten Einwanderungsgegner im Kongress in Washington, D.C. war, ignorierte Magalis Familie. Sie bauten sich ihr eigenes Netzwerk auf, über die Kirche, die Schule, die Arbeit, und begannen, sich in der komplizierten Welt des amerikanischen Einwanderungsrechts zurechtzufinden. Ein System, in dem man auch als illegal Eingewanderter Steuern zahlte und eine drohende Abschiebung der Weg zu einer Aufenthaltsgenehmigung sein konnte. Ich habe Magali und ihre Familie zum ersten Mal getroffen, als ihre Mutter Socorro nach über zehn Jahren in den USA Asyl beantragte. Ihr Anwalt war ein begeisterter Trump-Wähler und Freund der Familie. Er lehnte illegale Einwanderung ab, bewunderte aber die Arbeitsmoral von Magalis Familie und die Härte gegen sich selbst. Sogar Magalis Vater, der wiederholt wegen Drogendelikten festgenommen wurde, half der Anwalt immer wieder. Ohne viel Aufhebens zu machen, kaufte Magalis Mutter ein Haus, die Kinder machten ihren Schulabschluss und begannen, in Denison zu arbeiten. Als ich Magali im Sommer 2023 das letzte Mal für dieses Buch traf, war sie gerade 32 Jahre alt geworden und stolz auf das, was sie geleistet hatte. Sie ist die neue amerikanische Mittelklasse.

Latinos sind mittlerweile die größte Minderheit in den USA, sie machen 20 Prozent der Bevölkerung aus. Traditionell leben sie eher in den Städten und arbeiten in der Service-Industrie. Seit 1990 nimmt ihr Bevölkerungsanteil jedoch vor allem in ländlichen Gegenden zu, dort wo die Ölindustrie, die Landwirtschaft, die Fleischverarbeitung oder der Straßenbau nach Arbeitern sucht.[3] Das prägt ihren Blick auf Amerika. Magalis Schwager wählt längst Donald Trump, und auch ihr Mann liebäugelt in diesem Jahr damit, sie haben mittlerweile alle die amerikanische Staatsbürgerschaft. Magali hat sich noch nicht entschieden. Früher war Einwanderung das wichtigste Thema für sie, dafür hat sie sogar über die Haltung der Demokraten zur Abtreibung hinweggesehen. Heute will sie vor allem den Wohlstand beschützen, den sie sich für ihre Familie erarbeitet hat.

Die Gespräche mit Magali, Hawk und Stephen haben über mehrere Jahre stattgefunden. Ich habe die Familien der drei kennengelernt, ihr Zuhause und einige der Menschen, die wichtige Erlebnisse mit ihnen geteilt haben. Einige Namen habe ich geändert, um die Privatsphäre der Personen zu schützen, einige persönliche Details aus den Leben der Protagonisten habe ich weggelassen, weil sie mich darum gebeten haben. Wenn ich im Laufe der Erzählung die Gedanken der drei schildere, dann sind diese aus direkter Rede gewonnen. Hawk habe ich das erste Mal getroffen, als er sich schon den neuen Namen gegeben hatte; um das Erzählen einfacher zu machen, werde ich ihn aber bis zu seiner Namensänderung im Buch Walter nennen.

1

Der Sturm aufs Kapitol

Stephen: Liberty, Kentucky, 6. Januar 2021

Es war schon fast Mitternacht, als Stephen in Kentucky aufbrach. Lange hatte er sich nicht entschließen können, ob er wirklich fahren sollte. Er hatte Harrodsburg schon seit zwei Jahren nicht mehr verlassen, das Auto war geliehen, das Handy zum Navigieren ebenfalls, und wenn er übermorgen zurückkehrte, war er nicht sicher, ob ihn das alles nicht seinen Job kosten würde. Aber es stand so viel für Amerika auf dem Spiel. Er zog seine bequeme Jogginghose an und die graue Carhartt-Wollmütze. Die dunkle Motorradjacke, die Jeanshose und die Handschuhe mit den orangefarbenen Streifen legte er auf die Rückbank. Die würde er anziehen, wenn er in Washington, D.C. angekommen war. Er war ein bisschen aufgeregt.

Drei Wochen zuvor, am 18. Dezember 2020, war Stephen 31 Jahre alt geworden, ein großer, schlanker Junge mit seltsamen Augen, irgendwie jung und alt zugleich. Er war noch nie in Washington, D.C. gewesen. Bislang hatte er in seinem Leben außer Kentucky nur Florida gesehen, Amelia Island, mehr kannte er von den USA nicht. Und auch jetzt, da er sich auf den Weg machte, versteckte sich das Land zunächst hinter einem dunklen Vorhang. In West Virginia fuhr er an einer Fabrik vorbei, die in der Nacht angestrahlt war wie ein Märchenschloss. Wie komisch, überlegte er. Sonst kamen ihm Fabriken immer hässlich vor; wenn er sie sah, dachte er an Dreck, Rauch und Öl und beschissene Arbeitsbedingungen. Aber diese hier war irgendwie magisch. Überhaupt wirkte Amerika auf ihn auf einmal so anders. So ruhig und so würdevoll.

Um 4 Uhr morgens hielt er an einer Tankstelle in einem alten Bergarbeiterstädtchen in West Virginia. Kleine Bäche wanden sich durch eine zerklüftete Landschaft, die Tankstelle verkaufte Angeln, Haken und Köder, und obwohl es noch fast Nacht war, briet die Besitzerin ihm Frühstückseier hinter der Theke. Er war ihr erster Kunde, sie hatte Lust zu plaudern und er auch. Seit kaum noch Kohle abgebaut wurde, war es in dem Ort einsam geworden, die Hauptattraktion war jetzt das Fischen. Stephen zündete sich eine Zigarette an. Er fühlte sich wie zu Hause.

An der Grenze zu Pennsylvania ging dann die Sonne über den Allegheny Mountains auf, und als er am Potomac River entlangfuhr, musste er an George Washington denken, an dieses berühmte Gemälde, das Washington zeigt, wie er während der Amerikanischen Revolution im Winter 1776 den Delaware River überquerte. In Stephen kroch ein unbeschreibliches Gefühl hoch. Auch er war ja gerade auf dem Weg, Amerika zu befreien.

Als er die Hauptstadt am Morgen des 6. Januar 2021 schließlich erreichte, war es 9 Uhr. Die Stadt sah mit ihren Prachtbauten, mit ihrer ganzen in Marmor erstarrten Grandiosität so würdevoll und so reich aus – er war überwältigt. Sogar die Bürgersteige waren aus Granit. Wie viel Steuergeld das wohl kostete?, ging ihm durch den Kopf. Natürlich sollte die Hauptstadt gut aussehen, aber brauchte sie wirklich Bürgersteige aus Granit?

In dem geparkten Auto zog er seine Jeanshose an und war in dem Moment sehr froh, dass der Wagen getönte Scheiben hatte. Donald Trump würde zwar nicht vor 12 Uhr sprechen, aber die Stadt war schon jetzt voller Menschen. Stephen zog sich noch seine Handschuhe mit den orangefarbenen Streifen an, dann machte er sich auf zum Washington Monument. Er wollte seinen Präsidenten unterstützen, dem der Wahlsieg so schändlich gestohlen worden war.

Knapp drei Jahre später saß Stephen im holzvertäfelten Gerichtssaal 21 des Bezirksgerichts in Washington, D.C., nur wenige hundert Meter vom Kapitol entfernt. Zehn Vergehen wurden ihm vorgeworfen, darunter der Angriff auf zwei Polizisten mit einer tödlichen Waffe. Darauf stehen in Amerika bis zu 45 Jahre Gefängnis. Zusammen mit vier Mitangeklagten soll er den Sturm auf das Kapitol begonnen und den Weg für die Ereignisse am 6. Januar 2021 bereitet haben. Stephen hat sich in allen Anklagepunkten für unschuldig erklärt.

Das FBI besitzt fast vier Millionen Videos vom 6. Januar. Denn wie alles, auf das der moderne Mensch stolz ist, hatten die MAGA-Demonstranten auch den Sturm auf das Kapitol und den Versuch, die Zertifizierung der Wahl von Joe Biden zum Präsidenten der USA zu verhindern, Minute für Minute aus allen Winkeln und Perspektiven auf Handyvideos festgehalten und online gestellt. Hinzu kamen die Aufzeichnungen durch die Bodykameras der Polizisten und die Überwachungskameras des Kapitolgeländes. Damit hatte das Justizministerium eine der größten Ermittlungen in der Geschichte der Vereinigten Staaten begonnen. Zehntausend Menschen hatten an jenem Tag das Kapitolgelände erstürmt, 2000 waren in das Kapitol eingedrungen. Über 1200 waren bislang angeklagt worden, 750 waren bereits zu Gefängnisstrafen verurteilt worden. Es war der Versuch, Menschen zur Rechenschaft zu ziehen, die an die Lüge eines Präsidenten glaubten, der nicht bereit war, die Macht nach einer verlorenen Wahl abzugeben. Damit verbunden war die Hoffnung, sie von ihrem Unrecht überzeugen zu können und Amerika mit den Regeln des Rechts zu heilen.

Das FBI hatte aus den Videos eine Datenbank mit 7,4 Terabyte erstellt. Um das Material vollständig zu sichten, würde man neun Monate brauchen.[4] Die Verteidiger der Angeklagten hatten Zugang zu dem Material, aber die meisten hatten nicht die Zeit und die Mittel, sich alles anzuschauen. Die Staatsanwaltschaft hatte Stephens Verteidigerin daher nur diejenigen Clips zur Verfügung gestellt, die sie als relevant erachtete. Halim hatte eine Grafik des Kapitols erhalten, auf der, ähnlich wie bei einem Computerspiel, überall dort, wo sich die Taten ereignet hatten, deretwegen Stephen angeklagt war, kleine Symbole zu sehen waren. Man konnte sie anklicken und das jeweilige Video wurde abgespielt. Dieses Prozedere hatte zu viel Misstrauen geführt, die Angeklagten befürchteten, dass die Staatsanwaltschaft mögliche entlastende Videos zurückhalten würde.

In der Zwischenzeit waren die Trump-Republikaner nämlich dazu übergegangen, die Ereignisse des 6. Januar als legitimen demokratischen Protest zu bezeichnen, der von einigen wenigen gekapert worden war. Das Ganze sei nicht schön gewesen, sagten sie, aber auch kein organisierter Umsturzversuch. Sie beschuldigten die Demokraten, im Untersuchungsausschuss zum Sturm auf das Kapitol nur die schlimmsten Szenen veröffentlicht zu haben, die Bilder von friedlichen Demonstranten dagegen nicht. Dem Fox-News-Moderator Tucker Carlson hatten sie daher tausende Stunden Videomaterial gegeben, aus denen der eine Gegenrealität zusammenschnitt. Sie bestand aus Bildern von Kapitolstürmern, die wie Touristen durch das Kapitol spazierten. Die gewaltsame Erstürmung wurde so zu einer Verschwörung umgedeutet, mit der die Demokraten die Trump-Wähler als Monster herabwürdigen wollten. Nicht die gestohlene Wahl sei eine Lüge, sondern die Erstürmung des Kapitols. Stephen hatte begonnen, sich als politischen Gefangenen zu sehen.

Während eines Zoom-Calls mit seiner Anwältin hatte Stephen vor dem Prozess versucht, entlastende Videos von sich im Kapitol zu finden, Videos, die seine Version stützten. Allerdings gewann er schnell den Eindruck, dass seine Pflichtverteidigerin seinen Eifer für die Videos nicht teilte. Sie sagte ihm, es werde kein Weg daran vorbeiführen, dass er für einige Zeit ins Gefängnis müsste; er hatte eine Polizistin verletzt, das war eine schwere Straftat. Stephen wiederum erzählte ihr, er habe danach aber auch einen Polizisten gewarnt, als einige Randalierer die Bühne für die Amtseinführung, auf der die Polizei stand, zum Einsturz bringen wollten. Er wollte ein Video dieser Episode finden, um zu beweisen, dass er nicht mit bösen Absichten nach Washington, D.C. gekommen war. Aber seine Pflichtverteidigerin sagte, diese Geschichte würde sich für das Gericht nur so anhören, als ob ein Angeklagter Lügen erzählte, um besser dazustehen. Was zählte, sei seine Tat. Stephen beschlich das Gefühl, sie würde ihm nicht glauben, und er wollte ihr beweisen, dass sie Unrecht hatte.

Weil er von seinem Computer keinen Zugriff auf die Videos hatte, musste er sie sich über Zoom auf dem Computer seiner Pflichtverteidigerin anschauen. In Gedanken ging er den 6. Januar noch einmal durch und dirigierte die Pflichtverteidigerin wie einen Avatar durch die Grafik des Kapitols. Er sagte ihr, welche Videos er sehen wollte, und sie teilte sie dann auf dem Bildschirm. Sie selbst sah sie sich nicht an. Während Stephen stundenlang Clips guckte, arbeitete sie etwas anderes. Es war nicht leicht, sich zu orientieren, viele Videos waren falsch beschriftet, Zeit- oder Ortsangaben stimmten nicht. Die Software, mit der die Staatsanwaltschaft die Videos ordnete, hatte ihre Schwächen. Drei Sitzungen und acht Stunden lang suchte Stephen, bis er endlich fand, was er suchte. Das Bodykamera-Video des Polizisten, den er gewarnt hatte. Darauf sah man, wie er den Polizisten ansprach, man konnte seine Warnung über das Getöse der Demonstranten hören, und man sah, wie der Polizist zu seinen Kollegen ging, um sie wiederum zu warnen. Die Pflichtverteidigerin war sichtlich überrascht. »Das war ein echter I-told-you!-Moment«, erinnert sich Stephen. Er suchte noch nach anderen Situationen, von denen er glaubte, dass sie ihn in einem besseren Licht dastehen lassen würden, aber er fand nichts.

Im Gerichtssaal saß Stephen neben seiner Pflichtverteidigerin, er trug wie so oft Jogginghose. Auf der grünen Marmorwand hinter der jungen Schwarzen Richterin prangte das goldene Adler-Siegel der Vereinigten Staaten im Gerichtssaal. Im Schnabel hielt der Vogel das Motto des Landes: E pluribus unum, aus vielen eines. Eines der vielen Versprechen, das Amerika sich vor über zweihundert Jahren gegeben hatte. Was war nur so falsch gelaufen?

Stephens Familie lebte seit über hundert Jahren in Liberty, ein kleiner Ort westlich des Appalachen-Gebirges. Die Route 127 führt vorbei, an ihr aufgereiht liegen ein paar Fast-Food-Restaurants, ein Autohaus, zwei Tankstellen, eine Auto-Reparaturwerkstatt, eine Waschanlage; ohne Auto ist man hier draußen aufgeschmissen. Nur die Mennoniten fahren auch 2024 noch im Pferdewagen durch die Gegend. Große Werbetafeln ermahnen, nicht zu rauchen, nicht zu trinken und Gott zu heiligen, auch in Liberty hat die Freiheit Grenzen. Oberhalb der Landstraße, die Anhöhe hinauf liegen die Randolph Street, die Whipp Street, darüber die Phillips Street. Einige Häuser haben Steinfassaden und gepflegte Gärten, viele aber sind verwahrlost, die weiße Farbe blättert vom Holz, ausrangierte Matratzen liegen im Hinterhof, Sperrmüll und Autoteile, das Gras hat sich die Kies-Einfahrten zurückgeholt. Am Ortsausgang stehen Trailer wie Streuobst in die Wiesen geworfen.

Die Menschen in Liberty waren schon immer arm. Zuerst nannte man sie Cracker und Squatters, später White Trash, Rednecks oder Hillbillys: Sie waren die Nachfahren der Weißen, die im Revolutionsjahr 1776, als das alles mit dem amerikanischen Versprechen begann, kein eigenes Land besaßen, nicht wählen durften und sich als Tagelöhner durchschlagen mussten. Auf der fruchtbaren Erde des Mississippi-Plateaus, zwischen den Kohlefeldern im Osten und den Kohlefeldern im Westen, wurden Rinder gezüchtet sowie Tabak und Hanf für die Seilherstellung angebaut.

Stephen ist mit den Geschichten seiner Großmutter, Nanny, über ihren Vater Chester Bernard aufgewachsen. Nannys Vater war in den 1960er-Jahren der Gefängniswärter von Liberty. Er hatte ein bisschen Land besessen, dazu eine resolute Frau und elf Kinder. Er ging in die Kirche, was Chester allerdings nicht daran hinderte, seine Kinder grün und blau zu prügeln, wenn er betrunken war. Nanny war im Gefängnis aufgewachsen, die Familie wohnte im vorderen Teil des Gebäudes, einem einfachen Steinhaus mitten im Ort; im hinteren Teil waren die Gefangenen untergebracht. Chester war zwar der Gefängniswärter, in der Familie wurde jedoch erzählt, dass es eigentlich Nannys Mutter war, die das Sagen im Gefängnis hatte. Sie kochte für die Gefangenen, säuberte die Zellen. Wenn Chester richtig betrunken war, kam es vor, dass er die Zellen aufschloss, den Gefangenen Gewehre gab und sie mit auf die Waschbären-Jagd nahm. Als sie sich einmal dabei verliefen, kam Chester mitten in der Nacht allein nach Hause. Am Morgen waren alle Gefangenen wieder in ihren Zellen. Sie waren freiwillig zurückgekehrt, denn keiner wollte auf die kostenlosen Mahlzeiten von Nannys Mutter verzichten. Stephen liebte diese Geschichten, in denen Männer auf die Regeln pfiffen, und am Ende doch alles gut ausging.

Nannys Schwestern heirateten, ihre Brüder gingen in den 1950er-Jahren zum Militär, der Koreakrieg hatte gerade begonnen und die Militärstützpunkte Fort Knox und Fort Campbell waren zwei der größten Arbeitgeber in Kentucky. Alt wurde kaum einer. Die meisten keine sechzig Jahre.

Nanny, die eigentlich Judy hieß, war eines der jüngsten Kinder von Chester. Nach der 7. Klasse brach sie die Schule ab, sie konnte es nicht erwarten, von zu Hause und ihrem prügelnden Vater wegzukommen. Sie heiratete den großen, schlanken Cherokee Glenn Cactus Randolph, die beiden bekamen einen Sohn und zwei Töchter, glücklich wurden sie nicht. Die Ehe hielt nicht lange und endete beinahe tödlich. Nachdem Nanny Cactus verlassen hatte, wartete er im August 1972 an der Landstraße nach Liberty gleich neben Abe’s Supermarkt, und als er Nanny sah, feuerte er das gesamte Magazin seines Revolvers auf sie ab. Dann fuhr er weg. Eine Nachbarin fand Nanny im Straßengraben und brachte sie ins Krankenhaus. Wie durch ein Wunder überlebte sie die Schusswunden. Gewalt gehörte schon immer zum Leben in Liberty.

Im Jahr 1978, in dem die Regenbogenflagge zum ersten Mal über San Francisco gehisst wurde, und der demokratische Präsident Jimmy Carter versuchte, einer verheerenden Rezession Herr zu werden, kam Stephens ganze Familie ein letztes Mal zusammen. Es war ein derart großes Ereignis, dass sogar die Lokalzeitung, der Advocat Messenger, darüber berichtete. Irgendjemand spielte die Dulcimer, die Zither der Appalachen, die so schön wild und melancholisch klang. Nanny kam mit ihrem neuen Mann, den Kindern Russell, Angela und Glenna Rae, Stephens Mutter.

Stephen hat sich immer gewünscht, seine Familie einmal so zu erleben. Aber in den 1980er-Jahren verlor sie jeglichen Halt. Stephens Onkel Russell saß immer häufiger in dem Gefängnis, das sein Großvater einmal geleitet hatte, seine Mutter brach die Schule nach der 10. Klasse ab. Ihr Dealer hieß Tommy Thornton, sie war eine schöne junge Frau und Kokain teuer, die beiden schliefen miteinander, und am 18. Dezember 1989 brachte Glenna Rae im Cumberland Regional Hospital in Somerset Stephen zur Welt. Sie war 21 Jahre alt und Stephen ihr drittes Kind. Die zwei Geschwister lebten bei Verwandten.

Das Leben mit seiner Mutter war chaotisch. Sie zogen viel herum, von einem Freund zum nächsten. Einmal lebten sie in einem klapprigen Haus, das weder Elektrizität noch fließendes Wasser hatte, man wusch sich im Fluss. Einer der Typen, mit denen seine Mutter zusammen war, schlug sie, und Stephen erinnert sich, wie er versuchte, ihn heimlich mit seiner Spielzeugpistole zu erschießen. Sie lebten in einer Obdachlosenunterkunft für Frauen, jeden Penny, den er auf dem Boden fand, hob er auf. Seine Mutter kaufte sich davon Zigaretten an der Tankstelle. Der Trailer, in dem er zum ersten Mal Kokain sah, gehörte einem Schwarzen Typen, mit dem seine Mutter zusammenlebte; es lag auf einem Teller, drumherum abgeschnittene Strohhalme.

Es gab schöne Momente, wie den, als sie gemeinsam im Dunkeln im Bett lagen, und seine Mutter mit der brennenden Zigarette seinen Namen in die Luft schrieb und ihm sagte, dass sie ihn liebe. Oder als er sich am ganzen Körper mit Farbe schwarz ansprühte und seine Mutter vor Begeisterung lachend in die Hände klatschte. Oder als sie mit ihm auf die County Fair ging, den jährlichen Jahrmarkt der Gegend, mitsamt Preisbullen und Traktorrennen. Glenna Rae ließ Stephen dann auf den Karussells juchzen und Zuckerwatte essen. An einem Stand gewann er einen Goldfisch, den er in einer Plastiktüte mit nach Hause nehmen durfte. Als das Tier in der Tüte erstickt war, schüttete der Freund seiner Mutter alles vor dem Trailer aus. Stephen dachte damals, er habe den Fisch ermordet.

Warum er sich an all diese Bilder erinnert, obwohl er damals noch so klein war, bleibt für Stephen immer ein Rätsel. Und manchmal beschleicht ihn die Angst vor all dem, an das er sich nicht mehr erinnert. Würde es die schönen Erinnerungen zerstören? Er wusste zwar, dass seine Großmutter Nanny im Gefängnis war, bevor sie ihn zu sich nahm. Aber so, wie sie ihm das immer erzählt hatte, klang das ganz anders, als man es in den alten Zeitungen nachlesen kann.

Im Winter 1991, steht dort, holte Nanny Stephen und seine Mutter bei einem ihrer Freunde ab. Nanny hatte zuvor mit ihrem Nachbarn in der Three-Pines-Bar in Marion County gesessen und den ganzen Nachmittag Bier getrunken. Die beiden kannten sich schon lange, der Nachbar war ein ehemaliger Polizist und Nanny machte seit dem Tod seiner Frau seinen Haushalt. Nach jedem Bier stritten die beiden lauter darüber, wer nach Hause fahren sollte. Sie wurden immer unbeherrschter, und irgendwann forderte der Barkeeper sie auf, die Bar zu verlassen. Gemeinsam mit Stephen und seiner Mutter fuhren sie zurück nach Liberty, zum Haus des Nachbarn. Dort ging das besoffene Gekeife weiter. Irgendwann ging der Nachbar, von dem man sich erzählte, dass er den Tod seiner Frau nie überwunden hatte, in sein Schlafzimmer und kam mit einer Waffe wieder heraus. Am Ende lag er tot auf dem Boden. Im Gerichtsprozess sagte Stephens Mutter aus, der Nachbar habe Nanny gebeten, ihn zu erschießen. Er habe Nanny sogar die Pistole gegeben, das Ganze sei ein Unfall gewesen. Die Jury beriet sehr lange, am Ende urteilte sie, dass es Totschlag gewesen sei, und Nanny kam mit fünf Jahren Gefängnis davon.

Eines Tages verschwand seine Mutter dann. Sie ließ ihn einfach bei einem ihrer Freunde zurück. Der hatte allerdings wenig Lust, sich um ein fremdes Kind zu kümmern. Er setzte Stephen, der damals vier oder fünf Jahre alt war, im Winter 1993 oder 1994 vor die Tür seines Trailers. »Er war ein Drogendealer und ich nicht sein beschissenes Problem«, erinnerte sich Stephen in einem unserer Gespräche. Eine Nachbarin sah ihn im Trailerpark herumlaufen und nahm ihn zu sich. Sie kannte seine Mutter und Nanny und rief erst einmal das Jugendamt an.

Er hatte jetzt eine Akte, der Staat übernahm die Fürsorge, die seine Familie ihm nicht gab. Das Jugendamt brachte Stephen zunächst in ein Waisenhaus in Kentucky. Es war ein Haus voller fremder Menschen und fremder Kinder. Er verstand nicht so richtig, was passierte, er wunderte sich nur, warum seine Mutter nicht kam und ihn abholte. Irgendwann kam die Ex-Frau eines Großonkels. Sie hatte eingewilligt, ihn und seinen jüngeren Bruder aufzunehmen (seine Mutter hatte noch ein viertes Kind bekommen). Aber Stephen nässte das Bett, und nach einem Jahr gab sie ihn wieder in die Obhut des Jugendamtes zurück, sein Bruder durfte bleiben. Das Jugendamt reichte Stephen weiter an die Schwester seiner Mutter, seine Tante Angela. So erinnert er sich; seine Akten anzufordern hat er sich nie getraut. Er hat Angst, Dinge über seine Mutter zu lesen, die er nicht wissen will. Er hat Angst, dass seine Wahrheit eine Lüge ist.

1997 sah Stephen seine Mutter zum letzten Mal. Irgendjemand hatte ihn nach Liberty gefahren, in das kleine weiße Haus in der Philipps Street, in dem Nanny, seitdem sie aus dem Gefängnis entlassen worden war, wieder mit ihrer Mutter, Stephens Urgroßmutter, lebte. Auf der ungemähten Wiese hinter dem Haus lag Glenna Rae im Garten und sonnte sich. Sie kaute an einem Strohhalm und sah so jung und schön aus. Stephen wurde ganz aufgeregt, er hätte alles dafür getan, dass sie ihn zu sich nahm. Sie gab ihm den abgekauten Strohhalm und sagte, dass sie nach Indiana gehe, dass sie ihn liebe und ihn mitnehmen werde. Danach verschwand sie. Eine Woche später erzählte ihm seine Tante, dass seine Mutter bei einem Wohnungsbrand in Indiana umgekommen sei. Sie war 29 Jahre alt geworden. Stephen weinte den ganzen Tag und die ganze Nacht, er konnte den Gedanken nicht loswerden, dass sie nicht gestorben wäre, wenn er bei ihr gewesen wäre.

2

»Fuck tha Police«

Walter: The Bronx, New York, 25. Mai 2020

Walter Newsome parkte seinen Wagen am Grand Concourse, dieser 8 Kilometer langen Häuserschlucht in der Bronx, in der er seit 43 Jahren lebte. Vier Wochen zuvor, am 25. Mai 2020, war der Schwarze George Floyd bei einer Verhaftung durch einen weißen Polizisten umgekommen. Zwanzig Millionen Menschen waren in ganz Amerika seitdem auf der Straße gewesen, es waren die größten Proteste, die Amerika seit den 1960er-Jahren erlebt hatte. Auf der gegenüberliegenden Straßenseite stand ein mobiles Fernsehstudio, das der Sender Fox News für Walter aufgebaut hatte. Das machten sie seit der Pandemie so, damit keiner ins Studio kommen musste. Walter fuhr sich über seinen rasierten Schädel. Er war fast zwei Meter groß, und obwohl er schon lange nicht mehr regelmäßig Basketball spielte, war er immer noch recht gut durchtrainiert. Er glättete seinen Bart, als einer der bekanntesten Black-Lives-Matter-Aktivisten von New York wollte er nicht ungepflegt aussehen. Es war noch etwas Zeit, die Sendung wurde erst um 19 Uhr ausgestrahlt, und Walter hatte darauf bestanden, dass das Interview live geführt wurde. Er traute dem Sender nicht über den Weg. Zu oft hatte er schon erlebt, dass sie ein Interview so zusammenschnitten, dass er sich selbst nicht wiedererkannte. Dennoch würde er kein Interview absagen. Er zündete sich eine Zigarre an.

Walter guckte aus dem Fenster. Vor ihm im Park stand der Heinrich-Heine-Brunnen mit der weißen Loreley-Statue in der Mitte, drumherum hatte die Stadt Rosen und lila Ziersalbei gepflanzt. Von hier oben fiel die Bronx leicht Richtung Harlem River ab, davor das Yankee Stadium, die Stadt lag einem hier zu Füßen, er liebte diesen Blick. Unterhalb des Parks standen normalerweise, wenn nicht gerade Pandemie war, die Lateinamerikanerinnen mit ihren kleinen Handwägelchen, aus denen sie Mangos oder Papayas verkauften, dahinter lagen die Bahngleise wie Kondensstreifen vor dem endlosen blauen New Yorker Himmel. Die meisten George-Floyd-Proteste waren friedlich, aber in Manhattan war es auch zu Plünderungen gekommen, Polizeiautos waren umgekippt worden, in Minneapolis hatten Banken gebrannt, und seitdem all das geschah, wurde zum ersten Mal ernsthaft über eine Polizeireform gesprochen. In mehreren Interviews hatte Walter daher gesagt, dass Gewalt manchmal eben nötig sei, um etwas zu erreichen. Er schloss die Augen, betete kurz und klopfte die Zigarre aus. Dann setzte er seine weiße Baseballkappe auf und guckte sich im Rückspiegel an. In großen schwarzen Lettern stand auf der Kappe »Soul not for Sale«. Er fand, dass das der Situation angemessen war.

Dann war er dem Sender zugeschaltet, den Donald Trump mehrere Stunden am Tag schaute. Er sprach also jetzt mehr oder weniger direkt zum Präsidenten. Auf die Frage der Moderatorin, was er denn glaubte, mit der Gewalt zu erreichen, antwortete Walter: »Interessant, dass Sie diese Frage stellen, denn Amerika ist auf Gewalt gebaut, oder was war die amerikanische Revolution?« Amerika habe für seine Freiheit immer gekämpft, warum erwarte man von den Schwarzen etwas anderes?

»Wollen Sie Amerika wirklich niederbrennen, wie Sie es in anderen Interviews gesagt haben?«, fragte die Moderatorin.

»Ich habe gesagt, wenn wir nicht kriegen, was wir haben wollen, dann brennen wir das ganze System nieder und ersetzen es, okay? Ob ich das wörtlich oder bildlich meine, das überlasse ich Ihnen.«

Am nächsten Tag tweetete Donald Trump an seine 88 Millionen Follower: »Black-Lives-Matter-Führer sagte: ›Wenn die USA uns nicht gibt, was wir wollen, dann brennen wir das System nieder und ersetzen es.‹ Das ist Hochverrat, Staatsgefährdung, Revolte!« Auf Social Media stieg daraufhin die Zahl von Walters Followern. Nach den ersten Todesdrohungen finanzierte ihm ein Unterstützer einen kugelsicheren Truck für 150 000 Dollar.

Als Walter mir das erzählte, saßen wir, wie so oft, wenn wir uns für dieses Buch unterhielten, in diesem kugelsicheren Truck am Grand Concourse. Der Motor lief, das Fenster war offen, Walter rauchte, wie so oft damals, eine Zigarre, aus dem Auto grüßte er Nachbarn: »Hey n---«, »What’s up, n---?« Hinter ihm lagen Klamotten, Black-Lives-Matter-Plakate, ein paar Waffenattrappen zu Trainingszwecken, zwischendurch bestellte er online einen süßen Caramel Latte bei Starbucks und diktierte eine Pressemitteilung in sein Handy. Die South Bronx war sein Zuhause.

Walters Mutter Doris war in den 1950er-Jahren als Kindergartenkind in die South Bronx gezogen. Damals lebten hier Iren, Polen und Italiener, vor allem aber deutsche und russische Juden. Der Grand Concourse galt lange als eine der prominentesten jüdischen Gegenden New Yorks. In den 1930er-Jahren hatte man den Grand Concourse die Park Avenue der Mittelschicht genannt. Die Häuser besaßen Ecktürmchen, Mosaikfassaden und ornamentverzierte Eingänge, das Concourse Plaza Hotel stand den glamourösen Hotels in Manhattan in nichts nach, die legendären New-York-Yankee-Spieler Babe Ruth, Roger Maris oder Mickey Mantle übernachteten hier, wenn sie Heimspiele hatten. In den 1940er-Jahren kamen die ersten Schwarzen aus dem segregierten Süden, in den 1950er-Jahren dann viele Puerto Ricaner,[5] und New York gab ihnen allen Jobs. Im Hafen, dem zweitgrößten der Welt nach Rotterdam, in den Schlachthäusern, auf den Baustellen der Hochhäuser, in den Druckereien, den Zucker- und Ölraffinerien, der Textilindustrie, den Stifte- und Kaugummifabriken, bei Regenschirmherstellern, Pharmaherstellern, in der koscheren Kellerei oder beim weltweit größten Produzenten von Plastikblumenketten. New York war die größte Arbeiterstadt der Welt.[6]

Walters Mutter kam aus einem Städtchen namens Allendale in South Carolina, mit seinen duftenden Pinienwäldern, dem spanischen Moos und der Rassentrennung. In Allendale hatte sie gelernt, Weißen so wenig Angriffsfläche wie möglich zu bieten. Wer sauber angezogen und höflich war, den ließen sie eher in Ruhe. Doris hatte daher später immer großen Wert darauf gelegt, dass Walter und seine jüngere Schwester Chivona gut gekleidet waren.

Walters Urgroßeltern waren Farmpächter gewesen, die einen Teil der Baumwollernte an den Besitzer abgeben mussten. Sein Großvater James Johnson, den alle JJ nannten, hatte es als Erster in Allendale aus dieser Abhängigkeit herausgeschafft. JJ konnte zwar nicht lesen und schreiben, aber er war gut mit Worten und Werkzeug und besaß eine kleine Autowerkstatt. In Allendale war er der erste Schwarze, der ein Bankkonto und ein Scheckbuch besaß. Es ging der Familie gut in einer Stadt, in der es den meisten Weißen schlechter ging. Das sahen die Weißen nicht gerne, und als der Großvater dem Sheriff die Geliebte ausspannte, hieß es im Ort, der Sheriff wolle JJ umbringen. Mitten in der Nacht verließ die Familie ihr Haus, schob den Wagen über die Hauptstraße von Allendale, damit der Motor keinen Krach machte und womöglich den Sheriff aufweckte, und fuhr durch North Carolina, Virginia, Washington, D.C., Philadelphia nach New York, zuerst nach Harlem und dann in die Bronx.

Der Sheriff starb später auf mysteriöse Weise, und in der Familie hielt sich die Geschichte, Walters Großvater habe dabei eine Rolle gespielt. Er neigte zur Gewalt, so wie auch schon sein Vater zur Gewalt geneigt hatte. Als JJ in der Bronx einmal die Werkzeuge aus seiner Werkstatt gestohlen wurden, ging er nach Hause, griff seine Schrotflinte, kehrte zur Werkstatt zurück, reihte alle Mitarbeiter an der Wand auf und verlangte seine Werkzeuge zurück. Als die Polizei erschien, ging sein Großvater mit den Polizisten um die Ecke und zahlte ihnen das nötige Bestechungsgeld, damit sie abhauten. Der Deal hatte eine gewisse Tradition, die New Yorker Polizisten waren legendär korrupt und verlangten regelmäßig Schutzgeld von JJ. Am nächsten Tag waren alle Werkzeuge wieder da, und obendrein noch einige, die ihm gar nicht gehörten. Die Androhung von Gewalt brachte Ergebnisse, das waren die Geschichten, mit denen Walter aufwuchs.

Walters Mutter liebte die Bronx. Die Wohnung war groß, es gab weniger Kriminalität als in Harlem, und die Grundschule war gleich um die Ecke. Im Klassenzimmer saß sie jetzt ganz vorne, nie wieder wollte sie in der letzten Reihe sitzen. Einmal kam sogar Bobby Kennedy in ihre Schule, und Doris erinnert sich, dass sie mit dem Chor für ihn sang. Sie liebte diesen neuen ungewohnten Respekt, den Amerika ihr hier im Norden zeigte. Nach der Schule ging Doris in den Chor und spielte Tischtennis, Berufsberater vermittelten Sommerjobs. Sie würde die Erste in ihrer Familie sein, die einen High-School-Abschluss machte.

Doch während Walters Mutter aufblühte, begann die Bronx abzurutschen. Sucht man nach einem Datum, an dem der Niedergang nicht mehr aufzuhalten war, bleibt man am 26. April 1956 hängen. Damals stach die »Ideal X« mit 58 Containern von New Jersey zur Jungfernfahrt in See. Der Reeder Malcolm McLean hatte einen Tanker aus dem Zweiten Weltkrieg gekauft und nach seinen Vorstellungen umrüsten lassen. Die Container wurden durch Metallrahmen gehalten, damit sie nicht über Bord gingen, sechs Tage später erreichte die Fracht Houston in Texas, sie wurde gelöscht, auf Lastwagen verladen und in Warenhäuser gefahren. Es war die Erfindung der Containerverschiffung und das Ende der lokalen Produktion. Dass außerhalb New Yorks längst billiger produziert wurde, hatte nur deshalb lange keine großen Auswirkungen auf die Stadt gehabt, weil es zu teuer gewesen wäre, Waren aus dem Mittleren Westen nach New York zu transportieren. Das änderte sich im April 1956. Die Containerschifffahrt ermöglichte den billigen weltweiten Handel, die Globalisierung hatte begonnen, und mit ihr der Niedergang der Arbeiterstadt New York.[7]

Die Fabriken schlossen, und die Industrie verlagerte sich. Ende der 1950er-Jahre verließen die beiden nationalen Baseball-Teams, die Dodgers und die Giants, die Stadt und zogen in das boomende Kalifornien, die Marine wickelte ihren Hafen in Brooklyn ab. Und genau zu diesem Zeitpunkt, als die Jobs immer weniger wurden, zog die Mehrzahl der Schwarzen aus dem Süden nach New York. Es wurde enger und ärmer, weniger Menschen fanden einen Job, und wie immer in solchen Situationen stieg die Kriminalität. Die Banken stuften die Bronx als »Risikogebiet« ein, die Immobilienkredite, die sie dort gewährten, hatten schlechtere Konditionen und waren erheblich teurer, und daher investierte kaum einer mehr in die Bronx. Die Häuser kamen herunter, das Plaza-Hotel ging bankrott und wurde in eine Unterkunft für Sozialhilfeempfänger umgewandelt. Wenn Doris sich jetzt in der Bronx umsah, dann sah sie immer weniger weiße Gesichter.

In der 11. Klasse ging Walters Mutter zu ihrem ersten Treffen der Black Panther in Harlem. Wie so viele junge Schwarze im Norden war sie vom Civil Rights Act enttäuscht. Das Gesetz hatte zwei Jahre zuvor, 1964, die Rassentrennung im Süden aufgehoben und dort zu großen Veränderungen geführt, aber was hatte es für den Norden gebracht? Die Zustände in der Bronx wurden immer schlimmer: Müll, Kriminalität, Arbeitslosigkeit, Polizeigewalt, es gab in New York nur ein einziges Krankenhaus, in dem Schwarze Ärzte und Schwarze Krankenschwestern arbeiteten, das Knickerbocker Hospital in Harlem. Es war zu Rassenunruhen in den Innenstädten im Norden gekommen, in denen ganze Stadtteile brannten und viele Menschen starben.