Insel des Schweigens - Christian White - E-Book
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Insel des Schweigens E-Book

Christian White

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Beschreibung

Am Flughafen von Melbourne wartet Kate auf die Ankunft ihres Ehemannes John. Vergeblich. Von seinen Kollegen muss Kate erfahren, dass er bereits vor Monaten gekündigt hat. John scheint wie vom Erdboden verschluckt. In der verzweifelten Hoffnung, ihn in ihrem Ferienhaus auf Belport Island zu finden, reist Kate auf die einsame, stürmische Insel.
Auf Belport Island macht eine weitere Frau, Abby, eine erschütternde Entdeckung über ihren Mann. Und als ihre und Kates Welt aufeinanderprallen, drohen die dunklen Geheimnisse der kleinen Insel auch die beiden Frauen in den Abgrund zu ziehen …

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Buch

Kate Keddie will ihren Ehemann John überraschen und ihn am Flughafen von Melbourne abholen. Doch sie wartet vergeblich in der Ankunftshalle. John taucht nicht auf, alle Versuche, ihn zu erreichen, scheitern. Und von seinen Kollegen im Ärztezentrum muss Kate erfahren, dass John bereits vor Monaten gekündigt hat. Was hat ihr Mann ihr noch verheimlicht? Und wo ist er? Als in ihrem Ferienhaus auf Belport Island der Alarm ausgelöst wird, reist Kate auf die einsame Insel in der verzweifelten Hoffnung, John dort zu finden. Doch John ist tot …

Auf Belport Island lebt auch die verheiratete Abby. Eines Tages macht sie in ihrem Haus eine erschütternde Entdeckung, die sie alles infrage stellen lässt, was sie über ihren Mann Ray weiß. Und als ihre und Kates Welt aufeinanderprallen, kommt die schockierende Wahrheit über die Männer in ihrem Leben ans Licht …

Autor

Der gebürtige Engländer Christian White ist ein international ausgezeichneter Drehbuchautor. Sein Romandebüt »Das andere Mädchen« wurde in seiner australischen Wahlheimat zum Überraschungsbestseller. Christian lebt mit seiner Frau in Melbourne und schreibt bereits an seinem nächsten Thriller.

Christian White

Insel des

Schweigens

Thriller

Aus dem Englischen

von Andrea Brandl

Die australische Originalausgabe erschien 2019 unter dem Titel »The Wife and the Widow« bei Affirm Press, Melbourne.

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Deutsche Erstveröffentlichung März 2022

Copyright © 2019 der Originalausgabe by Christian White

All rights reserved.

Copyright © der deutschsprachigen Ausgabe 2022 by Wilhelm Goldmann Verlag, München, in der Penguin Random House Verlagsgruppe GmbH, Neumarkter Str. 28, 81673 München

Umschlaggestaltung: UNO Werbeagentur, München

Umschlagmotiv: Arcangel/Sally Mundy

Redaktion: Ann-Catherine Geuder

An · Herstellung: ik

Satz: KCFG – Medienagentur, Neuss

ISBN: 978-3-641-26924-1V001

www.goldmann-verlag.de

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Für Summer

Prolog

Da ist jemand im Haus, war Johns erster Gedanke, als er aus dem Schlaf schreckte. Er hatte von unten ein Geräusch gehört, wie von trockenen, rissigen Lippen, die sich teilten. Dann verstohlene Schritte auf der Treppe.

Er starrte ins Dunkel über dem Bett und lauschte, doch mit Ausnahme des leisen Sirrens der Heizung war es wieder still. Schließlich rollte er sich auf die Seite, sah zu seiner Frau hinüber, deren Gesicht im fahlen Mondschein geradezu gespenstisch aussah.

Wahrscheinlich hatte er bloß einen Albtraum gehabt.

Knarz.

Es kam vom Treppenabsatz im oberen Stock. Jemand war auf die lose Diele am Ende der Treppe getreten. Diesmal hatte er es sich nicht eingebildet, ganz sicher nicht.

Er setzte sich auf und spähte angestrengt durch die einzelnen Schichten der Finsternis. Immer deutlicher traten die Umrisse der Möbel zu Tage – der hohe Kleiderschrank, der sich vor einem tiefschwarzen Hintergrund abhob. Die Frisierkommode seiner Frau mit ihrem Schmuck, der wie ein Dutzend winziger funkelnder Augen im Mondlicht glitzerte. Ein bleistiftdünner Lichtstreifen flackerte unter dem Türspalt auf.

Er glitt aus dem Bett, öffnete die Tür und trat hinaus. Das Harry-Potter-Nachtlicht brannte. Seine Tochter Mia bestand darauf, weil sie so keine Angst zu haben brauchte, wenn sie nachts aufs Klo musste. Eine fette braune Motte umschwirrte es, knallte blindlings dagegen, wieder und wieder. Einen Moment lang sah John ihr wie gebannt zu. War dies das Geräusch gewesen?

Aus dem Schatten am Ende des Korridors trat ein Mann.

John wollte etwas sagen, doch die Angst schien seine Kiefermuskulatur zu lähmen.

Der Mann trat einen weiteren Schritt auf ihn zu. Er war groß und kräftig, mit rasiertem Schädel. Er trug weiße Tennisschuhe und einen schweren schwarzen Mantel, den John auf Anhieb erkannte.

»Hallo, John«, flüsterte der Mann. »Erinnerst du dich an mich?«

»Ja …« Johns Stimme war kaum mehr als ein Flüstern.

»Weißt du auch, weshalb ich hier bin?«

»Ja«, antwortete John. »Ich denke schon.«

1

– Die Witwe –

Kate Keddie stand in der Flughafentoilette und probte ihr Lächeln im Spiegel. Sie konnte ihren Mund nicht ausstehen, weil er mehrere Zähne zu breit für ihren Kopf war und sie wie eine Geisteskranke aussah, wenn sie lachte. Sie versuchte es mit einem vorsichtigen Heben der Mundwinkel. Wohldosierte Zurückhaltung, das war das Ziel. Stattdessen bekam sie Shelley Duvall auf Crystal Meth.

»Was machst du mit deinem Gesicht?«, fragte Kates zehnjährige Tochter Mia, die aus einer der Kabinen neben sie getreten war, um sich die Hände zu waschen. Mia hatte sich die Schnur eines herzförmigen »Willkommen zu Hause«-Luftballons ums Handgelenk gebunden, der nun wie eine Boje über ihrem Kopf schwebte.

»Gar nichts«, antwortete Kate.

»Wie lange dauert es noch, bis Daddy wieder da ist?«

»Zehn Minuten bis zur Landung, dann rollt die Maschine in Parkposition, danach muss er sein Gepäck holen, durch den Zoll … alles in allem müssen wir mit etwa sechzehn Stunden rechnen.«

»Du machst mich fertig, Mum.« Mia stampfte frustriert mit den Füßen auf. Sie war noch nie so lange von ihrem Vater getrennt gewesen und deshalb so hibbelig wie sonst nur am Weihnachtsmorgen.

John hatte die vergangenen zwei Wochen bei einem Kongress für Palliativmedizin in London verbracht; unterdessen hatte Kate mit dickem rotem Filzstift die Tage abgehakt und es kaum erwarten können, dass er endlich nach Hause kam. Sie hoffte, dass das Klischee, eine Trennung schüre die Sehnsucht, auch auf John zutraf. Gleichzeitig fürchtete die Pessimistin in ihr, es könnte gerade umgekehrt funktionieren. Irgendwo hatte sie gelesen, dass zwei Wochen genügten, um mit einer Gewohnheit zu brechen, und eine Ehe war schließlich der Inbegriff der Gewohnheit.

Kate nahm Mia bei der Hand und machte sich auf den Weg zum Terminal. Im Ankunftsbereich des Melbourne International Airport wimmelte es von Menschen. Familien warteten mit handgeschriebenen Transparenten, ohne die gefrosteten Glastüren aus den Augen zu lassen, hinter ihnen Chauffeure in schwarzen Anzügen mit kleinen Täfelchen, auf denen die Namen ihrer Fahrgäste gekritzelt standen. Von den Wartenden ging eine kollektive Energie aus, die sie eher wie ein homogener Organismus statt eine Ansammlung aus mehreren Hundert Individuen wirken ließ. Alle bewegten sich auf eine vorsichtige, nervös aufeinander abgestimmte Weise, wie das Kettenband einer Planierraupe.

Jeden Moment musste John mit seinem kleinen blauen American-Tourister-Trolley im Schlepptau herauskommen, mit blutunterlaufenen Augen und müdem Gesicht von dem langen Flug, aber dann würde er sie in der Menge ausmachen und verblüfft strahlen, weil er nicht mit ihnen gerechnet hatte. Er hatte darauf bestanden, ein Taxi zu nehmen, und Kate hatte eingewilligt, obwohl sie die ganze Zeit gewusst hatte, dass sie und Mia ihn am Flughafen überraschen würden.

Sie konnte es kaum erwarten, ihren Ehemann wiederzusehen; noch größer war allerdings ihr Bedürfnis, ihm die Zügel wieder in die Hand zu geben. Obwohl sie überzeugt war, eine gute Mutter zu sein, machte sie all das nervös. Ihr war es nie leichtgefallen, mit dieser Mühelosigkeit in die Mutterrolle zu schlüpfen, wie andere Frauen es zu können schienen – ihre Freundinnen aus der Müttergruppe oder die patenten, geschäftigen Mamis in ihren SUVs vor dem Schultor. Mit Johns Unterstützung im Rücken fühlte sie sich hingegen gleich viel wohler.

»Ob Dad an meine Pfund denkt, was glaubst du?«, fragte Mia und sah zu der Kurstafel im Fenster einer Wechselstube hinüber. Neuerdings sammelte sie mit Begeisterung ausländische Währungen.

»Klar. Du hast ihn doch bestimmt zweitausend Mal daran erinnert«, antwortete Kate. »Ich kann mir nicht vorstellen, dass er sich traut, ohne das Geld nach Hause zu kommen.«

»Wie lange dauert’s noch?«, fragte Mia.

»Fünf Minuten. Da drüben ist die Anzeigetafel. Siehst du es?«

Der Qantas-Flug aus Heathrow über Singapur und Sydney war pünktlich und ohne Probleme gelandet. Die Stille, die gerade noch unter den Wartenden geherrscht hatte, wich Rufen, Tränen und Gelächter, als die ersten Passagiere in die Ankunftshalle traten. Einige sanken in die Arme ihrer Angehörigen, andere schoben sich durch die Menge zu ihren Fahrern oder zum Taxistand dahinter.

Eine hübsche Frau mit einem weizenblonden Pferdeschwanz warf sich in die Arme ihres wartenden Mannes, schien für einen kurzen Moment alles um sich herum zu vergessen und küsste ihn leidenschaftlich auf den Mund. Ein älteres asiatisches Paar winkte hektisch, als ein junger Mann mit einem Kinderwagen auf sie zusteuerte, in dem zwei Zwillingsjungen friedlich schlummerten. Kate sah den Leuten zu, wartete darauf, als Nächste dran zu sein.

Es wunderte sie ein wenig, dass John nicht gleich unter den ersten Passagieren war. Er flog grundsätzlich Businessclass, was mit Privilegien wie Expressschlangen und schnellerer Abfertigung einherging.

Mia stellte sich auf die Zehenspitzen. »Siehst du ihn?«, fragte sie.

»Nein, noch nicht, Äffchen«, antwortete Kate.

Die hohen Glastüren schlossen sich. Gingen ein weiteres Mal auf. Diesmal trat eine kleinere Gruppe heraus.

»Ich sehe ihn, ich sehe ihn!«, rief Mia, riss ihren Ballon nach unten und drehte ihn so, dass man den Willkommensgruß lesen konnte, doch dann ließ sie die Schultern sacken. »Nein. Ich habe mich geirrt. Das war er nicht.«

Der zweite Schwung Fluggäste verteilte sich. Immer noch weit und breit nichts von John zu sehen. Die Glastüren öffneten und schlossen sich ein weiteres Mal. Diesmal humpelte ein älterer Herr mit dem Gehstock in der Linken und einem verstaubten alten Samsonite in der Rechten heraus. Der Korridor hinter ihm war leer.

Kate sah noch einmal zur Anzeigetafel und vergewisserte sich, dass Zeitpunkt und Ort stimmten, dann noch einmal. In ihre gespannte Erregung mischte sich ein Anflug von Besorgnis.

»Mum?«, fragte Mia.

»Pass schön weiter auf, Äffchen. Wahrscheinlich hat er seinen Koffer noch nicht bekommen oder wurde von einem übereifrigen Zollbeamten aufgehalten. Nur Geduld.«

Sie warteten. Schließlich zog Kate ihr Handy heraus und wählte Johns Nummer, darauf bedacht, sich ihre Sorge nicht anmerken zu lassen. Der Anruf ging geradewegs auf die Voicemail. Sie versuchte es ein zweites Mal, mit demselben Ergebnis. Er hatte wohl vergessen, nach der Landung den Flugmodus zu deaktivieren. Oder aber er hatte das Ladekabel in der Steckdose im Hotel stecken lassen, und jetzt war der Akku leer.

Mit jeder Sekunde wurde sie nervöser, begann an den Nägeln zu kauen.

Wieder glitten die Glastüren auf. Kate holte Luft. Drei weitere Passagiere erschienen: ein älteres Paar, das mitten in einem Streit zu sein schien, und ein junger Rucksacktourist mit Dreadlocks. Keiner erwartete sie. Die Türen gingen zu, gingen ein weiteres Mal auf. Diesmal kamen die Crewmitglieder heraus, die sich angeregt unterhielten, sichtlich erfreut über das Ende ihres Arbeitstages.

Wo steckst du, John?

Er hätte doch Bescheid gegeben, wenn er seinen Flug verpasst hätte, oder nicht? Selbst wenn er keine Ahnung gehabt hatte, dass sie ihn abholen kämen, hatte er gewusst, dass sie auf ihn wartete. Sie versuchte es noch einmal auf dem Handy. Wieder nichts. Verzweifelt sah sie sich in der Ankunftshalle um: Bis auf eine Handvoll Leute an den Ständen der Mietwagenfirmen und einen Mann in einem grauen Overall, der die Fußmatte am Eingang absaugte, war niemand mehr zu sehen.

»Wo ist er, Mum?«, fragte Mia.

»Ich weiß es auch nicht, Äffchen. Aber bestimmt kommt er bald. Es ist alles in Ordnung. Mach dir keine Sorgen.«

Den Blick auf die Glastüren geheftet streckte Kate die Hand nach Mias aus, fand sie und hielt sie fest, ganz fest. Sie warteten. Fünf Minuten vergingen. Dann weitere fünfzehn.

Zuletzt hatten sie via Skype miteinander gesprochen, am Morgen vor Johns Abflug. Kate und Mia hatten sich zusammen in einen Sessel im Wohnzimmer gequetscht und über die Tastatur des MacBooks gebeugt, während John siebzehntausend Kilometer weit entfernt auf dem Bett seiner Londoner Hotelsuite saß, im Hintergrund die typisch dezent grüne Tapete, eine Minibar zu seiner Linken, die Zimmerservice-Speisekarte zu seiner Rechten. Reisepass, Brieftasche und Handy lagen säuberlich auf seinem Koffer neben ihm.

»Und? Bereit für den langen Flug?«, fragte Kate.

»Ich habe alle drei Sachen, die jeder Flugreisende bei sich haben sollte«, antwortete er. »Ohrstöpsel, Valium und Haruki Murakami.«

»Ist Valium eine Droge?«, wollte Mia wissen.

»Ja, Schatz, aber eine von den guten«, antwortete er lachend, doch die Verbindung war schlecht, so dass es leicht zeitverzögert ankam. Der Bildschirm fror abwechselnd ein und löste sich wieder, was das Lachen wie aus einem Fiebertraum klingen ließ.

John war drei Jahre älter als Kate, wirkte mit seinem jungenhaft dichten Haarschopf, seinen symmetrischen Gesichtszügen und seinem athletischen Körperbau jedoch, als wäre er fünf Jahre jünger. Sein Gesicht schien ein wenig gebräunter als sonst zu sein, andererseits war in London gerade Sommer.

Mia hockte sich auf die Knie und rutschte so weit vor, dass ihr Gesicht beinahe den Bildschirm berührte. »Du musst achtgeben, dass du im Flugzeug hinter dem Flügel sitzt«, mahnte sie. »Dort ist es am sichersten, falls es abstürzt.«

»Die Businessclass ist aber ganz vorn«, wandte er ein.

»Oje. Bei den meisten Abstürzen werden die Passagiere der ersten elf Reihen pulverisiert.«

»Mia, dein Vater braucht jetzt nichts über pulverisierte Passagiere zu hören«, sagte Kate. »Woher weißt du überhaupt, was das bedeutet?«

Mia zuckte die Achseln. »Aus dem Internet.«

»Sie hat herausgefunden, wie sie die Kindersicherung knackt«, sagte Kate. »Unsere Tochter, das Hackergenie.«

John ließ sich auf die Ellbogen zurücksinken und blickte nach links, auf einen Punkt hinter dem Laptopbildschirm, was das seltsame und völlig unbegründete Gefühl in Kate heraufbeschwor, dass er nicht allein war. Sei nicht paranoid, dachte sie.

»Lass die Suchsperre einfach offen«, sagte John nach einer Weile. Sein Tonfall ließ keinen Rückschluss darauf zu, ob er es ernst meinte oder nicht. »Das Leben hat doch auch keinen Filter. Weshalb sollte das Internet einen haben?«

»Na prima«, erwiderte Kate. »Dann kann ich sie heute Abend ja Der Exorzist anschauen lassen, und morgen ziehen wir uns sämtliche Rambo-Teile rein.«

Er lachte nicht.

»Wir versuchen, die Menschen, die wir lieben, vor bestimmten Wahrheiten zu beschützen«, sagte er. »Aber ich bin nicht überzeugt, ob das immer richtig ist oder fair. Wenn wir nicht über die Monster reden, die es in dieser Welt nun mal gibt, dann sind wir auch nicht auf sie vorbereitet, wenn sie plötzlich unter dem Bett hervorspringen.«

Kate verspürte den übermächtigen Wunsch, die Hand auszustrecken und sein Gesicht zu berühren. Von welchen Monstern sprach er?

»Geht’s dir gut, John?«, fragte sie.

»Ich denke schon«, antwortete er. »Ich glaube, ich will nur endlich wieder nach Hause kommen.«

»Kate?«

»Ja«, antwortete sie. »Kate Keddie.«

»Oh, Kate. Johns Frau. Du meine Güte, wir haben uns ja ewig nicht gehört. Wie geht’s?«

Chatveer Sandhu arbeitete als Assistent in der Verwaltung des Trinity Health Centre for Palliative Care, wo John als Mediziner angestellt war.

»Entschuldigen Sie die Störung«, sagte Kate. »Aber ich kann John nicht erreichen und dachte, Sie können mir bestimmt helfen. Es scheint, als wäre sein Flug aus London umgebucht worden, oder seine Termine wurden geändert, aber man hat vergessen, mich zu informieren?«

Einen Moment lang herrschte bedeutungsschwangere Stille in der Leitung, und Kate musste dem Drang widerstehen, sie irgendwie zu füllen. Sie sah zu Mia hinüber, die sichtlich verstört auf einem der Kunststoffstühle neben dem Informationsschalter saß. Tränen glitzerten in ihren Augen.

»Chat, sind Sie noch dran?«, fragte Kate schließlich.

»Ja«, antwortete er. »Entschuldigung. Ich … ich verstehe Ihre Frage nicht ganz.«

»Ich bin am Flughafen, mein Mann aber nicht.«

Eine ziemlich klare Ansage, fand Kate, doch nach einer weiteren Sekunde des Zögerns sagte Chatveer: »Ich verbinde Sie mit Holly. Bleiben Sie bitte dran.«

»Mich verbinden? Nein, Chat, ich will doch nur …«

Zu spät. Sie hing in der Warteschleife. Wieder kaute sie an den Nägeln. Als sie ein Stück Nagelhaut erwischte, zuckte sie vor Schmerz zusammen.

Klassische Musik wehte durch die Leitung: Henryk Góreckis 3. Sinfonie, ein düsteres Klagelied und eines von Johns Lieblingsstücken. Ein nicht angemessen gewürdigtes Meisterwerk, so seine Einschätzung. Vor ihrer Hochzeit war klassische Musik in Kates Augen etwas für verkopfte Intellektuelle gewesen; sie hatte sich wesentlich besser in der Gesellschaft von Mariah Carey als in der von Claude Debussy aufgehoben gefühlt. Doch nachdem John bei ihrem ersten Date ausgiebig über Amadeus Soundso und Ludwig van Irgendwas referiert hatte, war sie am nächsten Morgen losmarschiert, um sich eine Best-of-Classical-Deluxe-Doppel-CD zu besorgen, und hatte sich gezwungen, sie sich komplett anzuhören. In der Zwischenzeit mochte sie klassische Musik – glaubte sie zumindest.

»Kate, was kann ich für Sie tun?«, fragte Holly Cutter unvermittelt. Ihre Stimme klang scharf, beinahe ungeduldig.

Holly Cutter war eine frustrierend erfolgreiche Frau. Neben ihrer Funktion als medizinische Leiterin des Trinity Health Centre war sie auch examinierte Krankenschwester, Seelsorgerin und Heilpädagogin; zudem war sie in der Klinikforschung aktiv, hatte eine Honorarprofessur an der University of Melbourne inne und saß im Vorstand der International Association for Hospice and Palliative Care. Eine Streberin, wie sie im Buche stand.

»Hi, Holly«, sagte Kate. »Ich weiß nicht recht, wieso Chatveer mich an Sie weiterverbunden hat, aber ich bin gerade mit Mia am Flughafen. Johns Flug ist gelandet, allerdings ist er nicht da. Könnte es sein, dass er bei der Konferenz aufgehalten wurde? Oder seine Reisepläne wurden irgendwie geändert oder …«

»Das weiß ich nicht, Kate«, sagte Holly.

Kate unterdrückte das Bedürfnis, ihr Handy quer durch den Terminal zu schleudern.

»Wären Sie dann bitte so nett und stellen mich wieder zurück zu Chatveer?«

»Er weiß es genauso wenig.«

Kate kam sich wie die letzte Idiotin vor. Ihr war heiß, sie war stocksauer, und Mia weinte immer noch.

»Ich weiß nicht, was eigentlich los ist«, sagte sie, »aber offensichtlich liegt hier ein Missverständnis vor. John war die letzten zwei Wochen in London bei einer Palliativmedizinkonferenz. Eigentlich sollte er heute zurückkommen, und …«

»Hören Sie«, unterbrach Holly. »Ich weiß nicht, was Sie wissen oder nicht wissen, und habe auch so schon mehr als genug am Hals, aber wenn John an der diesjährigen Konferenz teilgenommen haben sollte, dann ohne unsere Kenntnis.«

»Aber das verstehe ich nicht«, sagte Kate. »Wieso das?«

»Weil John schon seit drei Monaten nicht mehr hier arbeitet.«

2

– Die Frau –

»Elende Mistviecher«, schimpfte Abby Gilpin laut genug, um die Raben zu verscheuchen. Die Biester hatten sich an den Abfällen einer ganzen Woche gütlich getan, die überall auf der Straße verteilt lagen. Der Wind hatte die Mülltonne umgeweht, die ihr fünfzehnjähriger Sohn am Morgen – nach gefühlt siebenundfünfzig Aufforderungen – an den Straßenrand gezerrt hatte; jetzt lag sie seitlich da, der Deckel aufgeklappt wie ein gähnender Schlund.

Einige der Tüten waren zwar noch ganz, die meisten hatten die Vögel allerdings aufgerissen, so dass Essensreste, Plastikverpackungen, Eierschalen, Kaffeepulver und benutzte Papiertaschentücher herausquollen. Abby wappnete sich gegen den Gestank, hob die Tonne auf und machte sich daran, die Schweinerei zu beseitigen. Ihre Hand streifte etwas Weiches, Nasses. Erschrocken zuckte sie zurück, aber leider zu spät – etwas undefinierbar Braunes und Stinkendes lief am linken Bein ihrer Leggings hinunter.

Grundsätzlich legte Abby nicht viel Wert auf ihr Äußeres – meistens lief sie in schwarzen Leggings und einem weiten Sweatshirt durch die Gegend –, aber auf allen vieren Müll von der Straße aufzulesen erschien ihr dann doch unter ihrer Würde. Die Straße war noch feucht. Am Morgen war das bisher schlimmste Gewitter der letzten Monate über der Insel niedergegangen, und seitdem hatte es beinahe ununterbrochen gegossen. Zwar hatte es zwischendurch mal kurz aufgeklart, doch war es eine reine Zeitfrage, wann der Regen erneut einsetzen würde.

Gerade als sie die letzte Tüte in die Tonne stopfen und den Deckel schließen wollte, stach ihr etwas ins Auge: Durch den halb durchsichtigen Müllsack machte sie ein Paar hellbrauner Arbeitsschuhe aus. Mit dem Zeigefinger bohrte sie ein Loch in das Plastik und spähte hinein.

Die Stiefel gehörten ihrem Mann Ray und schienen bis auf ein paar Schlammreste und vereinzelte Schrammen nagelneu zu sein. Vielleicht hatte er ja die falsche Größe gekauft. Andererseits sah es ihm nicht ähnlich, sie einfach wegzuwerfen, statt sie für die Spende an die Heilsarmee beiseitezustellen. Ebenfalls in der Tüte lagen eine zerknüllte Arbeitshose und eines seiner grauen Arbeitshemden mit dem Island-Care-Schriftzug auf der Brusttasche. Die Sachen rochen noch nach dem Waschpulver mit Zitronenduft, das es bei Buy & Bye im Dauersonderangebot gab.

Ein kühler Windstoß ließ sie in die Garage hasten, mit den Sachen unterm Arm.

Im Dunkeln zog sie an der Schnur für die Deckenbeleuchtung, woraufhin die Neonröhren sirrend und flackernd über ihr zum Leben erwachten. Es war eine Doppelgarage, die eigentlich locker genug Platz für zwei Fahrzeuge bieten sollte, doch wie die meisten Garagen diente auch die der Gilpins als Abstellkammer für allen möglichen Krempel: Überall standen gefährlich schwankende Kartonstapel und leere Töpfe herum, ausgeleierte Fitnessbänder wurden an Haken spröde, und in der Ecke fristete eine von Spinnweben überzogene Kraftstation ein einsames Dasein. Daneben stand ein Aufsitzmäher, den Ray vor drei Jahren bei einem privaten Flohmarkt günstig erstanden hatte, ehe er – große Überraschung! – feststellen musste, dass er nicht funktionierte.

Durch all den Plunder verlief eine schmale Schneise, zudem war ein Rechteck für Rays Dienstwagen reserviert, einen schlammverspritzten viertürigen Pick-up. Abgesehen davon gab es nur einen weiteren freien Platz inmitten des Chaos – für Abbys Werkbank, ein massives, von Farbklecksen übersätes Ungetüm, das sie in einem Antiquitätengeschäft auf dem Festland erstanden hatten. Irgendwo dahinter musste der Karton mit den ausgemusterten Klamotten stehen, die seit Monaten zur Kleiderspende gebracht werden sollten.

Abby strich über die hölzerne Platte und nahm sich vor, bald mal wieder etwas Zeit hier drinnen zu verbringen. Vielleicht abends, wenn Ruhe eingekehrt war, oder am Wochenende, wenn die Kids nicht zu Hause waren und Ray sich ein Spiel im Fernsehen ansah. An dieser Werkbank hatte Abby sich – durch zahlreiche Versuche und Fehlschläge und viele, viele Besuche der Belport Library, auf der Suche nach Fachbüchern – zu einer halbwegs versierten Tierpräparatorin entwickelt. Hinter der Werkbank befand sich eine Werkzeugwand, die bestückt war mit einer grünen Schürze, diversen Skalpellen, Einweghandschuhen, Insektennadeln, Angelschnur, Gummibändern, Spielkarten (für das so genannte »Kardieren« der Ohren), Borax-Seife für die Bearbeitung der Felle, Critter-Ton zum Modellieren. Hinzukamen die erforderlichen Werkzeuge: Holzspatel, Pinzetten, Sekundenkleber, ein Tacker und zwei Dutzend Glasaugenpaare in unterschiedlichen Größen.

Darunter stand ein kleiner Kühlschrank mit ein paar Mineralwasserflaschen, einem Sechserpack Bier und Abbys nächstem Projekt: ein Opossum, das Susi Lenten tot unter den Stromleitungen an ihrem Haus gefunden hatte. Daneben warteten in einer Plastikwanne diverse Chemikalien auf ihren Einsatz: Färbe- und Beizmittel, Luminol und Bakterizide.

Bislang beschränkte sich ihr Repertoire auf Mäuse, Ratten und Vögel, die auf Regalen überall im Haus verteilt standen, allesamt mit deplatzierten Beulen und Dellen, was sie in ihrer mangelnden Perfektion beinahe menschlich machte. Sie präparierte grundsätzlich nur Tiere, die eines natürlichen Todes gestorben waren. Deshalb riefen die Leute sie an, bei Tag und bei Nacht, wenn sie eine dieser armen Kreaturen in ihren Gärten, am Straßenrand oder auch am Strand gefunden hatten. Abby bekam dann Sätze zu hören wie: »Ich habe hier eine Elster auf meinem Balkon liegen. Das arme Ding ist geradewegs gegen die Fliegentür gedonnert. Sie ist noch nicht lange tot, aber vielleicht solltest du dich lieber gleich an die Arbeit machen, bevor die Fliegen kommen.« Oder: »Du musst unbedingt diese Buschratte aus der Kühltruhe holen, bevor Shivaun die Scheidung einreicht. Sie braucht den Platz, und ich bin ja nicht wahnsinnig und lege mich mit einer Schwangeren an.«

Abby konnte nicht sagen, was sie an der Tierpräparation so mochte, und sie hinterfragte diese Leidenschaft auch lieber nicht. Es war eine blutige, zugleich meditative Tätigkeit. Geld verdiente sie damit jedenfalls nicht.

Die wenigen Tiere, die sie nicht behielt, verschenkte sie – üblicherweise an Leute, die die Präparate mit zusammengebissenen Zähnen und entsetzt aufgerissenen Augen entgegennahmen. Dennoch hatte die Kunst des Präparierens eine wunderbar dunkle Faszination, die sie immer wieder bewog weiterzumachen. Wenn der Tod das Leben imitiert, dachte sie. Ein schöner Gedanke.

Schließlich fand sie den Altkleiderkarton zwischen einer sandigen Picknickdecke, die nach Hund stank (was seltsam war, weil sie gar keinen Hund hatten), und einem Metallkorb voll alter Autoteile. Sie stopfte Schuhe, Hose und Hemd hinein, machte das Licht aus und ging ins Haus.

Das Heim der Gilpins war ein kleines, holzvertäfeltes Strandhaus, in dem so einiges nicht funktionierte: Die Fenster klemmten, die Rohre klapperten, die Steckdosen knisterten bedrohlich, wann immer man ein Elektrogerät einsteckte. Sie sparten auf eine Renovierung, aber vor der nächsten oder gar der übernächsten Saison würde es wohl nichts damit werden.

Abby hatte es nicht eilig. Sie liebte das Haus mit allen seinen Macken und Unzulänglichkeiten: die knarzenden Bodendielen, das ständige Ächzen des arbeitenden Holzes, die Fliegentür, die mitten in der Nacht endlos aufging und wieder zuschlug. Sie war kein Mensch, der sich beschwerte, ein Dasein in stiller Verzweiflung fristete und sich vor dem Altern fürchtete. Nein, so war Abby nicht. Sie war zufrieden mit sich und dem Rest der Welt. Glücklich.

Noch bevor sie die Küche betrat, wusste sie, dass sie dort ihren fünfzehnjährigen Sohn vorfinden würde: Der schwere Duft seines Lynx-Deos verriet ihn. Eddie stand mit einer blauen Schürze um die Hüften an der Arbeitsplatte und zerdrückte eine Knoblauchzehe. Eines Tages würde er einen gutaussehenden Mann abgeben, irgendwann in ferner Zukunft, wohingegen er aktuell gewissermaßen die Ichabod-Crane-Phase der Pubertät durchlief – viel zu lange Arme und Beine, die nichts als linkische, unkontrollierte Bewegungen zuwege zu bringen schienen, und ein Archipel aus wüsten violetten Aknepickeln auf der Stirn.

Er sah nicht auf, als Abby hereinkam.

»Was gibt’s zum Abendessen?«, fragte sie.

»Vegetarische Gourmet-Pizza«, antwortete er mit emotionsloser Stimme, wie er sie vermutlich auch für einen Vortrag über die Erfindung der Leiter anwenden würde.

»Klingt aufregend.«

Mit einem gelangweilten Achselzucken wischte er routiniert die Messerklinge an der Schürze ab, kniff die Augen zusammen und begann, mit einer Entschlossenheit die Pilze zu schnippeln, als wollte er sie bestrafen.

»Nicht so hektisch«, mahnte Abby. »Wenn dein halber Finger drin landet, ist es nicht mehr vegetarisch.«

Er erwiderte nichts darauf. Miese Laune, tippte Abby. Sie nahm ein Bier aus dem Kühlschrank, als ihr Mann Ray aus dem Bad kam, frisch geduscht und duftend, mit noch nassem Haar.

»Auch ein Bier?«, fragte Abby.

»Wasser reicht.«

»Wasser statt Bier.« Sie schnitt eine Grimasse. »Ich dachte immer, ich kenne dich.«

Abby ging zwar regelmäßig joggen, glich ihr Fitnessprogramm jedoch mit einem ungesunden Maß an Zucker, Fett und Alkohol sorgsam wieder aus. Ray hingegen war derzeit auf einer Art Gesundheitstrip – was noch untertrieben war: Er unterwarf sich einem brutalen Fitnessregime, das an Selbstverletzung grenzte.

Er war niemals auch nur ansatzweise übergewichtig gewesen, sondern allenfalls kräftig gebaut, was ihm jedoch gut stand. In letzter Zeit jedoch bestand seine Brust aus einem deutlichen Relief aus Wölbungen und Konturen, die Haut spannte sich um seinen Kieferknochen, dessen markante Ausprägung ihr bislang nie aufgefallen war, und die Ärmel seiner T-Shirts spannten sich um einen strammen Bizeps. Die zunehmende Straffung und Festigung seines Körpers erinnerte Abby an eine archäologische Ausgrabungsstelle: Sie malte sich aus, wie die Forscher immer mehr Sand, Staub und Fett entfernten, bis nichts als das blanke Skelett übrigblieb.

»Klingt schwer nach Midlife-Crisis«, bemerkte sie, hielt ein Glas unter den Wasserhahn und reichte es ihm. »Bald fängst du noch an, dein T-Shirt in die Hose zu stecken.«

Er seufzte. Vielleicht fasse ich ihn ja zu hart an, dachte Abby und schlang die Arme um ihn. Sie konnte Ray deutlich spüren, gleichzeitig aber auch den Anti-Ray … Ray, von dem jemand die Kruste außen herum abgesäbelt hatte.

Erst jetzt ging ihr auf, dass es einige Zeit her war, seit sie zuletzt Sex gehabt hatten. Und noch länger, seit sie ihn vollständig nackt gesehen hatte. Die letzten Male hatten sie sich im Dunkeln geliebt. Und mit einer großen Flasche Rotwein intus.

Sie spürte seine Finger auf ihren Speckröllchen an der Taille, ehe er sie wegzog.

Weniger selbstsichere Frauen hätte es womöglich nervös gemacht, wenn ihr Partner systematisch sein Äußeres zu optimieren begann, doch Abby konnte die boshafte, wenngleich schuldbewusste Stimme in ihrem Innern nicht ignorieren, die ihr sagte, dass auch Rays Fitnesswahn nichts als eine Phase war. Letztes Jahr hatte er auf dem Festland ein paar Abendkurse belegt und sich als Neu-Entrepreneur gefühlt. Im Jahr zuvor hatte er das Thema Franchise für sich entdeckt gehabt. Wahrscheinlich setzte er sich nächsten Monat an den Schreibtisch, um seinen Romanbestseller zu Papier zu bringen, von dem er schon seit ihrer Hochzeit redete, ehe er anfing, Klavierstunden zu nehmen.

Sie brauchte lediglich abzuwarten. Der Gedanke mochte hässlich und gemein sein, trotzdem war etwas Wahres dran. Ray kapierte schlicht nicht – oder wollte nicht wahrhaben –, dass mehr als ein paar Stunden auf dem Laufband oder ein Semester BWL an der Volkshochschule nötig waren, um dieser Insel zu entkommen. Belport Island war bekannt dafür, dass sie einen festhielt; es war, als drücke sie einem den Kopf unter Wasser und flüstere einem Ich werde dich niemals loslassen, Baby ins Ohr. Diese Lektion hatte Abby schon vor langer Zeit gelernt, daher wusste sie, dass es leichter war, sich dem Sog zu ergeben, als gegen ihn anzukämpfen.

»Es ist nichts Schlechtes dran, wenn man versucht, etwas aus seinem Leben zu machen«, ertönte eine Stimme aus dem Flur, in einem Tonfall wie mit Rattengift bestreuter Erdbeerkuchen. Augenblicke später stapfte Lori in ihren Doc Martens, einem weiten Nirvana-Shirt und einem Gesicht wie drei Tage Regenwetter herein.

»Übrigens hat Eddie vergessen, das Brennholz reinzuholen, und jetzt ist es pitschnass.«

»Und deine Arme sind bloß angemalt, oder was?«, schoss Eddie zurück.

Lori verdrehte die Augen. Sie war ein bildhübsches Mädchen mit glattem dunklem Haar und feinen Gesichtszügen, die wie von einem Expertenteam zusammengestellt zu sein schienen, als hätte man versucht, ein Höchstmaß an Symmetrie zu erlangen. Irgendwann um die Zeit ihres dreizehnten Geburtstags war sie geheimniskrämerisch und berechnend geworden. Inzwischen war sie sechzehn, und nichts deutete auf eine baldige Änderung hin. Trotzdem war Abby bewusst, dass die Pubertät wie die Gezeiten war: Zuerst zog sie einen weg, dann spülte sie einen wieder zurück. Und wenn nicht, könnte aus Lori eines Tages immer noch eine erfolgreiche Managerin werden. Entweder das oder aber eine begnadete Serienmörderin.

»Ich finde es gut, dass du dich nicht mit dem Erstbesten zufriedengibst, wenn du auch mehr haben kannst, Dad«, sagte sie.

»Danke, Schatz«, erwiderte Ray.

»Bei dem Wort zufriedengeben hat sie mich angeschaut«, sagte Abby. »Ich bin nicht die Einzige, der das aufgefallen ist, oder?«

Lori verschränkte die Arme vor der Brust. »Ich verstehe bloß nicht, wieso du dich so darum bemühst, dass er sich wie ein Idiot vorkommt.«

»Und ich verstehe nicht, wieso du dich so darum bemühst, dich wie ein Arsch aufzuführen«, konterte Abby.

»So sehr bemühen muss sie sich da gar nicht«, warf Eddie ein.

»Ding, ding, ding«, sagte Ray. »Runde eins ist beendet. Die Kontrahenten zurück in ihre Ecken.«

Lori zupfte eine Haftnotiz vom Kühlschrank und drückte sie Ray in die Hand. »Eileen Betchkie hat angerufen. Warum, hat sie nicht gesagt, dafür hat es eine Ewigkeit gedauert, bis sie es endlich raushatte. Ich dachte schon, ich müsste am Telefon übernachten.«

»Eileen?«, fragte Abby. »Warst du nicht heute bei ihr?«

Ray nickte. »Wahrscheinlich habe ich ein Büschel Rasen beim Mähen übersehen, und jetzt will sie, dass ich noch mal vorbeikomme und es wegmache. Ich rufe sie morgen an.«

Island Care bot hauptsächlich einen Betreuungsservice für leerstehende Ferienhäuser und Zweitwohnsitze auf der Insel an, doch auch wenn Ray in der kühleren Jahreszeit immer gut beschäftigt war, verdiente er trotzdem nicht genug, um sie über die Hauptsaison zu bringen, wenn die Touristen zurückkehrten und wieder selbst Hand anlegten. Deshalb nahm er auch Hausmeisteraufträge an, brachte Gärten in Schuss oder mähte den Rasen einheimischer Inselbewohner. Obwohl es Abbys Einschätzung nach eigentlich leichter sein müsste, für Ortsansässige zu arbeiten, empfand Ray es stets als latente Demütigung. Trotzdem – sie waren nicht in der Position, diese Aufträge abzuschlagen.

»Wahrscheinlich fühlt sie sich bloß einsam«, meinte sie.

»Oder sie steht auf Dad«, schlug Lori vor.

»Ich fürchte, ihr habt leider beide recht«, sagte Ray.

Er setzte sich an den Küchentisch und starrte auf den beachtlichen Stapel Rechnungen, als lasse sich allein durch intensives Hinsehen die Fälligkeit nach hinten schieben. »Irgendeine Chance, dass du eine zusätzliche Schicht bei Buy & Bye abkriegst?«, fragte er Abby.

»Um diese Jahreszeit kaum«, antwortete sie. »Ich kann ja trotzdem mal fragen. Aber wir kommen doch klar, oder?«, fügte sie beim Anblick seiner besorgten Miene hinzu.

»Immer«, antwortete er. »Wenn wir eines in dieser Familie können, dann ist es überleben.«

3

– Die Witwe –

»John Paul Getty III war der Enkel eines berühmten amerikanischen Ölmilliardärs«, erklärte Fisher Keddie und stapfte in dem hell erleuchteten Befragungsraum irgendwo im ersten Stock der Brighton Police Station auf und ab. »Er wurde 1973 entführt, und als sein Großvater sich weigerte, das Lösegeld zu bezahlen, haben die Kidnapper ihm kurzerhand ein Päckchen mit John Pauls Ohr geschickt. Seinem Ohr.«

Johns Vater hatte darauf bestanden, sich mit Kate auf dem Polizeirevier zu treffen. Er war klein und massig, mit beginnender Glatze und einer Brille, die zu winzig für sein dickliches Gesicht wirkte. In seinen sonst so gelassenen, nachdenklichen Augen stand blanke Panik.

»Und dann ist da noch Walter Kwok«, fuhr er fort. »Und Frank Sinatras Sohn. Die Liste ist endlos. Es sind alles Söhne reicher Männer, die entführt wurden, um deren Familien zu schröpfen. Das muss der Grund sein. Es gibt keine andere Erklärung.«

Der Polizist, der ihre Vermisstenanzeige aufnahm, wartete Fishers Ausbruch geduldig ab. Er war groß und hatte sich offensichtlich schlampig rasiert, weil auf seiner linken Wange eine kleine Insel schwarzer Stoppeln prangte, von der Kate kaum den Blick lösen konnte. Er hatte ihr seinen Namen genannt, allerdings hatte Kate ihn nicht richtig mitbekommen, und das Namensschild an seiner Brusttasche war zu abgenutzt, um die Buchstaben ausmachen zu können.

»Hat John irgendwelche auffälligen Narben oder Tätowierungen, die die Identifikation erleichtern würden?«, fragte der Polizist, als ihm eine Pause in Fishers Wortschwall die Gelegenheit dazu bot.

»Ich habe das Gefühl, Sie hören mir gar nicht zu«, motzte Fisher prompt. »Unsere Familie ist millionenschwer. Wir sollten doch … keine Ahnung … Fangschaltungen einrichten, für den Fall, dass eine Lösegeldforderung eingeht. Und, ja, auf dem linken Unterarm hat er eine Narbe. Er ist mit neun von der Schaukel gefallen.«

»Das stimmt nicht«, warf Kate ein. »Vor der Hochzeit hat er sie bei einem plastischen Chirurgen entfernen lassen, weil er sie nicht länger wollte. Ich mochte sie, aber er konnte sie nicht ausstehen, weil sie wie Baked Beans aussah, meinte er.«

Im Zweifingersystem tippte der Polizist die Antwort in seinen Computer, ehe er die nächste Frage vom Bildschirm ablas. »Liegen schwerwiegende Krankheiten vor?«

»Nein«, antwortete Kate.

»Nimmt John irgendwelche verschreibungspflichtigen Medikamente?«

»Wie liefe das hier ab, wenn es sich um eine Frau handeln würde?« Fisher trat zu ihnen an den Tisch. »Sie würden sofort Hubschrauber und Hundestaffeln losschicken und von Tür zu Tür Befragungen durchführen.«

»Ist Drogen- oder Alkoholabusus bekannt?«

»Nein«, antwortete Kate.

»Hat Ihr Ehemann jemals Selbstmordandeutungen gemacht?« Sein Tonfall war trockener als ein ungebutterter Toast.

»Großer Gott«, stöhnte Fisher. »Natürlich nicht. John ist ein ganz normaler Mann. Er ist glücklich.«

Ist er das?, dachte Kate. Allmählich war es, als redeten sie nicht länger über ihren Mann, sondern über einen Fremden. Eine Vermisstenanzeige aufzugeben wies durchaus Ähnlichkeiten mit einem Bewerbungsgespräch oder einer Anfrage für einen Kredit auf: Man musste sich Dutzende Fragen anhören und kam sich mit jeder weiteren noch blöder oder naiver vor.

»Was machen Sie beruflich, Mrs Keddie?«, wollte der Beamte wissen.

Kate hasste diese Frage. »Ich bin Hausfrau und Mutter.«

»Ah, Sie haben Kinder?«

»Ja. Eine Tochter. Mia. Sie ist zehn. Ich wollte sie heute nicht zur Schule schicken, deshalb ist sie gerade bei ihrer Großmutter.«

Der Polizist entdeckte einen Fettfleck auf der Leertaste und bearbeitete ihn mit seinem gut befeuchteten Zeigefinger. »Ist Ihr Mann gerne Arzt?«

»Doktor der Medizin«, korrigierte Fisher. »Und, ja, er hat Freude an seinem Beruf. Große Freude sogar.«

»Trotzdem ist es nicht gerade ein Spaziergang, in der Palliativmedizin zu arbeiten. Meine Frau und ich mussten meinen Schwiegervater in einem Hospiz unterbringen. Das Trinity konnten wir uns nicht leisten, aber ich gehe davon aus, dass sie im Grunde alle ähnlich sind. Der Tod ist ein ständiger Begleiter in diesen Einrichtungen. Es muss ziemlich deprimierend sein, so etwas permanent um sich herum haben zu müssen. Hat John deshalb gekündigt?«

»Ich weiß es nicht«, gestand Kate und bemühte sich, nicht resigniert zu klingen. »Er hat es mir nicht gesagt.«

»Er hat Ihnen nicht erzählt, weshalb er gekündigt hat?«

»Er hat ihr nicht erzählt, dass er gekündigt hat«, warf Fisher ein. »Und auch sonst niemandem in der Familie. Wir wissen es erst seit gestern.«

»Er hat es Ihnen beiden also vorenthalten?«, hakte der Beamte nach. »Wie erklären Sie sich das?«

»Ich habe keine Ahnung«, antwortete Kate. »Ich wünschte, ich hätte eine.«

Der Polizist lehnte sich auf seinem Stuhl nach hinten. »Erzählen Sie mir mehr über diese Konferenz.«

»Es ist ein zehntägiges Palliativkolloquium, zu dem das Trinity jedes Jahr einen Vertreter schickt. Es findet immer an einem anderen Ort statt. Letztes Jahr war es in San Francisco, das Jahr zuvor in Schweden, glaube ich. Eigentlich wollte John nicht hin, aber es fiel wohl in letzter Minute jemand aus, deshalb blieb ihm nichts anderes übrig.«

»Wie kurzfristig war es denn?«

»Er hat wenige Tage davor davon erfahren.«

»Aber Sie haben Grund zur Annahme, dass er nicht an der Konferenz teilgenommen hat.«

»Ich habe in dem Hotel angerufen, wo sie stattfand. Eigentlich sollte John dort ein Zimmer haben, aber man konnte keine Reservierung finden. Dann habe ich die Fluggesellschaft angerufen. Seine Flugdaten stimmten, aber er ist nie in die Maschine gestiegen. Soweit ich weiß, hat er nicht mal ein Ticket gekauft.«

»Haben Sie irgendeine Ahnung, wo Ihr Ehemann sich die letzten zwei Wochen aufgehalten haben könnte?«

»Nein.«

Die viel bedeutsamere Frage war, was John während der letzten drei Monate getan hatte, während er hätte bei der Arbeit sein sollen. Übelkeit stieg in ihr auf. Einige Teile ihres Körpers waren wie betäubt, andere schmerzten, ihre Brust war eng. Es war, als hätte sie jede Kontrolle über sich verloren. Sie schwankte unablässig zwischen Angst, Wut und der Frage, wo er die ganze Zeit gewesen war und wo er sich jetzt aufhielt, in diesem Moment.

Wenn er nicht tagtäglich in den frischen Hemden, die Kate ihm gebügelt hatte, ins Hospiz gegangen war, wohin dann? Wie hatte er seine Tage zugebracht? Mit wem?

»Standen Sie mit Ihrem Mann seit seiner Abreise in Kontakt?«, wollte der Polizist wissen.

»Wir haben alle paar Tage über Skype gesprochen.«

»Und es hatte den Anschein, als sei er in London?«

»Er schien sich in einem Hotelzimmer aufzuhalten. Es war nicht gerade Big Ben im Hintergrund zu sehen, aber ich hatte keinen Grund zur Annahme, dass er nicht in London ist.«

»Und hat er Ihnen bei den Gesprächen irgendwie das Gefühl gegeben, dass etwas nicht stimmt?«

Wenn wir nicht über die Monster reden, die es in dieser Welt nun mal gibt, sind wir auch nicht auf sie vorbereitet, wenn sie plötzlich unter dem Bett hervorspringen, hörte sie Johns leise Stimme sagen.

»Es wirkte so, als hätte er Heimweh«, sagte Kate. »Er hat uns vermisst. Er meinte, er wolle endlich wieder nach Hause kommen.«

»Sonst noch etwas?«

»Was denn zum Beispiel?«

Der Polizist zuckte die Achseln, viel zu beiläufig für Kates Geschmack. »Kam Ihnen etwas seltsam an ihm vor? Wirkte er bedrückt? Oder ist Ihnen sonst etwas Ungewöhnliches an seinem Verhalten aufgefallen? Etwas, das man als Ehefrau merkt?«

Fisher rümpfte die Nase, erhob sich mit einem übertriebenen Seufzer und trat ans Fenster. Kurz kniff er die Augen gegen die hereinfallende Sonne zusammen und schüttelte den Kopf.

Der Polizist beobachtete ihn einen Moment lang. »Möchten Sie noch etwas hinzufügen, Mr Keddie?«

»Kate ist nicht der Typ …« Mit einer resignierten Handbewegung ließ er seine Stimme verklingen. »Vergessen Sie’s. Es ist nicht wichtig.«

»Nicht der Typ wofür?«, hakte Kate nach.

Er sah sie an, dann blickte er auf seine Füße. »Du bist nicht der Typ Ehefrau, dem etwas auffällt, Kate. Sollte ihn jemand in eine Falle gelockt und bedroht haben, hat er dir vielleicht ein heimliches Signal geschickt oder so was.«

»Aber da war nichts.«

»Bist du sicher? Nimm’s mir nicht übel, Kate, aber du hast manchmal eine ziemlich schwammige Art an dir, eine Passivität bis an die Grenze der Substanzlosigkeit. Herrgott noch mal, ich brauche dringend eine Zigarette. Was für eine Scheiße, dass man hier drin nicht rauchen darf.«

Kate presste die Lippen aufeinander und versuchte, seiner Bemerkung keine allzu große Bedeutung beizumessen. Er hatte Angst um seinen Sohn, die er auf sie projizierte. Trotzdem waren seine Worte wie ein Schlag ins Gesicht. Passivität bis an die Grenze der Substanzlosigkeit. Hatte John sie nicht immer genau so haben wollen?

Der Polizist räusperte sich ungeduldig. »Besitzt Ihr Mann einen Wohnwagen, eine Hütte, ein Ferienhaus, eine leerstehende Immobilie oder sonst etwas in der Art?«

»Wir haben ein Ferienhaus auf Belport Island«, antwortete sie und spürte, wie sich Fishers Blick in ihren Hinterkopf bohrte. »Aber dort würde John nicht hingehen. Er kann die Insel nicht ausstehen.«

»Aber in dem Fall ist es doch seltsam, sich dort ein Ferienhaus zu kaufen, oder nicht?«

»Das haben wir auch nicht«, antwortete Kate. »Das Haus war ein Hochzeitsgeschenk von Johns Eltern.«

»Wir haben dort die Sommer verbracht, als John noch klein war«, erklärte Fisher.

Der Polizist lehnte sich auf seinem quietschenden Stuhl nach hinten und stieß einen Pfiff aus. »Wahnsinn. Ich habe zur Hochzeit eine Servierplatte und zwei Toaster bekommen.«

Weder Kate noch Fisher fanden die Bemerkung sonderlich witzig; zumindest in dem Punkt waren sie sich einig.

»Haben Sie irgendeinen Verdacht, ob Ihr Ehemann von jemandem entführt oder verletzt worden sein könnte?«

»Eigentlich nicht«, antwortete Kate zögerlich.

»Gibt es irgendjemanden, der ihm etwas antun wollen könnte?«, fragte der Beamte weiter. »Hat er Feinde? Leute, mit denen er sich nicht versteht?«

Fisher holte Luft und setzte zum nächsten Wutanfall an, doch der Polizist brachte ihn mit einer Geste zum Schweigen.

»Ich frage Mrs Keddie«, sagte er und wandte sich wieder Kate zu.

»Nein«, sagte sie. »Alle mögen John. Er ist ein sehr warmherziger Mensch, sehr charmant. Auf Dinnerpartys ist er immer der Gast, neben dem am liebsten alle sitzen würden.«

»Sie halten es also für wahrscheinlicher, dass er aus freien Stücken verschwunden ist?«

»Er würde nie im Leben einfach abhauen, ohne jemandem Bescheid zu sagen«, warf Fisher ein. »Das würde er Mia niemals antun.«

»Mir würde er das nicht antun«, sagte Kate.

Fisher ließ die Bemerkung unkommentiert. Die Augen des Polizisten schimmerten bläulich im Schein des Bildschirms.

»Wie würden Sie Ihre Ehe einstufen?«, wollte er von Kate wissen.

»Wie ich sie einstufen würde?«

»Würden Sie sie als erfolgreich bezeichnen?«

Sie wollte etwas erwidern, doch mit einem Mal war ihr Mund wie ausgedörrt. Beim Gedanken an ihre Ehe hatte sie einst ein atemberaubendes Heim auf einem weitläufigen Grundstück auf einer Klippe hoch über dem Wasser vor Augen gehabt, nun sah sie dasselbe Haus vor sich, aber auf morschen Balken stehend, von Termiten zerfressen und mit jedem Tag ein Stück weiter dem Abgrund zugeneigt.

»Glücklich«, sagte sie schließlich. »Ich würde meine Ehe als glücklich einstufen.«

Da ist es wieder, das Wort, dachte sie und zog die Sporttasche, die sie mitgebracht hatte, unter ihrem Stuhl hervor, stellte sie vor sich auf den Tisch und öffnete den Reißverschluss.

Der Polizist hob eine Braue. »Was ist das?«

»Ich habe im Internet gelesen, dass Sie wohl einen Blick auf Johns elektronische Kommunikation werfen und eine DNS-Probe von ihm nehmen wollen. Deshalb habe ich sein iPad mitgebracht, außerdem seine Zahnbürste, einen Kamm und ein paar alte Rasierklingen, die ich im Schrank gefunden habe. Ich wusste nicht genau, wie das mit der DNS-Probe funktioniert, hoffe aber, dass die Sachen okay sind. Ich habe beim Zusammenpacken Gummihandschuhe getragen.«

Er schürzte die Lippen und legte in einer sarkastischen »Ach, wie süß von Ihnen«