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Vielschichtig und verstörend – der Bestseller aus Australien!
»Vor 28 Jahren verschwand ein kleines Mädchen. Dieses Mädchen bist du ...«
Kim Leamy, Fotografin aus Melbourne, wird aus heiterem Himmel von einem Fremden angesprochen, der Unglaubliches erzählt: Er behauptet, ihr wirklicher Name sei Sammy Went und sie sei vor 28 Jahren in einer Kleinstadt in Kentucky entführt worden. Kim hält das für einen schlechten Scherz oder eine Verwechslung, hat sie doch hier in Australien eine geborgene Kindheit verbracht. Und doch bleiben Zweifel. Zweifel, die Kim schließlich in Sammys kleine Heimatstadt in den USA führen: in eine beklemmende Welt von religiösem Fanatismus und dunklen Geheimnissen. Die Wahrheit, die Kim dort findet, ist verstörend – und tödlich …
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Seitenzahl: 439
Buch
1990 verschwand in Manson, Kentucky, die zweijährige Sammy Went. Seitdem fehlt von ihr jede Spur. Bis in Melbourne ein Fremder Kim Leamy anspricht. Der Mann ist Sammys Bruder – und er hat endlich seine Schwester gefunden: Kim. Diese hält das für einen schlechten Scherz, eine Verwechslung, hat sie doch hier in Australien eine geborgene Kindheit verlebt. Und doch bleiben Zweifel. Zweifel, die Kim schließlich in die USA, in Sammys kleine Heimatstadt führen: in eine beklemmende Welt von religiösem Fanatismus und dunklen Geheimnissen. Die Wahrheit, die Kim dort findet, ist verstörend – und tödlich …
Autor
Der gebürtige Engländer Christian White ist ein international ausgezeichneter Drehbuchautor. Sein Romandebüt »Das andere Mädchen« wurde in seiner australischen Wahlheimat zum Überraschungsbestseller, die Film- und Übersetzungsrechte wurden über Nacht verkauft. Christian lebt mit seiner Frau in Melbourne.
Christian White
Das andere Mädchen
Aus dem australischen Englisch
von Conny Lösch
Die australische Originalausgabe erschien 2018 unter dem Titel
»The Nowhere Child« bei Affirm Press, Melbourne.
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Deutsche Erstveröffentlichung März 2020
Copyright © 2018 der Originalausgabe by Christian White
Copyright © der deutschsprachigen Ausgabe 2020
by Wilhelm Goldmann Verlag, München,
in der Verlagsgruppe Random House GmbH,
Neumarkter Str. 28, 81673 München
This edition arranged with Kaplan/DeFiore
Rights through Paul & Peter Fritz AG
Umschlaggestaltung: UNO Werbeagentur, München,
nach der Gestaltung von Studio Jan de Boer, Utrecht
Umschlagmotiv: © plain picture/Yann Grancher
Redaktion: Ann-Catherine Geuder
An · Herstellung: ik
Satz: KompetenzCenter, Mönchengladbach
ISBN: 978-3-641-22857-6V001
www.goldmann-verlag.de
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Für meine Eltern, Ivan und Keera White
Melbourne, Australien
– Jetzt –
»Darf ich mich zu Ihnen setzen?«, fragte der Fremde. Er musste so um die vierzig sein, sah auf zurückhaltende Weise gut aus und sprach mit amerikanischem Akzent. Dazu trug er einen nassen Regenparka und knallgelbe Sneaker. Die Schuhe waren brandneu – sie quietschten beim Gehen. Er setzte sich zu mir an den Tisch, ohne meine Antwort abzuwarten, und sagte: »Sie sind Kimberly Leamy, stimmt’s?«
Ich unterrichtete an drei Abenden in der Woche am Northampton CommunityTAFEFotografie und machte gerade zwischen zwei Stunden Pause. Normalerweise wimmelte es in der Cafeteria von Schülern, aber heute herrschte eine fast unheimliche, postapokalyptische Leere. Seit nun beinahe sechs Tagen regnete es ununterbrochen; dank der doppelt verglasten Fenster blieb der Lärm jedoch draußen.
»Kim genügt«, sagte ich leicht genervt. Von meiner Pause war nicht mehr viel übrig, und ich hatte das Alleinsein genossen. Anfang der Woche hatte ich eine alte zerlesene Ausgabe von Stephen Kings Friedhof der Kuscheltiere im Lehrerzimmer unter einem wackligen Tischbein gefunden und war seither eifrig dabei, sie zu verschlingen. Ich hatte schon immer gerne gelesen, und Horror gehörte zu meinen Lieblingsgenres. Meine jüngere Schwester Amy hatte häufig frustriert festgestellt, dass ich in derselben Zeit drei Bücher las, in der sie gerade mal eins schaffte. Der Trick des schnellen Lesens besteht darin, dass man ein langweiliges Leben führen muss, hatte ich ihr erklärt. Amy hatte einen Verlobten und eine dreijährige Tochter; ich hatte Stephen King.
»Mein Name ist James Finn«, sagte der Mann. Er legte eine Mappe zwischen uns auf den Tisch und schloss die Augen, wie ein olympischer Turmspringer, der sich mental auf seinen Sprung vorbereitet.
»Sind Sie Lehrer oder Schüler?«, fragte ich.
»Weder noch.«
Er schlug die Mappe auf, zog ein Foto im Format zwanzig mal dreißig heraus und schob es über den Tisch. Seine Bewegungen hatten etwas Mechanisches. Jede Geste war überlegt und souverän.
Die Aufnahme zeigte ein kleines Mädchen im grünen Gras, sie hatte tiefblaue Augen und einen dunklen Strubbelkopf. Sie lächelte – wenn auch ein bisschen geziert, als hätte sie keine Lust, fotografiert zu werden.
»Kommt Ihnen das Mädchen bekannt vor?«, fragte er.
»Nein, ich glaube nicht. Sollte sie?«
»Würden Sie noch mal genauer hinsehen?«
Er lehnte sich zurück, um meine Reaktion besser beobachten zu können. Ich tat ihm den Gefallen und betrachtete das Foto noch einmal. Die blauen Augen, das überbelichtete Gesicht, das Lächeln, das eigentlich keins war. Vielleicht kam sie mir jetzt tatsächlich bekannt vor. »Ich weiß nicht. Tut mir leid. Wer ist das?«
»Sie heißt Sammy Went. Das Foto wurde an ihrem zweiten Geburtstag aufgenommen. Drei Tage später ist sie verschwunden.«
»Verschwunden?«
»Entführt aus dem Haus ihrer Eltern in Manson, Kentucky. Direkt aus ihrem Zimmer im ersten Stock. Die Polizei konnte keinerlei Spuren finden, die auf einen Eindringling hingewiesen hätten. Es gab keine Zeugen, keinen Erpresserbrief. Sie hat sich einfach in Luft aufgelöst.«
»Ich denke, Sie wollen zu Edna«, sagte ich. »Sie unterrichtet Verbrechen und Justiz. Ich bin nur für Fotografie zuständig, aber Edna brennt für diese wahren Kriminalgeschichten.«
»Nein, ich bin wegen Ihnen hier.« Er räusperte sich und fuhr dann fort: »Manche waren überzeugt, dass sie in den Wald spaziert und dort von einem Kojoten oder einem Puma gerissen wurde, aber wie weit würde eine Zweijährige kommen? Das Wahrscheinlichste ist, dass Sammy gekidnappt wurde.«
»… okay. Dann sind Sie Ermittler?«
»Eigentlich bin ich Steuerberater.« Er atmete geräuschvoll aus, und ich roch Pfefferminz. »Aber ich bin in Manson aufgewachsen und kenne die Familie Went recht gut.«
Mein nächster Kurs sollte in fünf Minuten beginnen, also schaute ich demonstrativ auf die Uhr. »Tut mir sehr leid, das mit dem Mädchen, aber ich fürchte, ich muss gleich zum Unterricht. Natürlich würde ich gerne helfen. An eine Spende in welcher Höhe hatten Sie gedacht?«
»Spende?«
»Sammeln Sie kein Geld für die Familie? Geht es nicht darum?«
»Ich möchte kein Geld von Ihnen«, sagte er unterkühlt und starrte mich mit eigenartig verkniffener Miene an. »Ich bin hier, weil ich glaube … dass Sie mit der Angelegenheit zu tun haben.«
»Mit der Entführung einer Zweijährigen?« Ich lachte. »Erzählen Sie mir nicht, dass Sie aus den Staaten hergereist sind, um mich der Kindesentführung zu beschuldigen.«
»Sie verstehen mich falsch«, sagte er. »Das kleine Mädchen verschwand am 3. April 1990. Sie wird seit achtundzwanzig Jahren vermisst. Ich denke nicht, dass Sie Sammy Went gekidnappt haben. Ich denke, dass Sie Sammy Went sind.«
In meinem Fotografiekurs waren siebzehn Schüler – in Bezug auf Alter, Herkunft und Geschlecht bunt gemischt. Einerseits war da Lucy Cho, die so frisch von der Highschool kam, dass sie immer noch einen Kapuzenpulli mit der Aufschrift Mornington Secondary auf dem Rücken trug. Andererseits Murray Palfrey, ein vierundsiebzigjähriger Rentner, der immer, bevor er sich meldete, seine Finger knacken ließ.
Heute Abend war Mappenpräsentation: Die Schüler sollten der Klasse die Arbeiten zeigen, die sie während des Semesters aufgenommen hatten, um anschließend gemeinsam darüber zu sprechen. Die meisten waren eher unspektakulär. Größtenteils handwerklich solide, sodass ich wohl etwas richtig gemacht haben musste – die Themen aber waren meist die gleichen wie im letzten und vorletzten Semester. Ich sah dasselbe Graffiti an derselben baufälligen Mauer; dasselbe efeuumrankte Häuschen in Carlton Gardens; denselben Unheil verheißenden Gully, durch den schmutzig braunes Wasser in den Egan River floss.
Den größten Teil der Stunde schaltete ich auf Autopilot.
Meine Begegnung mit dem amerikanischen Steuerberater hatte mich verunsichert. Allerdings nicht, weil ich ihm glaubte. Meine Mutter Carol Leamy mochte vieles gewesen sein – sie war vor vier Jahren gestorben –, aber ganz gewiss keine Kidnapperin. Wer je auch nur eine Minute mit meiner Mutter verbracht hatte, wusste, dass sie keine Lüge aufrechterhalten konnte, geschweige denn eine internationale Kindesentführung hätte durchziehen können.
James Finn täuschte sich in Bezug auf mich, und vermutlich würde er das kleine Mädchen niemals finden, aber trotzdem hatte er mir eine unbequeme Wahrheit ins Bewusstsein gerufen: Kontrolle ist eine Illusion. Sammy Wents Eltern hatten diese Lektion auf die harte Tour, durch den Verlust eines Kindes, lernen müssen. Und ich hatte dieselbe Erfahrung durch den Tod meiner Mutter gemacht. Sie war relativ plötzlich gestorben: Als sie die Diagnose Krebs erhielt, war ich vierundzwanzig, und sechsundzwanzig, als sie daran starb.
Meiner Erfahrung nach sagten Menschen, die so etwas durchgemacht hatten, entweder »Alles hat seinen Grund« oder »Chaos regiert«. Natürlich gibt es weitere Varianten dieser Grundeinstellungen: »Gottes Wege sind unergründlich« oder »Das Leben ist kein Zuckerschlecken«. Für mich war es Letzteres. Meine Mutter hatte weder geraucht noch ihr Leben lang in einer Textilfabrik gearbeitet, sie hatte sich gut ernährt und Sport getrieben, und doch hatte all das zum Schluss überhaupt keinen Unterschied gemacht.
Verstehen Sie? Kontrolle gibt es nicht.
Als ich merkte, dass ich während der Präsentation träumte, kippte ich schnell meinen inzwischen kalten Kaffee herunter und versuchte erneut, mich zu konzentrieren.
Simon Daumier-Smith war jetzt an der Reihe, seine Arbeiten zu zeigen. Simon war ein schüchterner Junge Anfang zwanzig, der beim Sprechen meist zu Boden starrte. Wenn er dann doch einmal aufblickte, huschte sein träges Auge hinter seiner Lesebrille hin und her wie ein Fisch.
Es dauerte einige Minuten, bis er ungeschickt eine Serie von Fotografien auf Staffeleien vor der Klasse platziert hatte. Da die anderen Schüler bereits unruhig wurden, bat ich Simon, uns während seiner Vorbereitungen doch ein bisschen was zu erzählen.
»Äh, ja, na klar, okay«, sagte er und hatte Mühe, dabei die Abzüge zu befestigen. Einer fiel ihm aus der Hand und glitt über den Boden, Simon jagte ihm hinterher.
»Okay, also ich weiß ja, dass wir eigentlich, äh, Gegensätze suchen sollten und äh, na ja, ich bin nicht so sicher, ob ich wirklich, na ja, begriffen habe, was damit gemeint war oder so.« Er stellte das letzte Foto auf die Staffelei und trat einen Schritt beiseite, damit die Klasse die Serie betrachten konnte. »Vermutlich könnte man behaupten, die Serie zeigt den Gegensatz zwischen hässlich und schön.«
Zu meiner absoluten Überraschung waren die Fotos von Simon Daumier-Smith … atemberaubend.
Insgesamt handelte es sich um sechs Fotos, alle in derselben Einstellung aufgenommen. Er musste die Kamera auf einem Stativ befestigt und alle paar Stunden ein Foto gemacht haben. Die Komposition war karg und schlicht: ein Bett, eine Frau und ihr Kind. Die Frau war in Simons Alter, hübsch, aber mit Aknenarben im Gesicht. Das Kind war ungefähr drei, hatte unnatürlich gerötete Wangen und eine kränklich gerunzelte Stirn.
»Ich hab sie alle in einer Nacht aufgenommen«, erklärte Simon. »Die Frau ist meine Verlobte Joanie, und das ist unsere kleine Tochter Simone. Wir haben sie übrigens nicht nach mir so genannt. Viele denken, wir hätten sie nach mir benannt, aber Joanie hatte eine Oma, die Simone hieß.«
»Erzähl uns mehr über die Fotos, Simon«, sagte ich.
»Okay, äh, also Simone hatte Keuchhusten und war fast die ganze Nacht wach. Sie war unruhig, deshalb hat Joanie bei ihr im Bett geschlafen.«
Auf dem ersten Foto war die Mutter zu sehen, wie sie sich von hinten an das Kind schmiegte. Auf dem zweiten Bild war das kleine Mädchen wach und weinte, stieß sich von der Mutter ab. Auf dem dritten sah es aus, als wollte Simons Verlobte nicht mehr fotografiert werden. Und so weiter bis zum sechsten Foto, auf dem Mutter und Kind schliefen.
»Wo ist da was hässlich?«, fragte ich.
»Na ja, äh, hier sabbert Simone, äh, das Kind. Aber das kann man auf dem Foto natürlich nicht sehen, und da hat meine Verlobte geschnarcht wie verrückt.«
»Ich sehe nichts Hässliches«, sagte ich. »Ich sehe … Alltägliches. Aber auch etwas sehr Schönes.«
Simon Daumier-Smith würde niemals Profifotograf werden. Da war ich fast sicher. Aber mit seiner schlicht Das kranke Kind betitelten Serie hatte er etwas sehr Wahrhaftiges geschaffen.
»Alles in Ordnung, Miss Leamy?«, fragte er.
»Sagen Sie ruhig Kim«, erinnerte ich ihn. »Mir geht’s gut. Warum fragen Sie?«
»Na ja, äh, weil Sie weinen.«
Es war nach zehn, als ich durch die düstere Landschaft von Coburg nach Hause fuhr. Der Regen prasselte unermüdlich auf das Dach meines Subaru. Zehn Minuten später war ich zu Hause angekommen, hatte geparkt und war durch den Regen zur Haustür meines Apartmentblocks gerannt, hatte mir dabei statt eines Schirms meine Tasche über den Kopf gehalten.
Auf dem Treppenabsatz im dritten Stock roch es nach Knoblauch und Gewürzen – der eigenartig beruhigende Duft der Nachbarn, denen ich so gut wie nie begegnete. Als ich zu meiner Tür ging, streckte Georgia Evvie von gegenüber den Kopf zur Tür heraus.
»Kimberly, hab mir schon gedacht, dass du das bist.« Sie war eine rundliche Frau Anfang sechzig mit blutunterlaufenen, verschlafenen Augen – »Heavy Evvie«, hatte ich einen Nachbarn sie einmal hinter ihrem Rücken nennen hören. »Hab den Fahrstuhl gehört, auf die Uhr geschaut und gedacht, wer sonst würde erst kurz vor Mitternacht nach Hause kommen?«
Es war halb elf.
»Tut mir leid, Mrs Evvie. Hab ich Sie geweckt?«
»Nein, nein. Ich bin eine Nachteule. Bill geht natürlich schon um neun ins Bett, er hätte also was merken können, aber er hat sich nicht beklagt.« Sie machte eine wegwerfende Handbewegung. »Und wenn, hätte ich ihn dran erinnert, dass du jung bist. Junge Menschen kommen heutzutage spät nach Hause, sogar unter der Woche.«
»Mh-hm.«
Niemand hatte Georgias Mann je gesehen, und es gab keinerlei Anzeichen dafür, dass er überhaupt existierte. Natürlich konnte er auch unter Georgias Müll begraben liegen. Soweit ich in ihr Apartment sehen konnte, wenn sie zur Tür kam, war der Flur von Wohnung Nummer 3E von schwankenden Stapeln aus allerhand Trödel gesäumt: Bücher, Rechnungen, Aktenordner und überquellende Kisten. Das einzige Fenster, das ich vom Gang aus erkennen konnte, war mit Zeitungspapier zugeklebt, und obwohl ich nie eine gesehen hatte, bin ich sicher, dass irgendwo in dem ganzen Chaos zwei Hauben aus Alufolie herumlagen.
»Na ja, da du noch auf bist …«, fing sie an. Georgia machte Anstalten, sich zu einem Schlummertrunk bei mir einzuladen. Ich wollte nichts anderes als die Heizung aufdrehen, mich mit Stephen King aufs Sofa legen und den beruhigenden Geräuschen meiner Wohnung lauschen – dem Brummen des Kühlschranks, dem Flüstern der Heizung, dem Summen meines Laptopladegeräts. »Wie wär’s mit einem Schlummertrunk?«
Seufzend sagte ich: »Na klar.« Seit dem Tod meiner Mutter konnte ich einer einsamen Frau keinen Wunsch mehr abschlagen.
Mein Einzimmerapartment war spärlich eingerichtet, was es deutlich größer wirken ließ, als es war. Selbst Heavy Evvie sah klein aus, so wie sie da am verregneten Fenster meines Wohnzimmers in dem grünen Sessel saß, sich Fusseln von der Jogginghose zupfte und auf meinen Dielenboden schnippte.
Ich holte eine Flasche Wein aus der Küche und schenkte uns beiden je ein Glas ein. Dass ich nicht alleine trinken musste, war das einzig Gute an Georgias Besuch.
»Was meinst du, was sich da drüben zusammenbraut, Kim?«, fragte sie.
»Wo?«
»Na, wo wohl? Bei denen in 3C. Ich hör sie den ganzen Tag irakisch oder so was reden.«
»Ach so, 3C. Riecht nach Curry.« Mein Magen knurrte. Ich hatte bereits in der Küche nach Essbarem gesucht, aber außer fertigen Soßen nichts gefunden. Der Wein musste genügen.
»Ich meine nicht, was die essen.« Sie senkte die Stimme auf ein Flüstern. »Ich meine, was die vorhaben.«
Georgia war aus zwei Gründen überzeugt davon, dass es sich bei den Bewohnern von 3C um Terroristen handelte: Sie stammten aus dem Nahen Osten, und auf ihrem Briefkasten stand der Name Mohamed. Ich hatte ihr bereits mehrfach erklärt, dass nicht alle Menschen mit hellbrauner Hautfarbe Terroristen waren und ich mir nicht vorstellen konnte, dass das australische Coburg auf der Liste terroristischer Anschlagsziele weit oben stand. Aber Georgia hatte jedes Mal ernst den Kopf geschüttelt und gesagt: »Wirst schon sehen.«
»Also, warum kommst du erst so spät nach Hause, Kim? Warst wohl tanzen.«
»Ich arbeite abends, Mrs Evvie. Das wissen Sie doch.«
Sie trank ihren Wein und rümpfte die Nase wegen des Geschmacks. »Ich weiß nicht, was ihr jungen Leute macht. Rund um die Uhr seid ihr unterwegs und treibt Gott weiß was.«
Schnell trank ich meinen Wein aus und schenkte mir einen weiteren ein. Den nächsten wollte ich langsamer und mit mehr Bedacht trinken, ermahnte ich mich. Ich wollte nur eine angenehme Bettschwere erlangen, um leichter einzuschlafen.
»Mir ist heute was ganz Eigenartiges passiert, Mrs Evvie«, sagte ich. »Auf der Arbeit hat mich ein Mann angesprochen.«
»Na endlich«, sagte sie und schenkte sich ebenfalls Wein nach. »Wird aber auch Zeit, Kim. Einer Frau bleibt nicht lange, um sich einen Mann zu schnappen. Nur die Jahre zwischen fünfzehn und fünfundzwanzig. Mehr nicht. Ich war siebzehn, als ich Bill kennengelernt hab, mit achtzehn haben wir schon geheiratet.«
Georgia fand eine Fernbedienung zwischen den grünen Polstern des Sessels und schaltete den Fernseher ein. Von Folienhauben und rassistischen Ansichten mal abgesehen – eigentlich wünschte sie sich nur ein bisschen Gesellschaft.
Ich kuschelte mich aufs Sofa und klappte meinen Laptop auf, während sie bei voller Lautstärke durch sämtliche Sender zappte.
Ich hatte eigentlich gemütlich ein bisschen im Netz surfen wollen, vielleicht ein paar Freundinnen aus der Highschool aufspüren oder meinen E-Mail-Posteingang aufräumen, aber meine Neugierde war doch zu groß. Als ich Sammy Went + Manson, Kentucky eingab, kam es mir vor, als würden meine Finger unabhängig agieren, was mich an die mechanische Art erinnerte, mit der James Finn an seiner Mappe herumgefingert hatte.
Der erste Link führte mich zu einem archivierten Zeitungsartikel vom 7. April 1990. Er war elektronisch eingescannt worden, mitsamt allen Knicken und Tintenklecksen. An manchen Stellen waren die Worte unleserlich, weshalb ich mir wie eine altmodische Wissenschaftlerin vorkam, die über Mikrofilmen brütet.
Polizei sucht vermisstes Mädchen
Die Suche nach einem in der Umgebung von Manson vermissten Mädchen wurde am Freitag mit Freiwilligen und Vertretern der Polizei fortgesetzt.
Sammy Went verschwand am Dienstagnachmittag aus dem Haus ihrer Eltern in Manson und konnte trotz gründlicher Suche in Stadt und Umgebung nicht gefunden werden.
»Wir sind zuversichtlich, dass wir Sammy finden und sicher nach Hause bringen werden«, sagte Sheriff Chester Ellis. »Derzeit handeln wir im Rahmen eines Such- und möglicherweise Rettungseinsatzes.«
Die Polizei geht vorläufig nicht von einer Straftat aus. Hunderte von Anwohnern durchsuchten am Freitag die weitläufige bewaldete Umgebung des Wohnhauses der Wents.
Die freiwillige Helferin Karen Peady brachte ihre Befürchtungen zum Ausdruck: »Die Nächte sind kalt, und in der Gegend hier gibt es viele wilde Tiere; die größte Angst aber macht mir der Gedanke, dass das Mädchen entführt worden sein könnte. Man denkt, hier in Manson hätten uns die Schattenseiten des modernen Amerika noch nicht erreicht, aber es gibt so viele gestörte Menschen auf der Welt, sogar in einer Kleinstadt wie unserer.«
Sammy wurde zuletzt in einem langärmeligen gelben T-Shirt und kurzer blauer Schlafanzughose gesehen. Die Polizei bittet um sachdienliche Hinweise.
Neben dem Artikel war dasselbe Foto abgedruckt, das James Finn mir gezeigt hatte, nur in Schwarz-Weiß. Sammys tiefblaue Augen wirkten pechschwarz, und ihr überbelichtetes Gesicht war kreideweiß, beinahe konturenlos.
Weitere Internetrecherchen brachten ein Foto von Jack und Molly Went zum Vorschein, Sammys Eltern. Es war an einem der Tage direkt nach Sammys Verschwinden entstanden und zeigte sie auf den Stufen vor der Polizeiwache in Manson.
Sie sahen müde und verzweifelt aus, die Gesichter angespannt, Angst im Blick. Molly Went wirkte besonders mitgenommen, als hätte ihr Geist ihren Körper verlassen. Ihr Mund war so sorgenvoll verzogen, dass sie fast geisteskrank schien.
Ich fuhr auf dem Bildschirm über ihre Gesichtszüge und verglich sie mit meinen eigenen. Wir hatten dieselbe lange, kantige Nase und Schlupflider. Sie schien sehr viel kleiner als ich, dafür war Jack Went aber dem Aussehen nach über einen Meter achtzig. Je genauer ich die beiden betrachtete, desto besser konnte ich mich selbst in ihnen erkennen: in Jacks kleinen, blassen Ohren, Mollys Körperhaltung, Jacks breiten Schultern und Mollys spitzem Kinn. Ein bisschen DNA vom einen, ein bisschen von der anderen.
Natürlich bedeutete das gar nichts. Wenn ich Horoskope lese, geht es mir genauso – sie sind darauf angelegt, den Leser glauben zu machen, was er glauben möchte.
Erkenne ich mich selbst in Jack und Molly Went?, fragte ich mich. Die Frage kam überraschend für mich, und schon bald schwirrte mir der Kopf, weil sie unzählige andere unmittelbar nach sich zog. Waren Sammys Augen nicht genauso tiefblau wie meine? Aber hätten sich ihre speckigen Beinchen in meine langen dünnen Stelzen verwandeln können? Und würde Sammy noch leben, wäre sie dann so alt wie ich?
Warteten Jack und Molly Went immer noch auf Antworten? Erfüllte sie jeder Anruf, jedes Klopfen an der Tür mit Hoffnung oder Angst oder einer bitteren Mischung aus beidem? Entdeckten sie Sammys Züge im Gesicht jeder Frau, die ihnen auf der Straße begegnete, oder hatten sie eine Möglichkeit gefunden weiterzumachen?
Die größte Frage aber schnitt mir ins Bewusstsein wie eine Glasscherbe: Konnte Carol Leamy, eine Frau, die ursprünglich aus der Sozialarbeit kam und den größten Teil ihres Arbeitslebens für eine Firma tätig gewesen war, die Bilderhaken herstellte und vertrieb, wirklich in der Lage gewesen sein …
Ich verbot mir, weiter darüber nachzudenken. Die Auswirkungen wären viel zu weitreichend gewesen, und ehrlich gesagt war die Sache auch viel zu absurd.
Lautes Schnarchen riss mich aus meinen Gedanken. Georgia war auf dem grünen Sessel eingeschlafen, ihr Weinglas schwankte gefährlich schräg zwischen Daumen und Zeigefinger. Ich nahm es ihr ab, schaltete den Fernseher aus und legte ihr eine flauschige rote Decke über die Beine. Sofern ich mich hier an bereits existierenden Erfahrungswerten orientieren durfte, würde sie einige Stunden lang schlafen. Um zirka drei Uhr morgens würde sie aufwachen, aufs Klo gehen und wieder in ihre Wohnung gegenüber verschwinden.
Ich ließ Georgia also sitzen, wo sie war, schlich mich in mein Schlafzimmer und ging ins Bett. Kaum eingeschlafen träumte ich von einem großen Mann, der ganz und gar aus Schatten bestand. Dieser Schattenmann tauchte vor meinem Schlafzimmerfenster auf, griff mit unglaublich langen Armen herein und trug mich über einen langen, schmalen und von hohen Bäumen gesäumten Pfad davon.
Manson, Kentucky
– Damals –
Am Dienstag, den 3. April 1990, entleerte Jack Went im Badezimmer im ersten Stock seine Blase. Seine Frau stand nur wenige Meter entfernt unter der Dusche. Irgendwie schien es ihm fast sinnbildlich, sie durch die Milchglasscheibe zu betrachten, die unscharfen Umrisse der Frau, die er einmal gekannt hatte. Jedenfalls kam es ihm so vor.
Molly drehte das Wasser ab, blieb aber in der Kabine. »Bist du fertig, Jack?«
»So gut wie.« Er wusch sich die Hände. »Du musst dich nicht da drin verstecken. Da ist nichts, was ich nicht schon mal gesehen hätte.«
»Ist gut. Ich warte trotzdem.« Sie blieb mit hängenden Schultern hinter der Trennwand stehen. Ihre Haltung erinnerte Jack an Bilder, die er in seinen Büchern über den Zweiten Weltkrieg gesehen hatte – von einer Holocaustüberlebenden mit gebrochenem Geist oder einem einfachen Bauernmädchen auf einem Feld voller Leichen.
Ihre Klamotten für den Tag hingen an der Badezimmertür: ein pastellrosa Pulli mit langen Ärmeln und ein Jeansrock, der ihr bis knapp über die Knöchel reichte. Pfingstkirchlerschick.
Früher einmal, noch vor Sammys Geburt, war Molly heißblütig und bodenständig gewesen, aber in letzter Zeit wirkte sie wie verwässert. Sie geisterte mehr durch ihr Heim, als dass sie darin lebte. In dieser Hinsicht war sie eine bemerkenswerte Frau. Obwohl der familiengeführte Drugstore so gut lief, dass sie nicht arbeiten musste, sie drei wunderbare Kinder und ihren Glauben hatte, fand sie doch immer noch Anlässe, traurig zu sein.
Molly schob die Duschtrennwand ein Stück zurück und spähte heraus. Auf den Schultern hatte sie Gänsehaut. »Komm schon, Schatz. Mir ist eiskalt.«
»Ich geh ja schon, ich gehe«, sagte er, trat hinaus in den Flur und schloss die Tür hinter sich.
Zwei seiner Kinder fand er unten vor dem Fernseher, völlig versunken in eine Folge Teenage Mutant Ninja Turtles.
Keins von beiden sagte Guten Morgen. Stu, der pummelige Neunjährige, erholte sich gerade von einer Erkältung. Er hockte unter einer Wolldecke, vor sich eine Packung Kleenex, und starrte mit weit aufgerissenen Augen und offenem Mund auf den Bildschirm.
»Geht’s dir besser, Großer?«, fragte Jack und legte Stu eine Hand auf die Stirn. Stu antwortete nicht. Die Turtles hatten ihn vollständig in ihren Bann gezogen.
Sammy, ein zweijähriger Wonneproppen, schaute ebenfalls fern, interessierte sich aber mindestens genau so sehr für ihren großen Bruder. Ihr Blick sprang zwischen der Zeichentrickserie und Stus Gesicht hin und her. Als Michelangelo einen Witz riss und Stu lachte, machte sie ihn nach, kopierte nicht nur die Lautstärke seines Gelächters, sondern auch dessen Rhythmus. Als Shredder einen finsteren Plan in die Tat umsetzte und Stu nach Luft schnappte, schnappte auch Sammy nach Luft.
Da Jack die friedliche Szene nicht stören wollte, zog er sich leise aus dem Zimmer zurück.
Emma, seine älteste Tochter, saß am Küchentresen und aß Cornflakes. Sie hatte einen Arm schützend um ihre Schüssel gelegt, so wie er sich vorstellte, dass die Insassen von Gefängnissen aßen.
Ob sie ihr Zuhause als solches empfand?, fragte er sich. Als Strafe, die sie absitzen musste? Für Jack fühlte es sich jedenfalls manchmal so an.
»Guten Morgen, mein Schatz«, sagte er und kochte Kaffee. »Coach Harris war gestern im Drugstore. Er hat gesagt, du hattest schon wieder Menstruationsbeschwerden und konntest beim Sport nicht mitmachen. Soll ich dir Naproxen mitbringen?«
Emma brummte. »Ich weiß nicht, wieso zwei erwachsene Männer glauben, sich über meine Periode Gedanken machen zu müssen.«
»Hat das nicht was von einem Klischee, sich wegen angeblicher Menstruationsbeschwerden vor dem Sportunterricht zu drücken?«
»Das ist kein Klischee, Dad – das ist ein Klassiker. Außerdem ist Coach Harris pervers. Er lässt uns immer die Seile in der Turnhalle hochklettern, um uns zu ›beurteilen‹. Da fällt mir ein, du musst das hier noch unterschreiben.«
Sie kramte tief in ihrer Schultasche und gab Jack ein vorgedrucktes Formular.
»Erlaubnis für die Teilnahme am Unterricht in Naturwissenschaft und Evolution?«, las er. »Braucht ihr heutzutage eine Erlaubnis von euren Eltern, um am Unterricht teilzunehmen?«
»Wenn die Hälfte der Kinder fucking Fundis sind, schon.«
Er senkte die Stimme. »Hat deine Mutter das gesehen?«
»Nein.«
Er nahm einen Stift aus der Brusttasche und unterschrieb schnell die Erlaubnis. »Dann soll das auch so bleiben. Und lass dich von ihr nicht mit dem F-Wort erwischen.«
»Fucking?«
»Fundi.«
Emma faltete den Zettel wieder zusammen und verstaute ihn in ihrer Schultasche.
Obwohl Jack und Molly theoretisch beide der Church of the Light Within angehörten – Molly als Konvertitin und Jack durch sein Elternhaus –, nahm Molly den Glauben sehr viel ernster als er. Sie ging dreimal die Woche zum Gottesdienst. Was durchaus typisch für Menschen war, die erst spät in ihrem Leben zum Glauben gefunden hatten: Meist suchten sie etwas, um eine Leerstelle zu füllen.
Jack hatte sich bereits als Teenager von der Kirche entfernt und war seit Emmas Geburt den Gottesdiensten ferngeblieben. Was er mit Sicherheitsbedenken gerechtfertigt hatte: Wie in vielen Pfingstkirchler-Gottesdiensten wurden auch bei der Church of the Light Within Giftschlangen eingesetzt und verschiedene Arten von Giften verabreicht – was für Kinder keine besonders sichere Umgebung war. Daher war er mit dem Baby zu Hause geblieben und hatte Molly gehen lassen. Damit Molly ihn nicht verließ und seine Eltern ihn nicht enterbten – auch wenn ihm beide Aussichten bisweilen gar nicht so abschreckend erschienen –, bezeichnete er sich immer noch als Mitglied der Kirche; in Wahrheit aber hatte er seinen Glauben bereits seit geraumer Zeit verloren.
Molly kam nach unten, zog ihren pastellrosa Pulli über. »Morgen, Em.«
Emma brummte eine Entgegnung.
»Coach Harris hat deinem Vater gesagt, du hättest dich wegen angeblicher Menstruationsbeschwerden vor dem Sportunterricht gedrückt. Stimmt das?«
»Dad hat mir schon einen Vortrag gehalten, du kannst dich abregen.«
»Dann hoffe ich, er hat dir auch gesagt, dass Lügen Sünde ist und Lernen derzeit das Wichtigste in deinem Leben.«
»Oh Gott, und schon geht’s wieder los.«
»Em!« Molly schlug mit der Faust auf den Küchentresen. »Man erkennt den Baum an seinen Früchten. Der Mund spricht aus, was das Herz bewegt. Wenn du den Namen des Herrn missbrauchst, wird …«
»Wird Gott mich strafen«, beendete Emma gelangweilt den Satz. »Worte sind Zeugnis unserer Hingabe an Gott und enthalten die Wahrheit über uns. Hab’s kapiert. Danke.« Sie stellte ihre Cornflakesschüssel in die Spüle. »Ich muss los. Ich treff mich mit Shelley.«
Sie nahm ihren Schulrucksack, latschte mit ihren schmutzigen Chuck Taylors durch die Küche und verschwand zur Tür hinaus.
»Ein bisschen mehr Unterstützung wäre schön«, sagte Molly zu Jack.
»Ich finde, du hast dich tapfer geschlagen.« Er legte ihr einen Arm um die Schultern und versuchte zu ignorieren, dass sie sich unter seiner Berührung versteifte.
»Ich mache mir Sorgen um sie, Jack.«
»Noch ist ihre Seele nicht verloren«, sagte er. »Nur ein kleines bisschen. Denk dran, wie du in ihrem Alter warst. Außerdem werde ich nicht lange ihr Favorit bleiben. Ich hab gelesen, wenn Mädchen in die Pubertät kommen, wird irgendwas in ihrem Gehirn ausgelöst, und sie werden so umprogrammiert, dass sie den Geruch ihrer Väter hassen. Angeblich hat das was mit Evolution zu tun. Um Inzest vorzubeugen.«
Molly verzog das Gesicht. »Ein Grund mehr, nicht an die Evolution zu glauben.«
Sammy zupfte Jack am Hosenbein. Sie war in die Küche gewackelt, ihren Stoffgorilla im Schlepptau. »Dada«, sagte sie. »Inzest?«
Molly lachte. Es war schön, sie lachen zu hören. »Viel Glück damit. Ich seh mal nach Stu.«
Als Molly hinausgegangen war, hob Jack das kleine Mädchen in seine Arme und zog sie ganz dicht an sein Gesicht heran. Seine Schnurrbarthaare und sein heißer Atem brachten sie zum Kichern, und sie versuchte, sich aus seiner Umarmung zu winden. Sie roch nach frischem Talkumpuder.
»Inzest?«, sagte Sammy erneut.
»Insekt«, sagte Jack. »Weißt du, so was wie Ameisen und Käfer.«
Went Drugs, das Familienunternehmen, befand sich an der Ecke Main Street und Barkly, mitten im Einkaufsviertel von Manson. Der Laden stellte darüber hinaus eine Abkürzung zwischen einem großen Parkplatz und der Main Street dar, was sehr viel Durchgangsbetrieb zur Folge hatte. Und weil immer irgendwer krank war, lief das Geschäft auch immer gut.
Als Jack eintraf, packte Deborah Shoshlefski am Haupttresen gerade die von einer Kundin bestellten Artikel in eine Tüte. Deborah war die jüngste und zuverlässigste unter Jacks Mitarbeitern im Laden, ein hausbackenes Mädchen mit weit auseinanderstehenden Augen, die sie ständig erstaunt wirken ließen.
»Morgen, Chef. Sie müssen noch jede Menge Rezepte abzeichnen und Bestellungen raussuchen. Sind auf Ihrer Quittungsnadel im Büro.«
»Danke, Debbie.«
Sie verdrehte die Augen, lachte und sagte zu ihrer Kundin: »Er weiß, dass ich es hasse, Debbie genannt zu werden, deshalb tut er’s, so oft er kann.«
Jack lächelte die Frau höflich an und schob sich hinter den Tresen. Er hatte kaum seinen weißen Kittel zugeknöpft, als ihn bereits eine abgemagerte Hand am Unterarm packte.
»Ich hab entsetzliche Gliederschmerzen, Jack«, keuchte eine alte Stimme. Graham Kasey lebte schon seit Ewigkeiten in Manson und hatte bereits steinalt ausgesehen, als Jack noch ein kleiner Junge war. Er sprach durch schlecht sitzende dritte Zähne und stieß dabei dasselbe Alte-Leute-Todesröcheln aus wie auch Jacks Großvater in seinen letzten Jahren. »Kommt mir vor, als wollten mich meine Knochen für was bestrafen, woran ich mich nicht erinnern kann. Mir hilft nichts von dem, was du hier im Regal hast, Jack. Gib mir was Stärkeres als diesen Weicheierscheiß.« Er fuchtelte mit einer leeren Packung »Schmerz Frei«, einer extrastarken Wärmesalbe zur äußerlichen Schmerzbehandlung.
»Warst du beim Arzt, Graham?«
»Erwartest du von mir, dass ich bis Coleman fahre, nur damit Dr. Arter mich mit einem Zettel wieder hierher zurückschickt? Komm schon, Jack. Ich weiß, dass du hast, was ich brauche.«
»Ich bin kein Dealer. Und wer sagt, dass du bis Coleman fahren sollst? Wir haben Dr. Redmond hier in Manson.«
»Redmond und ich liegen nicht auf derselben Wellenlänge.«
Jack zwinkerte Deborah kaum merklich zu, woraufhin sie belustigt gluckste. Graham Kasey gehörte zu den Menschen, die lieber in einem benzinfressenden alten Statesman zwanzig Meilen bis Coleman fuhren, als sich von Dr. Redmond ein Rezept ausstellen zu lassen – Dr. Redmond war nicht nur schwarz, sondern auch noch eine Frau.
»Tut mir leid, Graham. Ich darf keine Rezepte ausstellen. Ich kann dir nur das Verschriebene geben.«
Während des gesamten Gesprächs hatte Graham Jacks Arm nicht losgelassen. Seine Finger waren kalt und knochig und erinnerten Jack an tote weiße Raupen. »Weißt du nicht, dass man Ältere respektieren muss?«
»Ich würde mich strafbar machen.«
»Ach, hör mir doch auf. Ich weiß, wie’s läuft, Jack. Du kannst alles abschreiben, was du hinter deinem Tresen hast. Geht doch immer mal was verloren. Entweder das, oder die Ratten haben es gefressen, oder es ist abgelaufen.«
»Und woher weißt du das so genau?«
»Na ja, sagen wir mal, als Sandy hier noch das Sagen hatte, gab’s keine so strengen Vorschriften.«
Bei der Erwähnung des Namens seiner Mutter spürte Jack, wie ihm Hitze in den Nacken stieg. Went Drugs war zwei Jahre vor Jacks Geburt eröffnet worden, woran ihn das Schild über der Tür – WENT DRUGS EST: 1949 – täglich erinnerte. Er hatte sich anständig und ehrlich nur vier Jahre nach seinem Collegeabschluss eingekauft und trotzdem nie das Gefühl gehabt, dass ihm das Unternehmen wirklich gehörte.
Seine Mutter – ebenfalls Apothekerin und theoretisch längst im Ruhestand – kam jede zweite Woche unter einem Vorwand vorbei, angeblich um Aspirin oder eine Großpackung Toilettenpapier zu besorgen, lief durch die Gänge und sagte zum Beispiel: »Ach, wieso hast du die Antihistamine denn hierhin gestellt?« Einmal war sie wie eine gestrenge britische Haushälterin mit dem Zeigefinger über ein Regal gefahren, um zu kontrollieren, ob es staubig war.
Vielleicht hatte Graham das Feuer in Jacks Augen gesehen, denn jetzt gab er nach und ließ Jacks Arm endlich los. Dort, wo er ihn mit den Fingern berührt hatte, blieben kleine helle Flecken auf der Haut zurück. »Ah, zum Teufel. Dann nehm ich eben doch noch eine Packung von dem Weicheierscheiß.«
Jack ließ ein Grinsen aufblitzen und schlug Graham mit der Hand auf die Schulter. Er hätte schwören können, dass Staub aus der Jacke des Alten aufwirbelte.
»Du hast gehört, was er gesagt hat, Debbie«, meinte Jack. »Eine Packung Weicheierscheiß für Mr Kasey. Pack ihn ein.«
»Sofort, Chef.«
Jack ging an seinen Platz, um Rezepte abzuzeichnen, konnte sich aber nicht richtig entspannen. Graham Kasey hatte Salz in alte Wunden gestreut, und jetzt ärgerte er sich.
Ein erwachsener Mann mit Mutterkomplex, dachte er. Von wegen Klischee. Das ist kein Klischee, hörte er seine Tochter sagen. Das ist ein Klassiker.
Jack versuchte sich auf die Arbeit zu konzentrieren, doch als er das erste Rezept von der Nadel zog, hätte er es beinahe in zwei Hälften zerrissen. Zum Glück waren die wichtigsten Zeilen noch lesbar: Andrea Albee, Fluoxetin, Dauermedikation.
Er nahm einen kleinen Plastikbecher, ging zwischen den hochaufragenden Medikamentenregalen nach hinten und kehrte anschließend mit Andrea Albees Prozac an seinen Schreibtisch zurück, fuhr den klobigen Computer hoch. Das Gerät brummte, hatte Mühe anzuspringen. Einige Minuten später erschien ein grünes Verzeichnis auf dem schwarzen Bildschirm. Er fand Fluoxetin in der Database und betätigte die NEBENWIRKUNGEN-AUSDRUCKEN-Funktion.
Der Drucker wackelte und kreischte, während er die Liste ausspuckte. Ausschlag, Unruhe, Kälteschauer, Fieber, Benommenheit, Herzrhythmusstörungen, Krämpfe, trockene Haut, trockener Mund. Wie traurig war diese Andrea Albee eigentlich? War das Abstumpfen – und nichts anderes bewirkte das Medikament, denn entgegen der weitverbreiteten Meinung machte Prozac nicht glücklich – es wirklich wert, so viele Nebenwirkungen in Kauf zu nehmen?
Deborah schob den Kopf zu ihm ins Büro. »Anruf für Sie, Chef. Wollen Sie ihn hier entgegennehmen?«
»Danke, Deborah.«
Sie riss die Augen noch weiter auf als sonst. »Sie haben mich nicht Debbie genannt!«
Jack schenkte ihr dasselbe Grinsen, das er auch Graham Kasey gezeigt hatte, und Deborah stellte den Anruf auf seinen Schreibtisch um.
»Jack Went am Apparat.«
»Hi, Jack.« Er erkannte die Stimme sofort. »Hast du in der Mittagspause Zeit?«
Um zwei Uhr fuhr Jack auf den Parkplatz auf der Ostseite von Lake Merri und wartete an seinen roten Buick Reatta Cabrio gelehnt – einen Wagen, den Emma liebevoll als Midlife-Crisis-Mobil bezeichnete. Der Parkplatz lag versteckt hinter einer Viertelmeile Buschland. Er war fast immer leer, selbst zu dieser Jahreszeit, in der das Frühlingswetter die Menschen wieder ans Wasser zog.
Travis Eckles traf zehn Minuten später mit seinem Transporter von der Reinigungsfirma ein. Er stieg in einem weiten weißen Overall aus und betrachtete sein vom Wind zerzaustes Haar im Spiegel der Windschutzscheibe. Er hatte ein schlimmes blaues Auge.
»Verdammt, was ist da denn passiert?«, fragte Jack.
Travis tastete forschend nach dem Bluterguss und zuckte unwillkürlich zusammen. »Ist nicht so schlimm, wie’s aussieht.«
Jack nahm Travis’ Kopf in beide Hände und untersuchte die Verletzung. Die Stelle war geschwollen und ließ ihn aussehen wie seinen älteren Bruder, wie einen Schlägertypen. »Hast du Schmerzen? Brauchst du Advil?«
Travis zuckte mit den Schultern. »Nein. Schon gut.«
»Hat Ava das gemacht?«
Travis ignorierte ihn, was praktisch eine Bestätigung war. Ava Eckles war Travis’ Mutter, eine wilde Trinkerin, die hin und wieder ihre Fäuste sprechen ließ. Wenn man den Gerüchten Glauben schenken durfte, hatte sie mit der Hälfte aller Männer in Manson geschlafen.
Travis’ Vater war bei der Air Force gewesen und hatte in einem CH-53 Sea Stallion Helikopter gesessen, als dieser 1983 bei einer Übung vor der Südostküste North Carolinas verunglückt war. Niemand an Bord überlebte den Unfall.
Travis hatte außerdem noch einen älteren Bruder – Patrick –, der aber zurzeit im Gefängnis in Greenwood eine Haftstrafe wegen schwerer Körperverletzung absaß. Außerdem hatte er noch Cousins und Cousinen, allesamt Collegeabbrecher, Drogendealer oder Sträflinge.
Tolle Familie,dachte Jack. Aber Travis war schon in Ordnung. Mit zweiundzwanzig war er noch jung genug, um aus Manson rauszukommen, und auch wenn Putzen nicht unbedingt jedermanns Traumjob war, so war es doch eine solide Arbeit für einen soliden Lohn. Manchmal war Travis vulgär und aggressiv, oft aber auch freundlich und witzig. Allerdings sahen nicht viele Menschen diese Seite an ihm.
Travis ließ die Tür seines Transporters offen. CLINICAL CLEANING stand in großen roten Buchstaben an der Seite, wobei nur noch CL ING lesbar war. Er trat beiseite. »Nach dir.«
Jack schaute über den See. Die Nadelbäume drüben in der Nähe von Coleman bogen sich, als eine steife Brise darüber wegblies, trotzdem blieb das Wasser unbewegt. Niemand zu sehen. Sie waren alleine. Er stieg hinten in den Transporter und Travis folgte, zog die Tür hinter sich zu. Drinnen war es warm. Travis rollte seinen Overall bis zur Hüfte herunter und Jack knöpfte seine Hose auf.
Melbourne, Australien
– Jetzt –
Das Townhouse meiner Schwester befand sich mitten in einem Labyrinth identischer Häuser in Caroline Springs. Ich war bereits mindestens ein Dutzend Mal dort gewesen, jetzt aber unsicher, ob ich wirklich vor der richtigen Adresse stand. Bis Amy herausgelaufen kam.
»Was ist?«, rief sie. »Was ist passiert? Was ist los?«
»Wieso? Gar nichts ist passiert. Wer hat denn gesagt, dass was passiert ist?«
Sie beugte sich herunter und stützte sich auf die Knie, keuchte vor melodramatisch inszenierter Erleichterung. »Als ich dich vor dem Haus gesehen hab, dachte ich … ich wusste nicht, dass du kommst und … tut mir leid. Wahrscheinlich rechne ich einfach immer gleich mit dem Schlimmsten.«
»Ach du Schande. Darf man denn nicht mal mehr seine Schwester besuchen?«
»Du nicht, Kim. Du bist nicht der Typ für spontane Besuche.«
Ich verdrehte theatralisch die Augen, weil ich nicht zugeben wollte, dass sie recht hatte – wobei sie natürlich absolut recht hatte. Von Natur aus bin ich eher einzelgängerisch. Alleine fühle ich mich am wohlsten. Dann bleibe ich zu Hause und lese oder spaziere eine Stunde lang im Supermarkt an den Regalen entlang, suche die perfekten Linguini.
Amy war fünf Jahre jünger als ich. Sie hatte ein rundes Gesicht und einen vollen, wohlproportionierten Körper. »Alle Kurven an den richtigen Stellen«, hatte unsere Mutter immer gesagt. Anscheinend hatten meine Schwester und ich gegensätzliche Gene. Jedenfalls hatte sie nie jemand in der Schule wegen ihres Aussehens gehänselt.
Streng genommen waren Amy und ich nur Halbschwestern. Als ich zwei war, hatte ihr Vater (mein Stiefvater) meine Mutter kennengelernt, und als ich fünf Jahre alt war, kam Amy auf die Welt. Abgesehen von Blut und DNA hatte unser Verhältnis zueinander aber nichts Halbes. Amy war meine Schwester, im Guten wie im Schlechten.
Dean war lange genug bei uns, um sich auch bei mir offiziell den Titel Dad verdient zu haben. Da ich meinen richtigen Vater nie kennengelernt hatte, gab es natürlich auch keine Grundlage für einen Vergleich.
»Tante Kim!« Lisa, meine dreijährige Nichte, war aus der geöffneten Haustür auf den Rasen gelaufen, zwei Finger im Mund. Das Gras war feucht, und ihre Socken wurden sofort pitschnass, aber davon ließ sie sich nicht bremsen. Sie überquerte den Rasen, so schnell sie konnte. Ich schnappte sie mir, warf sie in die Luft und ließ sie kopfüber herunterbaumeln. Sie schrie vor Vergnügen, kicherte, bis ihr Rotz aus der Nase lief.
Ich setzte meine Nichte an der Türschwelle ab, und sie rannte ins Haus. Ihre feuchten Socken hinterließen Abdrücke auf dem Dielenboden. Wie gewöhnlich war nicht aufgeräumt. In der Spüle stapelten sich sechs Teller aufeinander, Lisas Spielzeug verteilte sich überall im Flur, auf dem Sofa lagen Buntstifte, in den Polsterritzen sammelten sich zerbröselte Kreide und Krümel.
Der brandneue Fernseher mit zweiundfünfzig Zoll Bildschirm dröhnte bei voller Lautstärke. Wie ein Zombie wurde Lisa magisch davon angezogen. Weniger als dreißig Zentimeter vom Bildschirm entfernt blieb sie mit offenem Mund stehen, als würden ihr die Zeichentrickfiguren alle Geheimnisse des Universums zuflüstern.
Mitten im Wohnzimmer stand eine Ikea-Packung auf dem Boden, in der Mitte aufgerissen, sodass ein wildes Durcheinander aus billigem Holz und Plastikwinkeln zum Vorschein kam.
Würde ich auch nur einen Tag mit Amy tauschen, würde mein Gehirn einen Kurzschluss wegen Reizüberflutung erleiden; sie aber schien in dem ganzen Chaos aufzublühen.
»Das ist eine Spielzeugtruhe für Lisas Zimmer.« Sie nahm einen der L-förmigen Winkel, drehte ihn in der Hand wie ein mysteriöses archäologisches Artefakt. »Oder zumindest wird es eine Spielzeugtruhe … irgendwann. In nicht allzu ferner Zukunft.«
»Brauchst du Hilfe beim Zusammenbauen?«
»Nein, ich lass sie stehen. Wayne kann das machen. Und mir ist egal, was das über mich als Frau aussagt. Kaffee?«
»Klar.«
Als sie in der angrenzenden Küche Kaffee kochte, sprach sie ganze fünf Minuten lang über die Spielzeugkiste. Überschrie den Krach der Kaffeemaschine, erzählte mir, wie viel die Truhe gekostet hatte, in welcher Ikea-Abteilung sie sie gefunden hatte, wie sie nach dem Zusammenbau aussehen würde und welche Fragen noch alles in die Kaufentscheidung hineingespielt hatten. Ich hätte einfach auf die Toilette gehen und wiederkommen können, sie hätte es nicht einmal gemerkt. Stattdessen nutzte ich die Zeit, die Bücherregale nach Fotoalben abzusuchen.
Vor allem eine dicke pinke Mappe mit der Aufschrift FRÜHESTE ERINNERUNGENin lila Druckbuchstaben vorne drauf suchte ich. Das Album hatte unserer Mutter gehört und eigentlich bei Dean bleiben sollen, aber Amy war nach Mums Tod sehr empfindlich gewesen, was die Fotos betraf.
Sie waren der Grund, weshalb ich hier war. Am vorangegangenen Abend hatte ich mich halbwegs davon überzeugt, dass ich das Kind auf dem Foto hätte gewesen sein können, das James Finn mir gezeigt hatte, und jetzt wollte ich der Spekulation ein Ende bereiten.
Im Regal waren DVDs, Zeitschriften, ein Gipsabdruck von zwei winzigen Füßchen mit der Aufschrift LISA SECHS MONATE, aber keine Alben.
»Was suchst du?« Plötzlich stand Amy hinter mir.
Sie reichte mir einen Becher schwarzen Kaffee. »Die Milch ist alle.«
»Kein Problem. Ich suche nichts. Hab mich nur mal umgesehen.«
»Du lügst.«
Verdammt, dachte ich. Seit unserer Kindheit merkte Amy immer, wenn ich ihr etwas verheimlichte. Sie hatte ein fast schon hellseherisches Talent dafür. Am Morgen nachdem ich meine Jungfräulichkeit an Rowan Kipling verloren hatte, wollte ich meinen Eltern weismachen, ich hätte bei meiner Freundin Charlotte übernachtet. Amy sah mich mit ihren gerade mal elf Jahren über ihre Cornflakesschüssel hinweg an und sagte: »Sie lügt.«
In der Annahme, Amy wisse etwas, das sie nicht wussten, hatten Mum und Dean meine Lüge so lange auseinandergenommen, bis schließlich die ganze verfluchte Geschichte herausgekommen war. Dabei log ich gar nicht so schlecht – Amy war nur als Lügendetektor einfach unschlagbar.
Seufzend gestand ich: »Ich suche das Fotoalbum mit den Babyfotos.«
Amy schnalzte mit der Zunge, eine Denktechnik, die sie sich schon als Kind angewöhnt hatte. Das Schnalzen versetzte mich wieder zurück in mein Zimmer in der Greenlaw Street Nummer vierzehn. Die Erinnerung war verschwommen und bruchstückhaft, es fehlte der Kontext, wie bei einem schwindenden Traum. Aber ich konnte sie deutlich im Alter von vier oder fünf Jahren in ihrem rosa-grün gestreiften Schlafanzug vor mir sehen. Sie kletterte zu mir ins Bett, und ich hob die Decke, um sie drunter zu lassen.
Als die Erinnerung verblasste, blieb eine schwere Traurigkeit zurück.
»Die Fotoalben sind wahrscheinlich alle noch irgendwo in der Garage«, sagte Amy. »Wir haben die Kisten dort immer noch nicht alle ausgepackt, ob du’s glaubst oder nicht. Nach sechs Monaten. Eigentlich ist das Waynes Aufgabe, aber jedes Mal wenn ich ihn drauf anspreche, seufzt er schwer. Du kennst doch dieses Seufzen, das er drauf hat? Er klingt wie ein Reifen, aus dem die Luft entweicht. Als hättest du ihn um eine Niere gebeten.«
»Dann hast du’s also?«
»Was willst du denn damit?«
»Klingt vielleicht komisch, aber das ist geheim.«
Amy trank ihren Kaffee, suchte in meinem Gesicht nach versteckten Hinweisen oder einem übersinnlichen Signal, anhand dessen sie mir wie üblich auf die Schliche kommen würde.
Dann strahlte sie. »Hat es was mit meinem Geburtstag zu tun? Hat Wayne dir von den Fotocollagen erzählt, die wir im Einkaufszentrum gesehen haben? Vergiss es. Sag’s nicht. Ich will, dass es eine Überraschung bleibt. Mir nach.«
In der Garage roch es nach alter Farbe und Brennspiritus. Amy suchte in der Dunkelheit nach einer Strippe und ließ eine flackernde Neonröhre über unseren Köpfen erstrahlen, wobei ein vollgestopfter Raum mit niedriger Decke erleuchtet wurde.
Mehrere Reihen von Umzugskartons nahmen den Platz an der Wand hinten ein, außerdem stand Amys kleiner roter Honda Jazz hier. In den nächsten vierzig Minuten trugen wir eine Kiste nach der anderen raus, setzten sie auf der einzigen freien Fläche auf dem Betonboden ab und räumten sie aus.
In den meisten Kisten befand sich allerhand Kram: jahrealte Stromrechnungen, eine Rolle mit abgelaufenen Gutscheinen, eine zerschlissene Schürze, ein angeschlagener Keramikaschenbecher, in dem ein einzelner englischer Penny hin und her rutschte, und eine Supermarkttüte mit Magneten, die Amy mir freudig aus der Hand riss und sagte: »Die habe ich gesucht.«
Eine Kiste war voll mit meinen alten Fotografieprojekten, von denen einige peinlicherweise sehr denen meiner Studenten vom Vorabend ähnelten. Ich fand eine Fotoreihe aus meinem ersten Semester mit dem Titel Narben – psychisch und emotional. Amy hatte die Sammlung abgeheftet.
Ein Foto zeigte die Schramme, die ich mir an meinem kleinen Zeh zugezogen hatte, als ich einmal im Sommer bei einer Freundin aus dem Pool geklettert war; ein anderes die scheußliche Wunde an Amys Oberschenkel, als sie von ihrem Rennrad gefallen war. Eine fiese Brandwunde an der Hand meiner Mutter und die verblassende Hasenscharte einer ehemaligen Mitbewohnerin. Außerdem mehrere Fotos von Leuten, die traurig, verlassen oder wütend wirkten. Ein prätentiöses, hochgradig unoriginelles Projekt, das den Betrachter bewegen sollte, nicht nur auf die äußerlich sichtbaren Narben anderer Rücksicht zu nehmen, sondern auch auf innere Verletzungen zu achten.
»Oh, hey, wie läuft’s denn mit Frank?«, fragte Amy, die ein altes Zeugnis durchblätterte.
»Äh.«
»Was heißt das?«
»Wir sind nicht mehr zusammen.«
»Wieso?«, fragte Amy mit jammernder, schriller Stimme.
»Aus keinem Grund. Nur, na ja, du weißt schon. War halt keine Liebe.«
»Du bist zu wählerisch, Kim. Das weißt du auch. Dir läuft die Zeit davon, Babys in die Welt zu setzen.«
Amy war auf aggressive Weise mütterlich. Reproduktion war ihr alleiniger Lebenszweck. Sie und ihr Verlobter Wayne hatten Lisa so schnell wie möglich gezeugt und planten jetzt ein Zweites. Ich dagegen hatte noch nie den Drang verspürt, mich fortzupflanzen.
In der neunten oder zehnten Kiste fanden wir endlich die Familienalben und setzten uns im Schneidersitz auf den Boden, blätterten sie durch. Jedes Album war mit Druckbuchstaben beschriftet, und zwar in thematisch passenden Farben. URLAUB IN PERTH 93 war schwarz-gelb passend zur Staatsflagge. NEUES ZUHAUSE, das den Umzug von Mum und Dean aus ihrer alten Wohnung in der Osborne Avenue in die kleinere, aber neuere in der Benjamin Street dokumentierte, war blau und grün: blau wie die Stufen vor der Tür des Hauses in der Osborne Avenue und grün wie die Schlafzimmerwände in der Benjamin Street. Das humorvoll betitelte UNSERE ERSTE HOCHZEIT war grellorange – die Farbe, die meine Mutter an diesem großen Tag getragen hatte.
Es wäre naheliegend zu vermuten, dass meine Mutter die jeweils passende Farbe ausgesucht und jedes einzelne Foto beschriftet hatte, aber tatsächlich hatte Dean das gemacht. Selbst vor dem Tod unserer Mutter war er völlig vernarrt in das Fotografieren, Kategorisieren und Aufzeichnen sämtlicher Erinnerungen gewesen.
Amy nahm das Hochzeitsalbum, kaum dass sie es entdeckt hatte. Mit traurigem Lächeln blätterte sie die Seiten um und sah dabei aus wie unserer Mutter aus dem Gesicht geschnitten.
Ganz unten in der Kiste fand ich das dicke rosa Babyalbum, FRÜHESTE ERINNERUNGEN in demselben Lila, in dem das Kopfende meines Babybettes gestrichen war. Darin fanden sich Fotos von Geburtstagspartys, Ferien, Weihnachtsfesten; alle längst vergangen. Da war ein Bild von mir in der alten Wohnung, in der wir vor Amys Geburt gewohnt hatten; breit grinsend und eingerahmt von der hässlichen gelben Tapete, die die Wände sämtlicher Räume zierte. Auf einem anderen war ich an meinem ersten Kindergartentag zu sehen, meine Mutter hielt meine Hand und grinste.
Als ich ein Drittel durchgeblättert hatte, stieß ich auf ein Bild von einem strahlenden, speckigen kleinen Mädchen, das mich durch die Plastikfolie anstarrte. Sie stand im flachen Wasser eines Hotelpools, trug einen zu großen gelben Badeanzug. Irgendwie wirkte sie nachdenklich und klug. Unter dem Bild stand in akkuraten schwarzen Buchstaben, Kim 2 Jahre. Ich hatte nur eine vage Erinnerung an jenen Tag im Pool und dass ich auf Deans Schultern mit ihm bis ins Tiefe geschwommen war.
Die restlichen Seiten waren leer. Es gab keine Babyfotos und außer diesem einen Bild keine weiteren vor meinem dritten Geburtstag. Ich hatte auch nicht mehr erwartet. Mein biologischer Vater war kein netter Mensch gewesen – so hatte meine Mutter es bei einer der wenigen Gelegenheiten formuliert, bei denen wir über ihn gesprochen hatten. Als sie ihn überstürzt mit einem Kleinkind unter dem Arm und einer Reisetasche über der Schulter verließ, hatte sie weder Zeit noch Platz für Babyfotos gehabt. Die Geschichte klang jetzt beunruhigend bequem.
»Alles in Ordnung?«, fragte Amy. »Du siehst aus, als hättest du ein Gespenst gesehen.«
In gewisser Weise hatte ich das. Plötzlich suchte der Geist von Sammy Went jedes einzelne meiner Kinderfotos heim. Noch bevor ich das Bild von Sammy auf meinem Handy aufrief, wusste ich bereits, dass mehr als nur eine flüchtige Ähnlichkeit zwischen uns bestand. Die tiefblauen Augen, die dunklen Haare, das leicht verkniffene Lächeln, das geschwungene Kinn, die große Nase, die kleinen weißen Ohren. Es war mehr als unheimlich; entweder Sammy war meine exakte Doppelgängerin, oder ich betrachtete zwei verschiedene Fotos von ein und demselben Mädchen.
Warum hatte ich das vorher nicht gesehen? Lag es daran, dass ich mich einfach nicht erinnern konnte, wie ich als Kind ausgesehen hatte, oder war ich noch nicht bereit gewesen, es zu bemerken? War ich jetzt bereit?
»Oh Gott, Kim, was ist denn?«
»Amy, ich bin heute hergekommen, um Fotos aus meiner Kindheit mit dem Foto eines kleinen Mädchens zu vergleichen, das in den neunziger Jahren in Amerika verschwunden ist.«
»Warte mal. Dann bastelst du mir gar keine Fotocollage zum Geburtstag?«
Ich schloss die Augen, holte tief Luft und fing noch mal von vorne an. Im Schneidersitz auf dem Garagenboden sitzend, umgeben von Umzugskisten und dem Gestank nach alter Farbe und Brennspiritus, zog ich die Tür zu Sammy Wents Geschichte auf und forderte Amy auf einzutreten.
Schweigend und mit unbewegter Miene hörte sie mir zu. Als ich fertig war, zwinkerte sie wie eine Eule. Dann lachte sie. Kein Kichern oder Schmunzeln, sondern ein schweres Ha Ha Ha. Sie legte sich eine Hand auf den Bauch, warf den Kopf in den Nacken und gackerte, brüllte und schnaubte. »Nur damit ich das richtig verstehe: Du denkst, Mum – die Frau, die sich die Augen ausgeheult hat, als in der Unendlichen Geschichte das Pferd gestorben ist – war eine Kidnapperin. Und du warst das Kind, das sie entführt hat? Gekidnappt irgendwo in den Staaten und dann als ihr eigenes großgezogen? Und niemals, nicht mal auf dem Sterbebett, hat sie die Wahrheit offenbart?«
»Ich weiß nicht, ich …«
»Vielleicht hat sie dich aber auch auf dem Schwarzmarkt gekauft. Leuchtet eigentlich ein, wenn man sich das mal überlegt. Oder hat sie sich wie Tom Cruise angegurtet und an Drahtseilen von der Decke zu deiner Wiege heruntergelassen oder einen Dingo abgerichtet, damit er …«
Ich zeigte ihr mein Handy. Sie hielt inne, das Foto von Sammy Went auf dem Display hatte ihr die Sprache verschlagen. Sie nahm mir das Handy ab und starrte es an, ihr Lächeln war verschwunden. »Scheiße, Kim.«
»Ja, scheiße.«
»Was genau hat dieser Typ gesagt?« Sie drückte das Handy so fest, dass ich schon dachte, es könne zerbrechen. »Wie hat er dich gefunden? Was hat er für Beweise?«
»Keine Ahnung. Eigentlich hab ich ihm keine Zeit gelassen, mir das zu sagen. Ich hab ihn für verrückt gehalten.«