Das Bernsteinkind - Max Bentow - E-Book
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Das Bernsteinkind E-Book

Max Bentow

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Beschreibung

Kommissar Nils Trojan steckt in einer Sackgasse. Innerhalb weniger Tage wurden drei Menschen getötet, zwischen denen es scheinbar keine Verbindung gibt. Was sie eint, ist allein die schaurige Inszenierung ihrer Augen, die golden wie Bernstein leuchten. Aber dann stößt Trojan plötzlich auf eine Spur: ein mysteriöser Thriller, in dem eine Frau in einem Verlies um ihr Leben schreibt. Und jedes der Opfer scheint mit diesem teuflischen Werk vor seinem Tod in Berührung gekommen zu sein. Als eine weitere junge Frau verschwindet, weiß Trojan, dass der Countdown läuft. Denn das »Nachtland« ist nicht nur der Titel des Romans – es ist ein realer Ort, an dem sich ein altes Versprechen auf grausame Weise erfüllt ...

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Seitenzahl: 435

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Text zum Buch

Kommissar Nils Trojan steckt in einer Sackgasse. Innerhalb weniger Tage wurden drei Menschen getötet, zwischen denen es scheinbar keine Verbindung gibt. Was sie eint, ist allein die schaurige Inszenierung ihrer Augen, die golden wie Bernstein leuchten. Aber dann stößt Trojan plötzlich auf eine Spur: ein mysteriöser Thriller, in dem eine Frau in einem Verlies um ihr Leben schreibt. Und jedes der Opfer scheint mit diesem teuflischen Werk vor seinem Tod in Berührung gekommen zu sein. Als eine weitere junge Frau verschwindet, weiß Trojan, dass der Countdown läuft. Denn das »Nachtland« ist nicht nur der Titel des Romans – es ist ein realer Ort, an dem sich ein altes Versprechen auf grausame Weise erfüllt …

Weitere Informationen zu Max Bentow sowie zu lieferbaren Titeln des Autors finden Sie am Ende des Buches.

MAX BENTOW

DAS BERNSTEINKIND

PSYCHOTHRILLER

OriginalausgabeDer Inhalt dieses E-Books ist urheberrechtlich geschützt und enthält technische Sicherungsmaßnahmen gegen unbefugte Nutzung. Die Entfernung dieser Sicherung sowie die Nutzung durch unbefugte Verarbeitung, Vervielfältigung, Verbreitung oder öffentliche Zugänglichmachung, insbesondere in elektronischer Form, ist untersagt und kann straf- und zivilrechtliche Sanktionen nach sich ziehen.Sollte diese Publikation Links auf Webseiten Dritter enthalten, so übernehmen wir für deren Inhalte keine Haftung, da wir uns diese nicht zu eigen machen, sondern lediglich auf deren Stand zum Zeitpunkt der Erstveröffentlichung verweisen.

Copyright © der Originalausgabe September 2022

by Wilhelm Goldmann Verlag, München,

in der Penguin Random House Verlagsgruppe GmbH,

Neumarkter Str. 28, 81673 München

Dieses Werk wurde vermittelt

durch die Literarische Agentur Michael Gaeb

Umschlaggestaltung: Uno Werbeagentur, München

Umschlagmotiv: Somak Pal / Moment / gettyimages

CN · Herstellung: ik

Satz: Uhl + Massopust, Aalen

ISBN 978-3-641-29209-6V001www.goldmann-verlag.de

ERSTER TEIL

Ich bin hier. Noch siehst du mich nicht. Doch du wirst mich finden, ich bin mir sicher. In diesem Moment bist du völlig ahnungslos, aber schon bald wirst du mich entdeckt haben. Du wirst die Finger nach mir ausstrecken, nach mir greifen. Und unsere gemeinsame Reise beginnt.

Hier unten bin ich, am Boden, gut verwahrt in einer Kiste. Du wirst dich zu mir herabbeugen. Ich werde bei dir sein, von dir Besitz ergreifen, mich in deine Hirnwindungen bohren.

Du wirst mich nie wieder vergessen, solange es dich noch gibt. Nicht mehr lange, und du bist wach. Bereit für diesen Tag. Und empfänglich für mich.

Draußen wird es hell. Aus meiner Perspektive kann ich sehen, wie die Sonne aufgeht. Ein Bündel Lichtstrahlen über den Häuserdächern von gegenüber. Vögel zwitschern. Ein leichter Wind streicht durchs Laub der Linden. Ein klarer Morgen im Mai, ich glaube, er wird dir gefallen. Ich denke, du wirst fröhlich aufwachen. Ein heiterer Auftakt für uns. Es sind die letzten Minuten, da du noch nichts von mir weißt. Ich unten in meiner Kiste, du oben in deinem Bett.

Der Straßenlärm schwillt an. Dröhnend nähert sich ein Wagen der Müllabfuhr. Abfallcontainer werden ratternd über den Asphalt geschoben. Hörst du das? Schlägst du nun die Augen auf? Ich stelle mir vor, wie dein nackter Fuß unter der Bettdecke auftaucht, erst der eine, dann der andere. Du reibst die Zehen aneinander, liegst gerne auf dem Bauch. Vielleicht drehst du dich gerade auf den Rücken, rekelst dich, gähnst. Hast du den himmelblauen Pyjama an? Trägst du dein dunkles Haar offen? Hängen dir einzelne Strähnen im Gesicht? Sind deine Wangen schlafwarm und gerötet? So schön bist du, selbst zu früher Stunde.

Vermutlich trittst du nun ans Fenster, traumverloren, die Wimpern vom Schlaf verklebt. Du ziehst die Vorhänge auf. Dein Blick fällt auf die Straße. Siehst du mich? Schwierig aus diesem Winkel, du müsstest die Fenster öffnen und dich herauslehnen.

Mein suchendes Auge erwartet dich, nur ein paar Zentimeter über dem gepflasterten Gehweg. Mein Blick streicht an der Hausfassade entlang, höher und höher, hoch hinauf zu dir.

Ich gedulde mich. Unsere Zeit wird kommen.

Vorerst bist du im Bad, schätze ich. Du streifst den Pyjama ab, drehst den Duschhahn auf und steigst in die Wanne. Nun bist du hinter dem Plastikvorhang verschwunden, das Wasser rauscht. Aber ich werde nicht diskret sein, ich ziehe mich nicht zurück. Ich will dir nahe sein, möchte jede Wasserperle auf deiner Haut sehen, dabei sein, während die Seife auf deinem nackten Körper schäumt. Du wäschst dein Haar, spülst es aus. Der Vorhang öffnet sich, deine Finger tasten nach dem Handtuch auf der Stange.

Noch muss ich unten auf der Straße ausharren, während du dich abtrocknest. Beeil dich, bevor mich andere Passanten entdecken, das wäre nicht Teil des Plans. Zieh dir was Hübsches an, geh in die Küche, trink einen Kaffee. Dann komm.

Vielleicht noch fünfzehn Minuten, und du bist bei mir.

Bloß eine Viertelstunde, in der du nichts von mir weißt.

Jetzt. Es läuft so ab, wie ich es geplant habe. Du bist pünktlich. Selbst an deinem freien Tag ist auf dich Verlass. Du kommst aus dem Hauseingang. Ich starre über den Rand der Kiste. Ich habe deine Beine im Visier, deine schönen, schlanken Beine. Ich erkenne deine Schuhe wieder, du hast die Riemensandaletten an, die mit den Ziersteinen auf dem Spann. Deine Fußnägel sind rot lackiert. Schwungvoll und leicht federst du auf mich zu. Der Saum deines luftigen Kleids bewegt sich im Takt deiner Schritte. Noch ist Frühling, doch dein Outfit verspricht mir den Hochsommer. Mir wird heiß. Ich blicke zu dir auf.

Komm näher. Komm zu mir.

Wirst du mich bemerken? Hier unten. Hier.

Du bleibst stehen. Du bückst dich. Deine Neugier ist geweckt.

Ich sehe dich. Den Glanz in deinen Augen. Dein zufriedenes Lächeln. Gleich hab ich dich.

Das Haar fällt dir ins Gesicht. Du streichst es dir hinter die Ohren, in dieser typischen Geste, die ich schon lange an dir beobachtet habe.

Nun kann ich dich in aller Ruhe betrachten. Den Schwung deiner Augenbrauen, deine Stupsnase und wie die Zungenspitze zwischen deinen Lippen erscheint, wenn du dich konzentrierst. Noch berühren deine Hände andere Gegenstände in der Kiste. Altes Geschirr unter anderem. Du drehst Teller um, prüfst mit deinen Fingern den Zustand einer ausrangierten Teekanne. Aber dein eigentliches Interesse gilt mir, das habe ich längst erkannt. Ich bin ein begehrenswertes Objekt.

Schon ist es passiert. Du nimmst mich heraus. Richtest dich auf. Auge in Auge sind wir. Kannst du ahnen, was alles in mir steckt? Wie viel Leidenschaft, wie viel Lust? Aber erträgst du auch den Hass und meine bittere Wut?

Du klappst mich auf. Wirfst Blicke in mein Inneres. Ein erster Kontakt. Ein Hauch von mir und meiner dunklen Seele, der dich streift.

Ein paar Sekunden vergehen. Dann ist die Entscheidung gefällt.

Du steckst mich ein.

Schon bin ich in deiner Umhängetasche verschwunden. Du nimmst mich mit. Das ist der Start unserer Reise. Es ist ein teuflischer Tanz. Du wirst mich verschlingen. Und danach bin ich an der Reihe. Ich hole dich zu mir, in meinen Abgrund hinab.

Finsternis umgibt mich. Ich bin im Innern deiner Tasche. Ich vernehme deine Schritte, ein leichtes Ruckeln, Vibrieren. Mein Kamerablick kann nichts mehr erfassen, aber ich ahne, was du mit dir herumträgst, einen Stift, ein Notizbuch, Schlüssel, Tampons, Lippenstift und Lutschbonbons, das Handtuch für deinen Badetag, eine Decke, die Sonnencreme. Mein winziges Mikro fängt Geraschel und Raunen auf. Ich bin gut aufgehoben zwischen all deinen Utensilien.

Doch ich möchte mehr.

Ich will zurück ans Licht.

Ganz nah an dich heran.

EINS

MONTAG, 17. MAI, MORGENS

Katja öffnete das Küchenfenster und lauschte. Der Gesang einer Amsel zauberte ein Lächeln auf ihre Lippen. Sie liebte den Mai. Die Kastanie im Hof stand in voller Blüte und verströmte einen zarten Duft. Es war die schönste Zeit in dieser Stadt, fand sie. Alles so frisch und grün, die Ahnung eines Neubeginns.

Heute war ihr freier Tag, und darum hatte sie vor, wie immer in der warmen Jahreszeit, gleich morgens einen Ausflug zu unternehmen. Katja war ein Naturmensch, sie liebte es, die grünen Außenbezirke von Berlin oder auch mal das nähere Umland zu erkunden. Nahezu sommerliche Temperaturen waren vorhergesagt, Badewetter, und das wollte sie ausnutzen.

Sie brühte Kaffee auf, nahm eine Tasse vom Abtropfregal und goss sich ein. Sie trank in kleinen Schlucken, während sie weiterhin auf das Lied der Amsel achtete. Sie machte den Vogel auf einem der oberen Kastanienzweige aus und sah ihm so lange zu, bis er laut zwitschernd davonflatterte. Aus einer kleinen Schale löffelte sie ihre übliche Portion Haferflocken mit Sojamilch, stellte danach das Geschirr in die Spüle und ging in den Flur.

Dort betrachtete sie sich im Spiegel. Sie trug ein Sommerkleid, knielang, dunkelblau mit dezentem Blumenmuster in Weiß, kurzärmelig, runder Halsausschnitt, schmal geschnittene Taille. Ein kritischer Blick, eine Halbdrehung, dann lächelte sie ihrem Spiegelbild zu. Ja, sie gefiel sich darin. Sie war bereit für diesen Morgen. Sie verstaute ein Handtuch in ihrer Umhängetasche, legte ein zusammengefaltetes Strandtuch hinein und schlüpfte in ihre Schuhe. Sie zog sich eine leichte Jacke über und verließ die Wohnung.

Unten auf der Straße hielt sie nach ein paar Schritten inne.

Eine Obstkiste stand am Boden, nur wenige Meter von ihrem Eingang entfernt, gleich an der Fassade vom Nachbarhaus. Ein Zettel mit Reißzwecken daran befestigt, darauf war in großen Buchstaben zu lesen: ZUVERSCHENKEN.

Einige interessante Gegenstände befanden sich darin. Katja mochte das. Es war eine nette Geste der Leute in ihrem Viertel, Dinge, die nicht mehr gebraucht wurden, aber noch in passablem Zustand waren, auf die Straße zu stellen.

Sie fand es immer wieder lohnenswert, diese geheimnisvollen Kartons und Kisten zu durchwühlen. Schon so manches Fundstück war auf diese Weise in ihre Wohnung gewandert.

Katja ging in die Hocke und besah sich den Inhalt.

Kurz darauf nahm sie einen Gegenstand heraus und steckte ihn in ihre Tasche.

Vergnügt ging sie weiter.

Sie erreichte das Kottbusser Tor. Beschwingt stieg sie die Treppe zur Hochbahn hinauf. Es war ein guter Morgen, das spürte sie. Heute schien das Glück auf ihrer Seite zu sein. Ihr Zug war bereits eingefahren, die Durchsage »Zurückbleiben« und das Warnsignal erschallten, die roten Lichter an den Türen blinkten, doch Katja war sich sicher, dass sie es noch schaffen würde. Sie beschleunigte ihre Schritte und sprang in letzter Sekunde in den Waggon. Die Türen schlossen sich hinter ihr. Geschafft. Sie entdeckte einen freien Sitz und nahm Platz. Schon fuhr die Bahn los.

Mit einem Lächeln öffnete sie ihre Tasche und nahm ihre neueste Errungenschaft heraus.

Da bist du wieder. Du schaust mich direkt an. Kein Anzeichen von Misstrauen, dabei haben wir Blickkontakt. Du streichst über die Oberfläche, sie ist reliefartig, gewölbt. Du berührst mein Auge, es sieht dich an.

Keine Irritation?

Nein, im Gegenteil. Du lächelst. Es scheint dir zu gefallen, was du siehst. Mir ist, als würdest du denken: interessant aufgemacht. Hübsch gestaltet.

Jetzt drehst du mich um. Schade, so sehe ich bloß die Gestalten, die dir gegenübersitzen.

Du betrachtest die Rückseite, nicht wahr?

Und dann hältst du mich in deinem Schoß. Du hast mich geöffnet.

Zugegeben, die Lichtverhältnisse sind nicht optimal, aber da ist der Saum deines Kleids, da sind deine nackten Knie. Ich bin deinen Schenkeln äußerst nahe. Ich habe alles im Blick. Nur einen Liebhaber würdest du so dicht an dich heranlassen, also lass mich es sein, der dich verehrt, begehrt, aber auch Dunkles von dir will.

Hübsch sind deine Beine, für die Jahreszeit erstaunlich gut gebräunt.

Die U-Bahn rattert. Nebengeräusche von plappernden Sitznachbarn. Vibrationen. Fremde in deiner Nähe. Du aberbleibst still und konzentriert. Ich stelle mir deinen Gesichtsausdruck vor. Entrückt, nachdenklich, versunken. Du solltest aufpassen, dass du nicht die Station verpasst, an der du umsteigen musst.

Ich denke, du bist gebannt. Ich meine, der Zauber funktioniert.

Wir sind vereint.

Ja, in diesem Moment sind wir eins.

»Wittenbergplatz«, ertönte es aus dem Lautsprecher. Katja blickte zerstreut auf. Rasch erhob sie sich und stieg aus. Im Gehen steckte sie ihren Begleiter in die Umhängetasche. Ein recht angenehmer Begleiter, wie sie fand. Die Zeit war wie im Flug vergangen. Sie fühlte sich gut unterhalten.

Auf dem Bahnsteig wartete sie eine Weile ab, bis die U3 einfuhr. Wiederum war ein Platz für sie frei. Katja setzte sich, schlug die Beine übereinander und griff in ihre Tasche.

Zurück bei dir. Erneut in deinem Schoß. Manchmal hebst du mich an, und mein Blickfeld vergrößert sich. Du wirst unruhiger, das spüre ich. Du wechselst oft die Position. Streichst über den Saum deines Kleids. Du drückst die Knie zusammen. Was ist los? Ahnst du etwas? Jagen unheimliche Gedanken durch deinen Kopf?

Ich höre das Rascheln von Papier.

Wir nähern uns deinem Ziel.

Krumme Lanke. Endstation. Katja verließ als Letzte den Zug. Sie schulterte ihre Tasche und atmete durch. Für einige Momente verspürte sie eine leichte Beklemmung.

Sie stieg die Treppe hinauf.

An der Straßenkreuzung Argentinische Allee und Fischerhüttenstraße wartete sie an der roten Fußgängerampel. Allmählich beruhigte sie sich ein wenig.

Die Luft in der U-Bahn war wohl zu stickig gewesen. Oder lag es an etwas anderem? Merkwürdig, wie schnell ihre Stimmung wechseln konnte. Bis vor Kurzem war sie doch noch so unbeschwert gewesen.

Die Ampel sprang auf Grün, und Katja ging weiter.

Erst als sie in den Waldweg einbog, konnte sie sich wieder vollends entspannen.

Das Licht war herrlich, flirrend im Laub der Bäume. Sie erreichte die Krumme Lanke, passierte die Badestelle. Sie wollte allein sein, sich einen einsamen Platz am Ufer suchen. Die Gelegenheit war günstig, ein freier Tag mitten in der Woche, es herrschte wenig Betrieb. Nur selten kamen ihr Spaziergänger entgegen.

Einmal blieb sie stehen, weil sie ein Rotkehlchen bemerkt hatte. Es saß im Geäst einer jungen Kiefer, ruckte mit dem Kopf und beäugte sie. Schließlich flatterte es davon.

Ein paar hundert Meter weiter verließ sie den Weg und stieg zum See hinab. Eine kleine Bucht, von oben kaum einzusehen, im Schutz eines Ahorns und einer Weide, gesäumt von Schilfrohr, hier stellte sie ihre Tasche ab und breitete das Strandtuch aus. Sie band sich das Haar zurück, streifte ihre Schuhe ab und zog Jacke und Kleid aus. Den Bikini trug sie drunter.

Sie trat ans Ufer. Schob vorsichtig einen Fuß ins Wasser. Es war noch recht kalt und kostete sie einige Überwindung. Schließlich watete sie hinein. Bald stand sie bis zu den Hüften im See.

Ein letztes Zögern und sie schwamm los. Anfangs schnaufte sie, dann hatte sie sich an die Kälte gewöhnt. Sie glitt in schnellen Zügen bis zur Mitte des Sees. Dort ließ sie sich eine Weile auf dem Rücken treiben. Sie blinzelte ins Sonnenlicht. Was für ein Glück, dachte sie.

Zurück an Land, nahm sie das Handtuch hervor und frottierte sich ab. Sie streckte sich auf ihrer Decke aus und döste eine Zeit lang vor sich hin. Dann öffnet sie erneut die Tasche.

Du liegst auf dem Rücken und hältst mich in beiden Händen. Von meiner Position aus sehe ich direkt auf den See. Schilfgras, das sich sacht im Wind bewegt, ein paar Enten auf dem Wasser, in einiger Entfernung das andere Ufer. Manchmal berühren mich unabsichtlich deine Finger, dann kriecht ein Schatten über das Bild. Ich lausche, ich bin irgendwo in der Nähe deines Bauchnabels. Wie gern würde ich deinenPulsschlag vernehmen. Den Rhythmus deines Herzens. Pocht es laut? Schlägt es höher?

Wie viel Nähe hältst du aus?

Wann wirst du mich durchschauen?

Katja las in dem Buch. Sie war gefesselt von der Lektüre. Nur selten schaute sie von den Seiten auf. Dann verlor sich ihr Blick in der Ferne, schweifte aufs Wasser und von dort zum Himmel hinauf, bis sie sich wieder ganz auf die Handlung konzentrierte.

Schon oft hatte sie Romane, die zu verschenken waren, von der Straße mitgenommen, unterwegs und zu Hause gelesen. Einige hatten sie interessiert, andere weniger.

Dieses Buch war anders.

Es wirkte verstörend echt.

Erschreckend real.

War das nun Fiktion? Oder Wirklichkeit?

Ein leises Rascheln. Wieder blätterst du eine Seite um. Mein Mikro ist scharf gestellt. Mein Auge wach. Du hast die Beine angewinkelt. Deine rechte Wade auf dem linken Knie. Dein Fuß wippt.

Bist du aufgeregt?

Verloren in der fremden Welt, die sich vor dir auftut?

Vergisst du alles um dich herum?

Du nimmst mich mit nach Hause, hab ich recht? Heute Abend verweile ich an deinem Bett. Ich möchte auf deinem Nachttisch liegen, das Muster deiner Bettdecke studieren. Ich will, dass du vor dem Einschlafen noch ein paar Seiten in mir liest. Irgendwann wirst du dich auf die Seite drehen und die Augen schließen.

Ich werde in deinen Gedanken sein.

Ich schleiche mich in deine Träume.

Denn ich bin das Buch.

Und das Buch ist dein Mörder.

ZWEI

DIENSTAG, 18. MAI, ABENDS

Die Türglocke schepperte. Katja trat ein. Ein Geruch von Papier, Staub und Pfeifentabak umfing sie. Sie schritt die Reihe der Regalwände ab, die vollgestopft waren mit alten Büchern, seltenen Folianten, antiquarischen Wälzern und zerlesenen Taschenbüchern. Von gewöhnlichen Krimis über Herz-Schmerz-Romane, erotischen Petitessen bis hin zu Raritäten und umfangreicher Sekundärliteratur zu den ausgefallensten Themen – in diesem Laden gab es eigentlich nichts, was es nicht gab, ein Sammelsurium für Experten, Spinner, Snobs und neugierige Kundinnen wie sie.

Der Betreiber, ein Faktotum namens Gandalf Rückert, klein, krumm, dickbäuchig, weißer Vollbart, silbergraues, langes Haar, saß halb versteckt hinter einem Stapel stockfleckiger Bildbände im hinteren Teil des Ladens. Er hatte das Kunststück vollbracht, auf wenigen Quadratmetern Hunderttausende von Büchern anzuhäufen. Etliche von ihnen waren zu wackligen Türmen auf dem Boden aufgeschichtet, um die sich Katja vorsichtig herummanövrieren musste, bis sie endlich vor ihm stand.

Rückert zog abwechselnd an seiner Pfeife, griff in eine Tüte mit Kartoffelchips, schob sich eine Handvoll in den Mund, zerkaute sie krachend, paffte und blätterte gleichzeitig in einer wissenschaftlichen Abhandlung. Offenbar ging es um die Verbreitung von Erdferkeln südlich der Sahara, wie Katja mit einem erstaunten Blick auf die zahlreichen Farbfotos und Zwischenüberschriften feststellte.

Sie war Stammkundin, deshalb wurde sie von Rückert mit einem jovialen Kopfnicken begrüßt.

»Na, Katja, schon was Interessantes gefunden?«

»Nein, ich wollte nur …«

Er tippte auf eine der Abbildungen. »Schau mal, das sind possierliche Tierchen, diese Erdferkel, nicht? Kräftiger Körper, aufgewölbter Rücken, muskulöse Beine, röhrenförmig verlängerte Schnauze und ein fleischiger Schwanz.«

Er grinste sie an und zerbiss ein paar Chips. Krümel hingen in seinem Bart.

Sie betrachtete die Fotos der sonderbaren Tiere. »Ich kann nichts Hübsches an ihnen entdecken.«

»Einzelgängerisch, nachtaktiv, graben im Erdreich. Mir sind die sympathisch.«

Sie versuchte es mit einem Scherz. »Weil sie ein bisschen aussehen wie du?«

Er verzog keine Miene.

Es entstand eine Verlegenheitspause, die ihr unangenehm war.

»Entschuldige, Gandalf. Humor ist nicht gerade meine Stärke. Ich probiere es immer wieder, aber meine Witze kommen einfach nicht an. Bei niemandem.«

»Schon gut. Ich weiß ja, dass ich bei dir nicht landen kann. Bin dennoch jedes Mal froh, wenn du zu mir kommst.« Er schaute auf das Buch in ihrer Hand. »Ist das von hier?«

»Nein.«

»Willst du es verkaufen?«

»Auch nicht. Ich hab nur eine Frage dazu. Kennst du es?«

»Gib mal her.«

Rückert klemmte seine Pfeife in den Mundwinkel, rieb sich die fettigen Finger an seinem Hemd ab und nahm das Buch in seine Hände.

Er betrachtete die Vorderseite mit der imposanten Aufmachung.

»Wo hast du das her?«

»Es lag in einer Kiste. An der Straße, wo ich wohne.«

»Einfach so?«

Sie nickte. »Es war zu verschenken. Ist ein Thriller.«

Rückert las die Großbuchstaben vom Einband ab. »NACHTLAND. Poetischer Titel. Ungewöhnlich für einen Thriller, findest du nicht?«

»Ja.«

»Schon ausgelesen?«

»Ich bin mittendrin.«

»Spannend?«

»Ziemlich.«

Er schlug das Buch auf. »Kein Klappentext. Wovon handelt es?«

»Es geht um eine junge Frau, die irgendwo in einem fensterlosen Raum gefangen ist. Sie hat große Angst. Es ist in der ersten Person geschrieben, im Präsens, sehr schnell, kurze Sätze, nahezu atemlos. Diese Frau weiß, dass sie in der Nacht umgebracht wird. Von ihrem Kidnapper, den sie nie zu Gesicht bekommen hat, wurde ihr das angekündigt. Er hat ihr Stift und Papier dagelassen. Sie darf schreiben. Aber sie ahnt, wenn das Papier aufgebraucht ist, bedeutet das ihr Ende. Es sind gewissermaßen ihre letzten Aufzeichnungen.«

Auf einmal fröstelte sie.

Rückert runzelte die Stirn. »Du siehst blass aus. Was ist los mit dir?«

Sie holte Luft, war selbst erstaunt, wie rau ihre Stimme klang. »Die Art, wie es geschrieben ist … die arme Frau … ihre letzten Sätze … fieberhaft … rasend vor Angst … Das macht es so authentisch.«

»Aber es ist Fiktion.«

»Wie auch immer. Ich hab gestern den ganzen Tag darin gelesen. Und dann noch die halbe Nacht.«

Der Antiquar untersuchte erneut das sonderbare Buch. Katja lief ein Schauer über den Rücken, als ihr Blick zum wiederholten Male auf die Vorderseite fiel. Es war ein Hardcover, ohne Umschlag, dafür direkt auf dem Einband aufgedruckt ein einziges großes, orangegelbes Auge. Es wölbte sich leicht nach vorn, ein Relief, kunstvoll gefertigt.

Das leuchtende Auge starrte sie direkt an.

Der Hintergrund war schwarz, unter dem Auge prangte der Titel in großen Lettern:

NACHTLAND

Oben war der rätselhafte Verfassername notiert:

NONNOMINATUS

»Sagt dir dieses Pseudonym etwas?«, fragte sie.

Er schüttelte den Kopf. »NONNOMINATUS? Nein.«

»Es ist Lateinisch, oder?«

»Hmm. Heißt übersetzt so viel wie ›nicht benannt‹.« Abermals schlug er das Buch auf. »Keine Angaben zum Verfasser, keine zum Verlag. Nichts zum Publikationsort, kein Copyright, keine Jahreszahl, keine ISBN. Offenbar im Selbstverlag herausgegeben.«

»NONNOMINATUS«, wiederholte sie. Und während sie es aussprach, verspürte sie eine Gänsehaut.

»Ich schau mal im Internet nach«, sagte er.

»Hab ich schon.«

»Und?«

»Nichts gefunden. Rein gar nichts.«

»Dieser Titel … NACHTLAND …?«

»Den gibt es einfach nicht. Er ist nirgendwo aufgeführt.«

Rückert fuhr mit seinen wurstigen Fingern über das Auge. »Jedenfalls hat sich der Autor einen hübschen Aufmacher für seinen Buchdeckel ausgewählt. Leihst du es mir mal aus, wenn du es ausgelesen hast?«

»Klar.«

»Kann ich sonst noch etwas für dich tun?«

»Im Moment nicht, danke.«

»Du wirkst irgendwie mitgenommen.«

»Schon komisch. Gestern Morgen ging es mir besser. Bevor ich das Buch gefunden hab.«

»Ist nur Fiktion, Katja. Thrillerautoren spielen mit den Emotionen ihrer Leser. Du verschlingst doch viele Bücher dieser Art. Müsste dir vertraut sein.«

»Das hier ist anders.«

»Neigst du zur Panik?«

»Eigentlich nicht …«

»Ich glaube, du nimmst das alles viel zu ernst.«

»Kann sein.«

Er gab ihr das Buch zurück. »Pass auf dich auf. Und wie gesagt, ich würde es gerne mal lesen.«

Sie steckte es in ihre Tasche. »Ich komme wieder. Sobald ich damit durch bin.«

»Nett von dir.«

Katja spürte seine Blicke im Rücken, als sie ging.

Auf ihrem Heimweg dämmerte es bereits. Sie lief schnell. Das Gespräch mit Rückert hatte sie beunruhigt. Wer zum Teufel hatte dieses Buch geschrieben? Und warum regte es sie dermaßen auf? Sollte sie es vielleicht lieber wegwerfen? Nein, das wäre zu schade. Sie musste unbedingt wissen, wie es ausging.

Zu Hause legte sie es auf ihren Küchentisch. Während sie mit Kochen beschäftigt war, fühlte sie sich von dem Auge auf dem Einband beobachtet. Es schien ein Eigenleben zu haben.

Nach dem Essen setzte sie sich in ihren Lieblingssessel im Wohnzimmer und las weiter.

Sie war auf den allerletzten Seiten. Die namenlose Icherzählerin spürte ihr Ende nahen. Unruhig ging sie in dem fensterlosen Raum hin und her. Manchmal lauschte sie an der verschlossenen Eisentür, ob sich ihr Mörder näherte. Dann wieder warf sie ein paar Sätze aufs Papier. Die Schrift in dem schmalen Notizbuch, das ihr von ihrem Kidnapper unter dem Türspalt hindurchgeschoben worden war, wurde immer kleiner. Ihre Hoffnung auf Erlösung sank.

Katja blätterte um. Die Buchstaben schienen zu verwischen.

Sie blinzelte.

Nein, es lag nicht daran, dass ihre Augen tränten. Ein paar der Wörter waren wohl tatsächlich durcheinandergeraten. Sie ergaben keinen Sinn. War das ein Druckfehler? An der Stelle hieß es:

Ich muss Papier sparen. Es ist die letzte Seite in diesem Notizbuch. Meine Schrift ist winzig, kaum lesbar. Doch es beruhigt mich ein wenig, den Stift zu führen. Die fahrigen Bewegungen meiner Hand beweisen, dass ich noch am Leben bin.

Ich weiß nicht, ob du überhaupt jemals diese Zeilen lesen wirst. Du. Ja, du. Ich meine dich. Niemand anderen als dich.

Cyl xum tcymn, yiff ch Zchmnylhcn mych.

Ja, du hast richtig gelesen: Cyl xum tcymn, yiff ch Zchmnylhcn mych.

Meine Hand zittert. Die Buchstaben verwischen. Ich glaube, es ist aus.

Gleich ist es vorbei mit mir.

Katja legte die Stirn in Falten.

Dieses Du. An wen wendete sich die Icherzählerin plötzlich? War sie selbst, sie, Katja, als Leserin damit gemeint? Und was hatte dieser merkwürdige Satz zu bedeuten?

Cyl xum tcymn, yiff ch Zchmnylhcn mych.

War das eine Fremdsprache? Es klang nur wie Kauderwelsch. Irgendeine Bedeutung schien sich jedoch dahinter zu verbergen, immerhin tauchte der Satz gleich zweimal auf.

Katja war aufgeregt. Sie erhob sich mit dem Buch aus ihrem Sessel und ging zum Schreibtisch. Sie nahm einen Stift und einen Notizblock aus der Schublade. Sie setzte sich an den Tisch und schrieb den Satz ab. War das eine verschlüsselte Botschaft? Sie stellte die Buchstaben um. Probierte verschiedene Varianten aus.

Sie war so sehr damit beschäftigt, dem Rätsel auf die Spur zu kommen, dass sie kaum bemerkte, wie die Zeit verging.

Aber sie kam nicht auf die Lösung.

Sie starrte auf die mysteriöse Buchseite, als sie plötzlich ein leises Geräusch vernahm.

Es klang wie eine Melodie. Ein verhaltenes Klimpern.

Katja horchte.

Sie stand auf und ging in den Flur.

Die Musik kam aus dem Treppenhaus.

Ihr Herz klopfte.

Sie trat an die Eingangstür und blickte durch den Spion. Alles dunkel.

Sie hielt das Ohr ans Türblatt und lauschte. Gedämpft drangen die Töne zu ihr. Sie kannte diese Melodie, sie kam nur nicht darauf, woher. Was war das nur?

Beherzt öffnete sie die Tür.

Erstaunt blickte sie zu Boden.

Im matten Lichtschein, der aus ihrer Wohnung fiel, sah sie einen sich langsam bewegenden Gegenstand.

Unmittelbar vor ihr. Auf der Fußmatte.

Es war eine Spieldose, darauf die Figur eines kleinen Mädchens, das sich im Kreis drehte. Es trug ein weißes Nachthemd und hatte lockige Haare. Aus dieser Spieluhr kamen tröpfelnd die Töne.

Und nun wusste Katja auch, worum es sich handelte. Es war die Melodie eines bekannten Schlaflieds.

Guten Abend, gut’ Nacht,

mit Rosen bedacht,

mit Näglein besteckt,

schlupf unter die Deck’.

Katja bückte sich und hob die Spieldose auf. Sie betrachtete das Mädchen und lauschte der Musik. Sie war wie hypnotisiert davon.

Schließlich blickte sie auf. Aus dem Dunkel des Treppenhauses löste sich jemand und trat auf sie zu.

Sie wollte etwas sagen.

Doch dann ging alles sehr schnell. Eine Hand schob sich auf ihren Mund, und sie wurde in die Wohnung gestoßen. Die Tür schlug zu, und die fremde Gestalt holte zu einer Bewegung aus.

Katja verspürte einen Stich am Hals.

Sofort wurden ihre Glieder bleiern schwer.

Flüsternd sagte die Gestalt zu ihr: »Morgen früh, wenn Gott will, wirst du wieder geweckt.«

Und Katja sackten die Beine weg.

DREI

MITTWOCH, 19. MAI, MORGENS

Trojan schlug die Augen auf. Sein Handy gab Brummtöne von sich. Er tastete danach und stellte die Weckfunktion aus. Ein verschlafener Blick auf das Display. Es zeigte 05:00 Uhr morgens an.

Er richtete sich auf. Neben ihm lag Steffie. Er betrachtete sie im halbdunklen Zimmer. Sie schlief tief und fest. Ihre Gesichtszüge waren entspannt, friedlich. Sie hatte einen Arm nach oben ausgestreckt. Ihr Mund war halb geöffnet, wie zu einem Lächeln, als würde sie etwas Angenehmes träumen. Ihre geschlossenen Lider, die langen Wimpern. Ihr offenes Haar auf dem Kissen. Die Bettdecke war verrutscht. Er zog sie behutsam über ihre Schultern.

Leise stand er auf und verließ das Schlafzimmer. Für einen Moment musste er sich orientieren. Es war ihr neues Zuhause, dasselbe Haus, dieselbe Etage, nur gegenüber von der alten Wohnung, großzügiger geschnitten, ein Raum mehr. Er hatte sich noch nicht ganz daran gewöhnt.

Nach einer kurzen Dusche im Bad trank er ein Glas Wasser in der Küche. Für einen Kaffee war keine Zeit mehr.

Er nahm seinen Rucksack und ging. Draußen sog er die kühle Luft ein. Fahles Dämmerlicht in der Sonntagstraße im Bezirk Friedrichshain. Die Laternen waren noch eingeschaltet. Er lief am Wühlischplatz vorbei und bog um die nächste Straßenecke, wo er seinen Wagen geparkt hatte.

Trojan stieg ein und fuhr los. Ein paar Minuten später hatte er die Warschauer Straße erreicht und überquerte die Oberbaumbrücke. Er war nun in seinem Kiez in Kreuzberg, vom Schlesischen Tor kam er zur Puschkinallee, passierte den Treptower Park. Über den Dammweg und die Grenzallee gelangte er nach Neukölln. Dort bog er auf die Stadtautobahn ein. Noch war die Verkehrslage halbwegs günstig. Trojan fuhr schnell und konzentriert. Die Zeit verstrich. Hinterm Funkturm wechselte er auf die Avus. Er beschleunigte.

Bald hatte er die Stadtgrenze erreicht. Er passierte das Dreieck Potsdam-Babelsberg und erreichte einige Kilometer weiter die A10. Der Himmel war blassblau mit einer Spur von Orangerot.

Er stellte sich vor, wie Stefanie wach wurde. Den Arm nach ihm ausstreckte. Malte sich ihr verschlafenes Gesicht aus. Sie würde aufstehen, durch die Räume der Wohnung gehen.

Der verwunderte Blick in ihren Augen.

Er hätte es ihr endlich erzählen sollen.

Würde sie es denn verstehen? Er war sich nicht sicher.

Trojan versuchte, sich selbst zu beschwichtigen. Was er vorhatte, war wichtig. Auch die Regelmäßigkeit gehörte dazu. Es war wie ein Tanz, eine Choreografie, die er einstudierte. Er musste sich darauf einlassen. Durfte nicht zu viel darüber nachdenken. Es einfach tun.

Es war gut, für sein Vorhaben der Stadt den Rücken zu kehren. Der Ortswechsel war notwendig. Die Vorstellung, in eine andere Welt einzutauchen, wenn auch nur für ein, zwei Stunden, der Wunsch, von dort etwas mitnehmen zu können, das ihm in seinem Alltag half – es spornte ihn an.

Noch war es ihm fremd. Vielleicht würde sich das nie ändern. Manchmal kam es ihm wie ein Mysterium vor. Dann wieder war ihm, als könnte er es durchdringen. Nicht mit dem Verstand. Anders. Als gäbe es einen Bereich in seinem Innern, den er zugeschüttet hatte. Zu dem er einen Tunnel graben musste.

Letztlich war es wohl eine Frage der inneren Haltung.

Zuweilen verstörte es ihn. An manchen Tagen aber fühlte er sich frisch und geerdet, wenn er von diesem Ort zurückkam.

Er trat aufs Gaspedal. Wollte nicht zu spät kommen. Mittlerweile hatte er begriffen, dass die frühen Morgenstunden am besten geeignet waren, um eine alte Haut abzulegen.

Diese feste Hülle, die ihn zuweilen am Atmen hinderte.

Etwas in ihm, das ihm die Luft abschnitt.

Trojan scherte auf die linke Spur aus, um einen Lkw zu überholen.

Ja, dachte er. Er wollte sich auf das Wagnis einlassen.

Oft kam es ihm völlig verrückt vor.

An anderen Tagen erschien es ihm erstaunlich befreiend.

Eine knappe Stunde war vergangen, als er die Ausfahrt Richtung Ferch nahm. Eine Landstraße durch den Wald. Erste Sonnenstrahlen blitzten zwischen den Bäumen auf. Er erreichte die kleine Ortschaft und fuhr die Beelitzer Straße entlang.

Dann hatte er das Ufer erreicht.

Wenig später hielt er an und stieg aus.

Die Luft war besser als in Berlin, viel klarer und würziger. Er schulterte seinen Rucksack und ging ein paar Meter zu Fuß. Vor einem zweistöckigen Backsteinhaus blieb er stehen. Ein Grundstück direkt am Schwielowsee im Landkreis Potsdam-Mittelmark. Kein Namensschild am Gartentor. Er klingelte. Wartete ab. Keine Reaktion.

Trojan schaute aufs Display seines Handys. 06:16 Uhr.

Schließlich drückte er die Klinke des Tors. Es war unverschlossen.

Es gab einen schmalen Weg am Haus vorbei, der in den hinteren Garten führte.

Der See im tiefen Licht der Morgensonne. Eine Rasenfläche, die bis zum Ufer herabführte.

Dort stand eine Gestalt, dunkler Helm, schwarzer Kampfanzug, mit dem Rücken zu ihm.

Trojan ging durch das taufeuchte Gras. Dann blieb er stehen.

Nichts geschah.

Er räusperte sich. Gerade wollte er etwas sagen, da vernahm er eine Stimme, verhalten, gedämpft unter dem Kopfschutz.

»Du kommst spät.«

»Es ist ein weiter Weg hier raus«, sagte er.

Schweigen.

Erst nach einer Weile wandte sich die Gestalt zu ihm um. Das Gesicht war hinter einem am Helm befestigten Metallgitter verborgen, schwarz wie die Kampfkleidung.

»Du warst auch die letzten Male spät dran.«

»Soll nicht wieder vorkommen.«

»Bist du abgelenkt?«

»Ich weiß nicht, ich …«

»Womit beschäftigt sich dein Geist?«

»Schwer zu sagen, ich …«

»Jetzt.« Ein Schritt auf ihn zu. »In diesem Moment.« Noch ein Schritt. »Beobachte deine Gedanken. Deine Empfindungen. Wo bist du?«

»Ich bin …« Er brach ab.

»Was?«

»Hier.«

»Nein.«

Eine offene Geste mit der Hand. »Du bist überall und nirgends. Aber nicht hier.«

»Tut mir leid, ich bin … Ich bin müde. Ich hab nicht gefrühstückt. Nicht einmal einen Kaffee getrunken.«

Erneutes Schweigen.

Trojan versuchte, irgendein Mienenspiel hinter dem vergitterten Schutz zu erkennen. Es gelang ihm nicht.

»Beobachte deine Gedanken. Und benenne sie.«

Sollte er die Wahrheit aussprechen? Aber gehörte das denn hierher? Es waren viele Gedanken. Einer davon war am stärksten. Er drehte sich um die Art, wie er sich heute früh davongestohlen hatte.

»Ich denke an Stefanie.«

»Wer ist Stefanie?«

»Die Frau, mit der ich zusammen bin.«

»Ist sie gerade hier? Diese Stefanie?«

Trojan war irritiert. Zum einen wollte er über sie nicht reden, zum anderen überraschte ihn die Frage. Außerdem hatte er das Gefühl, dass sein Gegenüber in seinen Kopf eindringen konnte. Und das war verwirrend.

»Noch einmal: Ist sie hier?«

»Nein.«

»Na also. Lass die Gedanken an sie los.«

»Okay.«

»Bist du bereit?«

Er nickte.

»Sprich es aus.«

»Ich bin bereit.«

»Wofür?«

»Mit dir zu kämpfen.«

Noch ein Schritt näher an ihn heran, und Trojan machte dunkle Augen hinter dem Gitter aus.

»Du sprichst es aus, aber ich spüre es nicht.«

Eine Hand legte sich auf seinen Solarplexus.

»Wo ist dein Atem?«

Trojan versuchte, die Schultern zu lockern.

Stille. Nur das kaum wahrnehmbare Geräusch eines sachten Winds, der heranstrich, kleine Wellen, die ans Ufer schwappten.

»Ist dein Atem dort, wo meine Hand liegt?«

»Ja.«

»Beruhigt dich das?«

Eigentlich nicht, dachte er. Doch einige Sekunden später löste sich etwas in ihm. Darum bejahte er.

Nun glitt die Hand auf seinen Unterbauch. »Und das? Ist das angenehm?«

Er schluckte. »Vielleicht.«

»Atme.«

Durch das Gitter hindurch spürte er Blicke auf sich. Intensive Blicke, die tief in sein Inneres gingen.

»Ist es so schwer zu atmen, Trojan?«

»Nein.«

»Es ist das Natürlichste auf der Welt, nicht wahr?«

»Ja.«

»Ich sehe Traurigkeit in deinen Augen. Und dahinter verbirgt sich Angst. Wovor fürchtest du dich?«

Er sprach nicht gern darüber. Es verblüffte ihn. Wie durchscheinend war er denn? An diesem Ort herrschten wohl andere Gesetze.

»Ich habe keine Angst.«

»Ich sehe sie aber. Und ich spüre sie.« Die Hand drückte sich fester gegen seinen Bauch. »Was wäre das Schlimmste, was dir im Moment passieren könnte?«

»Ich weiß nicht, ich …«

»Wovor fürchtest du dich am meisten?«

Er suchte nach einer Antwort.

Merkwürdig, auf der Fahrt hierher war er noch so zuversichtlich gewesen. Nun aber fühlte er sich durchleuchtet. Doch das gehörte offenbar dazu.

»Du hast mir erzählt, dass du als Mordermittler arbeitest.«

»Das ist richtig.«

»Womit beschäftigt sich ein Mordermittler?«

»Mit dem gewaltsamen Tod anderer Menschen.«

»Kommt daher deine Angst?«

»Keine Ahnung.«

»Hast du Angst vor dem Tod?«

»Möglicherweise.«

»Sprich es aus.«

Seine Muskulatur verkrampfte sich.

»Seltsam.«

»Was ist seltsam?«, fragte Trojan.

»Warum sträubst du dich dagegen? Warum hast du nicht den Mut, es vor mir auszusprechen?«

»Also schön: Ich habe Angst vor dem Tod. Hat die nicht jeder?«

»Weiche nicht aus. Bleib bei dir. Es ist deine Angst. Und ich kann dir vielleicht helfen, sie zu bewältigen.«

Wieder schluckte er.

»Entspann dich. Atme in meine Hand. Und merke dir folgenden Satz: ›Nichts wurde je geboren, also kann auch nichts sterben.‹«

»Das verstehe ich nicht.«

»Musst du auch nicht. Jedenfalls nicht mit deinem Verstand.«

Langes Schweigen.

»Stell dir einfach vor, du seist ein leeres Gefäß. Was befindet sich im Moment in diesem Gefäß?«

»Mein Atem?«

»Ist das eine Frage?«

»Eine Feststellung.«

»Nur dein Atem. Wie ein Windhauch, der verstreicht. Er kommt. Und er geht.«

Abermals entstand eine längere Pause.

»Bist du jetzt bereit, mit mir zu kämpfen?«

»Ja.«

»Dann soll es so sein.«

Die Hand glitt von ihm ab. Eine einladende Geste hin zu zwei Schwertern. Sie lehnten ein wenig abseits an einem Holzgestell. Die Strahlen der Morgensonne spiegelten sich darin.

Gut, dachte Trojan. Endlich etwas Handfestes. Damit konnte er arbeiten. Er streifte Schuhe und Strümpfe ab und zog sich um. Er nahm seinen Kampfanzug aus dem Rucksack. Er schlüpfte in den weiten schwarzen Hosenrock und in die Jacke, danach band er sich den Gürtel um.

Zuletzt nahm er seinen Helm hervor.

Die dunkle Gestalt trat auf ihn zu. »Wir kämpfen heute ohne Kopfschutz.«

»Wieso?«

»Eine spontane Eingebung. Nennen wir es eine Lektion, die ich dir erteilen möchte.«

»Lektion? Worin?«

»In Achtsamkeit.«

Die Gestalt nahm ihren Helm ab. Ein fein geschnittenes Gesicht tauchte hinter dem Gitter auf, mandelförmige Augen, olivfarbene Haut.

Sie schüttelte ihr langes dunkles Haar aus. Ohne den Kopfschutz wirkte sie um einiges zierlicher.

Trojan schätzte sie auf Ende dreißig. Im Internet hatte er keinerlei Informationen über ihr Alter gefunden. Nur darüber, dass sie die Beste in ihrem Fach war. Ihr Vater Japaner, ihre Mutter Deutsche.

Er hatte nach einer Beschäftigung gesucht, die ihn erdete, einem Ausgleich. Etwas außerhalb der Ermittlungen. Er hatte sich nach einem Freiraum gesehnt. Einem Kraftort. Und plötzlich war er auf ihre Website gestoßen:

Jasmin Sato. Asiatische Kampfkunst und Zen

»Kein Helm?«, fragte er nach.

»Du hast richtig verstanden«, sagte Jasmin.

»Ist das nicht ziemlich gefährlich? Ich meine, wir üben nicht mehr mit Bambusschwertern wie am Anfang. Es sind echte Schwerter.«

»Die Klingen sind nicht geschliffen. Nicht besonders scharf.«

»Aber sie sind aus Metall. Ich könnte dich verletzen.«

»Mich verletzen? Worüber haben wir eben gesprochen?«

Nach einer kurzen Pause lächelte er. »Die leere Schale. Der Atem. Wie ein Windhauch. Mehr nicht.«

Auch Jasmin lächelte. Sie nickte ihm schweigend zu.

Trojan ließ seinen Helm fallen. Sie warf ihren ins Gras.

Ich muss mich darauf einlassen, dachte er. Es ist anders. Zuweilen irritierend. Aber es hilft.

Sie griffen beide zu ihren Schwertern und gingen in die Ausgangsposition.

Danach verneigten sie sich voreinander.

»Tanzen wir«, sagte Jasmin Sato.

VIER

Sieben Uhr morgens, die Zeit drängte.

Rosalie stand in ihrer modern eingerichteten Küche und wollte mit den Vorbereitungen beginnen. Sämtliche Zutaten für das Essen waren pünktlich geliefert worden, nur Katja war nicht da.

Am frühen Nachmittag musste das Fingerfood für eine Veranstaltung in Berlin-Mitte fertig sein. Die gefüllten Miniteigfladen mit Zucchinikompott und Sonnenblumenkernen, die Weichkäseröllchen mit Auberginenjoghurt, die Ziegenfrischkäsebällchen mit Feldsalat auf Dörrobstkompott – wie sollte Rosalie die Zubereitung allein schaffen? Die Garnelen mussten frittiert und auf Kürbiscreme und Basilikumapfel angerichtet werden. Hähnchenspieße waren zu braten, der passende Zitronen-Thymian-Chili-Dip anzurühren. Und wer kümmerte sich währenddessen um die Minicheesecakes mit Mandelsplittern und Amarena-Beerenkompott? Das war nur im Team möglich, und das Rosalie hasste Unzuverlässigkeit.

Sie bekam Herzrasen, wenn sie daran dachte, dass Katja verschlafen haben könnte. In letzter Zeit war das ziemlich häufig vorgekommen.

Bereits zum zehnten Mal an diesem Morgen rief sie bei ihr an. Doch ihre Freundin und Geschäftspartnerin hob nicht ab. Erneut sprach sie auf ihre Mailbox: »Katja, verdammt, wo steckst du? Wenn das so weitergeht, sind wir pleite. Wir dürfen diesen Auftrag nicht vermasseln.«

Katja stellte ihr Telefon nachts aus, das wusste sie. Eine Angewohnheit, die sie ihr nicht ausreden konnte.

Es half alles nichts. Sie musste zu ihr fahren, um sie zu wecken.

Sie zog ihre Jacke an, nahm ihre Schlüssel und ging. Ihr kleiner Lieferwagen war in der Nähe geparkt. Sie stieg ein und fuhr los, arbeitete sich hektisch durch den morgendlichen Berufsverkehr.

Etwa zwanzig Minuten später war sie am Ziel.

Vor dem Haus in der Dieffenbachstraße hielt sie in zweiter Spur.

Rosalie verließ den Wagen und eilte auf den Eingang zu. Sie drückte auf den Klingelknopf. Nichts geschah. Also nahm sie den Zweitschlüssel hervor, den ihr Katja für alle Fälle überlassen hatte, und schloss auf.

Sie rannte die Treppe hinauf. Im dritten Obergeschoss klopfte sie an die Tür und klingelte gleichzeitig.

Nichts.

»Verdammt«, murmelte sie. »Wenn du jetzt friedlich im Bett liegst, während ich am Rande eines Herzinfarkts bin … dann …«

Sie brach ab und atmete tief durch.

Vielleicht war es an der Zeit, sich nach einer anderen Partnerin für ihre Catering-Firma umzusehen. Allerdings mochte sie Katja, kannte sie schon viele Jahre. War sie etwa zu ungeduldig mit ihr?

Und wenn ihr nun etwas zugestoßen war?

Rosalie steckte den Schlüssel ins Schloss, drehte ihn herum und öffnete die Tür.

Sie ging durch den Flur.

»Katja?«, rief sie.

Die Schlafzimmertür war geschlossen.

Sie öffnete.

»Katja!«

Es war dunkel im Zimmer, die Vorhänge waren zugezogen.

Sie tastete nach dem Schalter und knipste das Licht an. Das Bett war ordentlich gemacht. Auf dem Kissen lag etwas. Sie trat näher. Es war eine schwarze Schlafmaske, akkurat auf der Mitte des Kissens drapiert.

Merkwürdig. So etwas benutzte ihre Freundin doch gar nicht.

Rosalie ging in die Küche. Auch hier war niemand.

Sie sah im Bad nach. Nichts.

Dann betrat sie das Wohnzimmer, wo ebenfalls die Vorhänge geschlossen waren.

Erneut rief sie nach ihrer Freundin.

Keine Antwort.

Sie schaltete das Deckenlicht ein, ließ den Blick schweifen.

Irgendetwas stimmte nicht.

Der Sessel, dachte sie. Katjas Lieblingssessel. Er war ans Fenster geschoben worden, mit der Rückseite zu ihr. Ein sehr breiter Ohrensessel. Normalerweise stand der an der Wand.

Saß da jemand?

Ihr Puls beschleunigte sich.

Sie setzte einen Schritt vor.

»Katja, bist du das?«

Plötzlich bemerkte sie ein paar rote Flecken am Boden. War das Blut?

»Großer Gott, was ist passiert?«

Ihre Stimme brach.

Noch ein Schritt in die Richtung.

Sie war sich nun beinahe sicher, dass jemand in dem Sessel saß. Aber derjenige schien sich nicht zu rühren.

Oder sollte sie sich täuschen? War die Wohnung leer?

Aber wo war Katja?

Es roch eigenartig. Kupfrig. Kam das von den Flecken? War das der Geruch von Blut?

Vorsichtig sog sie die Luft ein. Es war noch ein anderer Geruch. Er erinnerte sie an … Lieferungen für ihre Firma … die rohen Hähnchenspieße.

Totes Fleisch.

Umkehren, durchfuhr es sie. Raus hier!

Dennoch machte sie einen weiteren Schritt nach vorn.

Danach noch einen.

Langsam schritt sie voran. Schließlich bemerkte sie noch etwas. Es roch leicht chemisch. Entfernt nach Lack, Farbe, irgendeiner Chemikalie.

Der Weg zum Fenster kam ihr endlos vor. Sie machte weitere Blutspritzer aus.

Ihre Knie zitterten.

Schließlich hatte sie die Rückseite des Sessels erreicht. Sie spähte über die Kante.

Sie sah nackte Füße, rot lackierte Nägel, nackte Beine, einen blanken Schoß.

Das war doch Katja. Oder etwa nicht?

Und dann blickte sie auf den Bauch. Er war blutbesprenkelt.

»Was ist denn los, Liebes? Sag doch etwas.«

Stille.

Für einen Moment war sie wie erstarrt, dann ging sie langsam um den Sessel herum.

Ja, es war ihre Freundin.

Sie war völlig unbekleidet.

Rosalies Blick glitt wie in Zeitlupe über ihren Körper, von unten nach oben.

Ein allerletztes Mal sprach sie ihren Namen aus. Es klang wie eine Frage.

Danach rang sie nach Luft.

Und schließlich hörte sie sich schreien.

FÜNF

Trojan parierte den nächsten Schlag. Kaum ein Laut war zu hören, als die Klingen sich berührten. Jasmin hatte ihm beigebracht, wie man die Schläge zu Trainingszwecken abstoppte. Niemals durchziehen, nur andeuten. Mehr tanzen als kämpfen. Im Fluss bleiben, im Atem. Dem Körper vertrauen. Die Bewegungen des Gegners vorausahnen. Sich nicht gegen ihn stellen, sondern seine Energie übernehmen.

Wenig Kraftaufwand. Geschmeidig sein.

Und die Gedanken loslassen. Der Geist war frei und leer.

Jasmin zog zurück. Eine tänzerische Drehung. Er folgte. Jasmin tänzelte vor, er glitt zurück.

Er atmete tief.

Sie stieß vor. Er wich aus.

Sie verharrten.

Er blieb bei ihren Augen. Dunkel. Undurchdringlich. Ihr Gesicht war reglos.

Danach beobachtete er wieder ihr Schwert. Manchmal blitzte das Metall auf. Zuweilen war er von der Sonne geblendet. Doch stets spürte er seinen Atem in der Mitte, und er vertraute.

Schließlich bewegte er sich nach vorn. Ein Hieb auf ihre Kopfmitte, den sie sogleich parierte. Eine Drehung, die sie beantwortete. Das Schwert sicher in seinen Händen. Ein erneuter Schlag. Ihre Reaktion, schnell, katzengleich.

Vor, zurück, seitwärts.

Zurück in die Grundposition.

Und wieder ein Schlag.

Der weiche Klang, wie eine Musik, als ihre Klingen touchierten.

Und zurück. Innehalten.

Augenkontakt.

Atem.

Stille.

Dann Bewegung. Schnell. Blitzschnell.

Erneut zur Ruhe. In der Mitte bleiben. Auf den Schwerpunkt des Körpers achten. Schwert, Geist und Körper sind eins. So hatte sie es ihn gelehrt. Und je länger er mit ihr trainierte, desto besser konnte er es verinnerlichen.

Er hatte Gefallen an ihrem gemeinsamen Tanz. Er war ganz in der Gegenwart. Kein Gedanke an die Zeit. Weder an den Augenblick zuvor noch an den danach.

Wieder eine geschmeidige Drehung von Jasmin, auf die sein Körper antwortete. Gewicht auf den Vorderfuß, dann auf den hinteren. Körpermitte. Atem. Und wieder holte sie aus, er parierte.

Ein leises Klirren, er nahm den Druck, der auf ihrem Schwert lag, an und drehte sich nach innen. So floss die Energie von ihr zu ihm über, und er tänzelte weiter.

Sie eroberten sich die gesamte Rasenfläche. Sie wirbelten vor, zurück, zur Seite. Einmal stand er mit dem Gesicht zum See und erfasste die Weite, den Himmel, das andere Ufer, während er sie im Rücken spürte. Er lauerte auf den Windhauch, das Fauchen, die Bewegung ihres Schwerts. Schon fuhr er herum und parierte ihren Schlag. Ihr schwarzes Haar flog, während sie kämpften.

Ein Vorstoß von ihr, Trojan reagierte.

Dann wieder sie. Hiebe links und rechts, nahe an seinem Hals, die er abwehrte. Er wirbelte vor, sie wich aus.

Da wurde er von einem Geräusch abgelenkt. Für einen Moment war er unachtsam, sie stieß vor, und er war nicht mehr im Gleichgewicht.

Jasmin schien es sofort zu bemerken.

»Stopp!«, rief sie.

Beide verharrten.

Das Geräusch war durchdringend.

Sie lauschten.

»Mein Handy«, sagte er.

Es lag in seinem Rucksack.

Jasmin ließ das Schwert sinken. »Du musst es vor dem Unterricht ausschalten.«

»Unmöglich.«

»Warum?«

Er richtete die Schwertspitze auf den Boden. »Es könnte dienstlich sein.«

»Wir kämpfen weiter.«

»Nein. Das geht nicht. Gib mir eine Sekunde.«

Sie blickte ihn streng an. »Unterricht oder Arbeit. Konzentration auf das Hier und Jetzt oder Ablenkung durch dein Telefon. Deine Entscheidung, Trojan.«

»Es ist keine Ablenkung. Es ist mein Job.«

»Und was ist mit meinem Job? Ich kann dir nur beibringen, wie du dich zentrierst, wenn du die Regeln befolgst.«

»Tut mir leid. Ich muss da ran.«

Er legte das Schwert auf den Rasen, eilte zu seinem Rucksack und nahm das Telefon heraus. In diesem Moment verstummte es.

»Stunde beendet?«, fragte Jasmin.

Auf dem Display erschien eine Nachricht. Landsberg hatte ihm auf die Mailbox gesprochen.

»Ja. Es ist mein Chef.«

Auch Jasmin legte ihr Schwert ab. »Schade, Trojan, heute warst du richtig gut.«

Nils hörte die Nachricht ab.

Jasmin trat auf ihn zu. »Schlechte Neuigkeiten?«

Er nickte. »Es gab einen Mordfall. Ich muss los.«

Sie zeigte keinerlei Regung. »In fünf Tagen um dieselbe Uhrzeit? Nächsten Montag?«

»Wenn es sich einrichten lässt.«

»Gib mir vierundzwanzig Stunden vorher Bescheid. Andernfalls muss ich dir das volle Honorar berechnen.«

»In Ordnung.«

Er deutete eine Verbeugung an.

Sie verneigte sich ebenfalls vor ihm.

Dann sagte sie leise zu ihm: »Gib auf dich acht, Trojan. In dir lodert ein Feuer. Es könnte dich verbrennen.«

SECHS

Auf der A10 fuhr er permanent auf der Überholspur. Kaum hatte er die Stadtautobahn erreicht, geriet er in einen Stau. Trojan war nicht mit dem Dienstwagen unterwegs, also hatte er auch kein Blaulicht, das er aufs Wagendach setzen konnte. Er versuchte es dennoch mit ein paar waghalsigen Manövern, wich teilweise auf die Standspur aus, hupte rhythmisch und schaltete die Warnblinkanlage ein.

Schließlich nahm er die Ausfahrt Tempelhofer Damm. Doch auch hier ging es nur stockend voran. Er bemühte sich, ruhig zu bleiben, sich nur auf den Augenblick zu konzentrieren, nicht auf das, was ihn am Tatort möglicherweise erwartete.

Über die Baerwald- und Urbanstraße gelangte er in den Wrangelkiez. Mit quietschenden Reifen hielt er vor dem Haus in der Dieffenbachstraße. Er sprang aus dem Wagen, zückte vor einem uniformierten Beamten seinen Dienstausweis und duckte sich unter den Flatterbändern hindurch.

Er spurtete durch den geöffneten Hauseingang und die Treppen hinauf. Dritter Stock. Er trat ein.

Der Chef eilte auf ihn zu.

»Nils, wir warten seit über einer Stunde auf dich. Warum hat das so lange gedauert?«

»Entschuldige, Hilmar, ich hatte einen wichtigen Termin.«

»Kannst du das etwas genauer erläutern?«

»Es war ein Sondertraining.«

»Auf dem Schießstand?«

Er wollte nicht lügen, darum antwortete er ausweichend. »Ich hab an meinem Feintuning gearbeitet. An der Reaktionsschnelligkeit.«

»Großartig. Du willst also deine Schnelligkeit verbessern und kommst deshalb zu spät?«

»Das kommt auf den Blickwinkel an, Chef.«

»Wie meinst du das?«

»Objektiv betrachtet bin ich zwar eine Stunde später dran, aber dafür wacher und klarer als vor meinem Training. So hole ich das Versäumte im Nu wieder auf.«

»Das verstehe ich nicht.«

»Wir würden kostbare Zeit verlieren, wenn ich es dir ausführlicher erkläre. Also, was haben wir hier?«

Landsberg verzog den Mund.

»Komm mit.« Er führte ihn durch den Flur. Eine Dreiraumwohnung, geschmackvoll eingerichtet. Hohe Decken, abgeschliffene Dielen. Sie betraten das Wohnzimmer.

Das Team war vollzählig versammelt, Ronnie Gerber, Max Kolpert, der Neue in der Mordkommission Olaf Maas, ihr Tatortmann Albert Krach und Stefanie Dachs. Sie begrüßte ihn mit einem Stirnrunzeln. Wieder einmal fragte er sich, warum er ihr noch nichts von den Unterrichtseinheiten bei Jasmin Sato erzählt hatte.

Auch Semmler, der Rechtsmediziner, und die Forensiker von der Kriminaltechnik waren anwesend.

Sie hatten ihre Halogenscheinwerfer aufgestellt.

Landsberg wies auf einen ausladenden Ohrensessel, der sich vor dem Fenster befand. Er stand mit der Rückseite zu ihnen.

»Der Name der Toten ist Katja Gehring, neunundzwanzig Jahre alt. Sie lebte allein in dieser Wohnung.«

»Fand man sie in diesem Sessel?«

»Ja. Sie arbeitet selbstständig für eine Cateringfirma. Ihre Geschäftspartnerin hat sie heute Morgen entdeckt. Sie wunderte sich, dass sie nicht zur Arbeit erschienen ist, hat einen Zweitschlüssel.«

»Einbruchspuren?«

»Keine.«

»Hinweise auf einen Kampf?«

»Nichts.«

Trojan machte Anstalten, auf den Sessel zuzugehen.

Doch Landsberg hielt ihn zurück. »Ich muss dich warnen.«

»Wovor?«

»Der Anblick ist bizarr. Ist mir in meiner gesamten Karriere noch nicht vorgekommen. Und das soll was heißen.«

Trojan schloss für einen Moment die Augen. Nicht aus der Ruhe bringen lassen. Eine Mordermittlung war wie ein Kampf mit scharfen Schwertern. Nur dass der Gegner unsichtbar war. Also in der Mitte bleiben. Tief atmen.

Er versuchte sich vorzustellen, was Jasmin Sato zu ihm sagen würde. Welchen Rat sie für ihn hätte. Da erinnerte er sich an ihren Satz: Nichts wurde je geboren, also kann auch nichts sterben.

Aber was hieß das denn in der Konsequenz? Dass alles nur eine große Illusion war? Auch dieser Raum, das grelle Licht, seine Kollegen?

Sie waren doch real. Lebendig. Aus Fleisch und Blut.

Ihre Blicke, bemüht distanziert. Dann wieder auf den Ohrensessel gerichtet. Auf das Grauen, das ihn offenbar erwartete. Reglose Mienen, sie wollten sich den Anschein von Professionalität geben, um ihre Erschütterung zu kaschieren.

Stefanie musterte ihn. Sicherlich fragte sie sich, wo er heute Morgen gewesen war. Warum er sich in aller Frühe davongestohlen hatte.

All das war doch so verdammt echt wie das Blut, das in seinen Ohren rauschte.

Natürlich waren sie alle lebendig. Und irgendwann würden sie sterben.

Nils glaubte, dass mit diesem rätselhaften Satz etwas ganz anderes gemeint war. Er schien sich auf eine diffuse Vorahnung zu beziehen, die ihn schon öfter an Tatorten wie diesen beschlichen hatte. Nämlich das merkwürdige Gefühl, die Seele des Mordopfers sei noch anwesend, würde durch den Raum schweben, ihn bei seiner Arbeit beobachten. Vermutlich handelte es sich im Kern um die Vorstellung, die Seele würde niemals vergehen.

Wenn ein Mensch starb, wechselte er dann nur in einen anderen Zustand über? War das die tiefere Bedeutung von Jasmins Bemerkung?

Er musste sie das nächste Mal unbedingt darauf ansprechen.

Trojan nahm Witterung auf. Er roch den Hauch einer Chemikalie. Was war das nur?

»Bereit?« Landsberg riss ihn aus seinen Gedanken.

Er nickte.

Trojan straffte die Schultern und durchquerte das Zimmer. Vor dem geschlossenen Vorhang am Fenster machte er Halt.

Er sammelte sich kurz, dann wandte er sich der Vorderseite des Sessels zu.

Der Anblick traf ihn mit Wucht. Er bemühte sich, ruhig zu atmen, aber es gelang ihm nicht.

Die Frau in dem Sessel war nackt. Sie lag mehr darin, als dass sie saß. Das Kinn war auf die Brust gesunken. Getrocknete Blutströme darunter. Der Hals, dachte Trojan. Er war offenbar mit einer äußerst spitzen Klinge traktiert worden. Mehrfach. Brutal. Anscheinend wie im Rausch.

Ein Blutrausch, durchfuhr es ihn.

Blitzartig sah er die Metallschwerter von heute Morgen vor sich. Nein, dachte er, die Art der Schnittverletzungen war anders. Eine kleinere Waffe, aber scharf, sehr scharf.

Die Kehle war aufgeschlitzt. Das dunkle Haar auf den Schultern mit Blut verklebt.

Ihm wurde ein wenig schwindlig. Tiefer atmen. Nur ein Körper, versuchte er sich einzureden, nur ein lädierter menschlicher Körper.