Das Blut des Assassinen - Nick Lake - E-Book

Das Blut des Assassinen E-Book

Nick Lake

4,9
9,99 €

-100%
Sammeln Sie Punkte in unserem Gutscheinprogramm und kaufen Sie E-Books und Hörbücher mit bis zu 100% Rabatt.
Mehr erfahren.
Beschreibung

Eine Vampir-Saga voller Abenteuer und dunkler Romantik

Der junge Fischer Taro wurde zum Vampir und Mörder, um seine Familie zu rächen. Nun aber will er den Weg des Schwertes aufgeben. Da erfährt er, dass seine Mutter noch lebt. Sofort bricht Taro auf, ihr beizustehen – und kommt doch zu spät! Rasend vor Zorn und Trauer schwört er seinen Feinden blutige Rache. Einzig seine Freundin Hana erkennt in ihm noch den sanften Jungen, der er einst war. Doch wird sie zu ihm durchdringen? Oder verliert sie den Mann, den sie liebt, an Hass und vampirische Blutgier?

Das E-Book können Sie in Legimi-Apps oder einer beliebigen App lesen, die das folgende Format unterstützen:

EPUB
MOBI

Seitenzahl: 594

Bewertungen
4,9 (18 Bewertungen)
17
1
0
0
0
Mehr Informationen
Mehr Informationen
Legimi prüft nicht, ob Rezensionen von Nutzern stammen, die den betreffenden Titel tatsächlich gekauft oder gelesen/gehört haben. Wir entfernen aber gefälschte Rezensionen.



Buch

Um seine Familie zu rächen, hat der junge Fischer Tarō alles aufgegeben, was ihm zuvor etwas bedeutet hat, und wurde zum Vampir und Mörder. Nun, da er seine Rache vollendet glaubt, will er dem Weg des Schwertes abschwören. Da erhält er die Nachricht, dass seine Mutter noch am Leben ist, und er bricht unverzüglich auf, um ihr beizustehen. Doch er kommt zu spät! Außer sich vor Zorn und Trauer begibt Tarō sich erneut auf den blutigen Pfad der Rache – wohl wissend, dass eine Konfrontation mit seinem Erzfeind Lord Oda unausweichlich ist.

Entsetzt beobachtet Tarōs Freundin Hana seine Verwandlung. Sie ist die Einzige, die in ihm noch den sanften Jungen erkennen kann, in den sie sich einst verliebt hat. Doch kann sie ihn noch erreichen? Oder wird sie den Mann, den sie liebt, an Hass und vampirische Blutgier verlieren?

Autor

Nick Lake ist Jugendbuch-Lektor bei HarperCollins mit einem Oxford-Abschluss in Englisch. Er lebt mit seiner Frau in Oxfordshire.

Von Nick Lake bei Blanvalet lieferbar:

1. Der Novize des Assassinen

2. Das Blut des Assassinen

Nick Lake

Das Blut des Assassinen

Roman

Aus dem Englischen von Katharina Groß

Die englische Originalausgabe erschien unter dem Titel »Blood Ninja II: The Revenge of Lord Oda«bei Simon & Schuster, London.

1. Auflage

Deutsche Erstausgabe April 2012 bei Blanvalet, einem Unternehmen derVerlagsgruppe Random House GmbH, München.

Copyright © der Originalausgabe 2010 by Nick Lake

Copyright © der deutschsprachigen Ausgabe 2012 by Verlagsgruppe Random House GmbH

Umschlagmotiv: bürosüd°, München

Redaktion: Alexander Groß

HK · Herstellung: sam

Satz: Vornehm Mediengestaltung GmbH, München

ISBN 978-3-641-14025-0www.blanvalet.de

Für meine Mutter.Danke, dass du mir so früh das Lesen beigebracht hast.

Im portugiesischen Hafen von Nagasaki, Japan, 1566

Es war Nacht.

Es musste immer Nacht sein.

Der Blinde strich mit den Fingerspitzen an der Holzwand des Lagerhauses entlang und näherte sich so langsam der Tür. Der scharfe Geruch von Seetang und Salzwasser umgab ihn, als reckte das Meer seinen Herrschaftsanspruch bis in die Luft hinaus. Es regnete stark – der Blinde konnte hören, wie die Tropfen links von ihm aufs Wasser klatschten.

Das Lagerhaus war länger, als er erwartet hatte. Fast kam es ihm so vor, als schiebe er sich schon den ganzen Abend daran entlang. Aber es musste natürlich groß sein. Hier lagerten die Namban – die Barbaren aus dem Süden – die Waren, die sie in ihren riesigen, dickbäuchigen Schiffen aus China hierherbrachten: Seide, Silber, Porzellan.

Und Feuerwaffen.

»Was siehst du?«, fragte er Jun, den Jungen, der vor ihm herging.

»Ein Barbarenschiff liegt vor Anker. Die Lampe am höchsten Mast brennt, aber ich sehe keine Seeleute.«

»Gut. Und die Tür des Lagerhauses?«

»Vor uns, glaube ich. Da ist eine dunklere Stelle.«

Der Blinde nickte. »Führ mich dorthin.«

Jun nahm seine Hand. Der Blinde spürte, wie der Junge erschauerte, als er die vernarbte, raue Haut berührte. Dann zog Jun ihn sacht vorwärts. Sie trugen Stoffschuhe an den Füßen. Die Dunkelheit verbarg sie, und der prasselnde Regen übertönte ihre leisen Schritte.

Der perfekte Abend für ihre Arbeit.

Jun blieb stehen, und der Blinde streckte die Arme aus. Er strich mit den Händen über die Tür, die Angeln und den metallenen Griff nach Art der Barbaren. Dann runzelte er die Stirn. Wo die Tür an der anderen Seite auf den Rahmen treffen sollte, ertastete er einen schmalen, senkrechten Spalt.

Die Tür war offen.

Der Blinde hielt den Atem an und bedeutete Jun, ganz still zu sein. Zusammen hatten sie alles genau geplant – sie hatten festgestellt, wann die Seeleute sich unter Deck betrinken würden, und den Wächter bestochen, der sie hier am Eingang zum Lager treffen sollte. Der Blinde würde ihn bewusstlos schlagen und die Waffen stehlen, ehe sie ins Landesinnere geschmuggelt und dem falschen Fürsten übergeben werden konnten.

»Öffne ganz langsam die Tür«, flüsterte er Jun zu. »Sag mir, was du siehst.«

Ein leises Knarren war zu hören. »Da ist ein Tisch«, hauchte Jun. »Rotes Fleisch auf einem Teller, halb aufgegessen. Und ein Glas voll Blut.«

»Rindfleisch und Wein«, sagte der Blinde. »Kein Blut.« Er wusste, dass die Barbaren das Fleisch der sanften Kühe aßen und einen roten Alkohol tranken, der aus Trauben gewonnen wurde. Er hatte auch gehört, dass sie diesen Wein in ihren Kirchen tranken und ihn als das Blut ihres Gottes bezeichneten. Allerdings hielt er es für möglich, dass dies nur eines der wilderen Gerüchte über die Anhänger dieses Kirishitan war.

»Noch etwas?«, flüsterte er.

»Neben dem Tisch liegt eine lange Kiste auf dem Boden. Sie ist aufgebrochen worden.«

»Liegt etwas darin?«

»Nein. Sie ist leer. Und da ist …« Ein scharfes Einatmen. »Da ist etwas auf dem Boden. Es könnte Wein sein oder …«

Blut.

Er hörte, wie Jun sich bückte und etwas vom Boden aufhob. Dann wurde ihm ein schwerer, kalter Gegenstand in die Hände gedrückt. Er drehte ihn herum und ertastete sich ein Bild davon. Eine Leiste mit zwei Sprossen, die an den Seiten herausragten.

Ein Kreuz.

Der Blinde hatte so etwas schon gesehen, ehe ihm die Augen ausgebrannt worden waren. Die barbarischen Kirishitan verehrten dieses Symbol und behaupteten, an ein solches Kreuz genagelt sei ihr Gott gestorben. Der Blinde fand es merkwürdig, dass sie vor eben dem Ding niederknieten, das ihren Gott getötet hatte – aber wenn man das Fleisch der Kuh essen konnte, die der Buddha für heilig erklärt hatte, und Blut in den Kirchen trank, war es wohl beinahe eine Kleinigkeit, den Tod seines Gottes zu feiern.

Was das Trinken von Blut anging, durfte er ihnen natürlich keine Vorwürfe machen.

Der Blinde steckte das Kreuz in eine Tasche, die innen in seinen Kimono eingenäht war. Am oberen Ende war eine Kette befestigt, und er nahm an, dass jemand es bis vor Kurzem um den Hals getragen hatte. Der Wächter vielleicht. Irgendetwas war hier geschehen, und jetzt waren die Gewehre höchstwahrscheinlich weg.

Er fluchte leise. »Wir sollten gehen«, flüsterte er Jun zu. Offenbar hatte außer ihm noch jemand von den Waffen erfahren. Dieser Jemand war hier gewesen, hatte den Wächter getötet oder verschleppt und die kostbare Ladung gestohlen.

Das war ärgerlich, überraschte ihn aber nicht. Er hatte sich selbst nach Süden aufgemacht, sobald er das Gerücht vernommen hatte. Die Portugiesen hatten mit ihrer jüngsten Fracht neuartige Gewehre mitgebracht, hieß es – Waffen, in denen ein metallenes Rad einen Funken erzeugte, der das Schießpulver entzündete. Im Gegensatz zu den Gewehren mit Lunte konnte man die neuen Waffen also auch bei Regen zuverlässig abfeuern. Der Blinde wusste, dass viele Fürsten bereits Gewehre besaßen – Daimyō Oda hatte angeblich mehrere tausend Stück des portugiesischen Modells nachbauen lassen und sogar Regimenter seiner Samurai an diesen Waffen ausgebildet. Aber sie waren so lang wie Speere, unhandlich und nutzlos bei nasser Witterung.

Der Blinde hatte in vielen Schlachten gekämpft und war mit der brutalen, aber schlichten Kunst des Krieges vertraut. Auf Feuerwaffen zu setzen, die durch das Wetter unbrauchbar gemacht werden konnten, war keine gute Strategie. Doch als Einziger Feuerwaffen zu besitzen, denen die Elemente nichts anhaben konnten? Dafür würde man über Leichen gehen.

Während er, geführt von Jun, denselben Weg wieder zurückging und mit den Fingerspitzen an der Holzwand entlangstrich, fragte er sich, wer das getan haben mochte. Wer konnte ihm zuvorgekommen sein? Oda war tot – in seinem eigenen Turm getötet. Vielleicht war es Ōmura Sumitada, der zur Religion der Kirishitan übergetreten war und sich jetzt Bartolomeu nannte. Sumitada war derjenige, der Nagasaki den Barbaren übergeben hatte. Als Gegenleistung bekam er die erste Wahl bei jeder Ladung Seide, die man in Japan nicht mehr gesehen hatte, seit die Chinesen sich weigerten, sie Japanern zu verkaufen – aus Protest gegen die japanischen Piraten, die immer wieder ihre Handelsschiffe angegriffen hatten.

Doch der Blinde hatte bereits Erfahrung mit den Missionaren gemacht, die den portugiesischen Hafen leiteten, und er wusste, dass sie nicht dumm waren. Sie brauchten Daimyō Ōmura wegen des Handelshafens, doch ihnen war klar, dass er für die Zukunft Japans keine Bedeutung hatte – er war kaum mehr als ein Blatt, das auf einem Teich trieb. Die Wellen, die das Blatt bewegten, waren die wirklich mächtigen Fürsten wie Tokugawa.

Außerdem war Ōmura Sumitada ein Feigling, kein Stratege. Unter den Samurai war er zum Gespött geworden, weil er zum Glauben der Barbaren konvertiert war, und die Bauern in seinem Fürstentum hassten ihn. Der Blinde hatte sogar gehört, dass Sumitada-Bartolomeu einmal bei einem Spaziergang auf den Schrein einer Hahnengottheit gestoßen war, die man in jener Gegend verehrte. Er hatte die Statue des Hahns zerschlagen, kreischend Flüche gegen die Shintō-Götter ausgestoßen und irres Zeug über Götzenbilder geredet. Wäre er irgendein Geringerer als ein Fürst gewesen, hätte man ihn für diese Schmähung auf der Stelle getötet.

Daimyō mochte er sein, doch der Blinde glaubte nicht, dass Ōmura Sumitada noch länger als ein Jahr überleben würde.

Das Geräusch des Regens änderte sich, und der Blinde wurde gewahr, dass Jun stehen geblieben war. Er hörte Schritte, die sich ihnen von hinten näherten.

Viele Füße, die sich schnell bewegten.

»Wer ist das?«, fragte er, als die Schritte sie umzingelten.

»Barbaren«, sagte Jun mit bebender, nervöser Stimme. »Ihre Arme sind tätowiert, und sie tragen Dolche.«

»Seeleute?«, fragte der Blinde.

»Ich weiß nicht. Sie sind groß und weiß und haben grüne und blaue Augen, wie Katzen.«

Portugiesen, dachte der Blinde.

Er hörte einen der Männer – rechts vor ihm – auf Japanisch mit starkem Akzent sagen: »Halt, ihr Diebe.«

Der Blinde hob die leeren Hände. »Wir haben nichts gestohlen.«

Der Barbar – der Blinde vermutete, dass sein Gegenüber der Anführer war, vielleicht sogar der Kapitän des Schiffes – trat einen Schritt vor. »Unsere Wache ist weg. Unsere Gewehre sind weg. Und ihr seid hier.«

Der Blinde wich zurück, bis er mit dem Rücken an der Wand stand. »Wir können diese Angelegenheit klären wie …«

»Nein. Wir klären das mit eurem Tod.« Waffen wurden gezogen, und Jun schrie, als die Männer vordrangen.

Der Blinde war noch kein alter Mann, und er fürchtete den Tod. Aber er war aus freien Stücken hier – der Junge war hier, weil er dafür bezahlt wurde. Der Blinde packte Jun bei den Armen, zog ihn an die Wand und deckte ihn von der Seite mit dem eigenen Körper. Im selben Augenblick formte er mit der Hand die Karanamudra, mit der man Geister austrieb – Zeigefinger und kleiner Finger ausgestreckt –, eine Waffe, getarnt als Meditationspraxis. Er schlug mit den hart gespannten Fingern auf den Druckpunkt am Hals des Jungen, was ihn mindestens für die Länge eines Räucherstäbchens bewusstlos machen würde. Jun sackte zu Boden. Gut. Es war besser, wenn er ohnmächtig, aber unverletzt liegen blieb.

Der Blinde fühlte die Seelen all der Menschen, die er getötet hatte. Sie umdrängten ihn, als seien sie wie hungrige Geister aus dem Reich Anoyo zurückgekehrt, um sich als bleiche Parasiten an ihm festzuklammern. Sein Leben währte schon lange, und im vergangenen Monat war er zu dem Entschluss gelangt, dass er sich bald von der Welt zurückziehen, in ein Kloster eintreten und keine Menschen mehr töten würde.

Aber jetzt noch nicht.

Ja, der Blinde fürchtete den Tod. Er hatte so viel Tod gebracht, so viele Menschen zum Amida Buddha geschickt – wenn er Glück hatte, würde er mit vier Beinen wiedergeboren werden. Wenn nicht, würde er in seinem nächsten Leben in einem Kessel gekocht werden, während die unersättlichen Seelen seiner Opfer sich an ihm labten, denn die Toten sind immer hungrig.

Und nun würde er gezwungen sein, noch mehr von ihnen zu erschaffen.

Als hielte er ein Vergrößerungsglas über eine Schriftrolle, konzentrierte er seine gesamte Aufmerksamkeit auf die Welt unmittelbar um ihn herum und zentrierte sein Ki. Er konnte jeden einzelnen Tropfen hören und wusste, wo der Regen auf den Boden traf und wo er von menschlichen Leibern daran gehindert wurde. Diese konnte er außerdem riechen: eine Mischung aus Schweiß, Meersalz und Rum – und darunter der metallene Duft von Blut. Der Blinde hatte gehört, dass Fürst Oda, nachdem er den rechten Arm nicht mehr benutzen konnte, gelernt hatte, das Schwert mit der Linken zu führen und seinen Verlust zu kompensieren. Etwas Ähnliches war mit dem Blinden selbst geschehen. Sein Geruchssinn war so scharf geworden, dass er diese barbarischen Seeleute beinahe sehen konnte. Wie Skelette aus roten Adern glommen sie in der Dunkelheit um ihn herum und pulsierten, pulsierten voll frischem Blut.

Er spürte es, als der erste Mann ihn angriff und etwas in der Hand schwang – er hörte das Wumm, wumm, wumm, mit dem das Ding durch die Luft sauste. Es könnte ein Schwert sein oder ein Stück dickes Tau.

Das spielte keine Rolle.

Er hörte, wie der Mann einen Schritt zur Seite trat, um den Blinden mit dem singenden Ding zu schlagen, und Mitleid überkam ihn. Diese Männer waren bereits tot und wussten es noch nicht einmal. Der Blinde duckte sich und trat aus der Drehung mit der Ferse zu. Der Barbar fiel auf ein Knie – es knackte hässlich auf dem Stein – und schrie auf, doch der Schrei erstarb, sobald der Blinde seine verborgene Klinge zog und sie die Kehle des Mannes finden ließ.

Ein weiterer Gegner näherte sich von hinten. Der Regen prasselte so laut wie Tempelglocken auf seinen Kopf, und der Blinde ließ die linke Hand nach hinten schnellen, während sein Schwert einen anderen Mann vor ihm durchbohrte. Die Finger seiner linken Hand trafen die gleiche Stelle am Hals, auf die er bei dem Jungen gezielt hatte, doch diesmal wesentlich härter. Der Mann hinter ihm fiel, als der vor ihm schrie und versuchte, sich rückwärts von der Klinge des Blinden zu lösen. Mit einem Schnippen aus dem Handgelenk zog der Blinde die Klinge heraus und führte sie in derselben fließenden Bewegung zur Seite, um dem nächsten Gegner die Kehle aufzuschlitzen.

Die anderen Männer hatten nun eine bessere Vorstellung davon, mit wem sie es zu tun hatten. Zwei sprangen von beiden Seiten mit ausgebreiteten Armen auf ihn zu, um ihn zu packen. Doch eher hätten sie einen der Regentropfen einfangen können, die sie verrieten; den Wind aufzuspießen, wäre leichter gewesen. Der Blinde glitt so schnell rückwärts, dass die Bewegungen der Angreifer übertrieben und schwerfällig wirkten – es sah aus, als bewegten sie sich durch einen anderen Stoff, wie Geschöpfe im Wasser statt an der Luft.

Sie waren noch immer dabei, die Arme zusammenzuführen in dem Glauben, er sei direkt vor ihnen, als er sie ausweidete. Nun griffen ihn drei Männer auf einmal an, und er war gezwungen, seine Taktik anzupassen. Er versetzte dem ersten einen harten Fußtritt zwischen die Beine, führte zugleich das Schwert hinter sich und riss die linke Hand hoch, um dem Seemann in der Mitte mit dem Handballen die Nase zu zertrümmern. Durch einen fairen Kampf sammelte man vielleicht mehr gutes Karma, doch an seinem gegenwärtigen Platz im Kreislauf der Wiedergeburt war so etwas auch die sicherste Methode, sich umbringen zu lassen. Ohne innezuhalten, folgte dem Schlag mit der Hand ein Schwertstich in die Eingeweide. Der Mann, dem er in den Schritt getreten hatte, stand noch gekrümmt daneben, und so war es ein Kinderspiel, ihm den Kopf abzuschlagen.

Der Blinde hörte Stimmen, die vermutlich auf Portugiesisch fluchten. Er selbst überlegte und dachte nicht mehr, sondern befand sich in einem Zustand ähnlich der Zen-Meditation, in dem die Frage, was zu seinem Körper gehörte und was sich außerhalb davon befand, bedeutungslos geworden war. Er war der Regen und der Wind und der Stein zu seinen Füßen.

Eine sehr leise Stimme in seinem Hinterkopf ermahnte ihn, dass dieser Kampf unfair sei, doch er wusste, dass es im Kampf keine Fairness gab – nur Tote und Lebende.

Er lebte. Alle anderen waren tot.

Er wich dem Hieb einer unbedeutenden Waffe aus, die mit einem fernen Wapp durch die Luft fuhr, wo er eben noch gestanden hatte. Dann hob er das Schwert und schlitzte dem Barbaren die Bauchdecke auf. Der Mann schrie entsetzt und erschrocken, als hätte er mit so etwas überhaupt nicht gerechnet. Der Blinde seufzte innerlich. Schon als diese Männer den Kai betreten hatten, waren sie tot gewesen. Es war besser, wenn sie das rasch akzeptierten – denn sonst würden sie nicht glauben, dass sie sich im Anoyo befanden, und die Reinkarnation würde ihnen sehr schwer fallen.

Amida Buddha, rief der Blinde stumm, als er auf den letzten Gegner zusprang. Ich bitte dich und alles hilfreiche Karma, diesen Seelen bei ihrer Reise zu helfen. Mit eisernen Fäusten brach er dem Mann beide Handgelenke und hörte dessen Dolch auf dem Stein scheppern. Dann packte er den Kopf des Mannes, neigte sich leicht zur Seite, biss ihm in den Hals und spürte, wie das Blut durch seine Kehle floss und ihn stärkte.

Er trank reichlich.

Keuchend ließ der Blinde den Leichnam des Barbaren fallen und schob sein Schwert langsam in die Scheide, die dicht an seiner Seite unter dem weiten Gewand befestigt war. Er drehte sich gerade zu dem Jungen um, als er ein metallenes Kratzen aus Richtung des Meeres vernahm. Er erstarrte. Von der anderen Seite, an der Wand des Lagerhauses, kam das gleiche Geräusch. Und noch einmal von links. Und von rechts.

Langsam drehte er sich einmal um sich selbst und lauschte auf den Regen. Mindestens ein Dutzend Männer hatte ihn in sicherer Entfernung umzingelt. Er konzentrierte sich. Jeder der Männer hielt etwas vor sich ausgestreckt – es war lang und hart.

Gewehre.

»Es regnet«, bemerkte er im Plauderton. »Wenn eure Gewehre nicht zünden, werdet ihr gegen mich kämpfen müssen. Und dann werdet ihr sterben.« Das sagte er nicht prahlerisch, sondern voller Resignation.

»Nein«, erwiderte einer der Männer. Er sprach wie ein Samurai, ein Angehöriger des Kriegeradels – diese Männer waren Japaner. »Diese Gewehre sind neu.«

»Man zündet sie …«, begann ein anderer.

»Mit einem Funken«, beendete der Blinde nickend den Satz. Natürlich. Vielleicht war es nun endlich an der Zeit, sich dem Jenseits zu stellen und herauszufinden, was für Qualen ihn in diesem Dasein erwarteten.

»Pater Valignano sagte, ein Ninja sei in der Stadt«, erklärte eine andere Stimme, die der Blinde gut kannte. Oh, wie gut er sie kannte. »Er hat uns nicht gesagt, dass du blind bist. Ehe wir dich töten, will ich von dir hören, was du über diese Gewehre weißt. Wo und wie hast du von ihnen erfahren? Kennst du meine Pläne?«

Der Blinde antwortete nicht, sondern ließ langsam die Hände sinken. »Mein Fürst«, sagte er und kniete auf dem kalten, nassen Stein nieder.

Ein Laut der Überraschung drang zu ihm aus der Dunkelheit, die alles war, was er jemals sehen würde. »Du kennst mich?«, fragte Fürst Tokugawa Ieyasu.

»Selbstverständlich«, antwortete der Blinde. »Ich habe Euch schließlich lange genug gedient.«

Fürst Tokugawa trat einen Schritt vor – der Blinde hörte am Klang der Regentropfen, dass der Daimyō seine prachtvolle Samurai-Rüstung trug, auch den gehörnten Helm. In einem fernen Winkel seines Geistes fragte sich der Blinde, warum der Sumitada Buddha zugelassen hatte, dass Daimyō Tokugawa hierherkam. Er musste sich mit einem anderen der mächtigsten Fürsten zusammengeschlossen haben, nun, da Oda tot war.

»Shūsaku?«, fragte Fürst Tokugawa.

Kapitel 1

Berg der Ninja, irgendwo im Norden der Insel Honshū, am selben Tag

»Watashi wa … hiragana o … yomu koto ga dekimas …«

Tarō fuhr mit dem Zeigefinger an der senkrechten Reihe von Schriftzeichen entlang und sprach die Silben laut aus. »Ich … kann … Hiragana lesen.«

»Kannst du«, bestätigte Hana lächelnd.

Tarō grinste. Vorerst hatte er zwar nur die Hiragana-Schrift gemeistert – die einfachere Schrift, die hauptsächlich Frauen benutzten. Doch nun, da er diese Zeichen gelernt hatte, konnte er zur Kanji voranschreiten, und irgendwann würde er die Schrift der Adligen lesen und schreiben können. Hana hatte ihm schon das Zeichen für das Wort »Feld« gezeigt, und er hatte gleich erkannt, dass es ein Feld von oben darstellte, in Reihen angeordnet. Er staunte darüber, wie es den Chinesen gelungen war, winzige Abbildungen der Dinge um sie herum zu erschaffen und Worte daraus zu machen.

»Und jetzt«, sagte Hana, »schuldest du mir eine Lehrstunde mit dem Schwert.« Im vergangenen Herbst hatte Tarō gegen Hanas Vater, den Fürsten Oda, gekämpft, dessen Geschick mit der Klinge im ganzen Land gefürchtet und bewundert wurde. Tarō hatte sich tapfer behauptet, und schließlich war der grausame Fürst Oda eine Treppe in seiner eigenen Burg hinabgestürzt und umgekommen. Seither hatte Tarō in der Kunst des Schwertkampfs solche Fortschritte gemacht, dass es selbst hier, in der Bergfestung der Ninja, niemanden mehr gab, der ihm noch etwas Neues beibringen konnte.

»Tja, wenn du wieder geschlagen werden möchtest …« Tarō holte sein Katana neben dem Schreibtisch hervor. Das Schwert hatte er bei seiner Rückkehr auf den Berg erhalten, als Geschenk zu Ehren seines Sieges über Fürst Oda. Als Ninja würde er bei seinen Aufträgen meist ein Kurzschwert führen, das Wakizashi, doch ein Kampf mit dem langen Katana war für ihn einfach unvergleichlich.

Das Kurzschwert würde er allerdings nur öfter gebrauchen, wenn er ein Ninja blieb. Nun, da sein Mentor Shūsaku tot war, wusste Tarō nicht recht, wohin. Shūsaku hatte stets gewusst, was zu tun war, er hatte Tarō das Leben gerettet und ihn und seinen besten Freund Hirō durch all die Prüfungen und Abenteuer geführt, die sie danach hatten bestehen müssen. Tarō wusste, dass er nicht ewig hier auf dem Berg bleiben und so tun konnte, als gäbe es die Welt da draußen nicht mehr. Doch was sollte er tun? Er wusste nicht, ob er zu Daimyō Tokugawa gehen und sich als dessen verschollener Sohn offenbaren konnte – Shūsaku hatte gesagt, der Fürst würde entsetzt sein, einen Vampir zum Sohn zu haben. Allerdings waren die beiden anderen Söhne des Fürsten Tokugawa inzwischen tot, also würde er Tarō vielleicht doch mit offenen Armen aufnehmen, ganz gleich, was mit ihm geschehen war – aber es war ein gewaltiges Risiko.

Er konnte sich auch nicht auf die Suche nach seiner Mutter machen, so sehr er sich das auch wünschte. In der Nacht, als er mit Shūsaku aus seinem Heimatdorf Shirahama geflohen war, hatte Shūsaku ihr eine Taube mitgegeben, die seine Mutter mit einer Nachricht zu ihm schicken sollte, sobald sie in Sicherheit war. Doch die Taube war noch immer nicht in der Bergfestung der Ninja angekommen – als Tarō von Fürst Odas Burg zurückgekehrt war, hatte seine erste Frage dem Vogel gegolten. Also saß er auf dem Berg fest. Er konnte nicht fortgehen, weil er dann womöglich die Nachricht verpassen würde, falls sie noch kam. Zugleich war ihm bewusst, dass seine Mutter, während er hier wartete, ganz allein irgendwo dort draußen war. Er wünschte sich so sehr, sie wiederzusehen und von ihr in die Arme geschlossen zu werden – obgleich er jetzt ein Ninja war und Menschen getötet hatte, brauchte er noch immer seine Mutter.

Und dann war da noch Hana. Als Tochter eines Daimyō war ihr bisheriges Leben ganz darauf ausgerichtet gewesen, dass sie eines Tages einen anderen Fürsten heiraten würde. Tarō war nicht sicher, ob sie sich im tiefsten Inneren wirklich mit ihm abfinden konnte – einem Bauern und Ninja. Ja, sein wahrer Vater war Fürst Tokugawa, aber die Abstammung zählte nicht allein. Es gab auch noch Bildung, Etikette, Künste. Er lernte gerade erst Lesen. In seinem bisherigen Leben hatte er nicht viel mehr getan, als zu fischen und Kaninchen zu jagen. Selbst wenn Hana ihn jetzt wollte – würde sie in zehn Jahren auch noch so empfinden, wenn sie ganz begriffen hatte, dass er ihr keine Gärten, Teezeremonien, Dienerinnen und ein Leben in Schönheit schenken konnte?

Doch er konnte sie ebenso wenig aufgeben. Wahre Selbstlosigkeit wäre es, sie freizugeben, sie fortzuschicken, damit sie so leben konnte, wie es ihr bestimmt war. Aber wohin hätte er sie schicken können? Sie konnte nicht zu ihrem Vater zurückkehren, weil Tarō ihn getötet hatte. Und außerdem war Tarō nicht selbstlos. Jedes Mal, wenn er in ihre tiefen braunen Augen schaute, wusste er, dass er sie unbedingt bei sich haben wollte …

Er hatte nicht mit ihr darüber gesprochen, ihr noch nicht einmal seine Gefühle enthüllt, doch sein innigster Wunsch war es, sie eines Tages zu heiraten. Das Problem war nur, dass er eine Fürstentochter nicht dazu verdammen konnte, als Frau eines Ninja zu leben, also würde er irgendeinen Weg finden müssen, mehr aus sich zu machen. Wenn ihm das schon nicht gelingen konnte, indem er Anspruch auf sein Geburtsrecht als Tokugawa erhob, dann musste er es auf andere Weise schaffen. Indem er Lesen und Schreiben lernte. Sich im Schwertkampf übte, Musizieren lernte, sei es an der Koto oder mit dem blanken Stahl. So würde er vielleicht eines Tages zum Samurai in Fürst Tokugawas Wache aufsteigen, ohne jemals seine wahre Identität zu enthüllen – und wenn bis dahin genug Zeit vergangen war, würde der Fürst Hana hoffentlich nicht erkennen.

Eines Tages. Aber hier und jetzt ging Hana den Felsentunnel vor ihm entlang, drehte sich nach ihm um und lächelte ihn strahlend an, und Tarō verscheuchte die Gedanken an seine Zukunft wie lästige Sommermücken. Er würde noch ein wenig hier auf dem Berg bleiben, wo alles so einfach war und er so tun konnte, als seien all die schlimmen Dinge nie geschehen – der Mord an seinem Adoptivvater, der Opfertod Shūsakus in der Burg des Fürsten Oda. Solange er hierblieb, konnte er sich sogar vorstellen, Shūsaku sei noch am Leben und würde eines Tages aus irgendeiner verborgenen Nische im Fels hervortreten, um wieder mit Tarō den Schwertkampf zu trainieren.

Tarō und Hana hatten die Höhle verlassen und folgten dem langen Tunnel zum Krater des erloschenen Vulkans. Ein riesiges Tuch, mit Sternen bemalt, schützte diesen seltsamen Saal vor dem Tageslicht. Als sie das Zwielicht des Kraters betraten, sahen sie Hirō ganz allein üben. Mit dem Schwert in der Hand ging er die Kata durch, eine Abfolge genau festgelegter Bewegungen, die jeder angehende Ninja vollkommen beherrschen musste, um sie im Kampf abrufen zu können, ohne einen Gedanken daran zu verschwenden.

Tarō hatte sie gelernt, benutzte sie aber weder zum Üben noch im Kampf. Er brauchte sie nicht, denn er war so schnell, dass er seine eigenen Attacken und Paraden erfinden konnte. Die nächste Bewegung, die das Schwert des Gegners ausführen würde, ahnte er voraus, indem er diesem unablässig in die Augen sah.

»Hirō«, sagte Tarō. »Möchtest du mit uns üben?«

Hirō wandte sich ihm zu und lächelte, doch aus seinen Augen leuchtete nicht mehr die frühere Freude. »Nein, schon gut. Ich arbeite weiter an diesen Bewegungen.« Mit gebeugten Knien hielt er das Schwert gerade vor sich und machte einen Scheinausfall. Sein Geist wie auch seine Muskeln waren durch die Ereignisse in der Burg des Fürsten Oda härter geworden. Er war nicht mehr Tarōs dicker, fröhlicher Freund – er war jetzt ernster, nachdenklicher, zorniger. Dass Yukiko, ein Ninja-Mädchen, sich gegen sie gewandt und auf Daimyō Odas Seite geschlagen hatte, war ein schwerer Schock für ihn gewesen. Ebenso tief hatte ihn der Tod Shūsakus erschüttert, des Führers und Mentors, der sich um sie gekümmert hatte, nachdem Ninja im Auftrag Odas Tarōs Ziehvater getötet und seine Mutter zur Flucht gezwungen hatten.

Tarō beobachtete Hirō beim Üben und wünschte sich, ihn grinsen zu sehen und ein paar alberne Scherze von ihm zu hören. Aber wer konnte es seinem Freund verdenken? Auch Tarō vermisste Shūsaku schmerzlich, Tag für Tag. Hier oben im Versteck der Ninja, zu dem Shūsaku sie damals geführt hatte, war es noch schlimmer. Yukikos Verrat hatte ihn ebenfalls getroffen, aber nicht so schwer wie Hirō. Tarō hatte sich Yukiko nie besonders nahegefühlt. Ja, er hatte stets den Eindruck gehabt, dass sie ihn mit Argwohn betrachtete und neidisch darauf war, wie schnell er zu einem echten Ninja gemacht worden war. Wenn er ehrlich war, hatte es ihn gar nicht so sehr überrascht, dass sie sich gegen ihre Freunde gewandt hatte. Er hatte immer eine stählerne Härte in ihr gespürt, scharfe Kanten und Klingen, als sei sie ein Fleisch gewordenes Schwert. Und er hatte gewusst, dass sie neidisch war, weil er so jung und so rasch in einen Vampir verwandelt worden war.

Shūsaku war ihm zu Hilfe gekommen, als Tarōs Vater getötet und Tarō selbst von einem der vielen Angreifer verwundet worden war. Doch er hatte Tarō nur retten können, indem er ihn biss und ihn zum Vampir machte. Mit diesem Augenblick hatte Tarō etwas erreicht, wonach Yukiko sich seit langem sehnte – und das normalerweise viele Jahre der Ausbildung in der Bergfestung der Ninja voraussetzte. Tarō war ein Kyūketsuki geworden – ein blutsaugender Geist-Mensch.

Stark. Schnell. Mächtig.

Dann war Yukikos Schwester gestorben, weil sie Tarō beschützt hatte, und Yukiko hatte endlich Grund genug gesehen, sich gegen Tarō und seine Freunde zu wenden. Es war Yukiko gewesen, die den Fürsten Oda gewarnt hatte, als sie in seine Festung eingedrungen waren. Das hätte sie alle beinahe das Leben gekostet.

»Tarō«, unterbrach Hana seine Gedanken. »Möchtest du lieber ein andermal trainieren?«

Er schüttelte den Kopf, hob sein Schwert und nahm die Kū-Stellung ein, die Haltung der Leere. Als sie einen Angriff versuchte, führte er Parade und Konter aus, wobei seine Gedanken zur Hälfte den blitzschnellen Schwertern galten und zur Hälfte seiner Zukunft. Was sollte er jetzt tun? Letztes Jahr hatte Shūsaku ihm etwas enthüllt, das noch schockierender war als das Geheimnis der Ninja: Er hatte Tarō gesagt, dass der Mann, den die Ninja in der Hütte am Strand von Shirahama ermordet hatten, nicht Tarōs richtiger Vater gewesen war. In Wahrheit war sein Vater der Daimyō Tokugawa, einer der mächtigsten Fürsten im Land, von dem viele glaubten, dass er der nächste Shōgun werden könnte. Und als wäre das noch nicht genug, hatte eine Wahrsagerin – Yukikos Ziehmutter – Tarō geweissagt, dass er selbst eines Tages Shōgun werden würde.

Aber das waren abstrakte Vorstellungen. Nur zwei Dinge waren konkret, zwei Möglichkeiten, die Tarō in entgegengesetzte Richtungen zogen wie zwei Pole. Und diese beiden Dinge sah er vor Augen, als er Hanas Schwert ablenkte und mit seiner Klinge ihren Hals berührte.

Sie fluchte wenig vornehm, biss sich auf die Lippe und nahm erneut die Ausgangshaltung ein.

Eines der beiden Dinge – einer der Pole von Tarōs Existenz – war die Buddha-Kugel. Fürst Oda hatte vor seinem Tod davon gesprochen, ebenso die Wahrsagerin, als sie Tarō über sein Schicksal belehrt hatte. Die Kugel war für den letzten Buddha geschaffen worden und verlieh ihrem Besitzer Macht über die Welt und alles darauf, denn sie war eine Miniatur der Welt. Tarō hatte das für ein Lügenmärchen gehalten, doch inzwischen hatte er Grund zu der Annahme, dass sie sich tatsächlich in Shirahama befand, wo seine Mutter sie auf dem Grund der Bucht verborgen hatte.

Seine Mutter war der zweite Pol. Sobald sie in Sicherheit war, hätte sie die Taube losschicken sollen, die Shūsaku ihr mitgegeben hatte, und an diesen Vogel musste Tarō immerzu denken. Er konnte sich nicht mehr genau daran erinnern, wie sein Vater ausgesehen hatte – der Mann, den er jedenfalls stets für seinen Vater gehalten hatte. Doch das Gesicht seiner Mutter war ihm frisch und deutlich in Erinnerung, und wenn er sich schlafen legte, stand es ihm jedes Mal vor Augen.

Tarō brauchte einen Augenblick, um zu bemerken, dass sein Schwert sich nicht mehr bewegte. Hana stand mit verschränkten Armen vor ihm, ihr Katana an ein Bein gelehnt. »Du denkst wohl an die Kugel?«

»Hm? Oh, ja.« Tarō zuckte entschuldigend mit den Schultern. Selbst wenn sie die Stirn runzelte wie jetzt, war Hana wunderschön. Er bekam ein schlechtes Gewissen, weil er diese Zeit mit ihr, in der Bergfestung vor allen Feinden geschützt, nicht genoss, sondern sich wegen der Kugel und seiner Mutter sorgte und ständig darüber nachdachte, wie er beide in Sicherheit bringen könnte. Fürst Oda war tot, doch sein ranghöchster Gefolgsmann Kenji Kira streifte noch immer durchs Land und suchte nach Tarō. Er oder sonst jemand könnte die Kugel finden und sie dazu benutzen, unvorstellbaren Schaden anzurichten. Doch was, wenn Tarō nach Shirahama ging, um die Kugel zu suchen, und inzwischen seiner Mutter etwas zustieße? Oder, schlimmer noch, wenn sie endlich die Nachricht schickte, wohin sie sich geflüchtet hatte, und er wäre fort und würde nichts davon erfahren? Was, wenn diese Information jemand anderem in die Hände fiel, der keine Skrupel kannte? Etwa einem Mann wie diesem Wiesel Kawabata, der Tarō bereits einmal verraten hatte …

Natürlich könnte seine Mutter auch längst tot sein, und wenn Tarō an diese Möglichkeit dachte, wand sich etwas wie eine dicke Schlange in seinem Bauch, und er konnte nicht schlafen. Dann drehten sich die Gedanken an seine Mutter und die Kugel in seinem Kopf im Kreis herum wie die Sanskrit-Zeichen auf einer Gebetsmühle.

»Ich komme mit dir«, erklärte Hana, »falls du dich auf die Suche danach machen willst. Du brauchst es nur zu sagen.«

Tarō nickte. Er wusste, dass sie dazu bereit war. Sie würde mit ihm überallhin gehen – das hatte sie ihm schon bewiesen. Sie hatte gesehen, wie Tarō ihren Vater getötet hatte, und dennoch hatte sie an Tarōs Seite die Burg verlassen und war mit ihm zum Berg der Ninja gezogen. Ziemlich unklug von ihr, wenn er es recht bedachte. War ihr denn nicht klar, dass er nichts weiter als ein Bauer war, ganz gleich, welches Blut in seinen Adern floss? Merkte sie nicht, dass jeder, der ihm nahestand, starb oder verschwand: sein Ziehvater, Shūsaku, seine Mutter? Aber natürlich brachte er es nicht über sich, sie fortzuschicken – sie war so schön, so freundlich, so klug und so geschickt mit dem Schwert. Ein Mädchen wie sie war ihm noch nie begegnet.

Und da war noch etwas. Er glaubte, dass auch Hana ihn mochte – manchmal konnte er es direkt sehen, an ihrem Blick und der Art, wie sie ihn neckte. Aber er war sich nicht sicher. Ihr Vater war ein Ungeheuer gewesen. Vielleicht hätte sie dessen Burg mit jedem verlassen, der bereit war, sie zu retten. Vielleicht war Tarō nur zufällig zur rechten Zeit am richtigen Ort gewesen. Er spürte genau: Falls er versuchen sollte, sie fortzuschicken, würde er erfahren, ob sie das Gleiche für ihn empfand wie er für sie, und er war noch nicht bereit, das herauszufinden.

»Ich sollte nicht kämpfen«, sagte er und blickte auf das Schwert in seiner Hand hinab, als sei er nicht ganz sicher, wie es dorthin gekommen war. »Ich bin zu abgelenkt.«

»Keine Sorge«, entgegnete Hana lächelnd. »Ich werde das schon nicht ausnützen und dir wehtun.«

»So habe ich das nicht gemeint. Wenn ich mich nicht richtig konzentriere, könnte ich dich umbringen.« Er ließ das Schwert sinken und trat zurück.

Ihr Lächeln erlosch. »Oh.«

»Nachher essen wir zusammen. Na ja, du kannst essen, und ich …« Er würde ein wenig Blut trinken, von einem der Schweine, die sie in den Höhlen hielten.

»Ja, das wäre nett.« Sie warf ihm einen verletzten Blick zu, wandte sich ab und ging davon. Tarō fragte sich, ob jeder, der ihm etwas bedeutete, das früher oder später tun würde – sterben, ihn verlassen oder sich verändern, so wie Hirō. Vielleicht hatte er es nicht anders verdient.

Als wollte das Schicksal diese Gedanken unterstreichen, trat ausgerechnet in diesem Moment der alte Kawabata aus einem verborgenen Gang im Berg. Die hölzerne Tür war mit Stein verkleidet. Selbst aus nächster Nähe wirkte sie wie ein gewöhnliches Stück der Felswand, und Tarō hatte sich immer noch nicht daran gewöhnt, dass manchmal Leute aus diesem Geheimgang traten, den sie als Abkürzung zum Vulkankrater benutzten.

Kawabata blieb stehen, als er Tarō sah. Er machte ein finsteres Gesicht, kehrte abrupt um und verschwand wieder in der Dunkelheit. Tarō seufzte. Kawabata hatte Tarō und seine Gefährten in eine tödliche Falle laufen lassen wollen – er hatte einen Ninja zu Daimyō Oda geschickt, um ihn zu warnen. Zum Glück hatte sein Sohn, der Kleine Kawabata, verhindern können, dass der Bote sein Ziel erreichte.

Als Tarō unversehrt in die Bergfestung zurückgekehrt war, hatten die Leute dort ihn als Helden empfangen. Alle bis auf Kawabata, der heftig gezittert hatte, als Tarō mit dem Kleinen Kawabata an seiner Seite die Höhlen betreten hatte. Der Sohn hatte sich von seinem Vater losgesagt, und der alte Kawabata hatte die Verachtung in den Blicken der anderen Ninja gesehen. Er hatte um die Erlaubnis gebeten, Seppuku begehen zu dürfen.

Tarō hatte sie ihm verweigert. Damals hatte er schon zu viel vom Tod gesehen und nicht erleben wollen, wie Kawabata sich vor seinen Augen den Bauch aufschlitzte. Doch natürlich hatte er damit das Schlimmste getan, was er nur hätte tun können, wie so oft. Wenn man sagen konnte, dass manche Leute Reis ernteten und manche Leute Muscheln, dann war Tarō jemand, der den Tod erntete. Er hatte so viele Menschen um sich herum sterben sehen – er wollte keinen Tod mehr. Kawabata hätte ihm vielleicht verziehen, dass Tarō seinen Verrat überlebt hatte – vor allem, da sein Erzfeind Shūsaku ihm zum Opfer gefallen war. Doch die Ehrverletzung, die Tarō ihm unwissentlich zugefügt hatte, konnte er nicht verzeihen. Selbst jemand, der ein großes Übel begangen hatte, konnte sich durch Seppuku reinwaschen, aber es lag in der Macht des Opfers, dem Täter diese Erlösung zu gewähren, und das hatte Tarō nicht getan.

Er hatte Kawabata Reinheit und Ehre verwehrt, und das würde Kawabata ihm niemals vergessen. Tarō wusste, dass er den Mann eines Tages umbringen oder ihm doch noch den Selbstmord würde gestatten müssen. Ansonsten würde Kawabata sicherlich wieder versuchen, ihn zu vernichten. Doch er schob es immer wieder auf. Seit seinem Ziehvater waren seinetwegen schon zu viele Menschen umgekommen.

Er warf sein Schwert beiseite, und Hirō blickte erschrocken auf, als die Klinge über den sandigen Boden schlitterte. Tarō machte eine vage Geste mit der Hand, ein Abwinken, das ausdrücken sollte: Vergiss es.

Er betrat den Tunnel, der zu den Schlafquartieren führte, als eine der jüngeren Frauen herausgelaufen kam – Aoki oder so ähnlich, dachte Tarō. Atemlos hielt sie ihm mit beiden Händen etwas hin und bedeutete ihm mit heftigem Nicken, das Ding zu nehmen.

Das Ding neigte den Kopf zur Seite und machte: Ruguuu.

Tarō starrte auf die Taube hinab. Er bekam nur vage mit, dass Hirō neben ihn trat und ihm eine Hand auf die Schulter legte. Er freute sich, dass sein Freund bei ihm war.

Vorsichtig ergriff Tarō den Vogel und hielt sacht die Schwingen an den Körper gedrückt, damit er nicht davonfliegen konnte. Der Blick der Taube huschte hin und her, und sie gab eine Reihe glucksender Laute von sich, die schimpfend und freudig zugleich klangen.

An ein Bein der Taube war eine sehr kleine Schriftrolle gebunden. Tarō hielt den Vogel mit einer Hand fest und löste mit der anderen den Faden um die Botschaft. Er rollte das Pergament auf.

Seine Lippen bewegten sich, während er die Hiragana-Zeichen entzifferte. Er freute sich sehr, dass seine Mutter jemanden gefunden hatte, der das für sie geschrieben hatte, und dass er selbst die Nachricht lesen konnte.

Mein lieber Tarō, lautete sie. Ich bin im Tendai-Kloster auf dem Berg Hiei. Hier bin ich sicher, aber ich würde alles darum geben, dich wiederzusehen. In Liebe, Deine Mutter.

Kapitel 2

Tarō lehnte sich an die Wand der Holzhütte, deren Boden den Zugang zum Tunnel in den Berg der Ninja verbarg. Die Frühlingssonne strahlte vom Himmel und tauchte die Landschaft in fein schimmerndes Licht.

Dies war ein friedlicher Ort. Deshalb hatte er ihn auch als letzte Ruhestätte für seinen Bruder ausgewählt, und während er hier im Sonnenschein saß, war er sich bewusst, dass die Erde unter ihm die Asche seines kleinen Bruders enthielt. Das war eine weitere, ständige Erinnerung an Daimyō Odas Grausamkeit – denn der Fürst hatte den jüngsten Sohn des Daimyō Tokugawa und dessen Ehefrau gefangen gehalten und verhungern lassen. Kurz vor ihrem Tod hatte die Fürstin Tarō angefleht, ihren Sohn mitzunehmen, und er hatte es ihr nicht verwehren können.

Er schloss die Augen und genoss die Wärme. Das Blut in seinen Augenlidern färbte die Dunkelheit in seinem Kopf rot, und das fand er sehr passend. Blut war jetzt ein Teil seines Wesens, etwas, das er zum Überleben brauchte. Die Sonne zeigte ihm nur die Wahrheit auf.

Er seufzte, und seine eigenen Gedanken verdarben ihm die Wärme und den frischen Frühling. Er wünschte, er könnte es einfach nur genießen, ein Vampir zu sein – aber wie konnte er einen Zustand schön finden, der es notwendig machte, andere zu verletzen? Er konnte von Schweineblut überleben, ja, aber es verlieh ihm nicht die Kräfte, die er brauchte, um seine Mutter zu erreichen und sie vor Männern wie Kira Kenji zu schützen. Ohne recht zu wissen, warum, hatte er das Gefühl, dass er bald wieder würde kämpfen und sogar töten müssen.

Und dazu würde er Menschenblut brauchen. Durch seine Adern musste die Kraft zweier Menschen fließen – seine eigene und die seines Opfers.

Er hörte ein so leises Geräusch, dass ein Mensch es gar nicht wahrgenommen hätte – ein Laut wie ein Atemzug, doch es war die Luft, die jemand weit entfernt durch eine schnelle Bewegung verdrängt hatte. Tarō beschirmte die Hand mit den Augen und entdeckte die dunkle Gestalt, die über die Wiese heraufhastete. Es war der Vampir, auf den er hier wartete – der einzige andere Vampir, der sich im Tageslicht aufhalten konnte. Denn es war Tarō gewesen, der ihn verwandelt und ihm sein eigenes Blut zu trinken gegeben hatte.

Die Gestalt, die rasch größer wurde, war das einzige menschliche Wesen, das er viele Ri weit sehen konnte. Die Hütte lag hoch oben, manchmal über den Wolken. Das nächste Dorf befand sich einen halben Tagesmarsch bergab. Die Leute, die dort unten lebten, mieden diesen Berg. Sie wussten, dass alle, die sich hierherwagten, ein schlimmes Ende fanden. Tarō war froh, dass niemand heraufgekommen war, seit er wieder hier lebte – er war nicht so kalt oder unbarmherzig wie die anderen Ninja, und einen Bauern nur deshalb zu töten, weil er diesem Ort zu nahe kam, erschien ihm grausam. Andererseits verstand er, dass die Festung geheim bleiben musste. Er wusste, wenn die Leute in der Gegend herausfänden, was sich tatsächlich in dem erloschenen Vulkan verbarg, würden sie nicht eher ruhen, bis die Vampire vernichtet waren.

Das wäre eine scheußliche Zwickmühle, und er war froh, dass er noch nicht darin gesteckt hatte.

Ich wünschte, ich könnte mehr so sein wie er – furchtlos und gedankenlos, dachte Tarō, während der Kleine Kawabata deutlicher in Sicht kam und langsamer lief, als er Tarō vor der Hütte entdeckte. Tarō wollte so bald wie möglich mit Hana und Hirō aufbrechen – am liebsten noch heute Nacht. Und der Kleine Kawabata sollte Bescheid wissen. Die beiden Jungen waren einst Feinde gewesen, hatten jedoch eine Art widerwillige Achtung voreinander entwickelt. Dennoch ärgerte Tarō sich oft darüber, wie unbekümmert der Kleine Kawabata sein Dasein als böser Geist annahm und dass er nicht bereit war, seine Handlungsweise zu hinterfragen. Der Kleine Kawabata folgte seinen Impulsen, seinem Instinkt. Diese Eigenschaft reizte Tarō, aber sie konnte auch sehr nützlich sein – wie damals, als der Kleine Kawabata beschlossen hatte, Tarō vor dem Verrat seines Vaters zu warnen. Damit hatte er ihnen allen das Leben gerettet.

»Du warst auf der Jagd«, bemerkte Tarō, als der Kleine Kawabata vor ihm stehen blieb. Die Wangen des anderen Jungen waren gerötet, seine Bewegungen kraftvoll und leicht.

»Ja.«

»Nach welcher Beute?«

»Was glaubst du denn? Vampire sollen sich von Menschenblut ernähren. Du bist vielleicht mit dem Blut von Schweinen zufrieden, aber ich nicht.«

Tarō seufzte. »Du setzt die Sicherheit der ganzen Festung aufs Spiel, falls dich jemand entdeckt.«

Der Kleine Kawabata zog die Augenbrauen hoch. »Das halte ich für unwahrscheinlich.«

»Du hältst das für unwahrscheinlich? Du hast dich von menschlichem Blut genährt.«

»Ach, hör schon auf«, sagte der Kleine Kawabata, hockte sich hin, lehnte sich an die Wand, hob das Gesicht der Sonne entgegen und streckte mit geschlossenen Augen genüsslich die Arme aus. »Bei Tage rechnen die Leute nicht mit einem Kyūketsuki – deshalb bin ich ja losgezogen, während die Sonne scheint.«

»Sie rechnen zu keiner Tageszeit damit, angegriffen zu werden. Du weckst nur ihre Wachsamkeit.«

»Daran habe ich gedacht. Ich habe den Mann zuerst niedergeschlagen, von hinten, mit einem dicken Ast. Dann habe ich ihm in den Knöchel gebissen und dort sein Blut gesaugt. Er wird glauben, eine Schlange hätte ihn erwischt.«

»Hm«, brummte Tarō. »Aber mach das nicht noch einmal.« Allerdings musste er zugeben, dass die Idee mit dem Schlangenbiss wirklich gut war. »Vor allem nicht nach heute Nacht.« Er hielt die Botschaft hoch. »Ich mache mich auf den Weg zu meiner Mutter.«

Der Kleine Kawabata konnte nicht lesen, also erzählte ihm Tarō, was auf dem Pergament stand. Der andere Junge runzelte die Stirn. »Findest du es nicht merkwürdig, dass die Taube so lange gebraucht hat?«

Tarō fand das tatsächlich merkwürdig. Aber er freute sich so, endlich von seiner Mutter zu hören, dass er nicht darüber nachdenken wollte. »Doch. Du glaubst, es könnte eine Falle sein?«

»Ich bin zumindest argwöhnisch. Wann habt ihr Shirahama verlassen? Im Herbst? Jetzt haben wir Frühling. Die Kirschblüte hat schon beinahe begonnen, selbst hier im Norden. Keine Taube braucht ein halbes Jahr, um vom Berg Hiei hierherzufliegen.«

»Ich weiß«, entgegnete Tarō mit gerunzelten Brauen.

»Es wäre möglich, dass jemand deine Mutter erwischt und die Sache mit der Taube aus ihr herausgepresst hat. Oder dass jemand die erste Taube abgefangen und die Bedeutung ihrer Botschaft erraten hat. Immerhin steht dein Name darauf. Dann wäre es ein Leichtes, dir eine gefälschte Botschaft zu schicken – um dich irgendwohin zu locken und dich zu töten. Daimyō Oda ist tot, aber Kira Kenji sucht noch immer nach dir. Eine Prophetin hat dir gesagt, dass du einmal Shōgun werden wirst – das ist für eine ganze Reihe von Fürsten Grund genug, dir nach dem Leben zu trachten.«

»Ich weiß«, sagte Tarō. »An all diese Dinge habe ich auch schon gedacht. Ich bin schließlich nicht dumm.«

»Das habe ich auch nicht behauptet«, erwiderte der Kleine Kawabata lächelnd. »Ich sage ja nur … dass du vorsichtig sein solltest.«

Tarō lachte schnaubend. »Du ermahnst mich, vorsichtig zu sein?« Er bemerkte einen verschmierten Blutfleck am Kinn des anderen Vampirs, der das Blut eines Bauern getrunken und damit die geheime Bergfestung der Ninja in Gefahr gebracht hatte.

»Na ja – ich überstürze vielleicht vieles, aber deswegen brauchst du das nicht auch zu tun.«

»Würdest du an meiner Stelle etwa nicht gehen? Würdest du deine Mutter nicht wiedersehen wollen, selbst wenn du damit riskieren würdest, in eine Falle zu tappen?«

Der Kleine Kawabata zögerte kurz und nickte dann. »Doch.«

»Dachte ich mir. Außerdem kommen Hirō und Hana mit – und wir alle drei haben Schwerter. Falls es so aussieht, als würde es zu gefährlich werden, kehren wir um. Aber der Weg zum Hieisan ist ganz einfach – eine Straße führt direkt dorthin, für die Pilger. Und unterwegs gibt es viele Gasthäuser, in denen eine kleine Gruppe Reisender keine Aufmerksamkeit erregen wird.«

»Und ich soll einfach hierbleiben, ja?«, fragte der Kleine Kawabata.

»Ich dachte, du befürchtest eine Falle.«

»Tue ich auch. Klingt aufregend.«

Tarō verdrehte die Augen. »Wir brauchen jemanden, der sich um die Bergfestung kümmert. Meinst du, du kannst deinen Vater im Griff behalten, während ich weg bin? Er darf nicht wissen, wohin ich gehe – nur zur Sicherheit.«

»Natürlich«, antwortete der Kleine Kawabata ein wenig missmutig. »Hier passiert schon nichts, keine Sorge.«

»Und du wirst dich ab sofort an Schweineblut halten?«

»Ja«, sagte der Kleine Kawabata mit einem gequälten Seufzen. »Was immer Ihr befehlt, Fürst Tarō. Der Berg wird vollkommen sicher sein, solange du unterwegs bist, du wirst schon sehen. Alles wird so sein, als wärst du nie weg gewesen.«

»Gut«, sagte Tarō. Dann räusperte er sich. »Ich habe richtig gehandelt, weißt du – als ich dir das Leben gerettet habe.«

Der Kleine Kawabata wandte den Blick ab. »Wenn du jetzt gefühlsduselig wirst«, sagte er, »wird mir womöglich übel. Geh du einfach zu deiner Mutter. Ich passe hier auf alles auf.«

Kapitel 3

Hana meinte, sie würden fast eine Woche bis zum Berg Hiei brauchen. Sie war einen Teil des Pilgerpfades selbst mit ihrem Vater gegangen. Einmal, erzählte sie, war Fürst Oda lange bei den Mönchen auf dem Berg geblieben und hatte versucht, sie für seinen Plan zu gewinnen, nämlich die Vereinigung ganz Japans. Die Mönche waren stets höflich geblieben, hatten sein Ansinnen aber letztendlich abgelehnt. Sie waren ein kriegerischer Orden, gut bewaffnet, und sie brauchten vor keinem Daimyō niederzuknien. Sie waren selbst eine der großen Mächte im Land.

Tarō hoffte, dass sich daran nichts geändert hatte. Wenn die Mönche auf dem Berg ihre Unabhängigkeit bewahrt hatten, würden sie ihm kaum eine Falle stellen, die mit seiner Mutter zu tun hatte. Gewiss arbeiteten sie nicht mit Kira Kenji zusammen, um Tarō zu vernichten. Natürlich war es auch möglich, dass die Mönche selbst seinen Tod wollten. Vielleicht hatten sie von der Prophezeiung gehört, dass er eines Tages Shōgun werden würde, und wollten sein Leben auslöschen, ehe er ihrer Macht gefährlich werden konnte.

Nun, dieses Risiko würde er wohl eingehen müssen.

Sie reisten hauptsächlich bei Tage. Nur wenige Leute wussten, dass Sonnenlicht Tarō nichts anhaben konnte, und die meisten Menschen auf der Suche nach einem jungen Vampir würden nicht damit rechnen, ihn am helllichten Tag auf offener Straße zu finden. Am dritten Tag kamen sie in der Nähe von Shirahama vorbei – Tarō konnte sogar die Bucht sehen, die westlich von ihnen in der Nachmittagssonne schimmerte wie ein silberner Teller im moosgrünen Land. Er fragte sich noch immer, welche Geheimnisse diese Bucht, geborgen in den felsigen Armen langer Landspitzen, wohl hüten mochte. An dem Tag, als Tarōs Ziehvater ermordet worden war, hatte seine Mutter dort draußen getaucht.

Was hatte sie da gemacht? Tarō hatte sie an jenem Tag in der Nähe des Wracks tauchen sehen. Jedermann in Shirahama wusste, dass diese Stelle verflucht war und leicht den Tod bringen konnte. Und war es ein Zufall, dass sie ausgerechnet am Tag des Überfalls dort getaucht hatte? Das fragte Tarō sich schon seit damals. Früher an diesem schrecklichen Tag hatten er und Hirō ein Gerücht über Kyūketsuki ein Stück weiter unten an der Küste gehört. Hatte Tarōs Mutter ebenfalls von dem Gerücht erfahren und geglaubt, die Blutsauger hätten es auf sie abgesehen? Tarō vermutete bereits, dass die Buddha-Kugel in die Obhut der Ama gegeben worden war. Was, wenn das der Grund für ihre Tauchgänge am Wrack gewesen war? Tarō war sogar schon auf den Gedanken gekommen, dass seine Mutter zur Hüterin der Kugel geworden sein könnte. Dann hätte sie sie vielleicht im Meer in der Nähe des Wracks versteckt – bei dem Schiff, mit dem die Kugel ursprünglich nach Shirahama gekommen war. Es war eine Schwindel erregende Vorstellung, dass dort unten die schimmernde Kugel in den tiefen Wassern der Bucht verborgen sein könnte …

Er schüttelte den Kopf. Falls die Kugel tatsächlich dort war, würde sie auch dort bleiben – ihm blieb alle Zeit der Welt, sie zu suchen, wenn er erst seine Mutter gefunden hatte. Vorerst musste er sich auf das Wichtigste konzentrieren: den Hieisan zu erreichen, um sie wiederzusehen.

Hirō neigte den Kopf in Richtung Shirahama. »Wir könnten einen kurzen Besuch machen«, sagte er. »Es ist nicht weit.« Die beiden Jungen waren nicht mehr in ihr Heimatdorf zurückgekehrt, seit sie es vor einem halben Jahr hatten verlassen müssen.

Tarō schüttelte den Kopf. »Zu gefährlich. Wir sind hier im Kantō – da bleiben wir besser auf dem Pilgerweg.« Die Provinz Kantō gehörte dem Fürsten Oda, aber alle Daimyō achteten das Recht der Pilger, unbehelligt zum Berg Hiei zu reisen. Nur indem sie sich an die gepflasterte Straße mit ihren Schatten spendenden Bäumen und den zahlreichen Gasthäusern hielten, würden sie sicher zu dem heiligen Berg gelangen.

Tarō spürte einen Regentropfen im Nacken. Dunkle Wolken ballten sich über ihnen. Er führte Hana und Hirō wieder auf den Weg, und als sie weitergingen, begann es immer heftiger zu regnen. Bald waren alle drei völlig durchnässt. Der Regen prasselte wie ein Trommelwirbel auf ihre Köpfe herab, durchweichte ihre Kleidung und lief ihnen an den Beinen hinab über die Holzsandalen. Elend stapften sie weiter.

So marschierten sie den halben Tag, während es immer finsterer wurde. Als Tarō das Licht eines Gasthauses vor ihnen entdeckte, war ihm klar, dass sie eine Rast einlegen mussten, obwohl die Nacht noch nicht angebrochen war.

»Oh, gut«, sagte Hana. »Vielleicht haben die ein Feuer. Ich fühle mich, als würde ich mich gleich in einen Fisch verwandeln.«

Als sie näher kamen, erkannte Tarō, dass das Gasthaus sehr einfach war – es bestand nur aus grob gezimmerten Planken, und es gab keine Fenster. Durch die offene Tür konnte er ins verrauchte Innere schauen, wo stämmige Männer auf dem Boden saßen und aus schlichten Bechern tranken.

»Das ist eine Schenke«, sagte er. »Ich weiß nicht, ob das der richtige Ort für eine Dame ist.«

Hana lächelte. »Tja, wenn ich eine Dame wäre, würde ich nicht hineingehen.« Sie schob sich nach drinnen und hinterließ eine tropfnasse Spur auf dem Boden. Hirō zuckte mit den Schultern und folgte ihr.

Tarō blinzelte, als er eintrat, denn seine Augen brannten. Die meisten Männer rauchten Pfeife – eine Gewohnheit, die sie von den Portugiesen und Holländern übernommen hatten. Zudem stand mitten im Raum ein Hibachi, und da die Schenke keinen Schornstein hatte, hing der Rauch aus dem Kohlebecken in der Luft wie eine graue Wolke auf Kopfhöhe. Hana ging voran zu einem Tisch in der Nähe des Kohlenfeuers. Mehrere Männer schauten neugierig auf, wandten den Blick jedoch bald wieder ab. Zweifellos hielten sie die drei Gefährten für gewöhnliche Reisende, schmutzig und durchweicht.

Doch als sie an einem der Tische vorbeigingen, schnappte Hana nach Luft und blieb abrupt stehen.

»Hayao?«, sagte sie.

An dem Tisch befanden sich drei Leute: eine Frau und zwei Männer. Einer der Männer trug die Kleidung eines taoistischen Priesters, der andere sah aus wie ein Samurai. Die Frau stand gebeugt zwischen ihnen, eine Hand auf der Schulter des Samurai. Dieser war es, der Hanas Aufmerksamkeit erregt hatte. Er war hager, hatte aber vermutlich früher sehr gut ausgesehen. Verwirrt blickte er zu Hana auf. Er blinzelte langsam, einmal, zweimal. Mit einer qualvollen, bewussten Bewegung streifte er die Hand der Frau von seiner Schulter.

»H-hana?«, fragte er leise.

Hana trat näher. »Ihr Götter, Hayao, bist du krank?«

Tarō vermutete das auch. Der Mann war mager und ausgemergelt, seine Haut fahl und kränklich. Auch der Frau schien es nicht gut zu gehen. Sie war entsetzlich blass, als bestünde sie ganz aus weißem Papier. Der Samurai antwortete Hana nicht – die Frau neben ihm streichelte seine Wange, und er schloss beinahe selig die Augen. Irgendetwas an dieser Situation kam Tarō sehr seltsam vor. Er fragte sich, ob der Mann vielleicht betrunken war.

Der Priester erhob sich. Seine Haltung wirkte ernst und eigenartig förmlich. »Meine Dame«, sagte er. »Ihr kennt diesen Mann?«

Hana lächelte belustigt. »Aber natürlich! Das ist Hayao. Er ist ein … ein Gefolgsmann des Fürsten Oda. Er hat mich …« Sie senkte die Stimme, damit die Männer an den anderen Tischen sie nicht hörten. »Er hat mich gelehrt, zu reiten und zu kämpfen. Was ist mit ihm geschehen?« Die Augen des Samurai waren noch immer geschlossen, und er murmelte etwas mit diesen dünnen, grauen Lippen. Die bleiche Frau an seiner Seite streichelte unablässig sein Gesicht.

»Er ist … krank«, sagte der Priester. »Ich bringe ihn zum Hieisan.«

Hana schlug erfreut die Hände zusammen. »Dorthin gehen wir auch«, sagte sie.

Der Priester nickte. »Ich dachte mir schon, dass dies keine zufällige Begegnung ist«, erklärte er. »Vielleicht sollten wir uns irgendwohin zurückziehen, wo wir uns ungestört unterhalten können. Dann erzähle ich Euch mehr über Euren Freund. Hayao ist Euch bekannt – möglicherweise könnt Ihr mir helfen. Ich selbst kenne ihn erst seit … er erkrankt ist.«

»Wenn ich etwas tun kann, selbstverständlich«, sagte Hana.

Der Priester schob sich an dem dünnen Samurai vorbei, kam um den Tisch herum und blieb vor Hana stehen. Tarō wich stolpernd zurück und stieß einen erstickten Schrei aus. Er streckte die Hand nach irgendetwas aus, woran er sich festhalten könnte, und bekam Hirōs Schulter zu fassen.

»Was hast du denn?«, fragte Hirō. »Du siehst aus, als hättest du einen Geist gesehen.«

»Du siehst sie nicht?«, fragte Tarō.

»Wen?«, fragte Hana. Sie und Hirō musterten ihn verwundert. Auch der Priester schien nicht zu verstehen, was ihn so erschreckt hatte.

Tarō starrte die Frau neben dem Samurai Hayao an. Sie hatte ihre Liebkosung nicht unterbrochen, und nun meinte Tarō, dass sie ihm auch etwas zuflüsterte, so leise, dass nur Hayao sie hören konnte. Sie hatte Tarō nicht ein einziges Mal angesehen – seine Begleiter und den Priester auch nicht. Es war, als hätte sie nur Augen für den Samurai. Sie war verliebt, das war offenkundig. Doch das war es nicht, was Tarō so entsetzt hatte.

Der Priester war einfach durch sie hindurchgegangen, als sei sie gar nicht da. Selbst jetzt stand er so, dass sich ein Teil seines Körpers mit ihrem überschnitt, was bewies, dass sie kein Mensch war, sondern ein unwirkliches Wesen wie aus Rauch oder Nebel.

Ein Spuk.

Kapitel 4

Im portugiesischen Hafen von Nagasaki

Shūsaku hielt sich am Geländer fest und tastete sich die Rampe hinauf an Bord. Als er auf dem Deck stand, spürte er die unablässige Bewegung der See, die das Schiff sanft hin und her schaukelte, als wollte sie die Menschen an Bord an ihre Macht erinnern. Shūsaku hatte sich auf dem Wasser nie wohlgefühlt. Aber zumindest konnte er schwimmen. Das konnten die Seeleute nicht – wenn das Schiff sank, war es besser, rasch zu sterben, meinten diese, statt in falscher Hoffnung auf Überleben Zeit und Kraft zu verschwenden.

Shūsaku verstand nicht, wie diese Männer sich so einfach mit der Gefahr ihres Berufes abfinden konnten. Ja, auch sein Beruf war lebensgefährlich – aber er war anders. Er wappnete sich. Was diese Männer taten – segeln, ohne schwimmen zu können –, war so, als ziehe man ohne Schwert in die Schlacht. Shūsaku spürte Juns Hand im Rücken, die ihn sacht vorwärtsschob. Der Junge sollte verdammt sein. Shūsaku hasste Schiffe.

»Da ist eine Stufe vor Euch«, sagte Jun. »Zwei Schritte.«

Shūsaku nickte dankbar. Es wäre demütigend gewesen, jetzt zu stolpern. Schlimm genug, dass die Seeleute und Samurai ihm seine Angst, die Furcht vor der See, zweifellos anmerkten. Shūsaku hatte darauf bestanden, dass Jun ihn begleiten solle – der Junge ersetzte ihm die Augen, und Shūsaku brauchte ihn. Zu seiner Überraschung hatte Fürst Tokugawa eingewilligt.

»So!«, sagte eine raue Stimme, als eine Hand Shūsaku am Arm packte und ihm den letzten Schritt an Deck half. »Ich dachte schon, wir kriegen Euch nie an Bord.«

»Danke sehr«, sagte Shūsaku.

Er hörte den Mann nach Luft schnappen. »Eure Augen … und Eure Haut … ihr Götter. Wer hat Euch das angetan?«

Shūsaku lächelte über diese direkte Frage, die kein Edelmann so unverblümt gestellt hätte. Er konnte die See an diesem Mann riechen, die mit ihrem Salz tief in seine Poren und sein Haar eingedrungen war. Das war kein Samurai. Hinter dem Mann roch er weitere Leute – nicht die mit Gewehren Bewaffneten vom Kai, sondern derbere, vom Meer geprägte Männer. Ihr Blut floss dick und satt durch ihre Glieder, die stark und warm waren von harter Arbeit und Seeluft.

»Niemand hat das getan«, antwortete Shūsaku. »Es … war ein Feuer. Ich wurde verbrannt.«

Er spürte und hörte, wie Fürst Tokugawa neben den Seemann trat, oder was immer der Mann sein mochte. »Shūsaku, ich entschuldige mich für die Dreistigkeit dieses ungehobelten Menschen. Ein Wort von dir, und er ist tot.«

Der Mann sog scharf den Atem ein.

»Nicht doch«, sagte Shūsaku. »Er war nur überrascht. Aber … wer sind diese Leute?«

»Wakō«, antwortete Fürst Tokugawa.

Shūsaku blieb der Mund offen stehen. Piraten? Was hatte Daimyō Tokugawa auf einem Piratenschiff zu suchen?

Der Fürst trat einen Schritt vor und legte Shūsaku eine Hand auf die Schulter.

»Komm mit unter Deck. Ich erkläre dir alles.« Er wandte sich ab. »Ihr anderen bleibt hier oben. Lichtet den Anker. Ich will morgen bei Anbruch der Nacht in Kyōto sein.« Zu Shūsaku sagte er: »Dein Bursche kann an Deck bleiben. Ich helfe dir die Treppe hinunter.«

Während sie hinabstiegen, hörte Shūsaku einen der Männer flüstern: »Das ist der große Ninja Shūsaku. Es heißt, er könnte sich ins Schlafgemach des Shōgun schleichen, wenn er wollte. Er soll so viele Leute im Schlaf ermordet haben, dass er angeblich einmal eines seiner Opfer aufgeweckt und ihm ein Schwert gegeben haben soll, weil es ihm sonst zu langweilig gewesen wäre.«

Shūsaku lächelte. In Wirklichkeit war es eine geladene Arkebuse gewesen. Es hatte ihn interessiert, ob der Mann noch einen Schuss abgeben könnte, ehe Shūsaku ihn tötete.

Er hatte es nicht geschafft.