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Das berührende Memoir und die einzigartige Biographie einer Shoah-Überlebenden, die sich bis heute gegen das Vergessen engagiert.
Als junges Mädchen läuft sie unbeschwert durch die staubigen Gassen des kleinen ungarischen Dorfes, in dem sie mit ihrer Familie lebt. Bis sie eines Tages nach Auschwitz deportiert wird. Edith Bruck, eine der letzten Überlebenden der Shoah, blickt zurück auf ihre eigene Geschichte. Sie erzählt, wie sie nach der Erfahrung absoluter Grausamkeit und Unmenschlichkeit zurück ins Leben findet, wie sie sich in Israel fremd fühlt, sich einer Tanztruppe anschließt und schließlich in Italien niederlässt, wo sie eine neue Sprache lernt, auf der sie bis heute schreibt. Ihre Worte zeugen von großer Stärke und Klarheit: Eindringlich schildert sie ihr Hadern mit Gott, ihr Festhalten an Vergebung und ihr vehementes Eintreten gegen das Vergessen.
»Edith Bruck ist eine außergewöhnliche Schriftstellerin. Intensiv wie wenige.« La Repubblica
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Seitenzahl: 146
Veröffentlichungsjahr: 2023
Als junges Mädchen läuft sie unbeschwert durch die staubigen Gassen des kleinen ungarischen Dorfes, in dem sie mit ihrer Familie lebt. Bis sie eines Tages nach Auschwitz deportiert wird. Edith Bruck, eine der letzten Überlebenden der Shoah, blickt zurück auf ihre eigene Geschichte. Sie erzählt, wie sie nach der Erfahrung absoluter Grausamkeit zurück ins Leben findet, wie sie sich in Israel fremd fühlt, sich einer Tanztruppe anschließt und schließlich in Italien niederlässt, wo sie eine neue Sprache lernt, auf der sie bis heute schreibt. Ihre Worte zeugen von großer Stärke und Klarheit: Eindringlich schildert sie ihr Hadern mit Gott, ihr Festhalten an Vergebung und ihr vehementes Eintreten gegen das Vergessen.
Edith Bruck, 1931 in Ungarn geboren, wurde 1944 nach Auschwitz deportiert. Nach der Befreiung in Bergen-Belsen emigrierte sie zunächst nach Israel. Seit 1954 lebt sie in Rom, wo sie als Schriftstellerin, Journalistin, Drehbuchautorin und Übersetzerin arbeitet. Für ihr vielfältiges Werk wurden ihr zahlreiche Auszeichnungen verliehen, 2021 erhielt sie das Verdienstkreuz der Bundesrepublik Deutschland. »Das barfüßige Mädchen« war für den renommierten Premio Strega nominiert.
Verena von Koskull, geboren 1970, studierte Italienisch und Englisch sowie Kunstgeschichte in Berlin und Bologna. Nach Stationen in verschiedenen Verlagen arbeitet sie seit 2002 als freie Übersetzerin. Für ihre Übersetzungen aus dem Italienischen wurde sie unter anderem mit dem Deutsch-Italienischen Übersetzerpreis ausgezeichnet.
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Edith Bruck
Das barfüßige Mädchen
Die Erinnerungen einer Überlebenden – eine Liebeserklärung an das Leben
Aus dem Italienischen von Verena von Koskull
Cover
Titel
Inhaltsverzeichnis
Impressum
Titelinformationen
Informationen zum Buch
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Das barfüßige Mädchen
11152
Neues Leben
Die Wirklichkeit
Die Flucht
Eins, zwei, drei, eins, zwei, drei …
Brief an Gott
Anmerkung
Erläuterungen
Impressum
Die Geschichte die wahre die niemand studiert die den meisten heute nur lästig ist (die unendliche Trauer gebar) nahm dir mit einem Streich die Kindheit
Nelo Risi
Vor langer, langer Zeit lebte einmal ein Mädchen, das mit wippenden blonden Zöpfen im Frühling barfuß durch den sonnenwarmen Staub lief. In der Gasse des Dorfes, in dem es lebte, die Sechs Häuser hieß, grüßten die Kleine einige und andere nicht. Manchmal blieb sie stehen und schlüpfte heimlich in den Keller zu Juja, die oft dort unten weggesperrt und festgebunden war. Man sagte, Juja sei verrückt, dabei schien sie genau wie die anderen jungen Frauen zu sein, und voll Mitgefühl lauschte das Mädchen ihren Klagen über die böse Familie, die ihr verboten hatte, ihren geliebten Elek zu heiraten.
Das Mädchen hätte sie gerne gestreichelt, obwohl sie schmutzig war, doch als es sich einmal ängstlich näher wagte, riss Juja ihm eine rote Zopfschleife herunter, und ehe sie auch die zweite fortreißen konnte, stob es davon, ganz bang, von der Mutter oder der großen Schwester Judit, die sich gern als Vizemutter aufspielte, ausgeschimpft zu werden.
Die ältesten Schwestern waren in der Hauptstadt und machten eine Schneiderlehre, der große Bruder war in einer kleineren Stadt. Zu Hause lebten noch ein blässlicher älterer Bruder und sie, die Kleinste von sechs lebenden Geschwistern, oft Krätzchen genannt, wie die Reste des Teiges, den die Mutter vom Boden des Backtrogs kratzte.
»Krätzchen, halt den Mund«, bekam sie oft zu hören, sobald sie zu viel verstand, und nicht Ditke, ihren Kosenamen.
Wenn sie durchs Dorf rannte, hetzten schnauzbärtige Bauern ihr manchmal die Hunde nach, und bestürmte sie ihre Mutter mit zu vielen »Warum?«, hob die allenfalls den veilchenblauen Blick zum Himmel und sagte: »Frag Ihn und danke Ihm, dass ein weiterer Winter vorüber ist und das feuchte Holz im Ofen nicht mehr weint.«
»Und die Schleife, wo ist die Schleife?!«, zeterte die Mutter entsetzt, als Ditke nach Hause kam.
»Die habe ich verloren.« Sie konnte die Wahrheit nicht sagen, denn hätte die Mutter herausgefunden, dass sie die verrückte Juja besucht hatte, hätte sie ihr sofort eine Ohrfeige verpasst oder sie ohne Abendbrot ins Bett geschickt, weil sie wusste, dass diese letzte rotznäsige Tochter, die sie auf die Welt geschissen hatte (so drückte sie sich aus, wenn sie fuchsig war), eine Schwäche für Idioten hatte, für Greise, die bei der ersten Sonne stumm auf der Straße hockten, oder für sabbernde Stotterer, die sie zu verstehen versuchte. Sie besaß eine ungesunde Neugier, aber die Mutter musste anerkennen, dass sie die Beste in der Schule war, trotz der Rassengesetze, die das Dorf nicht vollständig umsetzte. Obwohl man sie in die hinterste Schulbank verbannt hatte, bekamen die drei jüdischen Mädchen die Gesetze nicht mit der gleichen Härte zu spüren wie die Schulkinder in den Städten. Die kleine Ditke saß neben ihren zwei Glaubensgenossinnen: Piri, Tochter der Krämerin Roth, und Eva, Tochter des Gewürzhändlers Reisman, dazwischen sie, Tochter von Stein Schreiber, der in Ermangelung einer besseren Arbeit anderer Leute Vieh auf den Markt der nächstgelegenen Stadt brachte, um es dort für mageren Lohn zu verkaufen.
Piri schaute sie schief an, weil sie so arm war wegen dieses Vaters. Im Gegensatz zu ihrem mit Bart und Locken, sah Ditkes Vater aus wie ein Goi und ließ sich nur selten in der kleinen Synagoge blicken. Eva dagegen, die zwölfte Tochter eines orthodoxen Vaters, war eine Freundin. Aber alle waren neidisch, als Ditke für einen Aufsatz über den Frühling als Einzige der Klasse einen Preis bekam und fast platzte vor Freude. An dem Tag ging sie nicht, sie flog nach Hause und schwenkte ihren Preis, eine bunte Postkarte mit einer Schwalbe und einer Widmung auf der Rückseite: »Meiner besten und verdientesten Schülerin«, unterschrieben von Tarpai, Klara, der Lehrerin. »Mama!«, jauchzte sie auf der Straße. Die Leute streckten die Köpfe heraus, nur ihre Eltern schienen verschwunden zu sein. Als sie zur Tür hereinkam, sah sie Mutter und Schwester im sonnigen Hof die Federn aus den Kissen rupfen.
»Was wedelst du denn so herum? Hast du keine Augen im Kopf? Halt die Pfoten still und mach nicht so einen Wind! Und heb sofort sämtliche Federn auf, die du weggeweht hast!«
»Schaut, schaut doch!« Noch immer schwenkte sie die Postkarte, wirbelte eine weitere Wolke empor und zeigte auf die Widmung.
»Hat uns noch gefehlt, dass du einen Preis kriegst! Statt zu beten, sagst du nur Gedichte auf«, knurrte die Mutter, wenn auch mit wohlwollendem Blick und einem kaum merklichen Lächeln, das ihrer strengen Miene eine zauberhafte Milde verlieh und ihre Schönheit und Jugend wiederaufscheinen ließ.
»Bekomme ich von dir auch einen Preis, Mama? Einen Kuss?«
Ein Kuss war eine rare Geste, die einzigen Anlässe waren Trauerfälle, Trennungen und Wiedersehen: Als die Mutter zur Hochzeit der zweitältesten Tochter Mirjam gefahren war, die einen geflohenen jungen Polen geheiratet hatte; als der kriegsdekorierte Vater 1942 heimgekehrt war; und als die Großmutter mütterlicherseits starb, uralt in den Augen der zwölfjährigen Ditke, die den reglosen, in ein weißes Tuch gehüllten Körper am Boden anstarrte, bis er auf zwei Brettern fortgetragen wurde, zum kleinen Friedhof hinter Evas Haus. Weder Evas noch Piris Vater waren gekommen, denn sie waren Kohanim. Betrübt ging Ditke in Gedanken die Namen der jüdischen Familien des Dorfes durch: Szàmeth, die beiden Familien Grosz, Kràmer, Klein, Printz, Weisz, zweimal Reisman, Ròth und Bieber, der Bruder ihrer Mutter. Nur die drei Männer ohne Bart und Locken waren gekommen.
»Sind die mit Bart und Locken was Besseres, Papa?«, fragte Ditke ihren Vater.
»Sie sind wie Priester. Sie meditieren, studieren, sind Kohanim und zeugen Dutzende Kinder«, flüsterte er.
»Und haben nicht mal deren Namen im Kopf«, zischte die Mutter.
»Ihr sollt nicht streiten«, ging Ditke dazwischen, drückte die warme, weiche mütterliche Hand und versuchte, aus dem rituellen Gebet, das soeben begonnen hatte, schlau zu werden.
»Möge Sein großer Name für immer gelobt und geheiligt sein auf der Welt, die er nach Seinem Willen erschaffen hat. Möge Er Sein Reich in euren Tagen und zu Lebzeiten des ganzen Hauses Israel errichten …«
Als der Name Israels fiel, brach ihre Mutter, die bis dahin keine Träne vergossen hatte, in Schluchzen aus, das der Himmel unmöglich überhören konnte. Der Vater drückte sie so fest an sich wie noch nie und sagte immer wieder ihren Namen, Frida, Friduska (ihr hebräischer Name war Deborah). Und in einem seltsamen, ungewohnten Moment des geeinten Glücks klammerten sich die drei Kinder an ihre Eltern: Judit, die Gläubigste, Jonas, der Blasseste, und die kleine Ditke. Die drei älteren, Sara, Mirjam und David, kehrten nur selten nach Hause zurück.
Nach der einwöchigen Trauerzeit, die sie, vor allem von Judit umsorgt, hockend auf dem Boden verbracht hatte, richtete sich die Mutter voller Schmerzen auf. Statt sich die Beine zu vertreten und die Glieder zu strecken, starrte sie auf den ewigen Morgenrock der Großmutter, den sie nie hatte waschen dürfen. Sie nahm ihn in die zitternden Hände und rief die Kinder zu sich, ohne den Blick von einer der beiden Taschen, die zugenäht war, zu nehmen, als enthielte sie etwas Hässliches oder Heiliges oder gar einen geheimen Schatz.
Ganz behutsam, die Brille auf der Nase, trennte sie die dunkle Naht auf, dunkel wie das Kleidungsstück, in dem die immer kleiner werdende Gestalt der Großmutter versunken war. Der Faden löste sich rasch, und mit angehaltenem Atem wollten alle sehen, was in der Tasche war.
Die Mutter steckte ihre Hand nicht ohne Furcht hinein. Beim Anblick der vielen Geldscheine stieß sie einen ungläubigen Seufzer aus. Den Kindern blieb der Mund offen stehen, und als zudem die beiden goldenen Eheringe und eine Halskette mit dem Davidstern zum Vorschein kamen, brachen sie in Freudenschreie aus, während der Mutter Tränen in die Augen schossen.
»Damit«, sie hob die Faust, die noch immer die Gegenstände umklammerte, »bauen wir uns ein neues Haus, bevor diese alte Bruchbude über uns einstürzt. Es ist zwar nicht die richtige Zeit zu bauen, aber euer Onkel Berti, mein lieber Bruder, nimmt uns bestimmt so lange in seinem großen Haus auf, im vornehmen Viertel, gleich beim Rathaus und der Gendarmerie, wo auch der Richter und Lehrer Rinkó wohnen. Und in ein paar Monaten habt ihr dann ein rotes Ziegeldach über dem Kopf, nicht mehr dieses faulige Stroh.« Und so geschah es.
Ein befreundeter Rom half dem Vater, Judit und Ditke, mit bloßen Füßen das Gemisch für die Lehmziegel zu stampfen.
Die Sonne strahlte wie nie. Als die Mutter, die im Freien kochte, forschend zum Himmel blickte, verzogen sich die Wolken.
Von Tagesanbruch bis Sonnenuntergang arbeiteten alle. Zum ersten Mal fieberte Ditke den Sommerferien entgegen und redete von dem Haus, als wäre es ein Schloss, obwohl es nur aus einer großen Stube, der Küche und einer weiteren Kammer bestehen würde.
Hin und wieder verirrte sich eine Zeitung ins Dorf, die Gyula ihrem Vater weitergab, und er las sie hinter dem Rücken der Kinder und seiner Frau, die sowieso ständig in Sorge war.
Es gab auch einen schmächtigen Kerl mit einer kleinen Trommel, der Neuigkeiten aus aller Welt verkündete und mit seinem Radau die Bewohner zusammenrief, vor allem schwarz gekleidete Frauen, Schüler und Alte, von denen viele kaum lesen und schreiben konnten. Auch Ditke war immer dabei und hörte zu, wie der Mann von dem ruhmreichen deutschen und ungarischen Heer erzählte und von den Alliierten, die im russischen Kursk kämpften: Seine Zunge verhaspelte sich, die Stimme ging in Trommelschlägen unter und seine Worte wurden für die Zuhörer wirr und unverständlich.
Die Kinder lachten, die alten Frauen bekreuzigten sich, die Männer schüttelten fluchend die Köpfe und spien den zerkauten Tabak aus.
Ditke wunderte sich, dass sie in der kleinen Zuhörerschaft die einzige Jüdin war: Wussten die anderen das alles etwa bereits? Warum blieben sie zu Hause, wovor fürchteten sie sich so sehr?
Bald strahlte das rote Ziegeldach, und die Trauerweide grünte hinter dem Fenster des einzigen Zimmers, in dem die drei Kinder in einem Bett schliefen, Mutter und Vater teilten sich eine Pritsche in der Küche.
In dem kleinen Haus herrschte großes Glück. Am letzten Schultag hielt Ditke den Blick auf dem Heimweg stolz auf das Dach gerichtet, als würde es zu einem Schatz weisen.
Es war ihnen nicht schlecht gegangen bei Onkel Berti, der nach wenigen Monaten der Witwerschaft die junge schöne Jolanka geheiratet hatte, deren Mann früh verstorben war. Aber ihr Sohn Ervin belästigte Ditke; er wollte sie hinter den Wall am Ufer der Tisza in den Wald zerren. Er bedrängte sie, als wäre er ein Mann und sie eine Frau: »Eine Frau!«, rief die Mutter eines Tages, als Ditke verschreckt und mit blutigen Schenkeln zu ihr lief.
»Jetzt bist du eine Frau, diese Sache da bekommst du nun jeden Monat.« Ohne ein weiteres Wort zu sagen, deutete sie zwischen Ditkes Beine, als wohnte dort die Schande.
Nur wegen dieses Grobians hatte sie sich beim geliebten Onkel schlecht gefühlt, aber nicht einmal Judit wagte sie etwas zu sagen, weil diese ihr vorwarf, sich ständig im Spiegel anzuhimmeln, und sie Spiegelschönheit und Zimperliese nannte.
Der Onkel besaß einen Laden mit angrenzender Gastwirtschaft, und häufig setzte er sich dort mit Ditkes Vater Adam, Hebräisch Shalom, auf ein Bier oder ein Gläschen Pálinka zusammen, was seine Schwester, Ditkes Mutter, ihm übel nahm.
»Nun lass doch, Frida«, sagte der stattliche, beleibte Onkel dann. »Adam tut, was er kann. Wo steht geschrieben, dass ein armer Teufel sechs Kinder durchfüttern muss? Ich habe nur eine Tochter und mein heißgeliebtes Enkelkind Erika, nicht einmal einen Jungen, aber ich beklage mich kein bisschen, und glaub nicht, ich sei besser als dein Mann, ich habe einfach nur mehr Glück.«
Die Rede des großen Bruders – eine seiner vielen – hatte das Herz der Schwester erweicht, und eine Zeit lang herrschte in dem neuen kleinen Haus Harmonie. Bis Ditke eines Tages weinend nach Hause kam, weil ein Schulfreund sie nicht gegrüßt hatte. Die Eltern wussten auf ihre Verzweiflung nichts zu entgegnen. Der Vater, der stumm blieb wie immer, wenn ihn etwas zornig machte, war türenschlagend gegangen. Die Mutter seufzte tief und sagte, es sei nichts dabei, das sei nur ein Scherz, ein dummer Jungenstreich.
»Nein, nein«, rief Ditke, und die Mutter schluckte Worte und Tränen hinunter und drückte ihre Tochter an sich, als könnte allein ihre Umarmung Wundersames bewirken.
Das mütterliche »Ditke, Ditke« ließ ihre Tränen versiegen, sie vergaß den Schmerz, und ihr Herz hellte sich auf. Judit wollte etwas sagen, aber auf einen Blick der Mutter hielt sie den Mund. Hinter dem Schweigen des Vaters und der jähen Liebe der Mutter nahm Ditke jedoch etwas Ernstes wahr. Schon als kleines Kind hatte sie sich gegen Dinge gesperrt, die ihr wehtun konnten, wollte sie weder hören noch sehen, sollten die anderen sie ruhig für oberflächlich halten und glauben, sie sei den kleinen und großen Widrigkeiten des Lebens nicht gewachsen. Sie spielte. Lernte. Stellte sich eine Zukunft als Erwachsene vor, glücklich und reich, in der Lage den Eltern zu helfen: um Mamas fehlende Zähne zu ersetzen, Papas von den Kriegen schmerzende Knochen zu behandeln und die Operation des blassen Bruders zu bezahlen, der an einer andauernden Blinddarmentzündung litt, aber vergeblich auf den Armenarzt wartete.
Nachts war sie von einer hartnäckigen Hoffnung erfüllt, und ihr gingen zahllose Gedanken und Pläne durch den Kopf. Doch würden sie für das ganze Leben reichen?
Bei einem der seltenen Male, dass die großen Schwestern aus Budapest nach Hause kamen, hatte die dunkelhaarige Mirjam, die verheiratet und bereits schwanger war, Ditke ihre erste echte Puppe mitgebracht. Sie war im siebten Himmel vor Freude, hüpfte herum, als hätte sie Flügel, so dass Mama sagte, sie könnte einen Vogel aus der Luft fangen. Sara, die blonde Erstgeborene, schien sich für die Armut ihrer Familie zu schämen. In ihr sammelte sich der Groll, sie wirkte unzufrieden und ernst und fühlte sich weniger schön als die lustige, unbekümmerte Mirjam. Für Ditke waren beide mehr als schön: Ihre Schwestern waren elegante Damen von Welt, und sie würde ebenfalls bald in die Hauptstadt ziehen.
Den ersten wirklich großen Schreck hatten alle verspürt, als Judit von einem Besuch bei Onkel Berti nach Hause gekommen war, und Lehrer Rinkó sie beim Vorübergehen höhnisch grinsend mit »Heil Hitler!« gegrüßt hatte. Als wäre es der Name des Teufels, hörten alle ihr mit verstörten Gesichtern zu; die Küche, die weißen Wände verdüsterten sich, wie ein dunkler Fleck hing dieser Name in der Luft. Weder Ditke noch Jonas oder Judit wussten genau, wer sich dahinter verbarg. Nur die Eltern wussten es. Doch wie sollte man es den Kindern sagen – und was? Mit diesem Gruß zog ein ständiger Schatten in die Seelen ein, ein Nebel, in dem es weder Worte noch Erleuchtung gab.
Dem Vater entfuhr ein Fluch, er spie: »Als hätten dieser Feigling von Horthy und dieser Mörder von Szálasi nicht gereicht!« Und wie üblich war er türenschlagend verschwunden.
»Möge der liebe Gott uns vor ihnen behüten«, murmelte die Mutter. »Selbst dieses ahnungslose schlammige Kaff haben sie verseucht. Die Welt ist krank, Kinder, das Böse hat ganz Europa angesteckt. Aber keine Angst, Gott wird uns nicht diesen tollwütigen Kötern überlassen, die selbst redliche Bürger zu unseligsten Taten aufhetzen.«
»Jetzt verstehe ich, was die Leute auf der Straße gesungen haben«, überlegte Ditke laut und hob an zu singen:
Éljen a Szálasi meg a Hitler
üssök a zsidót a bikacsökkel
egy cini két cini
megdöglött a förabi
Bátorság éljen Szálasi1