Engelsmädchen - Max Bentow - E-Book
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Engelsmädchen E-Book

Max Bentow

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Beschreibung

Der Berliner Kommissar Nils Trojan kommt einem Rätsel auf die Spur: Warum gibt sich eine Jugendliche fälschlicherweise als ein seit vielen Jahren vermisstes Mädchen aus, kurz bevor sie in den Tod springt? Bei seinen Ermittlungen trifft er auf die Kriminalpsychologin Carlotta Weiss, die unter Lebensgefahr versucht hat, die Jugendliche von dem Sprung abzuhalten. Trojan ist auf Anhieb fasziniert von seiner unkonventionellen Kollegin und bietet ihr an, in dem Fall zusammenzuarbeiten. Während sie gemeinsam versuchen, die mysteriösen Hintergründe des Selbstmords aufzuklären, geraten sie in den Strudel einer Mordserie, der sie unter die Brücken Berlins führt – und Carlotta erneut mit dem schwärzesten Abgrund ihres Lebens konfrontiert …

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Buch

Der Berliner Kommissar Nils Trojan kommt einem Rätsel auf die Spur: Warum gibt sich eine Jugendliche fälschlicherweise als ein seit vielen Jahren vermisstes Mädchen aus, kurz bevor sie in den Tod springt? Bei seinen Ermittlungen trifft er auf die Kriminalpsychologin Carlotta Weiss, die unter Lebensgefahr versucht hat, die Jugendliche von dem Sprung abzuhalten. Trojan ist auf Anhieb fasziniert von seiner unkonventionellen Kollegin und bietet ihr an, in dem Fall zusammenzuarbeiten. Während sie gemeinsam versuchen, die mysteriösen Hintergründe des Selbstmords aufzuklären, geraten sie in den Strudel einer Mordserie, der sie unter die Brücken Berlins führt – und Carlotta erneut mit dem schwärzesten Abgrund ihres Lebens konfrontiert …

Weitere Informationen zu Max Bentow sowie zu lieferbaren Titeln des Autors finden Sie am Ende des Buches.

MAX BENTOW

ENGELSMÄDCHEN

PSYCHOTHRILLER

Der Inhalt dieses E-Books ist urheberrechtlich geschützt und enthält technische Sicherungsmaßnahmen gegen unbefugte Nutzung. Die Entfernung dieser Sicherung sowie die Nutzung durch unbefugte Verarbeitung, Vervielfältigung, Verbreitung oder öffentliche Zugänglichmachung, insbesondere in elektronischer Form, ist untersagt und kann straf- und zivilrechtliche Sanktionen nach sich ziehen.Der Verlag behält sich die Verwertung der urheberrechtlich geschützten Inhalte dieses Werkes für Zwecke des Text- und Data-Minings nach § 44 b UrhG ausdrücklich vor. Jegliche unbefugte Nutzung ist hiermit ausgeschlossen.

Copyright © der Originalausgabe September 2023

by Wilhelm Goldmann Verlag, München, in der Penguin Random House Verlagsgruppe GmbH, Neumarkter Str. 28, 81673 München

Dieses Werk wurde vermittelt

durch die Literarische Agentur Michael Gaeb

Covergestaltung: Uno Werbeagentur, München

Covermotiv: FinePic ®

CN· Herstellung: ik

Satz: Uhl + Massopust, Aalen

ISBN 978-3-641-29210-2V002

www.goldmann-verlag.de

ERSTER TEIL

Es ist spät geworden, doch der Puls dieser hektischen Stadt treibt mich voran. Passanten, Lichter, Häuserreihen ziehen an mir vorbei, während ich durch die nächtlichen Straßen fahre, voller Unruhe, denn ich weiß, wenn ich ankomme, wird es geschehen.

Noch kann ich es hinauszögern, doch letztlich gibt es kein Zurück. Ein spezieller Bereich in meinem Gehirn hat das Kommando übernommen. Meine Hand wird ausführen, was der Kopf befiehlt.

Lange Zeit gab es in meinem Leben nur Flucht oder Erstarrung. Doch nun feuern andere Neuronen in meinem Hirn. Sie steuern mich, verlangen nach Angriff. Mein Innerstes dürstet nach Blut.

Ich setze den Blinker, fädle mich auf der Autobahn ein und schere auf die Überholspur aus. Der Motor dröhnt, während ich das Gaspedal durchdrücke. Leitplanken, Schilder, Bodenmarkierungen leuchten warnend in meinem Blickfeld auf, doch das kümmert mich nicht. Ab heute nehme ich keine Rücksicht. Nichts wird mich abhalten, kein Weg in die Irre führen.

Ich umfasse das Lenkrad und beschleunige weiter. Folge dem Plan, der elektrischen Ladung in meinen Nervenzellen. Auch wenn ich mich stets nach Liebe gesehnt habe, herrscht von nun an bloß der Hass.

Die Stadt zerfasert an den Rändern, nicht einbetonierte Flächen, Landschaftsreste, Waldstücke, die noch nicht abgeholzt wurden, all das rauscht an mir vorbei. Ich schließe für einen Moment die Augen, halte dennoch die Spur.

Heute Nacht bin ich unverwundbar. Die Stimme in meinem Kopf hat es mir eingeflüstert. Sie macht mir Mut. Nur so kann ich überleben.

Kilometer um Kilometer lege ich zurück. Schließlich nehme ich den Fuß vom Gas und biege an der nächsten Ausfahrt ab.

Die Scheinwerferkegel gleiten durch die Nacht. Je weiter ich mich von der Stadt entferne, desto einsamer wird die Gegend. Dies war einmal ein Ort des Friedens für mich, hier kam ich zeitweilig zur Ruhe.

Allmählich fahre ich langsamer.

Auf einem Feldweg geht es im Schritttempo weiter. Ich passiere Bäume, vereinzelte Sträucher, und plötzlich taucht die Silhouette eines Hauses vor mir auf.

Nun bin ich am Ziel.

Ich schalte den Motor aus, danach die Lichter. Finsternis umgibt mich. Ich bleibe noch eine Weile sitzen, versuche, meine Atmung zu kontrollieren, den Herzschlag, das pochende Drängen meines Instinkts.

Nichts wird mehr so sein wie zuvor.

Schließlich gebe ich mir einen Ruck und verlasse den Wagen.

Kurz darauf bin ich im Inneren des Hauses.

Stille. Zwielicht. Nur ein blasser Schimmer vom Mond, der durch die Fenster hereinfällt. Nachdem ich die Schuhe abgestreift habe, schleiche ich mich ins Bad. Ich werfe einen letzten Blick in den Spiegel. Diese Person im Halbdunkel, bin das ich? Werde ich jemals wieder in diese Augen schauen können, ohne zu erschrecken?

Für Skrupel ist es zu spät. Ein Zögern darf nicht sein.

Leise gehe ich in das Zimmer, in dem du schläfst. Der Mondschein dringt durch einen Spalt im Vorhang. Ein leichtes Frösteln, und ich schlüpfe zu dir unter die Bettdecke.

Dein Atem ist ruhig. Ich passe mich dir an, bis wir im Gleichtakt die Luft einziehen und wieder ausstoßen.

Auf einmal bin ich erstaunlich gefasst.

Langsam drehe ich mich auf die Seite und betrachte dein Gesicht. Wie friedlich du aussiehst. Unschuldig wie ein Kind liegst du da.

Wovon handeln deine Träume? Welche Bilder irrlichtern durch dein Gehirn? Kommt der Tod in deinen Kopffilmen vor?

Ich stütze mich auf. Mit der Fingerspitze berühre ich deine Stirn. Keine Reaktion, du bist im Tiefschlaf. Ich streiche dein Haar zurück. Dann wandern meine Finger hinab zu deinem Hals. Es pulsiert unter der Haut. Ich spüre das Blut in deinen Adern.

Plötzlich drehst du dich um.

Ein Seufzer im Schlaf.

Draußen geht ein sachter Wind, er säuselt im Laub der Bäume, streicht durch die Lupinen im Garten. Am Feldrand wachsen Kornblumen, die mich an meine Kindheit erinnern.

Wie schön es in dieser Gegend ist. Ein idyllischer Flecken Erde.

Auf einmal schlägst du die Augen auf. Traumverloren schaust du mich an. Bist du wach oder noch im Dämmer?

Schlaf ruhig weiter, den Rest übernimmt das wütende Funkeln in meinem Hirn.

Ich halte etwas Kaltes, Schweres für dich bereit. Meine Hände tasten danach.

Glaub mir, dies ist erst der Beginn einer langen, düsteren Reise.

Diesmal werde ich mich nicht verschließen. Ich bin nicht mehr die Person, die sich tot stellt, nicht länger das Wachs in den Händen anderer.

Heute Nacht vollzieht sich der Wandel. Fortan bin ich die Klinge und nicht die Wunde.

Ich ziehe die Waffe hervor.

Ein Blitzen im Mondlicht, dein Aufschrei.

Schon trifft mich dein Blut in einem tröstend warmen Strahl.

EINS

SONNTAG, 18. SEPTEMBER, NACHTS

Sie war auf der Tanzfläche und rührte sich nicht. Die Menge um sie herum im flimmernden Licht, ein Wogen, ein Zucken, schwitzend in stickiger Luft. Wummernde Bässe, ekstatische Loops. Doch Carlotta stand völlig still. Sie war allein, in Gedanken weit weg. Sah hinauf zu den Scheinwerfern und blinzelte.

Sie wollte dazugehören, ein Teil des Ganzen sein. Nicht mehr ausgeschlossen, fern vom Spaß der anderen. Es versuchen, innerlich loslassen, sich den Beats hingeben. Für wenigstens eine Nacht so wild und selbstvergessen sein wie die tanzende Meute. Normalerweise hielt sie Abstand, doch für heute hatte sie vor, sich mitten hineinzubegeben.

Sie begann mit einer leisen Bewegung in der Hüfte, danach erlaubte sie ihren Schultern zu kreisen. Sie hob die Arme, ihre Hände bewegten sich langsam vor ihrem Gesicht. Es war wie ein Streicheln, ein zartes Gleiten, als wollte sie den hochtönenden Gesang anlocken, der sich hymnisch über die Basslinie legte.

Allmählich gewann sie Zutrauen. Sie warf einen Blick hinauf zum DJ, der hoch oben über seinen Turntables thronte. Er peitschte die Menge an. Das rhythmisch stampfende Volk jubelte ihm zu.

Kaskaden aus farbigem Licht strömten auf Carlotta herab. Sie traute sich nun mehr zu. Sie konnte es auch. Ihr Hüftschwung noch zaghaft, aber das Spiel ihrer Hände ausufernd. Sie umarmte die Melodie, den hohen Klang einer Sirenenstimme und umfing den tiefen Bass der Drums, der sich durch ihr Rückenmark zu schlängeln schien.

Etwas löste sich in ihr, eine alte abgekaute Traurigkeit, die sie vielleicht für immer ablegen konnte. Mehr tanzen, dachte sie, mehr singen, womöglich war das ein Neustart in dieser Nacht. Sie beobachtete ihre Hände, die über ihr flatterten wie zwei kleine Vögel, endlich in die Freiheit entlassen. Verzückt, nahezu begeistert sah sie ihnen zu. Sie waren hübsch, dabei hatte Carlotta noch nie etwas an sich schön gefunden.

Die Loops endeten, und der DJ blendete zum nächsten Track über, begleitet vom Johlen der Masse. Die Lichtstimmung wechselte, noch mehr Menschen drängten auf die Tanzfläche. Carlotta wurde angerempelt und kam aus dem Rhythmus. Schon meldeten sich störende Gedanken. War sie etwa doch fehl am Platz?

Sie wollte weitertanzen, doch die Magie war dahin. Sie rettete sich an die Bar, versuchte dem Mann hinterm Tresen, ein Zeichen zu geben, jedoch vergeblich. Es war entschieden zu voll, die Luft zum Schneiden. Plötzlich stand ein Typ dicht neben ihr und grinste sie an. Carlotta wusste nicht, wie sie reagieren sollte. Zurücklächeln wäre wohl angebracht, aber sie zögerte.

Der Kerl rief ihr etwas zu, doch es war extrem laut in diesem Club.

Er beugte sich zu ihr, kam ihr zu nah, sie konnte sein Rasierwasser riechen, holzig, mit einer Spur Zitrusfrucht. Er war recht attraktiv, feine Gesichtszüge, blitzende Augen.

Sie spürte seinen Atem im Ohr. »Darf ich dich zu einem Drink einladen?«

»Okay.« Sie antwortete, ohne nachzudenken.

»Und was möchtest du?«

Sie überlegte noch, da drückte er ihr schon ein Glas in die Hand.

»Cheers«, sagte er.

»Cheers.« Sie tranken beide.

Carlotta ahnte, dass er nun ein lockeres Gespräch anfangen würde, gezielter Auftakt zu einem Flirt, und sie beschloss mitzuspielen.

»Ich bin übrigens Victor.« Sein Haar war dunkel, sein Lächeln charmant, aber ein Tick zu selbstverliebt.

»Carlotta.«

»Schöner Name.«

Nur eine Schmeichelei, doch sie ließ es sich gefallen. Sie tranken aus, und er bestellte erneut. Der Barkeeper reagierte schnell. Carlotta hatte schon lange keinen Alkohol mehr getrunken. Eigentlich machte sie sich nicht viel daraus. Der Wodka Lemon, oder was immer das war, brannte in ihrer Kehle.

Victor berührte sie am Oberarm, und nun hatte sie seinen Atem im Gesicht. »Warum ziehst du deine Jacke nicht aus, ist dir nicht heiß?«

Es war unmöglich. Sie brauchte die Jacke zum Schutz, feines Nappaleder, mehr eine dünne Haut als ein Kleidungsstück, aber sie erfüllte ihren Zweck. Carlotta wollte kein Aufsehen erregen mit dem, was sie darunter trug, und der Türsteher hätte sie erst gar nicht reingelassen.

Victor schien ihr Stirnrunzeln bemerkt zu haben. Er nahm die Hand wieder weg.

Carlottas Gesichtszüge entspannten sich. Das Gürtelholster, darin die Waffe, Marke Sig Sauer, kalt und schwer, blieb unter dem Leder verborgen. Kleiner Verstoß gegen die Dienstvorschrift. Immerhin war sie aus privatem Anlass hier. Doch mit der Pistole fühlte sie sich sicherer.

Ihr Gegenüber gab nicht auf, er feuerte eine Reihe von Komplimenten ab, die sie mit einem Lächeln quittierte. Er prahlte mit seinem Job, irgendetwas mit Immobilien, und zeigte ihr seine makellosen Zähne. Sie antwortete das Nötigste, wenn er ihr Fragen stellte, und ließ sich zu einem dritten Getränk überreden.

Ihr war ein wenig schummrig, als er sie fragte, ob sie tanzen wolle.

Sie willigte ein. Schon war sie mit ihm unter den wabernden Lichtern, und der DJ versorgte sie mit vibrierenden Tracks, die in ihrem Bauch kitzelten. Sie versuchte, die Bewegungen ihrer Hände zu wiederholen, den Freiheitsflug der kleinen Vögel, sich geheimnisvoll, unnahbar und dennoch gegen ein Abenteuer nicht abgeneigt zu geben. Warum auch nicht? Sie war hier, um sich zu amüsieren, ihr Plan war es, den einfachen Freuden der Allgemeinheit zu folgen, eine durchtanzte Nacht, Alkohol, vielleicht auch Sex.

Victor tänzelte um sie herum, sein Auftreten männlich, unterkühlt, mit einer Prise Ironie. Sie schätzte ihn auf ungefähr ihr Alter, Mitte dreißig, noch nicht verloren, auch wenn einige Träume längst geplatzt waren.

Plötzlich schob er sich an sie heran. Seine Hände wanderten unter das Nappaleder, strichen an ihren Rippenbögen entlang. Dann hinunter zu ihren Hüften, als wollte er sie abtasten. Hatte er ihre Waffe bemerkt?

Sie versuchte, sich von ihm zu lösen, doch in dem Gedränge war es kaum möglich.

Schlagartig wollte sie allein sein. Zu Hause. Isoliert, aber in Sicherheit.

Er zog die Hände wieder weg, doch gleich darauf waren sie in ihrem Nacken.

»Lust, von hier zu verschwinden?«, schrie er ihr ins Ohr.

Ihre Beine waren auf einmal weich wie heißes Wachs. Die Musik schien sich zu verändern, verlangsamte sich. Ihr war, als habe sie Wasser in den Ohren. Ein dumpfer Hall, Misstöne, Disharmonien. Alles um sie herum entfernte sich. Victors Hände glitten wieder unter ihre Jacke, während er sich an sie presste.

Sie bekam keine Luft mehr.

Sie stieß ihn weg, bahnte sich einen Weg durch die Menge.

Erst als sie es zu den Waschräumen geschafft und die Tür hinter sich zugeworfen hatte, kam sie wieder zu Atem. Sie stützte sich an einem der Becken ab, erschrak vor ihrem Spiegelbild. Wie bleich sie war. Sie spritzte sich Wasser ins Gesicht und trocknete sich mit einem Papiertuch ab.

Nach einer Weile traute sie sich wieder hinaus. Sie versuchte, sich zu orientieren. Wo war der Ausgang? Unsicher ging sie an der Tanzfläche vorbei. Das Set des DJs wirkte noch immer merkwürdig gedämpft, die Leute schienen sich wie in Zeitlupe zu bewegen, die Lichtstrahlen trafen mit einer eigenartigen Verzögerung auf ihre Netzhaut, dafür umso greller, schmerzlich wie Messerspitzen.

Endlich entdeckte sie ein rettendes Schild: Notausgang. Sie wankte darauf zu. Doch nur wenig später griffen erneut Hände nach ihr.

»Carlotta.«

Der Mann namens Victor sah sie an, als sei nichts weiter vorgefallen.

»Ich muss gehen«, murmelte sie.

»Ich rufe uns ein Taxi.«

»Nein.«

Er schob einen Arm unter ihre Achsel und führte sie hinaus. Die Nachtluft schlug ihr entgegen, kalt und brutal, sie öffnete den Mund, einen metallischen Geschmack auf der Zunge.

Schon hatte Victor mit seinem Handy den Wagen bestellt. »Müsste gleich hier sein.«

»Lass mich los.«

Er lächelte nur.

Abermals wollte sie sich von ihm losreißen, doch es gelang ihr nicht. Ihre Glieder waren noch immer weich, fühlten sich beinahe flüssig an. Sie sackte leicht zusammen, und er zerrte sie hoch.

»Hoppla«, sagte er mit einem Grinsen.

Das Taxi hielt vor ihnen. Er stützte sie, führte sie hin.

Auf einmal hörte sie sich schreien. »Loslassen!«

Unter größter Mühe entwand sie sich seinem Griff. Sie wollte in die andere Richtung laufen, doch ihre Beine gehorchten ihr nicht.

Er griff nach ihr. Sie fuhr herum.

»Komm schon«, sagte er, »du bist zu schwach, um allein nach Hause zu gehen.«

»Hau ab.«

Sein Lächeln war selbstüberzeugt, fies, dominant. Er zog sie an sich heran wie eine willenlose Beute. »Gib mir wenigstens deine Nummer.«

»Nein.«

»Dann gebe ich dir meine.«

Auf einmal hatte er einen Stift in der Hand und schrieb etwas auf ihr Handgelenk.

»Was soll das?«, brachte sie hervor.

Sein Grinsen wurde breiter. »Damit du mich nicht vergisst, Kleine. Niemals.«

Sie spürte das Gewicht der Sig Sauer an ihrer Hüfte, den harten Lauf der Waffe. Sie sah die geöffneten Lippen des Mannes und seine blitzenden Augen.

Der Taxifahrer hupte.

Sie tastete nach dem Holster, spürte den Pistolengriff in ihrer Hand.

Ihr war schwindlig, Lichtblasen explodierten in ihrem Kopf.

Plötzlich war Victor weg. Sie kniete vorm Rinnstein. Sie hatte die Orientierung verloren, auch jegliches Zeitgefühl.

Der Scheißkerl hat mir was in den Drink geschüttet, durchfuhr es sie. Ihr Kopf näherte sich dem Boden.

Dann gingen die Lichter aus.

ZWEI

MONTAG, 19. SEPTEMBER

Das Mädchen ohne Schuhe rannte. Der Asphalt war rissig und übersät mit Dreck. Sie bog um die Ecke und beschleunigte. Am Himmel dämmerte der Morgen heran.

Ihre Fußsohlen schmerzten. Die Kälte kroch unter ihre Haut. Sie trug nichts weiter als ein Tanktop und ihren Slip. Sie wagte es nicht, sich umzudrehen. Ihr Atem jagte, das Herz schlug dumpf und hart in ihrer Brust.

Müde Gestalten kamen ihr entgegen, Menschen, die zur Frühschicht mussten. Manch einer gaffte ihr nach. Halb bekleidet, wie sie war, verängstigt und verschwitzt sorgte sie für Aufsehen in der tristen Frühe, morgens um halb sieben.

Schon hetzte sie um die nächste Häuserecke, doch auch in den Seitenstraßen war sie vor fremden Blicken nicht geschützt. Sie wollte schneller laufen, doch ihre Kräfte schwanden, und eine Glasscherbe bohrte sich in ihren nackten Fuß.

Sie hinkte, strauchelte, der Schmerz war heftig.

Ein Mann versperrte ihr den Weg.

»He, Süße, wo willst du denn hin?«

Er taxierte sie. Sein Blick war gierig.

Das Mädchen stürmte auf die Straße. Schneller, dachte sie, nur weg von hier.

Auf dem gegenüberliegenden Gehsteig eilte sie weiter. Noch einmal bog sie ab.

Vor ihren Augen war ein Flimmern, das Haar hing ihr in Strähnen im Gesicht, und ihre Lunge bebte.

Schließlich sah sie das Ende der Straße.

Wohin jetzt?

Sie musste verschnaufen, hatte einfach keine Kraft mehr.

Weiter, durchfuhr es sie, nur weiter, nicht stehen bleiben.

Da erkannte sie das Gerüst an einem der Häuser. Es war sehr hoch.

Das Mädchen ohne Schuhe hob den Blick zum Himmel.

Die Wolkendecke riss auf, und ein Sonnenstrahl blitzte hervor. Dort oben war so viel Weite, so viel Licht.

Mit einem Mal meinte sie, eine leise Stimme zu vernehmen.

Komm, sagte die Stimme, komm zu mir.Hier ist der Ausweg.

Carlotta schlug die Augen auf. Ihr Blick irrte umher. Wo war sie? Eine gallige Übelkeit kroch in ihrer Kehle hoch.

Vorsichtig richtete sie sich auf. Das Zimmer drehte sich um sie herum. Erst nach einer Weile wich der Schwindel in ihrem Kopf, und sie konnte schärfer sehen.

Die abgebeizte Kommode mit den bunten Griffen kannte sie, auch das Bild an der Wand war ihr vertraut. Es zeigte eine große, schäumende Welle, eine Reproduktion des berühmten Farbholzschnitts von Hokusai. Ihre Mutter hatte dieses Bild geliebt.

Sie war also zu Hause, saß auf ihrem Bett.

Doch kein Gefühl der Sicherheit stellte sich ein. Dafür verspürte sie ein leises Unbehagen.

Was war in der letzten Nacht vorgefallen?

Carlotta blickte an sich herab, und ihr Atem stockte.

Zwei kleine Augen starrten sie an.

Es war so verstörend, dass sie mehrmals zusammenzuckte.

Sie war unbekleidet, und um ihren Hals hing etwas. Sie schrie auf, und das Ding an ihrem nackten Körper baumelte hin und her.

Entsetzt griff sie danach.

Es war weich, flauschig und überaus grotesk.

Ein Stoffäffchen an einer Nylonschnur, ungefähr faustgroß, Knopfaugen, die Nase und die Gliedmaßen von der Schnur zerquetscht, das Nylon um sie herumgewunden. An manchen Stellen war das Tier aufgerissen, und watteartiges Füllmaterial quoll hervor.

Carlotta versuchte, sich den Stoffaffen vom Hals zu ziehen, doch die Schnur verhedderte sich. Das Nylon schnitt in ihre Haut.

Sie keuchte.

Nach einer Weile schaffte sie es, sich zu befreien. Sie zog die Schnur über ihren Kopf und warf das Äffchen auf den Boden.

Unsicher stand sie auf und ging ins Bad. Für einen Moment war ihr, als müsste sie sich übergeben.

Sie stand vorm Spiegel und traute ihren Augen nicht. Denn da war noch etwas. Es war krustig und verklebt. Es bewegte sich, wenn sie atmete. Eine gelbliche Masse auf ihrem nackten Bauch, die in einer zittrigen Spur überkreuz hinauf zu ihren Brüsten und hinunter zur Scham führte.

Es schauderte sie.

Sie betastete das Zeug.

Es roch leicht süßlich. Wie Honig.

Und dann verstand sie. Es war Wachs. Bienenwachs. Jemand hatte ihr offenbar mit einer brennenden Kerze ein großes X auf den nackten Körper geträufelt.

Was um alles in der Welt war passiert? Was hatte sich in der Nacht in ihrer Wohnung abgespielt?

Angestrengt dachte sie nach. Doch in ihrem Kopf war nur Leere.

Da vernahm sie einen verhaltenen Brummton aus ihrem Schlafzimmer.

Es brauchte eine Weile, bis sie begriff. Es war ihr Handy, das auf dem Nachttisch vibrierte.

Sie zog sich einen Bademantel über und ging nachsehen. Auf dem Display wurde eine ihr unbekannte Nummer angezeigt.

Carlotta hob nicht ab. Endlich verstummte das Telefon.

Denk nach, denk nach, durchfuhr es sie, was ist gestern passiert?

Erschöpft setzte sie sich auf den Bettrand. Das verschnürte Äffchen grinste sie vom Boden an. Angewidert rieb sie über die Wachsspur auf ihrem Bauch. Das Zeug klebte fest, bröckelte nur leicht ab.

In diesem Moment bemerkte sie die Ziffern auf ihrem Handgelenk. Jemand schien sie mit einem schwarzen Stift auf ihre Haut geschrieben zu haben.

0172 99 66 33

Daneben drei Großbuchstaben.

VIC

Victor, dachte sie. Der Club. Der Typ, mit dem sie getanzt hatte.

Da schoss ihr das Blut in den Kopf. Wo war ihre Waffe?

Sie eilte in den Flur. Am Garderobenhaken hing ihre Lederjacke, und auf dem Sideboard lag das Holster mit der Sig Sauer.

Plötzlich erinnerte sie sich an eine gepresste Stimme:

Hol noch einmal tief Luft. Vielleicht ist das dein letzter Atemzug.

Es war ihre Stimme. Sie hatte das gesagt.

Sie nahm das Magazin aus der Pistole und zählte nach. Eine Patrone fehlte.

Wieder erinnerte sie sich an ihre eigene Stimme:

Dein letzter Atemzug.

Hatte sie geschossen? Ein Erinnerungsfetzen tauchte vor ihr auf. Die Straße vorm Club. Das Taxi. Der Streit. Wie sie dieser Mann namens Victor bedrängt hatte. Ihre weichen Glieder. Er schien sie betäubt zu haben.

Und danach? Nichts. Keine Erinnerung mehr.

Wer hatte ihr den Stoffaffen um den Hals gehängt? Und das Bienenwachs auf ihrer Haut? Was war passiert?

Hol noch einmal tief Luft. Vielleicht ist das dein letzter Atemzug.

Verdammt, hatte sie auf ihn geschossen?

Aber so etwas würde sie niemals tun. Nur in äußerster Notwehr. Und war das Magazin wirklich voll gewesen? Fehlte tatsächlich eine Kugel? Plötzlich war sie sich nicht mehr sicher.

»Ruhig«, sprach sie zu sich selbst, »ganz ruhig. Nur ein kleiner Filmriss.« Sie schob das Magazin in die Sig Sauer und legte sie weg.

Sie kontrollierte die Eingangstür. Nicht verriegelt. Ein Griff in ihre Jackentasche, und sie hatte den Wohnungsschlüssel in der Hand. Sie schloss von innen ab und ließ den Schlüssel stecken.

Dann ging sie ins Bad, öffnete den Duschvorhang, drehte den Hahn auf, warf den Bademantel ab und duschte lange. Mit einer Bürste schrubbte sie sich das Wachs vom Körper. Auch die drei Buchstaben und die Ziffern wusch sie ab.

Offenbar eine Telefonnummer. Sie prägte sie sich ein.

Als sie fertig angezogen war, vibrierte ihr Handy erneut. Diesmal hob sie ab.

»Hallo?«

Atmen am anderen Ende. Dann eine männliche Stimme: »Spreche ich mit Carlotta Weiss?«

»Wer will das wissen?«

»Die Kriminalpsychologin Carlotta Weiss?«

»Noch einmal: Wer will das wissen?«

»Luis Werner mein Name. Ich bin vom Polizeiabschnitt in Berlin-Mitte. Wir brauchen Ihre Unterstützung.«

»Worum geht es?«

»Hilflose Person auf einem Baugerüst.«

»Dafür bin ich nicht zuständig.«

»Ich kann im Moment keinen Psychologen erreichen, der sich da rauftraut.«

»Wie hoch ist das Gerüst?«

»Ziemlich hoch. Ein Kollege hat es versucht. Aber sobald er sich nähert, fängt das Mädchen an zu schreien.«

»Ein Mädchen?«

»Offenbar noch ein Teenager. Ist nur spärlich bekleidet. Sie ist kurz davor, sich hinunterzustürzen.«

Pause.

»Könnten Sie uns helfen? Man hat mir gesagt, Sie seien in Extremsituationen sehr belastbar.«

Das ist überhaupt nicht wahr, dachte Carlotta und starrte auf das Stoffäffchen am Boden.

Dann sagte sie: »Schicken Sie mir einen Wagen.«

»Wo sind Sie gerade?«

Sie nannte ihre Privatadresse.

drei

Es war ein Hochhaus zwischen Karl-Marx-Allee und Alexanderstraße. Einer dieser Betonklötze, die von Bauunternehmern schnell hochgezogen wurden, um rasch Profit zu machen. Das Gerüst ragte vor der rohen Fassade auf.

Eine Menge von Schaulustigen hinter einer Absperrung aus Flatterbändern. Polizeifahrzeuge standen quer auf der Fahrbahn, die Straße war abgeriegelt.

Carlotta stieg aus dem Dienstfahrzeug, mit dem man sie abgeholt hatte.

Ein uniformierter Beamter trat auf sie zu. »Sind Sie die Kriminalpsychologin?«

»Ja.«

»Wir haben soeben miteinander telefoniert.« Er legte den Kopf in den Nacken und sah in die Höhe.

Carlotta folgte seinem Blick. Sie erkannte eine Person auf der Oberkante des Gerüsts, an eine der Eisenstreben geklammert.

»Das sind über dreißig Meter«, sagte der Uniformierte. »Soll Sie jemand begleiten?«

»Ich schaffe das allein.«

Er blickte sie ernst an. »Viel Glück.«

Carlotta näherte sich dem Gerüst. Sie überstieg die Baustellensicherung und kletterte die Leiter bis zur ersten Etage hinauf. Sie überquerte die Holzbohlen bis zur nächsten Leiter.

Zielstrebig arbeitete sie sich Etage um Etage vor. Je höher sie stieg, desto kälter wurde es. Es blies ein starker Wind, der sie frösteln ließ.

Sie vermied es, in die Tiefe zu schauen. Obwohl sie relativ schwindelfrei war, rumorte es in ihrem Magen, eine leise Angst, wie eine böse Vorahnung.

Sie zählte nicht die Stockwerke, doch schließlich hatte sie die Dachkante erreicht. Nun gab es nur noch eine einzige Leiter.

Sie stieg sie halb hinauf.

Vorsichtig spähte sie über den Rand des Holzbodens. Hier oben gab es keine Querstreben mehr, bloß jeweils zwei senkrechte Eisenrohre an den beiden Stirnkanten der Gerüstböden. An einem davon stand das Mädchen, dicht am Abgrund.

Carlotta schätzte sie auf siebzehn. Außer einer dunklen Unterhose mit feinen Spitzen an den Rändern trug sie nur ein weißes Tanktop, das die Schultern freiließ. Carlotta erkannte Tattoos auf den Schulterblättern. Es waren Flügel, weite Schwingen, kunstvoll ausgearbeitet.

Engelsflügel, dachte sie.

Das Mädchen blickte sie an.

»Ich heiße Carlotta. Ich bin hier, um dir zu helfen. Möchtest du mit mir sprechen?«

Keine Antwort.

Carlotta verharrte. »Ist es okay, wenn ich zu dir raufkomme?«

Keine Reaktion.

Nach einer Weile nahm Carlotta die letzten Stufen und richtete sich vorsichtig auf den Holzbohlen auf. Sie waren nicht besonders breit, schwankten leicht, und da die Querstreben fehlten, wurde das Unbehagen stärker. Carlottas Magen rebellierte, instinktiv wollte sie die Arme ausbreiten, um sich irgendwo abzustützen, aber zu ihrer Linken war nichts als der Abgrund und zu ihrer Rechten eine Lücke zwischen Fassade und Gerüst, die ebenso schwindelerregend war.

Nur nicht nach unten schauen, dachte sie.

Entschlossen richtete sie den Blick auf das Mädchen.

Nach einer Weile sagte sie: »Ich kann dich an einen sicheren Ort bringen. An einen Ort zum Ausruhen. Wo du Frieden hast.«

Das Mädchen schüttelte bloß den Kopf.

»Ist es in Ordnung, wenn ich einen Schritt näher komme?«

Wieder keine Antwort.

»Du könntest mir deine Hand reichen. Möchtest du?«

Erneutes Kopfschütteln.

Carlotta setzte einen Schritt vor. Die Bretter vibrierten. Das Mädchen fuhr zusammen.

»Schon gut. Ganz ruhig.« Sie hielt inne. »Ich weiß, es gibt Tage, an denen man völlig verzweifelt ist. Das geht mir auch so. Ziemlich oft sogar. Glaub mir, du bist nicht allein damit. Wir können reden. Verrätst du mir deinen Namen?«

Nichts.

Auf einmal ließ das Mädchen die Eisenstange los.

Nun stand sie freihändig am Abgrund, barfuß, zitternd vor Kälte.

Ein Ruck ging durch die Menge unten auf der Straße.

Die Anspannung war spürbar. Carlotta ahnte, dass die Menschen hier waren, um ein Spektakel zu erleben. Sie versuchte, es auszublenden.

»Ich mache dir einen Vorschlag«, sagte sie. »Du kommst zu mir und reichst mir die Hand. Danach setzen wir uns eine Etage tiefer auf das Baugerüst und reden. Wir müssen nicht runtergehen. Nicht zurück in die grausame Welt dort unten. Wir bleiben hier oben. Und reden einfach.«

Die Gesichtszüge des Mädchens veränderten sich. Offenbar hatte Carlotta sie erreicht.

»Komm. Ich kann dir meine Jacke geben. Du kannst dich darin aufwärmen. Nur ein paar Schritte zu mir, ja?« Sie öffnete einladend die Hand. »Ich kenne das. Man braucht eine Hülle um sich herum, einen Schutz.«

Erneut registrierte Carlotta eine leichte Veränderung, wie ein winziges Nachgeben. Wärme anbieten, dachte sie. Geborgenheit. Behutsam eine Verbindung aufbauen.

Nur sechs oder sieben Meter waren sie voneinander entfernt. Doch sie wusste, eine falsche Bewegung, und sie hätte das Mädchen verloren.

Vorsichtig streckte sie die Hand nach ihr aus.

Wieder eine winzige Reaktion im Gesicht des Mädchens.

Immerhin hielt sie sich wieder an der Eisenstrebe fest.

Doch in diesem Moment war von unten eine Feuerwehrsirene zu vernehmen. Schrill. Penetrant. Wie ein Schlag, vor dem sie zurückwich.

Die Bodenbretter schwankten, und das Mädchen blickte nach unten.

»Es ist zu laut«, sagte Carlotta. »Dort unten ist es entschieden zu laut. Und die vielen Menschen. Sie machen dir Angst. Ich kann das verstehen. Hör zu, wir sind allein. Bloß wir beide. Ich sorge dafür, dass niemand an dich herankommt. Nur ich werde mich um dich kümmern. Möchtest du das?«

Das Mädchen rührte sich nicht.

»Willst du mir wirklich nicht deinen Namen verraten?«

Ein Schwarm Tauben flatterte vom gegenüberliegenden Dach auf, und das Mädchen folgte ihm mit Blicken. Die Vögel zogen einen Halbkreis am Himmel, rötlich angestrahlt vom Morgenlicht.

Carlotta betrachtete die Tätowierungen auf den nackten Schulterblättern des Mädchens.

Sie möchte fliegen, dachte sie. Weit wegfliegen.

»Es ist besser, in die Ferne zu schauen, nicht wahr? Und hinauf zum Himmel. Da ist mehr Weite, mehr Licht.«

Sie wagte sich näher heran. Nur noch fünf Schritte trennten sie voneinander.

Da rief jemand aus der Menge zu ihnen herauf. Ein anderer fiel mit ein. Es klang höhnisch. Als wollten die Schaulustigen endlich ihr Spektakel haben.

Und wieder ertönte eine Sirene.

Das Mädchen zuckte, die Holzbretter schaukelten.

»Keine Angst«, murmelte Carlotta. »Die beruhigen sich wieder. Und wir scheren uns einfach nicht um sie. Es gibt nur uns beide.«

Sie setzte einen weiteren Schritt vor. Sie wusste, sie durfte ihr nicht zu nahe kommen. Zum einen wollte sie das Mädchen nicht bedrängen, zum anderen musste sie aufpassen, nicht mit in die Tiefe gerissen zu werden, sollte es denn zum Schlimmsten kommen.

Doch es gab Hoffnung. Das Mädchen reagierte auf bestimmte Stichwörter. Ihr war kalt. Und sie brauchte jemanden zum Reden. Sie wollte nicht zurück zu den Menschen, aber sehnte sich vage nach einem Schutzraum mit einer Person, der sie vertraute.

Wenn Carlotta wenigstens ihren Namen wüsste.

Abermals fragte sie danach.

Zunächst kam keine Antwort.

Doch auf einmal warf ihr das Mädchen einen verzweifelten Blick zu.

»Annabel«, raunte sie.

»Gut, Annabel, ich bin für dich da.«

Das Mädchen kniff die Augen zusammen.

»Annabel Lund.«

Der Tonfall war irritierend. Mit einer merkwürdigen Dringlichkeit.

Carlotta wollte etwas sagen.

Doch dazu kam es nicht mehr.

Das Mädchen breitete die Arme aus. Die Flügel-Tattoos auf ihren Schulterblättern strafften sich.

Und dann war sie plötzlich weg.

Es geschah überraschend schnell. Schreie von unten. Carlotta wurde schwindlig. Sie sank auf die Knie. Klammerte sich an den Brettern fest.

Entsetzt starrte sie hinunter.

Das Mädchen mit den Engelsflügeln stürzte in die Tiefe.

VIER

Nils Trojan trat auf den Balkon seiner Wohnung in der Forster Straße hinaus und sog die frische Abendluft ein. Er setzte sich auf den Teakholzstuhl an der Brüstung und versuchte, sich nach einem langen Arbeitstag zu entspannen.

An der Fassade vom Haus gegenüber turnte ein Eichhörnchen über die Stuckverzierungen, auf den Dächern gurrten Tauben. In der Ferne rauschte der 29er Bus über das Kopfsteinpflaster an der Ecke Reichenberger Straße. Unten riefen sich spielende Kinder etwas zu. Vom Landwehrkanal drang der Flügelschlag eines Schwans zu ihm herüber, der sich schwerfällig aus dem Wasser erhob und in die Lüfte glitt.

Das Laub der Bäume färbte sich zum Teil schon gelb. Auf dem Wipfel einer Linde sang eine Amsel ihr Lied, wehmütig klang es, wie ein ungewollter Abschied vom Spätsommer. Der Wind trug einen erdigen Hauch von Herbst heran. Es war zu kühl für diese Jahreszeit.

Nur langsam beruhigten sich Trojans Gedanken. Schon seit heute Morgen war er leicht in Sorge wegen Stefanie. Er wartete auf einen Rückruf von ihr.

Erst gestern hatte er ihr auf die Mailbox gesprochen. Im Kommissariat schien sie ihm neuerdings aus dem Weg zu gehen. Schon seit einiger Zeit ignorierte sie seine Anrufe.

Vier Monate waren vergangen, seitdem sie ihn um eine Auszeit gebeten hatte, und noch immer gab es keine Klärung zwischen ihnen.

War das nun das Ende ihrer Beziehung? Er wusste es nicht.

Sein Handy läutete. Er zog es aus der Hosentasche, doch es war nicht Stefanie, sondern Dr. Carsten Semmler.

»Nils?«

»Was gibt es?«

»Kannst du in die Rechtsmedizin kommen?«

»Worum geht es?«

»Um die Obduktion eines weiblichen Teenagers. Sie ist heute Morgen von einem Baugerüst gesprungen.«

»Du rufst mich wegen eines Selbstmords an?«

»Die Umstände sind noch nicht genau geklärt. Eine Kriminalpsychologin war bei ihr, hat vergeblich versucht, sie von dem Todessprung abzuhalten. Das Einzige, was sie aus ihr herausbringen konnte, war der Name: Annabel Lund.«

Der Rechtsmediziner setzte eine Pause. Trojan holte tief Luft. Der Name kam ihm vage bekannt vor.

»Klingelt es bei dir, Nils?«

»Hilf mir mal auf die Sprünge.«

»Ein alter Vermisstenfall, geisterte damals durch die Presse.«

»Jetzt erinnere ich mich. Annabel verschwand im Alter von vierzehn Jahren auf dem Rückweg von der Schule.«

»Ja. Eine andere Dienststelle war mit dem Fall betraut.«

»Die Kollegen hatten nicht viel Erfolg. Alles wies darauf hin, dass Annabel Lund gekidnappt wurde. Doch der Täter konnte nicht geschnappt werden.«

»Richtig. Seitdem sind fünf Jahre vergangen. Nun liegt das Mädchen auf meinem Obduktionstisch. Landsberg hat uns gerade die Akte geschickt. Wir sollen uns der Sache annehmen. Anordnung von oben. Der Staatsanwaltschaft missfällt es, dass damals nicht gründlich genug gearbeitet wurde. Nun sind wir an der Reihe.«

Trojan stand auf. »Sind die Angehörigen informiert worden?«

»Die Eltern müssten jeden Moment hier eintreffen. Du solltest mit ihnen sprechen.«

»Ich bin schon unterwegs.«

Trojan fuhr in seinem Dienstwagen über die Gitschiner Straße und das Hallesche Ufer, passierte das Technikmuseum und den Mendelssohn-Bartholdy-Park. Er bog am Reichpietschufer in den Tunnel ab, unterquerte den Potsdamer Platz und den Tiergarten. Am Hauptbahnhof endete die unterirdische Strecke. Er fädelte sich links ein und bog in die Invalidenstraße.

Er verbat sich jeglichen Gedanken daran, was wohl in den Köpfen der Eltern dieser Jugendlichen vorging. Jahrelang waren sie in Ungewissheit über das Schicksal ihrer Tochter geblieben. Und nun diese Horrornachricht.

Über Alt-Moabit und die Rathenower Straße erreichte er die Turmstraße. Er bog auf das Institutsgelände ein und hielt vor dem Haus L, in dem die Forensische Pathologie untergebracht war.

Semmler empfing ihn in einem steril wirkenden Untersuchungsraum.

Auf dem Metalltisch lag das Mädchen.

Nach einer kurzen Begrüßung reichte ihm der Rechtsmediziner die Akte des Vermisstenfalls.

Nils blätterte sie durch. Er besah sich das Foto von Annabel, einer zaghaft in die Kamera lächelnden Vierzehnjährigen. Dann verglich er es mit dem Gesicht der Toten. Es war bleich und durch den Aufprall merkwürdig verzerrt.

»Aus welcher Höhe ist sie gesprungen?«, fragte er.

»Es waren mehr als dreißig Meter.«

»Wo steht dieses Baugerüst?«

»In der Schillingstraße, sagte mir der Chef. Für Einzelheiten musst du dich an ihn wenden.«

»Gut. Ich rufe ihn gleich an. Was hast du bisher herausgefunden?«

»Außer den tödlichen Verletzungen, die durch den Sturz entstanden sind, gibt es ein paar marginale Verwundungen im Genitalbereich.«

»Wurde sie sexuell missbraucht?«

»Das ist nicht ganz auszuschließen. Auf jeden Fall hat sie ihre Jungfräulichkeit verloren.«

Trojan atmete tief durch. »Da sie fünf Jahre lang als vermisst galt, müsste sie inzwischen neunzehn sein. Die Tote sieht jünger aus, findest du nicht?«

»Das kann täuschen. Auffällig sind jedenfalls diese Tätowierungen.«

Semmler drehte den Leichnam des Mädchens auf die Seite. Trojan erkannte die eintätowierten Flügel, die sich von den Schultern bis hinab zum Lendenwirbelbereich erstreckten.

Er sah in der Akte nach. »Die Tattoos sind hier nicht vermerkt.«

Semmler legte die Tote wieder auf den Rücken. »Das stimmt. Die Eltern haben damals nicht angegeben, dass sich ihre Tochter hat tätowieren lassen.«

»Es wäre für eine Vierzehnjährige auch höchst ungewöhnlich gewesen.«

Sie blickten sich an.

»Sind die Angehörigen mittlerweile eingetroffen?«, fragte Trojan.

Der Rechtsmediziner nickte. »Sie warten draußen.«

Resa und Heiner Lund saßen aufrecht auf den weißen Plastikstühlen im Vorraum. Ihnen war der Schock anzumerken. Sie waren blass, ihre Gesichtszüge wie erstarrt. Der Mann, angegrautes Haar, hängende Schultern, stand sofort auf, als Nils zu ihnen trat. Die Frau blieb zusammengesunken sitzen.

Trojan stellte sich vor und murmelte ein paar Worte der Anteilnahme, doch Heiner Lund unterbrach ihn barsch. »Können wir endlich zu ihr?«

»Wenn Sie sich dazu in der Lage fühlen, ja.«

»Bringen wir es hinter uns.«

Frau Lund erhob sich langsam von ihrem Stuhl. Ihre Stimme war mehr ein Flüstern. »Ich wüsste nicht, warum sich unsere Tochter das Leben nehmen sollte. Sie hätte doch zu uns kommen können.«

»Noch kennen wir nicht die genauen Umstände«, entgegnete Trojan. »Bisher wissen wir nur, dass sie auf diesem Gerüst als Namen Annabel Lund angab.« Er machte eine Geste hin zur Tür. »Kommen Sie bitte mit.«

Er führte sie in den Obduktionsraum. Semmler hatte das Mädchen inzwischen mit einem weißen Tuch bedeckt.

Erst als Trojan mit dem Ehepaar Lund bereitstand und ihm ein Zeichen gab, hob er es an, sodass das Gesicht der Toten erkennbar wurde.

Trojan behielt die beiden Zeugen fest im Blick. Sie verzogen keine Miene.

Dann sagte die Mutter: »Das ist nicht unsere Tochter. Niemals.«

FÜNF

Wenn sie die Augen schloss, war sie wieder auf dem Gerüst. Der Blick in die Tiefe. Das Schwindelgefühl in ihrem Kopf. Das zerschmetterte Mädchen unten auf dem Asphalt.

Carlotta erhob sich vom Bett. Auf dem Boden lag noch immer das Stoffäffchen. Sie hatte es nicht fertiggebracht, es anzurühren. Noch zögerte sie. Eigentlich war sie gewillt, es in den Müll zu werfen. Andererseits war es ein Beweisstück. Vielleicht half ihr der Anblick ja, ihre Erinnerung an die letzte Nacht wieder in Gang zu setzen.

Was war nur passiert?

Auf einmal empfand sie beinahe Mitleid mit dem Stofftier, so eingezwängt und halb zerquetscht von der Nylonschnur.

Sie sollte es vorerst nicht wegschmeißen.

Schließlich hob sie es auf, öffnete ihren Kleiderschrank, nahm eine Schachtel heraus, in der sie Perlen, Halsketten und anderen Schmuck von ihrer Mutter aufbewahrte. Sie schüttete den Inhalt aufs Bett, legte das Äffchen in die Schachtel, stülpte den Deckel darauf und verstaute sie in der hintersten Ecke im Schrank.

Geschafft. Nun musste sie das bizarr zugerichtete Schmusetier wenigstens nicht mehr anstarren.

Carlotta sammelte den Schmuck auf und legte ihn lose in ihre Nachttischschublade. Unruhig ging sie durch ihre Wohnung. Abermals kontrollierte sie das Türschloss.

War jemand bei ihr gewesen, während sie geschlafen hatte? Die Betäubung, die ihr offenkundig verabreicht worden war, schien von heftiger Wirkung gewesen zu sein. Noch immer war sie ein bisschen schwach auf den Beinen.

Plötzlich läutete ihr Handy. Sie sah auf das Display. Die ihr angezeigte Nummer kannte sie nicht.

Sie hob ab. »Hallo?«

Am anderen Ende meldet sich eine männliche Stimme. »Mein Name ist Nils Trojan, LKA Berlin. Bitte entschuldigen Sie die späte Störung. Ich bin leitender Ermittler der fünften Mordkommission. Spreche ich mit Carlotta Weiss?«

»Ja.«

»Mein Chef Hilmar Landsberg hat mir Ihre Telefonnummer gegeben.«

»Worum geht es?«

»Mir wurde gesagt, Sie haben heute Morgen versucht, einen weiblichen Teenager von einem Suizid auf einem Baugerüst in der Schillingstraße abzuhalten.«

»Das ist richtig.«

»Das Mädchen gab sich Ihnen gegenüber als Annabel Lund aus. Ist das korrekt?«

»Ja.«

»Ich befinde mich gerade in der Rechtsmedizin. Die Tote wurde obduziert. Es gibt eine überraschende Unstimmigkeit.«

»Und die wäre?«

»Könnten Sie vorbeikommen? Dann erzähle ich Ihnen mehr.«

»Jetzt gleich?«

»Ja, es ist dringend.«

Carlotta dachte kurz nach. »Ich bin in einer halben Stunde bei Ihnen.«

»Danke.«

Sie legte auf.

Nils Trojan. Der Name war ihr ein Begriff.

Sie ging in den Flur und zog sich Jacke und Schuhe an. Doch kaum hatte sie ihre Wohnungstür geöffnet, verkrampfte sie sich.

Das Treppenhaus war dunkel. Sie tastete nach dem Lichtschalter. Mach schon, dachte sie, gib dir einen Ruck.

Doch sie traute sich nicht hinaus.

Rasch zog sie die Tür wieder hinter sich zu und lehnte sich von innen dagegen.

Wieder sah sie das Mädchen mit den Engelsflügeln vor sich. Abermals musste sie miterleben, wie die Jugendliche vor ihr in die Tiefe stürzte.

Die Bilder überlagerten sich in ihrem Kopf. Ein Wirbel aus Licht. Die Enge auf der Tanzfläche. Der Mann, der sie bedrängte. Seine Hände auf ihrem Körper. Und erneut hörte sie, wie sie ihm zuraunte:

Hol noch einmal tief Luft. Vielleicht ist das dein letzter Atemzug.

Sie griff nach dem Holster mit der Waffe und schnallte es sich um. Danach öffnete sie erneut die Wohnungstür.

Sie trat hinaus und schloss von außen ab. Ihre Schritte waren zögernd, unsicher, aber immerhin gelang es ihr, ihre Atmung unter Kontrolle zu halten.

Sie ging hinaus auf die Straße. Ihren VW-Bus hatte sie um die Ecke geparkt. Es war ein alter Bulli T2, das Modell »Helsinki«, eines der beliebtesten Campingfahrzeuge der Siebzigerjahre, hellblau mit rostigen Stellen und einer verbeulten Stoßstange.

Sie schloss auf, setzte sich ans Steuer und startete den Motor.

Carlotta liebte dieses Auto. Hier drin war sie in Sicherheit.

Nils Trojan und Dr. Carsten Semmler wandten sich der brünetten Frau in den Dreißigern zu, die den Untersuchungsraum der Rechtsmedizin betrat.

Sie war ein wenig außer Atem und hob die Schultern.

»Guten Abend«, sagte sie leise.

»Hallo«, erwiderte Nils. »Sind Sie Frau Weiss?«

»Ja.«

Er trat auf sie zu. »Ich bin Hauptkommissar Nils Trojan.«

Sie reichte ihm die Hand. »Sehr erfreut.«

Auch Semmler begrüßte sie mit einem Händedruck und stellte sich vor.

Die Kriminalpsychologin warf einen kurzen Blick auf das tote Mädchen, das auf dem Metalltisch lag.

»Danke, dass Sie so schnell herkommen konnten«, sagte Trojan.

»Das ist doch wohl selbstverständlich«, entgegnete sie.

Er schaute sie an. Ihr rotbraunes Haar, die grünblauen Augen, ihr fein geschnittenes Gesicht. Sie war von zierlicher Statur. Hatte etwas Zerbrechliches an sich, und doch spürte Trojan instinktiv, dass tief in ihr eine große Kraft war.

Ein aufmerksamer Blick, klug und scharfsinnig. Dazu eine leichte Unsicherheit, die sie zu kompensieren schien, indem sie das Kinn hob und die Schultern straffte.

Sie atmete durch. »Ich habe alles versucht, um das Mädchen von ihrem Suizid abzuhalten, doch leider ist es mir nicht geglückt.«

Trojan mochte ihre Art zu sprechen, verhalten, die Stimme ein wenig rau, aber sanft.

»Bitte machen Sie sich deswegen keine Vorwürfe«, sagte er.

»Ich versuche, es professionell anzugehen.«

»Das ist wohl das Beste.«

Er erahnte neben ihrer Präsenz und Energie zudem etwas Dunkles an ihr. Als habe sich vor langer Zeit einmal ein Schatten auf ihre Seele gelegt.

In diesem Moment lächelte sie ihn zögerlich an, und ihm war, als würde Licht einen dichten Nebelschleier durchdringen.

Eine ernsthafte, kluge Frau, dachte er, attraktiv, ein wenig scheu und vermutlich hochsensibel.

»Können Sie mir die Vorfälle von heute Morgen schildern?«, fragte er.

Sie gab ihm einen knappen, aber dennoch detaillierten Bericht.

»Es ist nicht Annabel Lund«, sagte er.

Sie war überrascht. »Nicht?«

»Annabels Eltern haben es ausgeschlossen.«

»Definitiv?«

»Ja.« Er reichte ihr eine Akte. »Annabel Lund verschwand vor fünf Jahren als Vierzehnjährige. Seitdem ist sie nicht mehr aufgetaucht.«

Carlotta Weiss überflog die Seiten. Sie las schnell und hoch konzentriert. Offenbar hatte sie die Gabe, Informationen in kürzester Zeit in sich aufzunehmen. Im Nu schien sie mit den wesentlichen Einzelheiten des Vermisstenfalls vertraut zu sein.

»Nun erinnere ich mich wieder«, sagte sie. »Ich habe damals von dem Fall gehört.« Sie schaute zu der Toten hin. »Konnte ihre wahre Identität festgestellt werden?«

»Bisher noch nicht«, antwortete Trojan.

»Warum gab sich das Mädchen als Annabel Lund aus?«

»Es ist rätselhaft.«

»Sie könnte Annabel gekannt haben. Vielleicht ist sie von demselben Täter gekidnappt worden.«

»Das wäre denkbar.«

»Nehmen wir mal an, sie konnte sich befreien …«

Trojan blickte sie an. »Sie flieht, rettet sich auf dieses Baugerüst.«

»Sie ist verzweifelt. Obwohl sie in Freiheit ist. Sie weiß nicht, wohin.«

»Demnach könnte Annabel Lund noch am Leben sein.«

»Ja«, murmelte Carlotta. »Vielleicht wollte mir das unbekannte Mädchen einen Hinweis geben, kurz bevor sie sprang. Es war wie ein Hilferuf. Wir sollen wenigstens Annabel retten. Für sie selbst bestand offensichtlich keine Hoffnung mehr. Wer weiß, was sie alles erlebt hat. Durch welche Hölle sie ging.«

Stille im Raum. Die Anwesenheit des Mädchens war noch immer spürbar, als schwebte ihre Seele über dem lädierten, nackten Körper, dem sie entwichen war.

Carlotta näherte sich dem Untersuchungstisch. Sie streifte sich ein paar Latexhandschuhe über.

»Darf ich?«, fragte sie.

Semmler wirkte nicht erfreut. »Eigentlich lasse ich niemanden in meinem Kompetenzbereich …« Er brach ab.

Sie wartete.

Schließlich trat er einen Schritt zurück und verschränkte die Arme vor der Brust.

Carlotta machte ein paar Handyfotos von der Toten. Dann schob sie den Leichnam auf die Seite und betrachtete die Flügel-Tattoos auf dem Rücken. Abermals zückte sie ihr Handy und fotografierte die Tätowierungen. Danach bettete sie die Leiche wieder so auf den Metalltisch, wie sie zuvor gelegen hatte.

»Sie arbeiten als Profilerin?«, fragte Trojan.

»Ich mag das Wort nicht besonders«, entgegnete sie. »Klingt nach Zauberei. Polizeiarbeit hat nichts mit Magie zu tun.«

»Da stimme ich Ihnen zu.« Er lächelte. »Ich habe schon viel von Ihnen gehört.«

»Ach ja?«

»Man erzählt sich, Sie seien hochbegabt. Und in der Wahl Ihrer Methoden sehr speziell.«

Sie musterte ihn. »Auch Ihnen eilt ein gewisser Ruf voraus, Herr Trojan.«

Er lächelte. »Tatsächlich?«

»Mir kam zu Ohren, dass Sie eine beachtliche Aufklärungsquote haben.«

Er trat einen Schritt auf sie zu. Ihm war ein interessanter Gedanke gekommen. Natürlich müsste er vorher mit seinem Chef darüber sprechen. Doch je länger er darüber nachdachte, desto reizvoller erschien ihm die Idee.

Er räusperte sich. »Wie wäre es eigentlich, wenn wir im Fall Annabel Lund zusammenarbeiten würden? Mein Team, die fünfte Mordkommission, ist chronisch unterbesetzt. Wir sind noch mit anderen Fällen beschäftigt, das führt zu Überlastungen. Ich könnte Verstärkung gebrauchen.«

»Ich arbeite nicht gern im Team. Mittlerweile darf ich mir einige Freiheiten herausnehmen.«

»Eine Einzelgängerin, ja?«

»Das trifft es ziemlich gut.«

»Teamarbeit wäre auch nicht erforderlich. Kooperieren Sie lediglich mit mir. Helfen Sie mir herauszufinden, wer dieses unbekannte Mädchen ist und warum sie sich als Annabel Lund ausgab.«

»Und was ist, wenn ich nein sage?«

»Das wäre schade.«

»Wieso?«

Abermals lächelte er. »Sie sind an dem Fall interessiert. Das sehe ich Ihnen an.«

Sie überlegte. Nach einer Pause sagte sie: »Bitte lassen Sie mich mit der Toten einen Moment allein.«

Semmler räusperte sich: »Hören Sie mal, das ist mein persönlicher Arbeitsbereich.«

»Tun Sie es dennoch. Bitte.«

Trojan nickte dem Rechtsmediziner zu. Dieser verzog den Mund. Danach verließen sie beide den Raum.

Carlotta dachte über Trojans Angebot nach.

Sie hatte tatsächlich schon viel von seiner Arbeit gehört. Und nun, nach ihrer ersten persönlichen Begegnung, schätzte sie ihn als ein Mann mit hervorragender Menschenkenntnis ein. Standhaft, dennoch äußerst sensibel, ungewöhnlich in diesem Job, aber auch sehr hilfreich.

Sie vermutete, dass seine ausgeprägte Feinsinnigkeit zu gelegentlicher Überforderung führte. Er war wohl stressanfällig, leicht verletzbar.

Er trug keinen Ehering, wie sie bemerkt hatte. Offenbar ein Typ, bei dem sich Frauen rasch geborgen fühlten, dennoch kein ganz einfacher Charakter.

Eine interessante, herausfordernde Mischung.

Sollte sie zustimmen?

Schließlich beugte sie sich über das leblose Mädchen. Sie atmete den Geruch des Todes ein.

»Du wolltest fliegen«, murmelte sie, »weit weg.«

Sacht strich sie dem Mädchen das Haar aus der Stirn.

»Ich werde deinen Peiniger finden«, sagte sie leise.

SECHS

Sie traten auf den Parkplatz vorm Institutsgebäude hinaus. Es war bereits spät am Abend. Der Wind frischte auf. Trojan schlug den Kragen seiner Jacke hoch.

»Also«, fragte er die Kriminalpsychologin, »was halten Sie von meinem Vorschlag?«

Carlotta blickte ihn an. »Wir können es ja mal zusammen versuchen.«

»Sie sind also dabei?«

»Wenn Ihr Chef zustimmt, ja.«

»Schön. Ich werde gleich morgen mit ihm darüber reden.«

»Aber die Zeit drängt.«

»Dann lassen Sie uns am besten gleich ins Kommissariat fahren und schon mal die Liste der vermisst gemeldeten Personen durchgehen, um herauszufinden, um wen es sich bei der unbekannten Toten handelt.«

»Auch ohne seine Einwilligung?«

»Vorerst, ja.«

»Einverstanden.« Carlotta blieb stehen. »Ich arbeite aber lieber in meinem Bus.«

Er zog die Augenbrauen hoch. »In Ihrem Bus?«

»Kommen Sie.«

Sie führte ihn zu einem angerosteten VW-Bulli, drehte den Schlüssel im Schloss herum und schob die Seitentür auf. »Normalerweise empfange ich hier drin keinen Besuch. Aber für Sie mache ich eine Ausnahme.«

Stirnrunzelnd stieg Trojan in den Camper. Sie folgte ihm, zog die Tür zu und schaltete das Innenlicht ein.

»Setzen Sie sich.«

Trojan nahm vor einem fest installierten Tisch auf der Rückbank Platz. Der Bus war gemütlich eingerichtet. Die Armaturen waren komplett mit Flokati ausgelegt, von der Decke hing eine kleine Discokugel. Die Vorhänge waren bunt gemustert und mit Troddeln versehen. Ein Aufstelldach, darunter eine Schlafkoje. Ein Kühlschrank, eine Kaffeemaschine und ein Wasserkocher vervollständigten die Ausstattung.

»Sehr komfortabel«, murmelte Trojan.

»Mein Büro für unterwegs. Und ein Rückzugsort, wenn ich es zu Hause nicht mehr aushalte. Schlafzimmer, Küche und Wohnraum in einem. Mehr brauche ich nicht.«

Sie setzte sich neben ihn.

»Und wieso arbeiten Sie nicht gern im Dienstgebäude?«

»Hier kann ich besser nachdenken.«

»Aha.« Er blickte sich staunend um.

»Wir sollten anfangen«, sagte sie, zog eine Schublade unter der Rückbank auf, nahm einen Laptop heraus, stellte ihn auf den Tisch und fuhr ihn hoch. »Wir kommen von hier aus in die Datenbank vom LKA. Haben Sie ein mobiles Gerät dabei?«

»Mein Handy.«

»Das reicht nicht aus.« Abermals öffnete sie die Schublade. »Nehmen Sie den hier.« Sie reichte ihm einen zweiten Laptop. »Wir teilen uns auf. Ich übernehme die Vermisstenanzeigen der letzten fünf Jahre, Sie die Jahrgänge davor.«

Trojan klappte den Computer auf. »Und wie lautet das Passwort?«

Carlotta zog das Gerät zu sich heran und klapperte auf der Tastatur. »So, bitte. Nun brauchen Sie sich nur noch mit Ihren eigenen Zugangsdaten ins System einzuloggen.«

Sie öffnete auf ihrem Handy ein Foto der Toten, das frontal ihr Gesicht zeigte, und legte es auf den Tisch.

Trojan beobachtete, wie sie konzentriert die Fotos und Einträge vermisster Jugendlicher auf ihrem Laptop mit dem Handyfoto verglich. Sie arbeitete rasend schnell, die Abbildungen flimmerten in rascher Abfolge über den Monitor.

Für ihn waren Recherchen in dieser Umgebung ungewohnt, schließlich aber loggte er sich ein und begann ebenfalls mit der Arbeit.

Etwa fünfzehn Minuten später sah ihn Carlotta fragend an: »Haben Sie schon etwas entdeckt?«

»Nein.«

»Ich habe meine Hälfte bereits gecheckt und keine Ähnlichkeiten mit der Toten feststellen können.«

»Wie schaffen Sie das in diesem Tempo?«

Sie wirkte irritiert. »Ich habe kein Detail ausgelassen, falls Sie das meinen.«

»Das ist erstaunlich.«

»Haben Sie etwas dagegen, wenn ich Ihre Hälfte mit übernehme?«

Trojan stieß die Luft aus. »Nur zu.«

Sie scrollte sich durch weitere Einträge. In Windeseile hatte sie sämtliche Fotos von vermissten jugendlichen Mädchen aus den vergangenen zehn Jahren angeschaut. Wie machte sie das nur? Sie schien einen Scannerblick zu haben.

»Ich kann keine Übereinstimmung entdecken«, sagte sie schließlich.

»Haben Sie auch wirklich nichts übersehen?«

»Bei den weit zurückliegenden Vermisstenmeldungen ist es natürlich schwieriger. Die Tote hat schätzungsweise ein Alter von siebzehn bis neunzehn Jahren erreicht. Hier sind zum Beispiel Kinder dabei, die mit acht oder neun verschwanden. Ich müsste die Bilder noch durch ein spezielles Programm laufen lassen, um zu erkennen, wie sie jetzt als Teenager aussehen würden, aber das raubt uns nur Zeit. Ich habe einen anderen Verdacht.«

»Ach ja?«

»Fahren wir los«, sagte sie und klappte den Laptop zu.

»Wohin?«

»Gehen wir mal nicht von dem Normalfall aus.«

»Wie meinen Sie das?«

»Das Mädchen wirkte sehr ausgezehrt auf mich. Beinahe verhärmt. Mir kam der Gedanke, sie könnte längere Zeit auf der Straße gelebt haben. Zumindest könnten wir diesem Ansatz einmal nachgehen. Es gibt spezielle Orte in der Stadt, wo sich obdachlose Jugendliche treffen. Wir sollten uns dort umschauen.«

»Sie meinen also, sie wurde nicht vermisst gemeldet, weil sie …«

»… ihrem familiären Umfeld gleichgültig ist. Unter Umständen hatte sie nicht einmal eine Familie. Vielleicht ist sie eine Ausreißerin. Sie ist zu oft von dort weggelaufen, wo sie herkommt. Niemand interessiert sich mehr für ihr Verschwinden. Ein Straßenkind, sich selbst überlassen, hoffnungslos verloren in dieser Stadt.«

»Das wäre eine Möglichkeit.«

Carlotta klappte auch den zweiten Laptop zu und verstaute ihn neben dem anderen unter der Rückbank. Sie steckte ihr Handy ein, schaltete das Innenlicht aus und setzte sich vorne ans Steuer. Trojan nahm auf dem Beifahrersitz Platz.

Schon startete sie den Motor, schaltete die Scheinwerfer ein und fuhr los.

»Die bekanntesten Plätze für jugendliche Obdachlose sind der Bahnhof Zoo, der Alexanderplatz und die Jannowitzbrücke«, sagte sie. »Beginnen wir am Zoo.«

Der Bulli fuhr nicht besonders schnell, doch Carlotta Weiss hatte eine effiziente Art, sich durch die Gänge zu schalten. Der Motor ratterte wie eine altersschwache Nähmaschine.

»Für welche Dienststelle haben Sie zuletzt gearbeitet?«, fragte Nils.

»Spielt keine Rolle.«

»Wieso nicht?«

»Es tut mir leid, Herr Trojan, aber …«, sie warf ihm einen kurzen Seitenblick zu, »… ich mag keinen Small Talk.« Sie richtete ihre Augen wieder auf die Straße. »Das sollte nicht schroff klingen. Ich hoffe, ich habe Sie nicht verstimmt.«

»Wir können auch schweigen.«

»Sie könnten die Zeit nutzen, indem Sie einen öffentlichen Aufruf in den Medien starten.« Sie hielt das Lenkrad mit der einen Hand und griff mit der anderen nach ihrem Mobiltelefon in der Jackentasche. Sie zog es heraus. »Wie lautet Ihre E-Mail-Adresse?«

Er nannte sie ihr.