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Ein Treffen alter Freunde, ein tragisches Unglück und Jahre später ein mörderisches Spiel, das all die lang gehegten Geheimnisse offenbaren soll …
Anlässlich seiner Hochzeit lädt Lucas seine alten Freunde mit deren Partnern in sein luxuriöses Haus an der Küste Cornwalls ein. Doch dann ereignet sich eine schreckliche Tragödie: Lucas‘ Schwester Alex ertrinkt. Sergeant Stephanie King und Detective Inspector Angus Brodie werden gerufen, aber alles deutet auf Selbstmord hin.
Ein Jahr später lädt Lucas seine Freunde erneut ein, um seinen Hochzeitstag zu feiern. Doch ist das wirklich der Grund? Denn Lucas möchte ein Spiel spielen. Alle haben sie ihre Kostüme, ihre Rollen, und jeder muss mitspielen. Doch was will er von ihnen? Und was wird geschehen, wenn das Spiel vorbei ist? Und plötzlich stehen auch Stephanie King und Angus Brodie wieder vor der Tür, auf der Suche nach einer vermissten Frau …
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Seitenzahl: 519
Autorin
Rachel Abbott, geboren und aufgewachsen in Manchester, leitete viele Jahre als Systemanalytikerin ihre eigene kleine Softwarefirma. 2011 veröffentlichte sie ihren ersten Roman als Selfpublisherin und landete damit auf Anhieb einen Riesenerfolg. Seither führen ihre Romane regelmäßig die E-Book-Bestsellerlisten in Großbritannien und den USA an. Heute lebt Rachel Abbott abwechselnd in Italien und in ihrem Haus auf der Kanalinsel Alderney, wo sie auch ihre Romane schreibt.
Von Rachel Abbott bereits erschienen
Wo die Angst beginnt
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Buch
Anlässlich seiner Hochzeit lädt Lucas seine alten Freunde mit deren Partnern in sein luxuriöses Haus an der Küste Cornwalls ein. Doch dann ereignet sich eine schreckliche Tragödie: Lucas’ Schwester Alex ertrinkt. Sergeant Stephanie King und Detective Inspector Angus Brodie werden gerufen, aber alles deutet auf Selbstmord hin.
Ein Jahr später lädt Lucas seine Freunde erneut ein, um seinen Hochzeitstag zu feiern. Doch ist das wirklich der Grund? Denn Lucas möchte ein Spiel spielen. Alle haben sie ihre Kostüme, ihre Rollen, und jeder muss mitspielen. Doch was will er von ihnen? Und was wird geschehen, wenn das Spiel vorbei ist? Dann stehen plötzlich auch Stephanie King und Angus Brodie wieder vor der Tür, auf der Suche nach einer vermissten Frau …
RACHEL ABBOTT
Thriller
Deutsch von Leena Flegler
Ich strecke die zitternden Finger nach der Klinke aus und wünschte mir, ich hätte Nein gesagt – hätte mich geweigert, dieses Spiel mitzuspielen, das für den Abend geplant ist. Womöglich bin ich doch nicht so mutig, wie ich es gern hätte. In der anderen Hand halte ich den schwarzen Umschlag – dicht an meinem Körper, als könnten die Wörter, die darin stehen, sich durch das seidenweiche Papier brennen, sodass alle sie lesen können.
Als ich hinaus auf den Flur trete und Isabel im silberfarbenen Etuikleid und Chandra in einem langen türkisfarbenen Seidenkleid sehe, muss ich mich zusammenreißen, um nicht laut aufzukeuchen. Bei der Erinnerung wird mir ganz schwindlig. Aber ich nehme an, genau das ist die Absicht hinter diesem Spiel.
Niemand sagt etwas. Wir lächeln einander nicht einmal an, als wir die elegante Treppe nach unten gehen. Ich spähe zu Matt, mit dem ich seit drei Jahren verheiratet bin, und bin mir nicht sicher, ob ich ihn noch wiedererkenne. Sein Gesicht ist ausdruckslos, er hat die Lippen fest zusammengepresst, und sein schwarzer Umschlag steckt in seiner Brusttasche. Als Matt sieht, wie ich seinen Umschlag anstarre, hebt er die Hand und schiebt das Kuvert komplett in die Tasche.
Wie sehr sich dieser Tag von dem vor einem Jahr unterscheidet, als wir voller Vorfreude auf den bevorstehenden Abend und auf die Hochzeit tags darauf aus unseren Zimmern geströmt sind.
Ich habe versucht, aus Matt herauszukitzeln, was er wohl glaubt, worum es bei dem Spiel geht, aber er rückt nicht mit der Sprache heraus. Anscheinend hat Lucas das hier gewollt – und was Lucas will, das bekommt er auch, zumindest wenn man meinen Mann fragt. Nicht dass ich noch genau wüsste, was inzwischen in Matts Kopf vor sich geht.
Vermutlich können die wenigsten unglücklichen Paare den Zeitpunkt benennen, ab dem ihre Beziehung den Bach runtergegangen ist; ab wann Nähe in Distanz umgeschlagen ist und jede spitze Bemerkung nur mehr schlecht verhehlte Verachtung war. Ich hingegen kann präzise benennen, wann es in unserer Ehe so weit war.
Unser gemeinsames Leben war bis dahin mühelos gewesen, als wären wir in einem ruhigen Fluss nebeneinander hergeschwommen. Doch dann tat sich etwas an der Wasseroberfläche; wir trieben auf Stromschnellen zu, die uns auseinanderrissen. Seither können wir den jeweils anderen nur noch aus der Ferne sehen und sind beide entweder nicht imstande oder nicht willens, gemeinsam zurück ins ruhigere Wasser zu schwimmen.
Es ist auf den Tag genau ein Jahr her – sogar fast auf die Stunde genau –, seit wir in unterschiedliche Richtungen gedriftet sind, und inzwischen fühlt es sich so an, als hätten wir nichts mehr, woran wir uns festhalten können, als wäre nirgends Rettung in Sicht.
Wir haben nie darüber geredet, weil es laut auszusprechen nur bedeutet hätte, das Ereignis zu thematisieren, das uns auseinandergerissen hat.
Und weil wir über Alex hätten sprechen müssen.
Ich fahre an den Straßenrand, bis die Reifen im Gras stehen, und drehe mich zu Matt um.
»Okay, hör endlich auf zu zappeln. Die restliche Strecke darfst du fahren.«
Er sieht mich mit gespielter Überraschung an. »Hab ich gezappelt?«
Lachend drücke ich die Fahrertür auf und steige aus. Matt hasst es, wenn ich fahre. Er ist der Meinung, ich fahre zu schnell und trete zu hart auf die Bremse. Womöglich hat er sogar recht. Für mich ist Autofahren ein notwendiges Übel – wie Geschirrspülen oder Zahnpastakaufen –, aber nach Cornwall ist es nun mal eine ordentliche Strecke, und Matt hatte bereits zweieinhalb Stunden am Steuer gesessen, als ich übernommen habe.
Ich angele eine Wasserflasche und den weißen Umschlag vom Rücksitz, während Matt die Schnauze des Wagens umrundet und sich zu mir gesellt. Wir lehnen uns an ein Metallgatter und lassen den Blick über die Landschaft schweifen, hören den Kühen beim Grasen zu und teilen uns das Wasser.
»Aufgeregt?«, frage ich ihn.
»Ja, glaub schon.«
Typisch Matt – seine Antworten sind immer verhalten und wohlüberlegt.
Ich ziehe die feste weiße Karte aus dem Umschlag. Matt hat mir zuvor lediglich Datum und Ort des Geschehens genannt, aber ich habe mir bislang nicht die Mühe gemacht, die Einladung selbst anzusehen. Bis jetzt.
»In Polskirrin sind wir auch untergebracht, oder? Hat er ein Schlösschen gemietet oder so?«
Matt sieht in die Ferne. »Nein, er wohnt da.«
Ich habe vergessen, dass er mal erwähnt hat, dass Lucas ziemlich gut betucht ist. Ich habe die Freunde meines Mannes nie kennengelernt, und auch er hat sie seit Jahren nicht mehr gesehen, auch wenn er halbwegs regelmäßig mit Lucas Kontakt hat. Als wir vor zwei Jahren geheiratet haben, waren sie nicht eingeladen, aber da haben wir die Feier auch klein halten wollen, weil meine Mutter krank war, und seither war unser Leben angesichts zweier anstrengender Jobs und unseres Umzugs eher hektisch verlaufen.
»Wo hat Lucas Nina eigentlich kennengelernt? Weißt du das?«
»In Paris, glaube ich. Er war wegen Stiftungsangelegenheiten dort.«
»Stiftung?«
»Ja, die Jarrett-Stiftung.«
Ich wirbele zu Matt herum. »Das ist jetzt nicht dein Ernst, oder? Er ist doch wohl nicht mit Blair Jarrett verwandt?«
Matt grinst mich an. »Er ist mit Blair verwandt – er ist sein Sohn.«
»Oh. Mein. Gott. Warum hast du das denn nie erzählt? Verdammt, Matt – der muss ja ein Vermögen besitzen!«
»Ich hab’s dir nicht nicht erzählt. Das Thema kam bloß nie zur Sprache. Du wusstest, dass ich einen Kumpel namens Lucas habe und als Teenager ziemlich oft bei ihm zu Hause rumgehangen habe. Wie sein Kontostand aussieht oder sein Stammbaum, hab ich nicht für wichtig gehalten.«
Wieder so ein Matt-Klassiker. Für ihn wäre es niemals relevant oder auch nur spannend gewesen zu wissen, dass Lucas der Sohn eines Mannes ist, der ein Vermögen mit irgendeinem frühen Suchmaschinen-Algorithmus oder so gemacht und dann mit den Einnahmen eine Wohltätigkeitsorganisation gegründet hatte.
»Erzähl mir noch mal, woher ihr euch kennt.«
Matt dreht sich zu mir um. »Das hab ich dir doch schon gesagt, als die Einladung kam. Sein Vater hat mit meinem Vater Golf gespielt.«
»Matt! Das ist keine Erklärung. Ich bin mir sicher, dein Vater hatte eine Menge Freunde mit Söhnen. Geht es vielleicht ein bisschen genauer?«
Er beugt sich zu mir vor und gibt mir einen so zarten Kuss, dass meine Lippen kitzeln. Aber so leicht lasse ich mich nicht ablenken. Matt war immer schon sparsam mit Informationen, doch diesmal kommt er mir nicht davon. Ich sehe ihn finster an.
Er kichert. »Okay, du hast gewonnen. Als wir beide vierzehn oder so waren, haben unsere Väter beschlossen, dass wir Golf spielen lernen sollten. Mein Vater wollte, dass ich zumindest eine Sportart beherrsche, und bei allen anderen war ich eine Niete, insofern war Golf so was wie die letzte Hoffnung. Lucas und ich sind dann quasi als Viererteam mit unseren Vätern drei Wochenenden lang auf dem Golfplatz gewesen. Und natürlich war ich der Loser. Dass ich ziemlich klein für mein Alter war, hat auch nicht gerade geholfen. Lucas war damals schon eins achtzig groß. Unter Garantie haben wir ein ziemlich lächerliches Bild abgegeben. Lucas konnte mir ansehen, wie sehr ich darunter gelitten habe, also hat er seinem Vater vorgeschlagen, dass wir, statt Golf zu spielen, an den Wochenenden besser bei ihm zu Hause herumhängen sollten. Sie hatten einen Pool, und wenn das Wetter schlecht war, haben wir stattdessen Snooker gespielt.«
»Ziemlich rücksichtsvoll für einen Teenager.« Ich lehne meinen Kopf an seine Schulter. Ich weiß, dass er keine wirklich unbeschwerte Jugend hatte – dass er in Sachen Sport nie an die Erwartungen seines Vaters heranreichte und immerzu fürchtete, nie über eins fünfzig groß zu werden, was am Ende natürlich doch der Fall war. Irgendwann.
»Das ist typisch Lucas. Er hat immer schon ein gutes Gespür für die Befindlichkeiten anderer Leute gehabt. Aber egal. Diesen ersten Frühling haben wir quasi zusammen verbracht. Dann stieß Nick zu uns und nach einer Weile Andrew. Ich bin mir sicher, die beiden sollen bei der Hochzeit ebenfalls irgendwelche Funktionen übernehmen.«
Matts Stimmlage hat sich leicht verändert.
»Klingt so, als wärst du nicht wahnsinnig froh gewesen, als aus eurem Zweier- ein Viererteam wurde.«
Er seufzt. »Nein, das ist es nicht. Sie sind schon in Ordnung. Sind beide echt gute Typen, und ich bin mir sicher, dass du dich mit ihnen verstehst. Um ehrlich zu sein, hatte ich ein bisschen Mühe, mit ihnen mitzuhalten. Sie waren schon damals beide fast so groß wie Lucas. Da hab ich mich manchmal wohl wie der Schwächste im Wurf gefühlt.«
Ich schlinge die Arme um seinen Hals und ziehe ihn an mich. »Bist du aber nicht mehr, Mister Renommierter Schönheitschirurg.«
Ich lege den Kopf in den Nacken, sehe zu ihm hoch und studiere seine so gut wie perfekten Gesichtszüge. Er sieht aus, als hätte er sich selbst mit dem Skalpell geformt: schnurgerade Nase, schöner Mund und absolut symmetrische Augen. Manchmal frage ich mich, warum er sich für mich entschieden hat – mit meiner leicht zu breiten Oberlippe und den zu hoch ansetzenden Augenbrauen, mit denen ich in einem fort verwundert aussehe. Aber er schwört, dass er an mir nichts verändern würde.
»Warum trefft ihr euch eigentlich nicht mehr?«
»Du weißt doch, wie es ist – wir sind alle ziemlich eingespannt, außerdem wohnen wir ja auch nicht gerade nah beieinander. Ich schreibe und rufe Lucas hin und wieder an, und wir sehen uns, wenn er in London ist, aber hauptsächlich wohnt er hier draußen oder ist irgendwo auf der Welt in Stiftungssachen unterwegs. Als sein Vater gestorben ist, hat er die Zügel in die Hand genommen. Andrew segelt rund um die Welt, wann immer er die Möglichkeit hat, und auch wenn Nick als Banker in London arbeitet, wohnt er immer noch in Saint Albans.« Er drückt mich noch einmal kurz an sich. »Komm, wir fahren weiter. Es ist nur noch eine halbe Stunde, und hier draußen ist es verdammt noch mal zu warm.«
Da hat er recht. Für England ist das Wetter gerade phänomenal. Es fühlt sich an, als wären wir in Süditalien.
Wir steigen wieder ein, Matt auf seinen Lieblingsplatz am Steuer. Mich befällt leichte Panik, dass mein Hochzeitsoutfit nicht schick genug sein könnte, aber das behalte ich lieber für mich. Mir war nicht klar, in was für einer feinen Gesellschaft wir feiern würden.
»Erzähl mir mehr, Matt: Was muss ich über diese Jungs wissen, bevor wir dort ankommen? Woher kennt Lucas sie überhaupt?«
Er schüttelt in gespielter Verzweiflung den Kopf. »Jem, das kannst du sie doch gleich selbst fragen. Das Einzige, was ich dazu noch sagen will, ist, dass Geld niemanden zu etwas Besserem macht – das sollte nicht dein Bild von ihnen bestimmen. Geld ist wirklich das Unwichtigste an ihnen.«
Ich nicke bedächtig. Natürlich hat er recht. Aber was immer er gerade sagt – die leichte Nervosität, die in mir gekeimt hat, seit wir unserem Ziel näher kommen, hat jetzt in meinem Hals Wurzeln geschlagen.
Die letzten zehn Minuten der Fahrt schweigen wir beide. Matt beugt sich übertrieben über das Lenkrad – wie ein Kind, das gleich zum ersten Mal das Meer vor sich sieht. Vielleicht liegt es auch daran, dass die Straße verhältnismäßig schmal und zu beiden Seiten von Hecken gesäumt ist, sodass man nicht sehen kann, was einen hinter der nächsten Kurve erwartet.
Hin und wieder dreht er sich zu mir um und lächelt mich aufmunternd an, als könnte er meine Gedanken lesen. Kaum habe ich es geschafft, mir erfolgreich einzureden, dass ich mich gerade albern verhalte – dass es überhaupt keine Rolle spielt, ob ich die richtigen Klamotten dabeihabe oder nicht, denn um mich geht es hier schließlich nicht –, biegen wir um eine Kurve.
»Oh mein Gott!«, flüstere ich.
Wir haben den höchsten Punkt der Steilküste erreicht. Von hier an führt der Weg in Richtung Meer, und vor uns liegt ein Küsten-Postkartenidyll. Auf den Klippen über den brechenden Wellen ragt unser Ziel auf. Polskirrin. Lucas Jarretts Zuhause.
Sogar Matt verschlägt es die Sprache. Er fährt zwar weiter, aber jetzt im Schritttempo. Dann räuspert er sich. »Ganz nett, oder?«
Er versucht, lässig zu klingen, und ich muss lachen. Polskirrin ist atemberaubend schön. Ich glaube, so etwas nennt man Herrenhaus. Es hat eine Buntsandsteinfassade und ist sicher mehrere Hundert Jahre alt.
Eine lange, gewundene Schotterauffahrt führt von einem schmiedeeisernen Flügeltor über eine weitläufige Rasenfläche bis zu einem französischen Garten direkt vor dem Anwesen. Dort sprudelt ein geklinkerter rechteckiger Brunnen, und ich ahne schon jetzt, dass darin Goldfische schwimmen. Haus und Garten sind durch ein kleines Wäldchen vom Meer getrennt. Ich bin mir sicher, dass dort ein Weg zum Wasser führt, und ich kann es bereits jetzt kaum erwarten, die Füße in die kühle Brandung zu halten.
Selbst aus einer Viertelmeile Entfernung ist zu erkennen, dass jemand aus der Eingangstür getreten ist. Man hat uns kommen sehen.
»Tja, mein Schatz«, sagt Matt, »jetzt gibt es kein Zurück mehr.« Er grinst mich an, und seine Augen blitzen.
Das Flügeltor öffnet sich wie von Zauberhand, und Matt fährt die Auffahrt entlang und auf einen dunkelhaarigen Mann zu. Ich spähe zu meinem Mann hinüber, der inzwischen bis über beide Ohren grinst, und schließe daraus messerscharf, dass es sich um Lucas handeln muss. Er trägt dunkelblaue Shorts und ein weißes T-Shirt und lächelt uns schon entgegen.
Matt springt aus dem Wagen und marschiert auf ihn zu, und erst in diesem Moment dämmert mir, wie groß Lucas wirklich ist. Mein Mann ist knapp eins achtzig, aber sein Freund überragt ihn um einen ganzen Kopf. Matt legt die Hand auf Lucas’ Schulter und streckt ihm die andere zu einem überschwänglichen Händedruck hin. Ich kann zwar nicht hören, was die beiden sagen, aber ich lasse ihnen einen Augenblick Zeit, ehe ich mir meinen Sonnenhut vom Rücksitz greife und auf die beiden zugehe.
»Lucas, das ist Jemma – also, eigentlich Jemima, aber sie wird von allen Jemma genannt –, meine Frau, aber das weißt du ja schon.« Es sprudelt nur so aus ihm heraus, er redet zu viel, und jetzt streckt er die Hand aus, wie um mich in ihren Kreis aufzunehmen.
»Herzlich willkommen, Jemma. Schön, dich endlich kennenzulernen.« Lucas beugt sich vor, um mir die obligatorischen Wangenküsschen zu geben, und richtet sich lächelnd wieder gerade auf. Erst jetzt fallen mir seine Augen auf. Sie sind bernsteinfarben, fast wie die eines Löwen, warmherzig, freundlich – aber instinktiv frage ich mich, ob sie wie die Augen eines Löwen auch aggressiv aufblitzen und im Dunkeln sehen können.
Als sie den Mann und die Frau aus dem Wagen steigen und auf Lucas zulaufen sah, wischte sich Nina Bélanger eilig die Hände an einem Geschirrtuch ab. Sie sollte ebenfalls nach draußen gehen und Hallo sagen, aber aus unerfindlichen Gründen war sie nervös. Vielleicht würden die beiden sich ja fragen, warum ihr Freund diese kleine Frau aus einer Kleinstadt im französischen Hinterland heiraten wollte, obwohl er sich aus dem nie enden wollenden Strom glamouröserer Besucherinnen seiner Wohltätigkeitsveranstaltungen auch jede andere hätte aussuchen können. Manchmal fragte sie sich das selbst.
Sie konnte sich noch genau an den Tag erinnern, als sie sich kennengelernt hatten. Lucas war als Hauptredner bei einer Konferenz in Paris eingeladen gewesen, und sie war vom Veranstalter als Betreuerin für die Redner gebucht worden. Hunderte waren zu seinem Vortrag gekommen – und es war einfach alles schiefgegangen: Die Beleuchtung hatte versagt, sein Mikro war kaputt – es war eine Katastrophe, und Nina war in Panik geraten. Nicht dass sie für die Elektrik verantwortlich gewesen wäre – für den Hauptredner war sie es allerdings schon. Lucas Jarrett. Sie hatte das Gefühl, ihn komplett hängen gelassen zu haben.
Lucas war lässig darüber hinweggegangen, war an den Bühnenrand getreten und hatte kurzerhand lauter gesprochen, damit sein Publikum ihn verstand. Unter donnerndem Applaus verließ er die Bühne, nur um im nächsten Moment auf eine wutschnaubende Nina zu treffen, die gerade die Elektriker zusammenstauchte. Als ihr dämmerte, dass Lucas in Hörweite war, drehte sie sich mit rot glühenden Wangen zu ihm um und wollte sich schon für alles entschuldigen, doch er lachte bloß.
»Macht doch nichts. So was passiert«, sagte er. »Aber wenn Sie unbedingt wollen, können Sie es mit einem gemeinsamen Abendessen wiedergutmachen.«
Wie hätte sie da Nein sagen können?
Nina hätte nicht zu hoffen gewagt, ihn nach seiner Abreise aus Paris je wiederzusehen, doch er hatte ihr versprochen wiederzukommen und dieses Versprechen gehalten. Und jetzt war sie drauf und dran, ihn zu heiraten.
Sie beobachtete, wie die Neuankömmlinge auf das Haus zuschlenderten. Das mussten Matt und Jemma sein. Sie sahen glücklich aus, und während Lucas erst ihn und dann sie begrüßte, lächelten sie einander immer wieder an. Würden sie und Lucas genauso glücklich werden? Das würde einzig die Zeit erweisen.
Als sie sechs Monate zuvor eingewilligt hatte, zu ihm zu ziehen, war Nina nicht klar gewesen, wie oft sie allein in diesem riesigen Haus zurückbleiben müsste, während Lucas um die ganze Welt reiste, um all diejenigen zu besuchen, die die Hilfe der Jarrett-Stiftung am nötigsten hatten. Sie hatte es nie übers Herz gebracht, ihm anzuvertrauen, dass sie sich in Polskirrin – so schön es hier war – nicht richtig willkommen fühlte; sie wusste genau, wie das in seinen Ohren geklungen hätte. Er hätte sofort angenommen, dass es an Alex lag.
Nina seufzte. Sie wollte eine überwältigende Hochzeitsfeier und hatte unermüdlich an jedem noch so winzigen Detail gefeilt. Aber noch ehe der große Tag anbrach, musste sie heute sechs Hausgäste unterhalten und bewirten – Leute, die sie nie zuvor getroffen hatte. Lucas hatte seine drei ältesten Freunde zu Trauzeugen machen wollen, und er hatte Nina gefragt, ob es ihr zu viel würde, wenn sie ebenfalls im Haus wohnten. Natürlich hatte sie geantwortet, das sei schon okay. Inzwischen wünschte sie sich nicht zum ersten Mal, dass ihre Familie ebenfalls hier wäre. Nur war ihre Familie riesig – und bei zwei Großelternpaaren in fortgeschrittenem Alter, denen die Anreise schwergefallen wäre, hatten sie letztlich beschlossen, lieber Ende des Monats eine zweite Feier in Frankreich auszurichten. Ihre Mutter schien fest entschlossen zu sein, den Glanz der Feier in England zu übertreffen, und jedes Mal, wenn Nina sich vorstellte, wie ihre Mutter hierhin und dorthin wieselte und Befehle erteilte, schlich sich ein Lächeln auf ihr Gesicht.
Sie kehrte dem Fenster den Rücken zu und widmete sich wieder ihrer Aufgabe – dem Mittagessen. Wenn es etwas gab, was sie mit absoluter Selbstsicherheit konnte, dann war es kochen, und die Küche wäre ihr Zufluchtsort, ihr sicherer Hafen, sofern sie ihn benötigen sollte.
Mit einem dankbaren Lächeln für den Jungen, der vom Unkrautjäten im Kräutergarten herbeigerufen wurde, um unser Gepäck nach oben zu bringen, lasse ich mich auf die Bettkante sinken und sehe mich um.
Was für ein bildhübsches Zimmer. Die Balkontüren sind bloß angelehnt, und in der leichten Brise bläht sich der hauchzarte weiße Vorhang. Ich kann den Duft von Aprikosen riechen und entdecke auf einer antiken Kommode eine Schale, in der welche liegen: perfekt gereift, mit einem Hauch Röte. Ich stemme mich mit beiden Händen auf die Matratze und wippe kurz auf und ab, um sie zu testen. Unter Garantie werden wir in den frisch gestärkten Laken wunderbar schlafen.
Grinsend drehe ich mich zu Matt um, der bereits angefangen hat, seine Sachen auszupacken. Er legt sie ordentlich in die Schublade und hängt sie auf gefütterte Bügel in den Kleiderschrank. Von uns beiden ist er der Ordentliche, ich bin die Träumerin. Ich sollte ihm zur Hand gehen, aber ich muss erst noch für einen Moment die Atmosphäre genießen. Alte Häuser haben etwas Faszinierendes an sich. Ich kann nicht umhin, mich zu fragen, wie viele andere Leute schon in diesen vier Wänden geschlafen und welches Leben sie geführt haben.
Ich trete an die Balkontür und ziehe den Vorhang zur Seite. Von dem kleinen Steinbalkon führt eine eigene Treppe zu der weitläufigen gepflasterten Terrasse darunter. Stimmen und Gelächter wehen zu uns herauf. Die anderen Gäste haben sich bereits zum Aperitif versammelt, und auch wenn Lucas gesagt hat, dass das Mittagessen warten könne, bis wir fertig seien – es werde sich niemand beschweren, solange der Wein fließe –, wäre es unhöflich, wenn wir uns noch länger Zeit ließen.
Ich muss mich umziehen, doch die Aussicht schlägt mich in ihren Bann. Das Haus steht auf der Steilküste direkt über dem Meer, und der Ausblick ist spektakulär, das Wasser tiefblau. Es ist warm und windstill, trotzdem schlagen die Wellen ans Ufer, und ich frage mich kurz, ob es in der Nacht draußen auf dem Meer vielleicht gestürmt haben könnte.
Ich stehe kaum einen Moment auf dem Balkon, als ich hinter mir leise Schritte höre. Matt schlingt die Arme um meine Taille und riecht an meinem Hals, sodass ich eine Gänsehaut bekomme, doch als ich mich zu ihm umdrehe, spüre ich, wie er schlagartig am ganzen Leib angespannt ist, und folge seinem Blick. Er starrt jemanden an, der über die Terrasse läuft – eine junge Frau. Sie hält den Kopf gesenkt, und das Gesicht ist hinter einem Vorhang aus glattem schwarzem Haar verborgen. Obwohl sie eine weite graue Leinenhose und eine noch weitere Leinentunika trägt, kann man deutlich erkennen, wie dünn sie ist.
Sie scheint zu spüren, dass jemand sie beobachtet, weil sie mit einem Mal den Blick in unsere Richtung hebt und für den Bruchteil einer Sekunde strauchelt, doch der Moment geht so schnell vorbei, dass ich mich schon frage, ob ich es mir nur eingebildet habe.
»Wer ist das?«, will ich von Matt wissen und streiche ihm über den Arm, den er immer noch fest um mich geschlungen hält.
Er antwortet nicht.
»Matt?«
»Das ist Lucas’ Schwester.« Er klingt leiser, sanfter, und ich drehe den Kopf, um ihm ins Gesicht zu sehen.
»Ich wusste nicht, dass er eine Schwester hat. Sie wirkt …« Ich weiß nicht, wie ich es ausdrücken soll. Beim Anblick ihrer verkrampften, dünnen Gestalt und der Art und Weise, wie sie sich bewegt hat, kommt mir das Wort verstört in den Sinn, aber das klingt womöglich zu krass. Unglücklich ist vielleicht die bessere Wahl.
»Ja«, sagt Matt, ohne dass ich es ausgesprochen hätte. »Genau das ist sie.«
»Erzähl mir von ihr.«
Matt lässt mich los, und ich kann spüren, wie er sich hinter mir abwendet.
»Nicht jetzt, Jemma. Wir sollten uns fürs Mittagessen fertig machen.« Und damit verschwindet er wieder im Zimmer.
»Dann sag mir wenigstens, wie sie heißt.«
»Alex. Sie heißt Alex.«
Ich habe keine Ahnung, warum der Anblick von Lucas’ Schwester Matt dermaßen aus der Fassung gebracht hat. Er sagt dazu lediglich, es sei eine lange Geschichte, und dass wir dafür jetzt keine Zeit hätten.
»Aber du hast doch bestimmt damit gerechnet, dass sie auch hier ist?«, hake ich nach. »Immerhin ist es die Hochzeit ihres Bruders.«
»Irgendwie schon. Aber ich hab gedacht – gehofft –, dass es ihr mittlerweile besser geht. Dass sie sich wieder erholt hat.«
Es brennt mir auf den Nägeln zu fragen, wovon sie sich erholt haben müsste, aber ihm scheint bloß wichtig zu sein, dass wir das Mittagessen nicht noch weiter verzögern. Und ganz sicher werde ich ihr schon bald persönlich begegnen.
Ich habe eine Schwäche für Leute, denen es nicht gut zu gehen scheint. Wann immer ich eine geplagte Seele erkenne, muss ich helfen. Allerdings weiß ich auch, dass ich diesbezüglich keinen Druck auf meinen Mann aufbauen darf. Er dreht sich zu mir um und versucht zu lächeln, so gut er kann.
»Dann mal los zu den anderen.« Er streckt die Hand aus, und ich ergreife sie. Hoffentlich kehrt die Vorfreude, die er zuvor an den Tag gelegt hat, schnell wieder zurück.
Wir gehen über die Balkontreppe nach unten und folgen dem Gelächter auf die Südseite des Herrenhauses, wo eine große Tafel im Schatten einer rosenberankten Pergola steht.
Lucas dreht sich zu uns um.
»Jemma, Matt, kommt her und begrüßt die anderen Gäste!«
Eine Frau am entfernten Tischende hebt träge die Hand zum Gruß. Als sie sich mit einem Lächeln im Gesicht leicht ins Licht vorbeugt, sehe ich, dass ihr satt dunkelbraunes Haar kunstvoll gelockt und auf einer Seite hinter dem Ohr hochgesteckt ist. Sie trägt ein kurzes Etuikleid aus smaragdgrüner Seide, das über ihren langen, braun gebrannten Beinen fantastisch aussieht. Ich versuche, nicht an mir hinab auf die Shorts zu starren, die ich als angemessen für einen Mittagssnack im Freien erachtet habe, und beuge mich vor, um ihr die Hand zu schütteln.
»Hallo, ich bin Isabel.« Sie dreht sich zu Matt um. »Und, wie geht’s, Matt? Machst du die Welt immer noch zu einem schöneren Ort?«
Matt errötet. Ob sie auf seine Arbeit oder ihn selbst angespielt hat, bleibt offen. Auf jeden Fall klingt es wie ein Kompliment, trotzdem lächelt er sie verunsichert an. Keine Ahnung, zu wem sie gehört. Matt hat nie eine Isabel erwähnt, aber irgendwoher muss sie ihn kennen.
Ein Mann mit fachmännisch zerzausten dunkelblonden Haaren und in einem schrillen Hawaiihemd kommt auf uns zu. Ich hätte ihn spontan als hochgewachsen beschrieben, wenn er nicht ausgerechnet neben Lucas gestanden hätte.
»Matt!«, ruft er und klopft ihm auf den Rücken. »Schön, dich wiederzusehen. Gott, lange ist’s her!« Er dreht sich zu mir um und beugt sich vor, um mir Wangenküsschen hinzuhauchen, was mir immer ein bisschen unangenehm ist, da ich aus einer Familie stamme, in der zwar von Herzen geliebt, aber selten geküsst wurde. »Jemma, ich bin Nick. Freut mich wirklich sehr, dich kennenzulernen. Ich habe die ehrenvolle Aufgabe, für Lucas den Kellner zu spielen – da hol ich euch doch erst mal zwei Drinks!«
»Chandra«, ruft Lucas plötzlich, »bitte entschuldige! Dich hätte ich dort hinten fast übersehen.« Er zeigt auf eine Frau, die im tiefsten Schatten sitzt. Ich kann sie kaum sehen, bis sie sich von ihrem Stuhl hochstemmt und auf uns zuschlendert – in einem langen, cremefarbenen Rock, der hauteng auf ihren Hüften sitzt. Sie hat die Hände vor sich verschränkt. An ihren sanften braunen Augen und den üppigen Lippen sieht man sofort, dass sie einen südasiatischen Hintergrund hat.
»Hallo, Jemma … Matt … Schön, euch kennenzulernen.«
Sie hat noch immer die Hände gefaltet, und irgendwie käme es mir unangebracht vor, ihr die Hand hinzustrecken, also lächele ich sie nur freundlich an.
»Ganz meinerseits, Chandra.«
Sie erwidert mein Lächeln und kehrt in ihr schattiges Eckchen zurück. Matt scheint sie auch nicht zu kennen, und ich frage mich, ob sie eine Freundin von Nina sein könnte.
»Kommt, setzt euch zu uns.« Lucas zeigt auf zwei freie Stühle und will sich schon neben mich setzen, als sein Blick am Zugang zur Terrasse hängen bleibt. »Da ist sie ja endlich!«
Eine zierliche Frau mit kurzem, dunklem Haar und riesigen braunen Augen kommt auf uns zu. Sie hat einen bunten Schal durch die Gürtelschlaufen ihres weißen Leinenrocks gefädelt, und auf ihrem Kopf sitzt ein Stroh-Fedora, der sie vor der Sonne schützt. Sie trägt all das mit so viel Stil, dass wir anderen schlagartig over- oder underdressed wirken.
»Nina, komm, ich stelle dich allen vor.« Lucas legt ihr den Arm um die Schultern. Sie reicht ihm gerade mal bis zur Brust.
Die Ehefrau in spe lächelt ihn an, ehe sie uns reihum mit Wangenküsschen begrüßt.
»Herzlich willkommen. Ich weiß, wie sehr Lucas sich darauf gefreut hat, euch alle wiederzusehen, und ich hoffe, ihr habt hier bei uns eine schöne Zeit. Darf ich mich gleich entschuldigen, wenn ich ein bisschen unaufmerksam sein sollte?« Sie lacht verlegen. »Wie ihr euch vielleicht vorstellen könnt, hab ich in den nächsten ein, zwei Tagen einiges um die Ohren.«
»Können wir dir irgendwie helfen?«, frage ich, aber sie schüttelt bloß empört den Kopf.
»Nein, wirklich nicht. Wir haben extra Helfer angestellt – Lucas hat darauf bestanden. Ihr dürft euch einfach zurücklehnen. Ich bin gleich mit dem Mittagessen da. Ich liebe es, in der Küche zu stehen.«
Ihr Englisch ist makellos, und ihr französischer Akzent trägt nur noch mehr zu ihrem Charme bei. Lucas sieht ihr nach, als sie nach drinnen verschwindet, und dreht sich dann mit stolzem Blick zu uns um.
»Tja, und wo zur Hölle bleibt jetzt Andrew?« Er wirft einen Blick über die Schulter. »Nina bringt das Essen erst raus, wenn alle da sind.« Er dreht sich einmal um die eigene Achse und zuckt mit den Schultern. »Na ja, wir wissen ja alle, wie er ist. Irgendwann kreuzt er schon auf. Trinkt aus, dann gibt’s noch eine Runde, solange wir auf ihn warten.«
Ich habe das bestimmte Gefühl, dass wir die nächsten Tage im Überfluss verbringen werden. Nick scheint die Aufforderung auszutrinken wörtlich genommen zu haben und springt alle paar Minuten auf, um die Gläser nachzufüllen.
Er setzt sich neben mich und wendet sich mir zu.
»Also, Jemma – schön, dich endlich kennenzulernen. Lucas hat mir schon alles über dich erzählt.«
»Wirklich?« Ich hatte ja keine Ahnung, dass Lucas überhaupt etwas von mir weiß – mal abgesehen davon, dass ich Matts Ehefrau bin.
»Natürlich. Ich nehme an, Matt hat ihm gegenüber Loblieder auf dich gesungen. Du bist Logopädin, oder?«
Wir unterhalten uns ein paar Minuten lang über meinen Job, und Nick hört mir aufmerksam zu, als ich von meiner Faszination für sämtliche Spielarten der menschlichen Kommunikation, vor allem aber für das Sprechvermögen und den Einsatz der Sprache berichte. Ich weiß, ich neige dazu, stundenlang über meinen Beruf zu schwadronieren, den ich unendlich spannend finde, aber womöglich ist das für ihn ähnlich interessant wie das Bankenwesen für mich.
»Woher kennst du Lucas?«, frage ich also, um das Thema zu wechseln.
»Wir sind zusammen aufs Internat gegangen, als Wochenendheimfahrer: Lucas, weil sein Vater alleinerziehend und unter der Woche öfter verreist war, und ich, weil meine Eltern mich schlichtweg nicht ertragen konnten.«
Unwillkürlich schnappe ich nach Luft, und er lacht – mit einem Hauch zu viel Enthusiasmus, als seine Erklärung gerechtfertigt hätte.
»War nur ein Scherz. Mein Vater ist auch Internatsschüler gewesen und war der Meinung, so würde mir ein bisschen Disziplin beigebracht und meine Spinnereien würden mir ausgetrieben. Ich wollte ehrlich gesagt gar nicht hin, aber sie haben mir hoch und heilig versichert, dass ich es toll finden würde.«
»Und wer hat am Ende recht behalten?«, frage ich.
Er grinst mich schief an. »Schwer zu sagen – das ginge jetzt wahrscheinlich zu weit für einen Small Talk beim Lunch, und ich bin mir ehrlich gesagt auch gar nicht sicher … Jedenfalls hab ich Lucas dort kennengelernt. Dank ihm bin ich meinen Eltern nicht nur unter der Woche, sondern auch an den Wochenenden nicht mehr auf die Nerven gefallen, und alle waren zufrieden.«
Ich habe das vage Gefühl, dass sein Gelächter und sein Lächeln mehr als nur ein bisschen über den Schmerz hinwegtäuschen sollen.
»In dieser Zeit hab ich auch Matt kennengelernt. Wir haben die nächsten gut vier Jahre bei Lucas daheim rumgelungert, vor allem während der Schulferien. Haben alle möglichen krummen Dinger gedreht – nicht dass ich davon ausgehe, dass Matt ein paar unserer übelsten Machenschaften zugeben würde.«
Er wackelt mit den Augenbrauen, und die Anspannung ist im Nu verflogen. Ich bin froh zu hören, dass Matt zumindest als Teenager ein paar harmlose Dummheiten gemacht haben soll. Manchmal nimmt er das Leben viel zu ernst.
Wir haben inzwischen den zweiten Drink hinter uns, aber Andrew ist immer noch nicht aufgetaucht. Mitten in der dritten Runde fällt mir auf, dass bislang noch niemand Alex erwähnt hat.
Ich bin kurz davor, mich nach ihr zu erkundigen, als Lucas und Nick einen kleinen Freudenschrei ausstoßen, und drehe mich auf meinem Stuhl um. Ein Mann in orange-weißen Badeshorts taucht zwischen den Bäumen auf und kommt über den Weg auf uns zu, während er sich mit einem Handtuch das fast schulterlange, wellige Haar trocken rubbelt. In seinem dunklen Brusthaar und auf seinem flachen Bauch perlen immer noch Wassertropfen, in denen sich die Sonne fängt. Dass alle ihn anstarren, scheint ihm leicht unangenehm zu sein.
»Was? Ach du Schande – bin ich echt zu spät fürs Mittagessen? Tut mir leid, Leute!« Er steuert einen Stuhl im Schatten an. Dass seine Badeshorts triefnass sind, scheint ihn nicht zu kümmern. Dann erst entdeckt er mich und Matt. »Hallo, du musst Matts Frau sein. Ich bin Andrew.« Er steht wieder auf, umrundet den Tisch und beugt sich zu mir vor. Während er mich auf die Wange küsst, versucht er, mich nicht nass zu tropfen. »Matt, alles klar?« Er grinst Matt breit an, setzt sich wieder hin und schnappt sich eine Flasche Bier aus einer riesigen, mit Eis gefüllten Zinnwanne.
Lucas stemmt sich vom Tisch hoch.
»Also dann, ich gehe wohl mal Nina holen, die unserem Mittagessen bestimmt gerade den Feinschliff verpasst. Eine der Freuden, wenn man eine Französin heiratet und eine italienische Haushälterin hat – beide sind besessen vom Kochen und Essen! Du sorgst weiter für den Wein, Nick? Bin gleich wieder da.« Dann verschwindet er um die Ecke.
Diesmal denke ich gar nicht erst nach.
»Isst Alex gar nicht mit?«
Einen Augenblick lang herrscht Stille, und ich habe schlagartig das Gefühl, dass ich etwas Unangemessenes gesagt habe. Zum Glück springt Andrew mir zur Seite.
»Die lernst du bestimmt heute Abend kennen, Jemma. Ich glaube, tagsüber bleibt sie lieber für sich.«
Ich will schon etwas erwidern, als ich Matts Blick auffange. Er schüttelt kaum merklich den Kopf, und ich schweige. Alex ist anscheinend kein geeignetes Gesprächsthema.
Beim Mittagessen geht es geräuschvoll zu, und Nick drängt sich in den Mittelpunkt. Er dominiert zwar nicht sämtliche Unterhaltungen, aber sobald jemand anderes spricht, sitzt er regelrecht auf der Stuhlkante und wartet nur darauf, sich wieder einklinken und eine seiner Geschichten zum Besten geben zu können.
»Wisst ihr noch, als wir das Baumhaus gebaut haben und Matt nicht hochkam?« Er springt von seinem Stuhl auf, reißt beide Arme nach oben und tut so, als würde er – wie damals Matt – von einem Ast baumeln.
Alle lachen, auch Matt selbst, aber ich kann ihm ansehen, dass er nur ungern daran erinnert wird. Isabel lehnt sich vor und verpasst ihm einen lauten Schmatzer auf die Wange. Ich habe immer noch nicht herausfinden können, wie sie hier reinpasst, nachdem Matt mir erzählt hat, er habe zuvor keine der Partnerinnen seiner Kumpels kennengelernt.
»Nick, heute scheint wirklich jeder sein Fett von dir wegzubekommen«, sagt Lucas mit einem nachsichtigen Lächeln. »Warum erzählst du uns nicht zur Abwechslung, wie es war, als du das heißeste Mädchen der Schule zu einer Party eingeladen hast? Was immer du ihr da geschrieben hast … Ratet mal, wer am Ende aufgetaucht ist?«
»Ihr Vater!«, kreischen Isabel und Andrew wie aus einem Mund und trommeln mit den Händen einen Tusch.
Nick knufft Andrew spielerisch in den Arm. »Ich wollte sie eigentlich für mich, aber dann bist du aufgetaucht und hast sie mir vor der Nase weggeschnappt. Weiß der Geier, wie viele Frauen du Matt und mir ausgespannt hast – warst echt ein fieser Romeo!«
»So ein Blödsinn! Ich wusste einfach, wie man ein Mädchen behandelt – und hätte im Übrigen Lucas an dem Abend nicht eingegriffen, wärst du heute nicht mehr unter uns«, fügt Andrew hinzu und grinst bis über beide Ohren.
Anscheinend neigt Lucas dazu, anderen zu Hilfe zu kommen. Ich höre mir ihre Kabbeleien amüsiert an, lehne mich auf meinem Stuhl zurück und frage mich kurz, ob das Leben überhaupt besser sein könnte – Sonne, Meeresrauschen im Hintergrund, Freunde, die miteinander lachen, und fantastisches Essen. Nina wirbelt um uns herum, stellt sicher, dass jeder auch garantiert von allem probiert und keiner auch nur für eine Minute vor einem leeren Teller sitzt, bis Lucas sich irgendwann nach ihr ausstreckt und sie leicht am Arm berührt.
»Alle sind glücklich, mein Schatz. Entspann dich.«
Sie sieht aus, als wollte sie protestieren, atmet dann aber tief durch, lächelt und setzt sich ebenfalls.
Wer sonst noch zu wem gehört, ist mir noch immer nicht klar. Ist der lockere, tiefenentspannte Andrew, der immer noch die nassen Badeshorts anhat, mit der schicken, weltgewandten Isabel zusammen? Oder mit der in sich ruhenden, stillen Chandra? Isabel scheint mir am ehesten zu Nick zu passen; beide mögen es, im Mittelpunkt zu stehen. Sie geht gern auf Tuchfühlung, besonders bei Matt. Hin und wieder legt sie ihm fast schon besitzergreifend die Hand auf die Schulter. Als ich das erstmals sehe, blickt er mich an und zieht die Augenbrauen in die Höhe, als wollte er mir sagen: »Ich kann nichts dafür.« Ich grinse bloß zurück, um ihm zu signalisieren, dass ich es unterhaltsam finde.
Irgendwann kriegt niemand mehr einen Bissen runter, wir ziehen uns in unsere Zimmer zurück und erholen uns von den Drinks, nur um unter Garantie schon in wenigen Stunden damit weiterzumachen.
Hand in Hand bummeln Matt und ich die Treppe hinauf zu unserem kleinen Balkon. Ich weiß, dass wir gleich miteinander schlafen werden. Schon seit einer halben Stunde verspüre ich den vorfreudigen Kitzel. Aber erst muss ich meine Fragen loswerden.
»Wer ist Isabel, und wie kommt’s, dass ihr euch so gut kennt? Ist sie mit Andrew hier?«
»Ich wusste es, Jemma. Kann das nicht bis später warten?«, fragt Matt und nestelt am Knopf meiner Shorts. Ich lache und packe ihn an beiden Händen, damit er aufhört – zumindest vorübergehend.
»Nein. Weil ich gleich nur noch an dich denken will. Aber erst hab ich ein paar Fragen. Das ist schon alles.«
Matt sieht mich leicht verärgert an. »Meinetwegen. Andrew ist mit Chandra hier. Das wäre die eine Frage.«
»Dann ist Nick mit Isabel zusammen.« Das passt. Trotz des schrillen Hemdes und der weit ausholenden Gesten dürfte auch er eine schicke, weltgewandte Seite haben. »Aber du kanntest sie schon?«
Matt wirft den Kopf in den Nacken und lacht. »Ich kenne sie, seit ich Nick kenne. Die beiden sind kein Paar – sie sind Zwillinge. Isabel ist, als wir jünger waren, ständig mit uns herumgezogen. Um ehrlich zu sein, war das echt nervig – hauptsächlich weil sie unglaublich in Lucas vernarrt war.«
»Ich hätte jetzt gesagt, sie scheint eher auf dich fixiert zu sein.«
»Ach, nie im Leben! Das ist alles nur Show. Guck mal genauer hin. Jedes Mal, wenn sie mich berührt, schaut sie zu Lucas – als würde sie hoffen, dass er eifersüchtig wird.«
»Ernsthaft?«
»Schluss damit, Jemma. Komm her.«
Ich strecke mich nach ihm aus und will ihm schon das T-Shirt über den Kopf ziehen. »Eine letzte Frage. Tut mir leid, wenn ich irgendwem auf den Schlips getreten bin, als ich mich nach Alex erkundigt hab – aber warum war sie beim Mittagessen denn nicht dabei? Und warum hat jeder schlagartig abgeblockt, als ich nach ihr gefragt habe?«
Matt lässt die Arme sinken und zupft sein T-Shirt nach unten. »Jem, ich weiß, dass du immer jeden retten willst und nicht ertragen kannst, wenn jemand leidet. Aber hör bitte auf, nach Alex zu fragen. Ihr ist als Kind etwas passiert – etwas Schreckliches –, nur weiß keiner genau, was das war, außer womöglich Lucas … Das hat sie damals total traumatisiert, also sprechen wir nicht drüber. Ich will nicht mal darüber nachdenken.« Matt weicht zwei Schritte von mir zurück. »Tut mir leid, Schatz, aber mir ist echt heiß. Ich spring erst mal unter die Dusche.«
Ich weiß nicht, was ich gesagt oder getan habe – aber diesen Gesichtsausdruck kenne ich von Matt: Er hat die Schotten dicht gemacht, zu diesem Thema wird er nichts mehr sagen.
Unser erster Tag in Polskirrin ist in einem wohligen Nebel aus Sonne, Schlaf, Essen und zu viel Alkohol vorübergegangen, und jetzt da ich auf unserem Bett liege und versuche, die letzten Kräfte zu mobilisieren, um mich abzuschminken und auszuziehen, verfluche ich mich dafür, dass ich mich nicht an meinen Vorsatz gehalten und doch zu viel Wein getrunken habe. Matt ist immer noch draußen, trinkt und redet, und wer weiß, in welchem Zustand er irgendwann später ins Bett kommen wird. Ächzend wälze ich mich herum und halte die Nase in die frische Luft, die durch die offene Balkontür weht.
Weil es so warm war, haben wir auch im Freien zu Abend gegessen, und ich war zutiefst erleichtert, als Lucas verkündete, es werde ganz ungezwungen sein, und jeder solle sich selbst bedienen. Ich habe mich neben Chandra gesetzt. Beim Mittagessen war mir aufgefallen, dass sie etwas anderes aß als der Rest von uns, und es scheint fast, als wäre Kimchi ihr Grundnahrungsmittel. Wie sie den Verlockungen von Ninas Kochkünsten widerstehen kann, ist mir ein Rätsel, aber ich mag ihre ruhige Art und ihre Bedachtsamkeit, und weil sie obendrein keinen Alkohol trinkt, dachte ich, daran könnte ich mich orientieren. Doch dann war Andrew für den Rosé zuständig gewesen, und wann immer ich mich auch nur kurz umdrehte, griff er zur Flasche und schenkte mir herrlich blassrosafarbenen Wein nach.
Der neunte Stuhl blieb zunächst verwaist, und irgendwann bat Nina in holprigem Italienisch und mit Händen und Füßen die Haushälterin, das Essen zu bringen. Im allerletzten Moment, als wir anderen bereits zum Besteck griffen, schlüpfte die geisterhafte Gestalt einer jungen Frau auf den Platz zwischen Lucas und Matt. Wie zuvor war ihr Gesicht fast vollständig hinter dem langen Haar versteckt. Mein Mann lehnte sich leicht zu ihr rüber und legte seine Hand auf ihre. Ich meine, er hätte ihr auch meinen Namen zugeflüstert, aber vorgestellt hat er uns nicht, also wartete ich, bis ich ihren Blick auffangen konnte, um ihr freundlich zuzulächeln. Alex lächelte zurück. Hinter ihrem Haar verbarg sich ein hübsches Gesicht. Nach dem Umfang ihrer Handgelenke zu urteilen hatte ich mit meiner Vermutung, dass sie sehr dünn war, recht gehabt.
Es war faszinierend zu sehen, dass alle sie ganz natürlich in unseren Kreis aufnahmen, ohne auch nur im Mindesten auf ihr verspätetes Auftauchen einzugehen.
»Alex, reichst du mir bitte den Pfeffer?«, rief Nick ihr vom anderen Tischende zu.
»Mehr Salat, Alex?«, fragte Nina.
Anscheinend fanden alle anderen es völlig normal, dass sie – ohne ein Wort und ohne vorgestellt zu werden – aufgetaucht war und jetzt stumm mit am Tisch saß, während die anderen sie ansprachen und an ihr vorbeiriefen, als würden sie gar keine Reaktion von ihr erwarten. Womöglich war es tatsächlich so.
Lucas wirkte besonders aufmerksam, und ich sah, wie er immer wieder die Augenbrauen krauszog, wenn er in ihre Richtung blickte. Matt sorgte dafür, dass sie sich von sämtlichen Speisen bediente, auch wenn sie sich nur wenig nahm.
Isabels Verhalten gegenüber den Männern erwies sich als noch kämpferischer, als es schon beim Mittagessen der Fall gewesen war; jetzt da ich weiß, dass sie Nicks Zwillingsschwester und quasi mit den Jungs aufgewachsen ist, ergibt das ein bisschen mehr Sinn. Ohne jeden Zweifel hat sie sich früher schon gegen sie behaupten müssen. Sie erzählte Anekdoten über alle – außer über Lucas, der womöglich nur deshalb verschont blieb, weil er unser Gastgeber ist. Als Matt an der Reihe war, gepiesackt zu werden, drehte sie sich zu mir um.
»Matt hatte immer das Neueste vom Neuesten, Jemma – und ich wette, das hat sich bis heute nicht geändert.«
Statt zu antworten, bedachte ich sie mit einem milden Lächeln, aber das hielt sie nicht davon ab weiterzureden.
»Nicht dass er je gewusst hätte, wie man all diese teuren Gerätschaften bediente. Er hatte die beste Spielekonsole, wusste aber nicht, wie man darauf spielte, und das beste Handy – den ersten Blackberry, den ich je zu Gesicht bekommen habe. Allerdings hatte er keinen Schimmer, wie das Ding funktionierte. Trotzdem ließ er es überall demonstrativ rumliegen. War’s nicht so, Matt?« Dann warf sie ihm ein Luftküsschen zu.
Matt errötete leicht, schien es aber gelassen hinzunehmen.
»Das weiß ich auch noch«, rief Nick dazwischen und klinkte sich nur zu gern wieder ins Gespräch ein. »Der war ein Geschenk deines Vaters, oder? Endlich war er mal stolz auf dich, weil du es an eine gute Uni geschafft hattest – auch wenn es für Cambridge nicht gereicht hat.«
»Tja, Nick, aber zumindest war sein Vater wegen irgendwas stolz auf ihn – was man von deinem werten Erzeuger ja nicht gerade behaupten kann, oder?« In Isabels Stimme schwang ein Hauch Verbitterung mit, und Nick sah sie ausdruckslos an.
»Hört mal«, sagte ich, um die Stimmung wieder aufzulockern. »Kann schon sein, dass Matt mit Technikkram nicht viel am Hut hat – und schau mich nicht so an, Matt! Ist doch wahr! Aber mit dem Skalpell ist er genial, insofern sollten wir es ihm nachsehen, oder nicht?«
»Natürlich. Außerdem glaube ich, dass wir alle auch ein paar Geschichtchen über dich erzählen könnten, Isabel«, warf Andrew ein, sie lachte, und die Anspannung verebbte.
»Was ist mit dir, Andrew? Immer noch von Booten besessen? Abgesehen von Mädchen hast du doch schon als Teenager über nichts anderes gesprochen.«
»Stimmt, und das ist wahrscheinlich heute noch so. Alles, nur um raus aufs Wasser zu kommen – oder natürlich ins Wasser hinein.«
Lucas, der auf der anderen Seite neben mir saß, beugte sich zu mir herüber. »Andrew hatte mehr Freundinnen als der Rest von uns zusammengenommen, und wir wussten nie, wen er auf die nächste Party schleifen oder ob er überhaupt auftauchen würde. Oft hatte er sie einfach vergessen und war stattdessen irgendwo segeln.«
Wenn er damals aussah, wie er heute aussieht, und dieselbe entspannte Art hatte, dann war klar, wie er auf Mädchen wirkte.
»Woher kennt ihr euch überhaupt?«, fragte ich Lucas.
»Oh, das ist eine gute Geschichte! Mein Vater hatte mich für die Ferien in einem Segelkurs angemeldet. Andrew hat dort ausgeholfen, er war damals schon ein guter Segler. Ich war einfach nur lang und schlaksig und hab irgendwie nie den Bogen rausgehabt, wie ich dem Baum ausweichen sollte. Erster Törn – das Ding kracht mir an den Kopf, und ich gehe über Bord. Andrew hat mich wieder rausgefischt.«
Ich hätte gern nachgehakt, doch Chandra ergriff das Wort – selten genug, dass sie sich an unseren Gesprächen beteiligte.
»Andrew hat mir gezeigt, wo du aufgewachsen bist, Lucas.« Irgendwie klang es aus ihrem Mund so, als handelte es sich um eine Anstalt und nicht um das riesige Anwesen mitten im ländlichen Hampshire, das ich mal in einer Doku über Blair Jarrett gesehen hatte. »Warum hast du dich entschieden, nach Cornwall umzuziehen?«
Schlagartig herrschte Stille. Alex ließ den Kopf noch tiefer hängen, und Lucas sah alarmiert zu ihr hinüber. Einen unangenehmen Moment lang sagte keiner auch nur ein Wort.
»Als mein Vater starb, schien es irgendwie Sinn zu ergeben, dort wegzuziehen.« Dann drehte Lucas sich wieder zu mir um und wollte unser voriges Gespräch wieder aufnehmen.
»Vielleicht hat sein Tod dort für ein seelisches Ungleichgewicht gesorgt. Vielleicht hast du das ja gespürt.« Für Chandra war das Thema anscheinend noch nicht erledigt.
Lucas lachte gekünstelt. »Ich glaube nicht, Chandra, dass ich so empfindsam bin … Ich bin nicht so begabt wie du in spirituellen Dingen.«
»Hey, Leute«, sagte Nick nach ein paar zähen Sekunden. »Uns steht eine Hochzeit bevor, konzentrieren wir all unsere Energie also auf gute Ereignisse, oder?« Dann sprang er auf. »Einen Toast – den ersten von vielen! Auf Nina und Lucas!«
Alle hoben die Gläser, und der Geräuschpegel pendelte sich wieder auf dem Niveau wie zuvor ein, allerdings sah ich, wie Lucas die Hand nach Alex ausstreckte und sie ihr sanft aufs Handgelenk legte.
Chandra schlug die Augen nieder und aß weiter. Andrew warf ihr einen besorgten Blick zu, aber sie schien sich an dem leichten Tadel nicht zu stören. Es hatte den Anschein, als wüssten außer Chandra und mir alle über Lucas’ Elternhaus Bescheid und als wollte niemand darüber reden.
Ich habe immer noch keine Gelegenheit gehabt, Matt zu fragen, warum dieses Thema so heikel zu sein scheint, und will auch nicht noch länger auf ihn warten. Träge stemme ich mich vom Bett hoch und schleppe mich ins Badezimmer. Ich will mich jetzt nur noch in die kühlen Laken legen und schlafen.
Polskirrin war für mich immer der sichere Hafen. Hier muss ich mich nicht erinnern – hier gibt es nur die Erinnerungen, die in meinem Kopf stecken und die ich weder durchdenken will noch kann. Ich verlasse das Anwesen selten, und wenn, dann nie allein, sondern nur mit Lucas zusammen, wenn er mal hier ist. Nina versucht, mich zu Ausflügen zu überreden, aber die lehne ich höflich ab. Ich kann nur in Frieden weiterleben, wenn ich mich mit Schönheit umgebe, und auch nur ein Hauch der rohen Realität eines Lebens jenseits der Mauern von Polskirrin reicht aus, um mich wieder an einen finsteren Ort zu versetzen. Ich versuche, mich nützlich zu machen, ich helfe Lucas mit der Stiftung und bin gut darin. Ich habe eine Aufgabe.
Die Freunde meines Bruders wiederzusehen hat mich heute trotzdem aus der Bahn geworfen. Ich hatte im Wald gewartet und mich gefragt, ob ich sie überhaupt wiedererkenne, aber sie sind allesamt nur erwachsene Versionen der einstigen Vierzehnjährigen.
Ich war neun, als Lucas einen nach dem anderen unter seine Fittiche genommen hat. Damals wirkten sie auf mich wahnsinnig alt. Doch nach Jahren, in denen ich die Wochenenden und Schulferien mit ihnen verbracht hatte, konnte ich sie halbwegs einschätzen: Nick – stets verzweifelt bemüht, Lucas zu beeindrucken und der Geistreiche von ihnen zu sein; Andrew –der Unabhängigste von ihnen, wegen seiner ärmlichen Herkunft trotzdem nie ganz im Reinen mit sich; Matt – der zu den anderen aufblickte, leicht reserviert und verunsichert und derjenige, auf den ich mich am meisten gefreut habe. Und dann Isabel. Je weniger über sie gesagt wird, umso besser.
Ich war nicht darauf vorbereitet, dass ihr Anblick, ihre Stimmen mich derart aus der Fassung bringen würden, aber sie haben alte Wunden aufgerissen, die jahrelang nur durch hauchzarte Pflaster zusammengehalten worden sind. Ich habe mir ein ums andere Mal sagen lassen – von Psychiatern, Psychologen und all den anderen Spezialisten, die Lucas meinetwegen engagiert hat –, dass ich mich endlich alledem stellen muss, was mir zugestoßen ist. Ich muss in meinem Kopf dorthin zurückkehren und es akzeptieren. Nur dann werde ich wieder gesund.
Aber ich bin dazu nicht imstande. Ich halte all das von mir fern – jeden einzelnen quälenden Augenblick.
Bis heute.
Sie zu sehen, sie zu hören, mit ihnen beim Abendessen zusammenzusitzen hat mich in eine andere Zeit zurückkatapultiert. Und ohne dass ich es hätte steuern können, stehen mir plötzlich wieder grellbunte Bilder vor Augen, und sie tun weh – sie zerfleischen mich.
Es ist, als schwebte ich über der Welt und sähe auf sie hinab, und ich kann uns im Haus von Lucas’ Vater sehen, wie wir im Swimmingpool spielen und Grillwürstchen essen. Im nächsten Moment bin ich wieder im Sommerhaus, lache über ihre Albernheiten und verstecke mich, wann immer sie drohen, mich ins kalte Wasser zu werfen. Das Sommerhaus ist immer mein Versteck gewesen – und das wusste auch jeder.
Ich sehe mich selbst, wie ich unbeschwert durch die Tür nach draußen spähe und so tue, als wüssten sie nicht, wo ich bin, und im selben Moment dunkelt das Bild ein, als schliche sich dichter Nebel von allen Seiten an. Die Sonne ist weg, es ist mitten in der Nacht. Ich bekomme keine Luft mehr. Wie bin ich dort hingekommen?
Dann verändert sich das Bild erneut. Ich bin wieder zu Hause, in meinem Zimmer, und es ist kurz vor Weihnachten. Das weiß ich, weil ein Stück die Straße runter ein Haus mit lauter bunten Lämpchen und einem aufblasbaren Weihnachtsmann dekoriert ist, der auf dem Dach im Wind tanzt. Bei uns brennt kein einziges Licht. Zu uns kommt der Weihnachtsmann nicht.
Schneeregen peitscht gegen mein Fenster, und ich hoffe inständig, dass er das Schreien und die vulgären Schimpfwörter von unten übertönt. Ich weiß genau, dass sich dort nur eine Person aufhält – ihr Zorn richtet sich gegen die Welt im Allgemeinen und alles und jeden auf dieser Welt, doch ganz besonders gegen mich.
Ich höre ein Kreischen, den Befehl runterzukommen, trotzdem bleibe ich, wo ich bin, starre durchs Fenster hinaus in die schwarze nasse Nacht, ich bin so unglücklich, dass es wehtut, und ich sehne meinen Bruder herbei. In exakt diesem Moment wird mir klar, dass ich gehen muss, ganz gleich, wie das Wetter ist. Ich kann hier keine Sekunde länger bleiben.
Es ist die schlechteste Entscheidung meines Lebens.
Ich wische das Bild beiseite. Ich will nicht sehen, was als Nächstes passiert. Ich bin noch nicht bereit dafür, also blicke ich stattdessen zu den Sternen hoch. Das Tageslicht ist erloschen, ein weiterer Tag ist vorbei. Ich habe einen weiteren Tag geschafft – trotz allem. Doch mit den Erinnerungen kommen Fragen – einige noch von damals, vor vielen Jahren, andere von heute Abend. Antworten habe ich nicht.
Ich ziehe mich bis auf die Unterwäsche aus und laufe in Richtung des pechschwarzen Wassers, der abnehmende Mond spiegelt sich auf der Oberfläche. Ich spüre das kalte Wasser an meinen Füßen, Knöcheln, Schienbeinen, Knien. Die zuvor aufgewühlte See hat sich wieder beruhigt und fühlt sich jetzt seidig weich auf der Haut an. Sobald das Wasser mir bis zu den Oberschenkeln reicht, stoße ich mich ab, und mit kräftigen Armzügen schwimme ich auf den Ausgang der Bucht zu. Wie oft habe ich mir schon gesagt, ich müsste einfach nur weiterschwimmen, bis Polskirrin nur noch ein Pünktchen am fernen Festland ist und mir die Kräfte schwinden, der Atem flach wird und ich nur mehr darauf warte, dass sich die Oberfläche auftut, sodass ich unter die Wellen tauchen und immer tiefer sinken und das Meer mich verschlucken kann.
Aber nicht heute Nacht. Ich drehe mich auf den Rücken und lasse mich treiben, wiege nichts mehr, blicke auf zu den Sternen und vergesse alles, was in meinem Kopf ist, indem ich einen vereinzelten Stern am Himmel ansehe und weiß, dass er Lichtjahre entfernt ist, Abermillionen Meilen, und indem ich mich auf meine eigene Bedeutungslosigkeit konzentriere.
Zum Scheppern von Metall auf Metall wache ich auf und ziehe mir das Kissen über den Kopf. Mein Mund ist ausgetrocknet, mein Magen rumort, als würde immer noch gläserweise Wein darin hin und her schwappen.
Das Krachen und Scheppern geht weiter; die Vorbereitungen für die morgige Hochzeit sind in vollem Gange. Gerade dürften sie draußen auf der Terrasse direkt unter unserem Fenster den Pavillon für den Empfang aufstellen.
Ich drehe mich nach Matt um, doch er liegt nicht neben mir. Die Badezimmertür steht offen, dort ist er auch nicht. Vielleicht ist er spazieren gegangen. Ich würde am liebsten wieder einschlafen und erst aufwachen, wenn mein flauer Magen sich beruhigt hat, aber ich weiß nur zu gut, dass das nicht klappen wird.
Morgen ist die Hochzeit, und wenn ich bei der Feier Spaß haben will, muss ich mich wohlfühlen. Also sollte ich heute Abend einen Gang zurückschalten. Anscheinend ist ein üppiges Vor-Hochzeits-Dinner geplant, aber das bedeutet ja nicht, dass ich wieder so viel Wein trinken muss. Mir ist klar, dass ich es gestern teils deshalb so übertrieben habe, weil zwischen Matt und mir eine komische Stimmung herrschte; dass ich ihn nach Alex gefragt habe, scheint ihn verärgert zu haben. Ich habe ihn gestern Nacht nicht mal ins Bett kommen hören, und ich weiß nur, dass er heimgekommen ist, weil sich auf dem Kissen immer noch der Abdruck seines Kopfes abzeichnet.
Ächzend stemme ich mich aus dem Bett. Vielleicht sollte ich mir meinen Badeanzug schnappen und die Bucht aufsuchen, von der gestern alle geschwärmt haben. Eine Runde schwimmen sollte mich wieder fit machen.
Als ich gerade die Schubladen durchwühle, geht die Zimmertür auf.
»Morgen, Schatz.«
Mit einem gequälten Lächeln im Gesicht drehe ich mich zu meinem Mann um, und er erwidert meinen Blick mit einem ganz ähnlichen Ausdruck.
»Harte Nacht, was? Gehst du schwimmen?«
»Hatte ich vor. Kommst du mit?«
Matt schüttelt den Kopf und zeigt auf seine Shorts. Erst jetzt sehe ich, dass sie tropfnass sind. »Ich war schon. Aber es ist herrlich dort unten. Danach fühlst du dich sofort besser.« Er steuert das Badezimmer an, bleibt dann aber an der Tür stehen. »Sorry wegen gestern Nacht. Wir haben uns darüber unterhalten, was alles seit unserem letzten Treffen passiert ist, und darüber hab ich die Zeit vergessen.«
»Macht doch nichts. Ich bin nach zehn Sekunden eingeschlafen. Habt ihr Geschichten aus eurer Jugend ausgetauscht? Ich hab mir ein bisschen Sorgen gemacht, als Chandra anfing, über das seelische Ungleichgewicht in Lucas’ altem Zuhause zu reden, da waren auf einmal alle ganz still.«
Matt presst die Lippen zusammen. »Andrew muss ihr sagen, dass sie ihre Mutmaßungen besser für sich behalten soll. Dass hier irgendwas wieder hervorgezerrt wird, ist nun wirklich nicht nötig. Wir reden nicht darüber, was dort passiert ist, niemand von uns. Wenn sie dich also fragen sollte – erzähl ihr nichts.«
Er schiebt die Tür hinter sich zu, und ein paar Sekunden lang starre ich das dunkle Holz an. Ich habe keine Ahnung, was ich seiner Meinung nach Chandra oder irgendwem sonst erzählen könnte – ich weiß ja überhaupt nichts.
Ich schnappe mir ein Handtuch und steuere Balkon und Treppe an. Als ich auf die Terrasse hinunterblicke, wimmelt es dort nur so von Arbeitern, und Metallstangen liegen überall herum. Sie errichten gerade einen nach allen Seiten offenen, riesigen Pavillon. Ich will ihnen nicht in die Quere kommen, kehre ins Zimmer zurück und mache mich auf den Weg zum Treppenhaus.
Es ist mucksmäuschenstill im Haus, und ich frage mich, ob die anderen noch im Bett liegen. Vielleicht hört man aus den nach vorne raus gelegenen Zimmern die Arbeiter nicht und kann seinen Kater ordentlich ausschlafen.
Leise gehe ich die Treppe hinunter und hoffe, dass ich die Haustür und dann den Pfad zum Meer finde. Das Haus ist riesig, und von der Eingangshalle gehen zig Türen ab. Ich gehe zur Rückseite des Hauses durch ein großes, elegantes Wohnzimmer mit cremeweißen Sofas und chinesischen Teppichen. Von dort führt eine Tür zu einem schmalen Flur, an dessen Ende durch eine weitere offene Tür Sonnenlicht hereinströmt.
Als ich mich ihr nähere, kann ich von draußen Stimmen hören. Irgendwas an der Tonlage sagt mir, dass die Unterredung nicht für fremde Ohren bestimmt ist, also bleibe ich verunsichert stehen. Neben der Tür kann ich Chandra und Alex an einem Tisch sitzen sehen, wo der Lärm von der Terrasse nicht hinreicht. Sie haben beide die Hände um große Becher gelegt, als wollten sie sich daran wärmen. Und sie haben die Köpfe zusammengesteckt, sind anscheinend ins Gespräch vertieft. Ich will nicht lauschen, bin mir aber auch nicht ganz sicher, ob ich sie stören soll, indem ich einfach an ihnen vorbeispaziere. Beide strahlen eine gewisse Anspannung aus. Dann höre ich, was Chandra sagt.
»Der Hass macht dein Unglück und dein Leid doch nur noch größer, Alex. Du musst das hinter dir lassen, sonst wirst du immer weiter verletzt – nicht die Person, die du hasst. Du musst den Knoten in dir lösen.«
Sie schiebt etwas über den Tisch auf Alex zu. Ich kann nicht genau sehen, was es ist, aber dann fällt ein Sonnenstrahl darauf. Es sieht aus wie ein Armband aus einem schwarz glänzenden Material.
»Das schenke ich dir. Ich glaube, es könnte dir helfen«, sagt Chandra. »Es ist eine mala.