Das böse Herz - Roz Watkins - E-Book

Das böse Herz E-Book

Roz Watkins

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Beschreibung

Kann ein Spenderherz zum Mörder machen? Der englische Krimi-Bestseller von Roz Watkins - nach "Das kalte Echo" der unheimliche zweite Fall für DI Megan Dalton im Peak District. Barfuß, im blutbefleckten Nachthemd rennt ein Mädchen durch den windgepeitschten Wald im Peak District. Ihr Vater wird erstochen aufgefunden, aber die zehnjährige Abbie hat keinerlei Erinnerung, was geschehen ist. Ihre Mutter erzählt der jungen Ermittlerin Meg Dalton, dass Abbie vor kurzem eine Herztransplantation bekommen hat. Seitdem leidet sie an Albträumen. Abbie weiß Dinge, die nicht sie, sondern nur die Spenderin des Herzens wissen kann. Wer war die Spenderin, wie ist sie gestorben? Und hängt ihr Tod mit dem Mord an Abbies Vater zusammen? Meg muss alles daran setzen, einen Fall zu lösen, der rational nicht erklärbar scheint, bevor der Mörder erneut zuschlägt… "Eine beeindruckende neue Stimme im britischen Krimi" Daily Mail

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Seitenzahl: 505

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Roz Watkins

DAS BÖSE HERZ

Meg Daltons zweiter Fall im Peak DistrictRoman

Aus dem Englischen von Sylvia Spatz

FISCHER E-Books

Inhalt

PROLOGKAPITEL 1KAPITEL 2KAPITEL 3KAPITEL 4KAPITEL 5KAPITEL 6KAPITEL 7KAPITEL 8KAPITEL 9KAPITEL 10KAPITEL 11KAPITEL 12KAPITEL 13KAPITEL 14KAPITEL 15KAPITEL 16KAPITEL 17KAPITEL 18KAPITEL 19KAPITEL 20KAPITEL 21KAPITEL 22KAPITEL 23KAPITEL 24KAPITEL 25KAPITEL 26KAPITEL 27KAPITEL 28KAPITEL 29KAPITEL 30KAPITEL 31KAPITEL 32KAPITEL 33KAPITEL 34KAPITEL 35KAPITEL 36[Leseprobe: Roz Watkins – DAS KALTE ECHO]

PROLOG

Sie lag auf dem Rücken, auf hartem Stahl, so eiskalt, dass ihr die Luft wegblieb. Der Geruch von Desinfektionsmitteln brannte ihr in der Kehle. Sie konnte sich nicht rühren.

Sie versuchte zu schreien, sie sollten das lassen. Sie war am Leben, bei Bewusstsein, hatte alle ihre Sinne beisammen. Das konnte doch nicht wirklich geschehen. Aber sie konnte keinen Laut von sich geben.

Ein Mann mit einem Messer kam näher. In dem kalten Licht blitzte der Stahl auf. Warum nahm sie das alles noch wahr? Irgendwas lief hier schief.

Mit letzter Kraft versuchte sie, sich von ihm zurückzuziehen. Er kam noch ein bisschen näher.

An seiner Seite ein weiterer Mann. In einem grünen Gewand. Die Ruhe selbst. Sie waren alle völlig gelassen. Wie konnte das sein? Tränen rannen ihr übers Gesicht, weinen konnte sie noch, alles andere, Stimme, Arme und Beine waren außer Gefecht gesetzt.

Bitte, bitte, bitte lasst das!, flehte sie stumm. Hört auf. Ich kriege doch alles mit. Ich bin doch noch bei Bewusstsein. Aber es kam kein Laut.

Panik erfüllte sie, breitete sich in dem Raum aus. Das Messer kam näher, sie konnte sich nicht rühren, es war so weit.

Stahl drang an ihre Haut. Endlich gelang ihr ein Schrei.

Einer der Männer hielt ihr den Mund zu.

Der andere zielte auf ihr Herz.

KAPITEL 1

Die Frau packte meine Hand und zog mich tiefer in den Wald. Ihre Stimme klang panisch. »Sie war unterwegs zur Schlucht, die Leute von hier nennen sie Dead Girl’s Drop, die Schlucht der toten Mädchen.«

Das war beunruhigend, denn eigentlich neigen die Bewohner von Derbyshire nicht zu Übertreibung. Ich brüllte gegen den Wind an, gegen das Krachen der gefrorenen Zweige unter meinen Schuhen. »Was genau haben Sie gesehen?«

»Ich weiß genau, was Sie denken, aber ich hab mir das nicht eingebildet.« Der Wind fegte ihr Strähnen ihres dunklen Haares ins Gesicht. Sie musste um die vierzig sein, aber sie wirkte ausgelaugt, wie ein Kleidungsstück, das zu lange bei Wind und Wetter draußen gehangen hat. Sie zog einen gefleckten Windhund hinter sich her, der einen ähnlich verwaschenen Eindruck machte. »Ich hatte eigentlich mit einem richtigen Polizisten gerechnet.«

»Ich bin von der Polizei. DI Meg Dalton, erinnern Sie sich an mich? Wir tragen keine Uniform.« Es war egal, was ich anhatte, man traute mir meine Rolle ohnehin nicht zu. Elaine Grant nahm mich jedenfalls nicht für voll. Ich warf verstohlen einen Blick auf meine Uhr. Ein Anruf von meiner Mutter, ich musste sie so schnell wie möglich zurückrufen.

Elaine stolperte über einen Baumstumpf und drehte sich mit vorwurfsvollem Blick zu mir um. Im fahlen Morgenlicht verschwamm ihr Umriss. »Bleich wie ein Geist, auch mein Hund hat sie gesehen.«

Ich warf einen Blick auf den Hund. Er hechelte und sabberte leicht. Als Zeuge taugte er nicht viel, aber ich konnte mir nicht erlauben, dem Hinweis nicht nachzugehen. Ich zitterte vor Kälte und zog mir meinen Schal enger um den Hals.

»Sie meinen, in einem weißen Gewand? Aber da war auch Blut?«

»In einem Nachthemd, glaube ich. Es war ein Mädchen, es rannte zwischen den Bäumen hindurch, als sei ihm der Teufel auf den Fersen. Und ja, es war voller roter Flecken.«

Über uns rüttelte der Wind an den Ästen. Aus dem Augenwinkel nahm ich plötzlich eine Bewegung wahr – in einiger Entfernung leuchtete etwas hell. Mir stockte vor Schreck der Atem. »Steht hier im Wald nicht ein Haus?«, fragte ich. »Nur über eine kleine Straße zugänglich?«

Elaine machte noch ein paar Schritte, bevor sie antwortete. »Ja, Bellhurst House.«

Diese Adresse kannte ich. Die Bewohnerin des Hauses hatte mehrmals die Polizei verständigt, weil sie sich beobachtet fühlte, konnte aber keine genauen Hinweise geben. Nach ihrem ersten Anruf hatte man sich über sie lustig gemacht. Sie habe eine blühende Phantasie, hieß es. Oder sei scharf auf Männer in Uniform. Jedenfalls hatten wir sie nicht ernst genommen.

Elaine berührte mich leicht am Arm. »Haben Sie das Mädchen eben gesehen?«

Wir blieben stehen, alle Sinne gespannt. Der Hund gab einen kurzen beleidigten Laut von sich, eigentlich nur ein kurzes Knurren. Ein Zweig krachte, zwischen den Bäumen rannte etwas Weißes.

»Da ist das Mädchen!«, rief Elaine. »Los, schnell! Die Schlucht liegt da drüben. Es sind da schon Kinder reingefallen …«

Mir fiel wieder die entspannte Reaktion unserer Leitstelle auf den Anruf dieser Frau ein, unsere matten Antworten auf die Hinweise der Bewohnerin des Häuschens im Wald. Mir wurde mulmig. Ich stellte mir vor, wie ein kleines Mädchen über den Rand der Schlucht in den wilden Bachlauf darunter stürzte, in einem blutbefleckten Gewand, auf der Flucht – vor etwas, das uns bekannt sein sollte, das wir aber als nichtig abgetan hatten. Vielleicht war heute der Tag, an dem es ernst wurde.

Ich rannte humpelnd los, verfluchte meinen verkrüppelten Knöchel und dass ich den Einsatz nicht jemand anderem überlassen hatte. Diese Woche konnte ich eigentlich keinen neuen Fall mehr übernehmen.

Der Hund hechelte an meiner Seite, ihm schien die Verfolgungsjagd Spaß zu machen. Ich warf einen Blick über meine Schulter nach hinten. Falls das Mädchen vor jemandem flüchtete, wo blieb der Verfolger?

Ein Zaun, ein Schild: Privatbesitz. Gefährliche Steilhänge.

Elaine war mir schnaufend auf den Fersen geblieben.

Ich war bereits zur Hälfte über den Zaun geklettert, Stacheldraht pikste in meinem Schritt. »Haben Sie sonst noch jemanden gesehen?«

»Weiß nicht genau … ich glaube nicht.« Sie stand vornübergebeugt, die Hände auf die Schenkel gestützt, und keuchte, gut in Form war sie nicht gerade. »Über den Zaun schaffe ich es nicht«, sagte sie. »Ich habe ein verletztes Knie.«

»Dann warten Sie hier.« Ich eilte in die Richtung, wo ich den hellen Schimmer gesehen hatte. Der Hund setzte zirkusreif über den Zaun, riss die Leine mit und rannte mit mir davon.

In der Nähe der Felswand wurde der Wald lichter und das Tageslicht heller. Ich hörte Wasserrauschen aus der Tiefe, blickte mich nach allen Seiten um. Dort, links, schimmerte etwas durch die kahlen Zweige. »Hallo«, rief ich, »alles klar?« Ich eilte auf eine reglose, unheimliche weiße Gestalt zu.

Ich traute meinen Augen nicht. Eine Statue aus hellem Stein, die mit dem Untergrund verwachsen schien, als stünde sie seit Jahrhunderten dort. Ein weinendes Kind, dessen Tränen auf den grauen steinernen Wangen wie gefroren wirkten. Ich fluchte leise, mein Herzschlag beruhigte sich.

War da noch etwas? Es war schwierig, in diesem Zwielicht etwas zu erkennen.

Helle Baumwolle, ein Arm, eine weiße Gestalt, die wegrannte. Ich lief ihr nach. Vor mir eine weitere Statue. Diesmal ein Kind, den Mund zum Schrei aufgerissen, vor Schreck geweitete Augen. Es lief mir kalt über den Rücken.

Ich folgte dem Rauschen des Baches, einen von Gestein und Wasser zermalmten Mädchenkörper vor meinem geistigen Auge. Ein totes Kind auf dem Gewissen zu haben fehlte mir gerade noch. Nicht noch einmal. In der letzten Zeit hatte ich Fortschritte gemacht – hatte meine Zimmerdecken nicht mehr nach einer erhängten Schwester abgesucht oder Schlaftabletten gehortet. So sollte es auch bleiben.

»Hallo«, rief ich, »ist da jemand?«

Hinter einem Baum am Rand des Steilhangs lugte ein Gesicht hervor.

Das Mädchen war acht oder neun Jahre alt und trug nichts als ein Nachthemd auf dem Leib. Ein vor Angst und Kälte bleiches Gesicht, blondes Haar. Die fahle Bekleidung, die Farblosigkeit von Haut und Haar machten die roten Flecken umso auffälliger.

Ich ging auf das Kind zu, und es wich, mir weiter zugewandt, zurück, genau auf den dahinterliegenden Steilhang zu. Das Mädchen musste fast erfrieren vor Kälte. Ich versuchte, entspannt zu wirken, um ihr einen Eindruck von Sicherheit zu vermitteln.

Der Hund an meiner Seite hechelte laut nach seinem Waldlauf. Er machte ein paar Schritte in Richtung des Mädchens. Ich wollte ihn schon zurückrufen, aber sein Anblick schien das Kind zu beruhigen.

Der ganze Hund wackelte mit dem Schwanz. Das Mädchen streckte eine Hand aus und streichelte ihn. Ich erstarrte.

Es sah mich misstrauisch an. »Ich mag Hunde.« Ihre Stimme klang heiser als hätte sie gerade geschrien. »Darf aber keinen haben, die machen mich krank …«

»Bist du vor jemandem weggelaufen?« Ich musste sie unbedingt von dieser Kante weglocken, hatte aber das Gefühl, es wäre besser, Abstand zu ihr zu wahren.

Sie starrte mich aus Riesenaugen an und stand immer noch viel zu nah am Rand des Abgrunds.

Das Herz klopfte mir bis zum Hals. »Wollen wir ihn nach Hause mitnehmen, damit er was fressen kann?« Der Hund wedelte mit dem Schwanz. »Was meinst du?«

Sie machte einen Schritt nach vorn und streichelte den Hund sanft am Kopf. Unten im Bach fiel ein Stein ins Wasser. »Er muss was trinken«, flüsterte sie.

Elaine hatte recht gehabt, auf dem Nachthemd waren Blutflecken. Viele.

»Gut«, sagte ich. »Geben wir ihm was zu trinken und zu fressen, magst du?«

Das Mädchen nickte und entfernte sich vom Abgrund. Ich nahm die Leine auf und reichte sie ihr, in der Hoffnung, der Hund würde sofort Richtung Heimat zuckeln. Ich wollte, dass das Kind irgendwo im Warmen saß, bevor es völlig unterkühlt war oder Frostbeulen bekam, aber mein Bauch sagte mir, dass ich nichts überstürzen durfte.

Ich ging langsam weg, der Hund folgte mir und damit auch das Mädchen. Es hatte nichts an den Füßen, ein Zeh blutete.

»Wie heißt du?«

Ich rechnete nicht mit einer Antwort; das Kind trottete mit gesenktem Blick dahin.

»Abbie«, hörte ich nach einer Weile.

»Ich heiße Meg. Bist du vor jemandem weggelaufen?« Ich ließ meinen Blick zwischen den Bäumen schweifen.

»Mein Vater …«, flüsterte sie.

»Bist du vor ihm weggelaufen?«

Keine Antwort.

Ich versuchte, mich zu erinnern, was die Frau in dem Waldhaus bei ihren Anrufen genau gesagt hatte. Jemand sei hinter ihr her. Ziemlich vage. Außer ihr war niemandem etwas aufgefallen.

»Tut dir was weh? Darf ich nachsehen?«

Sie nickte. Ich ging in die Hocke und untersuchte sie auf Verletzungen. Von dem blutigen Zeh abgesehen, schien sie unversehrt, hatte aber Einstiche an den Armen. Die kannte ich von Drogensüchtigen, an einem so jungen Mädchen waren sie ungewöhnlich.

»Ich brauche meine Spritze«, sagte Abbie.

Was war bloß los mit ihr? Ich wurde wieder unsicher, griff nach meinem Funkgerät und rief einen Krankenwagen und Verstärkung.

»Da unten ist ein Bach«, sagte Abbie. »Er braucht was zu trinken.« Der Hund hechelte immer noch stark.

»Nein, Abbie, lass uns …«

Zu meiner Überraschung machte sie mit einem Mal eine Kehrtwende nach rechts.

»Das hat mir noch gefehlt«, murmelte ich.

Abbie rannte über den eiskalten Boden davon und zog den Hund in Richtung der blassen Steinskulpturen, ich hetzte ihr nach.

Am Rande einer Lichtung standen vier dieser Plastiken, weiß schimmernd im Winterlicht, alles Kinder in Abbies Alter oder etwas jünger, zwei weinten, die anderen beiden schrien. Ich rannte zwischen ihnen hindurch, sie waren mir unheimlich, und ich hatte das Gefühl, dass es sich nicht schickte, einfach an ihnen vorbeizuhetzen und ihren Schmerz zu ignorieren. Aber ich musste Abbie auf den Fersen bleiben.

Ich erblickte Abbie weiter vorn, sie stieg gerade in den Bach, der so kalt war, dass Stellen am Ufer vereist waren. »Nein, Abbie, komm mit mir!« Ich rannte zu ihr und zuckte beim Anblick ihrer mageren Beinchen in dem eiskalten Wasser zusammen.

Sie rief über die Schulter: »Er kann hier besser trinken.« Sie hielt die Hundeleine gepackt, als wäre das das Einzige, was zählte. Ihre Füße im eiskalten Bach, das Risiko von Unterkühlung, überlegte ich panisch, was war überhaupt passiert, war vielleicht noch jemand im Wald? Und dazu die Gewissheit, dass sie wegrennen würde, wenn ich auch nur einen falschen Schritt machte.

»Abbie, ich trage dich zu einer Stelle, wo er trinken kann. Einverstanden? Deine Füße sind bestimmt ganz wund und kalt. Wir lassen ihn schnell trinken, und dann gehen wir nach Hause und wärmen uns auf.«

Sie schaute erst auf ihre Füße, dann auf mich. Ihr Blick war besorgt, ihr Gesicht wies Blutspuren auf. Sie nickte und kam auf mich zu.

Ich wollte sie packen, aber sie wich seitwärts aus und fiel ins Wasser. Sie schrie auf.

Erschrocken zog ich sie hoch und nahm sie, klatschnass und vor Kälte mit den Zähnen klappernd, in den Arm. Ich zog schützend meine Winterjacke über sie und spürte, wie meine Klamotten nass wurden. Dann wickelte ich mir meinen Schal vom Hals und schlang ihn ihr lose um.

Ich stolperte durch den Uferschlamm, und brackiges Wasser durchnässte mir die Stiefel, bis ich weiter vorn ein breiteres Bachstück sah, wo das Wasser klar und hell dahinfloss. Der Hund tauchte seine Schnauze ein, trank einen Augenblick lang gierig und sah auf, als er fertig war.

»Okay, gehen wir.« Ich schob Abbie an meiner Hüfte etwas nach oben und humpelte in die Richtung zurück, aus der wir gekommen waren; meine klatschnasse Hose hielt sich kaum noch auf der Taille, meine Füße steckten in durchgeweichten Stiefeln, die schwer wie Blei geworden waren. Dazu zog der Hund an der Leine, und es war entsprechend mühsam, sich auf den Beinen zu halten. Zurück durch Uferschlamm, an den kalten Blicken der Statuen vorbei, und irgendwann hatten wir endlich den Zaun erreicht, wo Elaine auf uns wartete.

»Oh, Gott sei Dank«, rief sie, »sie ist wohlauf.«

Ich japste nach Luft. »Könnten Sie schon mal vorausgehen und bei sich zu Hause die Heizung voll aufdrehen? Der Krankenwagen braucht noch eine Weile, und wir müssten sie in Ihrem Haus aufwärmen. Sie ist völlig durchgefroren.«

»Soll ich ein Bad einlassen? Nicht zu heiß, vielleicht wie für ein Kleinkind?«

»Nein, nicht nötig, nur die Heizung ist wichtig.«

»Wie für mein Baby«, ihr Blick wurde sentimental, »mein armes Baby.«

Ich fasste sie leicht am Arm. »Ich komme mit dem Mädchen nach. Drehen Sie einfach die Heizung voll auf und legen Sie ein paar Decken und Jacken bereit, in die wir sie einwickeln können.«

Elaine nickte und half mir, Abbie über den Zaun zu hieven, und dann machte sie sich so gelassen auf den Heimweg, dass ich es kaum mit ansehen konnte.

Ich nahm Abbie wieder auf den Arm. »Es ist nicht weit«, sagte ich zu ihr, aber ich redete vor allem mir selbst gut zu. »Wir schaffen dich ins Warme.«

»Danke«, sagte sie kleinlaut. »Danke, dass ich den Hund trinken lassen durfte.«

Ihr Brustkorb hob und senkte sich viel zu schnell. Vielleicht schon erste Anzeichen von Unterkühlung. Ich drückte sie fest an mich und unter meine Jacke und zog den Schal etwas fester um ihren Hals.

Meine Füße schmerzten vor Kälte, nicht auszudenken, wie ihre sich anfühlen mussten. »Wo wohnst du, Abbie?«

»Im Wald.« Sie hatte ihre dünnen Ärmchen um meinen Hals geschlungen und war so zutraulich, dass mir vor Rührung die Kehle eng wurde. Sie legte den Kopf an meine Schulter. Ihre Stimme war kaum vernehmbar, als sie sagte: »Ich bin müde … kümmerst du dich um mich?«

Ich schluckte schwer, weil mir das Blut an ihrem Nachthemd einfiel. Auch ihr Haar roch danach. »Ja«, flüsterte ich und schob kurzerhand alle guten Gründe beiseite, nach denen ich ihr eigentlich nichts versprechen durfte. »Ich werde mich um dich kümmern.«

 

Irgendwann waren wir am Waldrand angekommen und überquerten die Straße zu Elaines Cottage. Ich hämmerte gegen die Tür, und sie flog sofort auf. Ich streifte mir die schmutzigen Stiefel und durchnässten Socken von den Füßen und folgte Elaine in ein schäbiges Wohnzimmer, wo ich Abbie aufs Sofa legte.

»Wickeln Sie das Mädchen in ein paar Decken«, sagte ich, »ich bin gleich wieder da.« Ich rannte barfuß über die Straße zu meinem Auto, um von dort einige Beweissicherungsbeutel zu holen, und schlüpfte außerdem in ein Paar trockene Turnschuhe, die ich instinktiv mitgenommen hatte. Meine Zehen fühlten sich an wie Eiszapfen, die man mit einem Reibeisen bearbeitet und anschließend vor eine Lötlampe gehalten hatte.

Zurück im Haus sah ich, dass Elaine das Kind in Handtücher gewickelt und mit weichen Decken zugedeckt hatte, die allerdings verdächtig nach Hundedecken aussahen. Ich nahm davon Abstand, daran zu schnuppern.

»Haben Sie trockene Kleidung für sie?«, fragte ich. »Damit wir ihr das nasse Nachthemd ausziehen können?«

Elaine zögerte. »Ich habe immer noch …«

Abbie sah aus ihrem Nest aus Decken auf und fragte nach dem Hund.

Elaine rief ihn herbei, und Abbie streichelte sanft seinen Kopf, wobei ihr fast die Augen zufielen; Elaine ging trockene Sachen für sie holen.

Das Wohnzimmer war sauber und aufgeräumt, wirkte aber seltsam unbewohnt, so als würde es seit Jahren nicht mehr benutzt. Am Fenster hinter dem Sofa fiel mir eine Sammlung von Puppen ins Auge, die aufgereiht in einem Regal saßen. Ich habe mit Puppen nie viel anfangen können und geschenkten Exemplaren im Dienste von Wissenschaft und Medizin stets Arme und Beine abgedreht. Diese Puppen hier machten einen seltsamen Eindruck. Ich ging auf das Regal zu, um sie mir näher anzusehen.

Eine Bodendiele knarzte, ich fuhr zusammen und drehte mich um. Elaine stand in der Tür und hielt einen blauen Schlafanzug aus weichem Stoff hoch. »Der hier?« Er musste einem Kind gehört haben, das älter war als Abbie.

Ich nickte, ging zu ihr, nahm ihr den Pyjama ab und setzte mich aufs Sofa zu Abbie. Ich wollte Elaine danken und sie fragen, ob sie ein Kind habe, aber nach einem Blick in ihr erstarrtes Gesicht hielt ich meinen Mund.

Ich überredete Abbie, das klatschnasse blutbefleckte Nachthemd auszuziehen und in den Schlafanzug zu schlüpfen. Sie hielt zähneklappernd meinen Schal umklammert. Ihr Nachthemd schob ich in eine der Asservatentaschen.

»Den hat meine Schwester Carrie für mich gestrickt.« Mittlerweile brachte ich es über mich, den Namen auszusprechen. »Als ich noch klein war. Es ist der längste Schal, den ich jemals gesehen habe.«

Abbie drückte den Schal an eine Wange, schloss die Augen und sank zurück aufs Sofa.

Ich sah zu Elaine. »Wissen Sie, ob sie im Bellhurst House zu Hause ist? Sie hat gesagt, sie wohne im Wald, aber sie ist ein bisschen durcheinander.«

Elaine sah mich ausdruckslos an. »Ich glaube schon. Den Bewohnern gehört das Stück Land bis zum Steilhang.«

Mein Herz flatterte, wieder diese alten Gewissensbisse. Was genau hatte diese Frau aus Bellhurst House bloß gemeint? Ein Unbekannter im Wald, der in ihre Fenster starrte, ihr folgte. Sie lebte nicht allein, daran erinnerte ich mich, es gab auf jeden Fall einen Ehemann, vielleicht auch Kinder.

»Wohnst du im Bellhurst House, Abbie?«

Sie nickte.

»In der Nacht ist ein Auto dahin gefahren«, sagte Elaine. »Ich lag wach, konnte nicht schlafen. Ich dachte mir nichts dabei. Aber jetzt frage ich mich …«

»Um welche Uhrzeit?«

»Ich bin nicht ganz sicher, vielleicht gegen drei, vier?«

»Erinnerst du dich an die letzte Nacht, Abbie? Weißt du, woher das Blut an deinem Nachthemd stammt?«, fragte ich das Mädchen.

Sie beugte sich zum Hund hinunter und schlang ihm die Arme um den Hals. Er sah mich ergeben an. Abbie flüsterte ihm ins Ohr, ich verstand nicht viel, von dem was sie sagte. »Alle sterben, Jess. Und Dad …«

Ich schaute auf ihr blutbeflecktes Haar. »Wer ist Jess?«

»Meine Schwester.«

Ich malte mir aus, wie Schwester und Vater dort draußen im Wald verbluteten, inmitten der verschreckten Kindergestalten aus Stein. »Und wo sind deine Schwester und dein Vater jetzt, Abbie?«

Keine Antwort. Sie schloss die Augen und ließ sich gegen mich fallen.

Mein Blick wanderte wieder zu den Puppen.

Ein Gefühl, als hätte jemand mit eiskalten Fingern meinen Nacken berührt.

Es lag an den Augen.

Einige der Puppen hatten ganz weiße Augen, ohne Pupille oder Iris. Bei anderen war die Iris so weit hochgerutscht, dass man nur noch ein Stück sehen konnte, als wäre der Blick nach oben verdreht.

Ich wandte mich ab und spürte, wie Abbies weicher Mädchenkörper sich an mich schmiegte.

KAPITEL 2

Mein Wagen kam auf dem vereisten, mit Naturstein gepflasterten Hof vor dem Säuleneingang von Bellhurst House zum Stehen. Die Verstärkung war noch nicht eingetroffen, der Ort verlassen. Ich hatte Abbie mit einem Kollegen bei Elaine zurückgelassen, machte mir aber große Sorgen um den Rest der Familie. Vielleicht lagen sie im Haus, halb erstickt und blutüberströmt. Ich sprang aus dem Auto.

Das Haus im viktorianischen Stil erinnerte an eine mittelgroße Anstalt für psychisch Kranke. Ein Ort zum Fürchten, mit kalten Nischen und Räumen, die nicht einmal Katzen betraten. In der Mitte befand sich ein Turm mit einem runden Spitzdach, und zu beiden Seiten Flügel mit Erkerfenstern und ebenfalls spitzen Dächern.

Ich schlug den Türklopfer, ein Löwenkopf aus Messing, gegen die Eichentür. Keine Antwort, doch als ich leicht gegen die Tür drückte, öffnete sie sich und gab den Blick auf einen schmalen Flur frei. Ein bemaltes Glasfenster ergoss seine bunten Farben über einen Teppich. Ich blieb kurz stehen und lauschte, eigentlich hätte ich das Haus nicht alleine betreten dürfen.

Ich betrat den Flur. »Polizei! Ist da jemand?«

Keine Antwort. Im Haus herrschte dröhnende Stille.

Ich inspizierte die Räume im Erdgeschoss – augenscheinlich war eingebrochen worden: in einer Abstellkammer bemerkte ich ein aufgebrochenes Fenster und geborstenes Glas, das unter den Sohlen knirschte – aber das beschäftigte mich im Augenblick nicht.

Die Treppe nach oben war schmal, ihre Stufen hatten alle unterschiedliche Höhen, was das Hinaufgehen nicht einfacher machte. Sie führte auf einen Flur, in dem es nach gebrauchten Büchern und feuchtem Metall roch. Ich lief über die knarzenden Dielen und streckte meinen Kopf in den ersten Schlafraum. Es musste sich um Abbies Zimmer handeln, oder vielleicht das von ihrer Schwester, denn alles war in dem bei kleinen Mädchen so beliebten Rosa und Lila gehalten, was ihre feministisch angehauchten Mütter oft zur Verzweiflung brachte. Ich ließ meine Blicke schweifen – kein Blut – und zog mich wieder in den Flur zurück. Die nächste Tür führte in ein größeres Zimmer.

Ich erstarrte. Ein Mann lag rücklings auf einem Doppelbett. Die Wand neben ihm war mit Blut bespritzt – mit schweren Blutstropfen, die nach unten verliefen. Auch das weiße Federbett, die Laken und der beigefarbene Teppich neben dem Bett waren besudelt. Das Blut war frisch, sein metallischer Geruch drang mir in die Nase.

Ich stürzte zu ihm und fühlte seinen Puls, obwohl mir klar war, dass er nicht mehr lebte. Abbie fiel mir ein, und ich war so verzweifelt, dass mir die Knie weich wurden. War das hier ihr Vater?

An den Anblick von Toten hatte ich mich immer noch nicht gewöhnt, er versetzte mich stets in Schockstarre. Seine Familie würde fortan mit seinem Tod leben müssen, Abbie würde ihr Leben lang eine Tochter sein, deren Vater ermordet worden war, vielleicht war sie sogar Augenzeugin dieses Mordes.

Ich betrachtete das Gesicht des Mannes, einen Augenblick lang sollte er für mich ein Mensch sein, bevor er zu seinem Fall wurde, ein Mord, den es zu lösen galt, ein Verbrechen, das man von allen Seiten analysierte.

Ich erlaubte mir einen kurzen Moment der Trauer und des Mitgefühls, dann atmete ich tief durch und zwang mich zur Berufsroutine.

Ich untersuchte die Wände. Das Blut stammte aus einer Arterie – man konnte das zweifelsfrei an dem Muster erkennen, mit welchem das Herz bis zuletzt Blut gegen die Wand gepumpt hatte. Ich warf einen Blick auf die Kehle des Mannes – die Luftröhre war durchtrennt worden. Er lag auf weißen Laken, spektakulär eingerahmt von seinem leuchtend roten Blut, den Kopf nach hinten in die Kissen gepresst.

Mein Blick wanderte durch den Raum, ein Fenster stand offen, Schubladen waren herausgerissen und umgekippt worden, ihr Inhalt über den Boden verteilt. Ein Foto auf dem Nachttisch zeigte vor blauem Meer ein in die Kamera lächelndes Paar. Der Mann auf dem Foto und der auf dem Bett waren identisch. Ich musste wieder an Abbie denken, in Decken gehüllt, den Hund im Arm, Blut im Gesicht. Der Raum schwankte wie bei schwerem Seegang. Hatte sie den Mord mit angesehen?

Wo war ihre Schwester? Wo ihre Mutter?

Ich musste raus aus dem Zimmer und den Tatort sofort sichern. Ich dachte an alles, was hier zu tun war, und spürte den bekannten Druck, bloß nichts falsch zu machen. Um der Angehörigen willen, für Abbie.

Vorsichtig verließ ich das Schlafzimmer und inspizierte den Rest des Gebäudes. Angespannt öffnete ich jede Tür und betete, die tote Schwester oder Mutter möge nicht dahinter sein. Doch da war niemand. Ich meldete den Mord in der Zentrale und ging zu meinem Wagen hinaus

Ich schrak zusammen, als ich knirschenden Kies und Reifengeräusche hörte. Ein schwerer SUV kam über den Zufahrtsweg zum Haus gebraust und auf dem gepflasterten Hof zum Stehen, ganz knapp vor meinem Auto. Eine Frau sprang heraus und rannte auf mich zu. Sie kam mir bekannt vor, es war die Frau vom Foto, nur ohne Sommerbräune. »Was ist los?«, rief sie. »Wo ist Abbie? Was haben Sie mit ihr gemacht?«

Sie wollte an mir vorbeirennen.

Ich griff nach ihrem Arm. »Sie können jetzt nicht …«

Sie riss sich los. »Wo ist Abbie?«

»Bleiben Sie stehen! Sie können jetzt nicht ins Haus.« Ich stellte mich ihr in den Weg. »Abbie geht es gut, sie ist nicht hier.«

Sie wollte sich an mir vorbeischieben, und zwar so gewaltsam, dass ich mich genötigt sah, sie zurückzudrängen. Sie blieb mit ihrem Absatz an einem der Pflastersteine hängen, fiel nach hinten und plumpste auf den Hintern. Ich bot ihr meine Hand an, aber sie sprang ohne meine Hilfe auf.

Ich merkte noch, wie sie ausholte, und dann sah ich Sternchen und brach auf dem eisigen Boden zusammen.

 

Ich öffnete die Augen. Dieser Faustschlag hatte gesessen. Natürlich rückten alle genau in diesem Augenblick an – der Gerichtsmediziner, die Truppe von der Spurensicherung, die halbe Polizeimannschaft von Derbyshire und DS Craig Cooper – der hatte mir am meisten gefehlt. Ich rappelte mich auf und versuchte, ein möglichst gelassenes Gesicht zu zeigen.

Craig sprang aus seinem Wagen. »Mein Gott, was ist passiert?«

Ich wies in Richtung Haus. »Die Frau des Opfers ist da drin, schaff sie raus.«

Ich tastete die Partie oberhalb des Wangenknochens ab. Manchmal sah man es kommen, aber sie war eigentlich nicht der angriffslustige Typ. Jetzt war sie im Haus und allfällige Spuren am Tatort nicht mehr zu gebrauchen.

Ich rüttelte mich im Schutz des Hauses zurecht, so gut es ging. Mein Knöchel pochte, ich musste ihn beim Sturz geprellt haben. Als Kind hatte ich ihn mir gebrochen, und er war schlecht verheilt. Ein großes Stück Knorpel behinderte mich bei den Bewegungen, außerdem hinkte ich leicht und entsprach somit nicht dem Bild der schicken TV-Kommissarin.

Craig tauchte wieder auf und führte die Ehefrau des Opfers heraus. Ihr Haar und ihre Kleidung waren blutbeschmiert, und als sie im Freien war, blieb sie vornübergebeugt stehen und schluchzte. Craig schüttelte leicht den Kopf und rollte die Augen gen Himmel.

Die Frau riss sich von Craig los, stand schwer atmend da und gewann langsam ihre Fassung wieder. »Wo ist Abbie? Wo ist mein kleines Mädchen?«

»Sie ist bei einer Nachbarin, eine Polizistin ist bei ihr. Es geht ihr gut.«

Die Frau schniefte laut und atmete noch ein paarmal durch den offenen Mund ein. »Ich habe der Polizei gemeldet, dass jemand uns ständig beobachtet hat. Ich habe es euch gesagt, aber niemand hat mir geglaubt. Oh, mein Gott …« Sie beugte sich wieder nach vorn und hielt sich den Bauch.

»Wir werden Sie dazu noch befragen«, sagte ich freundlich und ging auf ihre implizite Kritik nicht ein. »Aber ich muss erst noch ein paar Dinge erledigen, dann bringe ich Sie zu Abbie.«

Sie lehnte sich an einen der Pfeiler am Eingang.

»War noch jemand anderes im Haus?«, fragte ich. »Abbie hat etwas von einer Schwester gesagt.«

»Da ist niemand sonst.« Die Frau schluckte schwer und schien zusammenzuschrumpfen. »Jess ist vor Jahren gestorben.«

Ich wollte etwas sagen, brachte aber keinen Ton heraus. Craig nahm ihren Arm und führte sie weg.

Ich vergewisserte mich, dass der Tatort nach allen Seiten abgesperrt war, wie es sich gehörte, und ging ins Haus zurück, um mich noch einmal gründlich umzusehen.

An dem Flur lag ein Abstellraum, in dem es, wie oft in alten Häusern, muffig und schimmelig roch. Das Glas war eingeschlagen, die Verriegelung gelöst und das Fenster von außen geöffnet worden. Das Haus hatte immer noch Originalfenster aus Holz, und die Einbrecher hatten leichtes Spiel gehabt. Ein gutes Argument für Doppelfenster aus PVC – die machten Gaunern das Leben schwerer, und an Plastik blieben auch Spuren viel besser haften als auf Holz.

Die Küche wirkte ländlich, mit einem Terrakotta-Boden und einem Metzgerblock in der Mitte, auf dem man größere Tiere zerteilen konnte. Der Raum war aufgeräumt und wurde offenbar genutzt, denn am Kühlschrank prangten Magnetbuchstaben und eine ziemlich gute Zeichnung von einem Hundekopf. Und in einen aktuellen Wandkalender waren Schulausflüge und Ballettstunden eingetragen. Ich warf einen Blick auf das aktuelle Datum – Rachel von Mum zurück. Wie bedrückend waren doch diese Kalender von Toten, in denen der Alltag einfach weiterging wie geplant.

In dem Messerblock auf der Arbeitsfläche fehlte eines der teuren Schneidegeräte, und falls sie in Reih und Glied geordnet gewesen waren, war es das größte. Ich schaute mir die verbliebenen an – alle waren superscharf.

Das Wohnzimmer wies keine Einbruchsspuren auf. Fernseher und Laptop waren an ihrem Platz, dazu der gewöhnliche Krimskrams einer Familie. Ein Block, Bleistifte, ein Thriller, in dem es um U-Boote ging, ein Dokumentenstapel, der nach Arbeit aussah, und ein Paar scheußliche Turnschuhe.

In dem kleinen Arbeitszimmer nebenan herrschte dagegen Chaos. Jemand hatte die Schubladen aus dem antiken Schreibtisch herausgezogen und umgekippt, und auf dem Boden waren überall Dokumente verstreut. Ich nahm einige Blätter zur Hand, obwohl ich nicht recht wusste, wonach ich eigentlich suchte, und natürlich auch keine Ahnung hatte, wonach andere gesucht hatten. Ich bemühte mich, in dem allgemeinen Chaos die Anwesenheit eines Mörders zu erahnen.

Ich musterte die Bücherregale. Thriller für männliche Leser, Nachschlagewerke, ein paar Ratgeber, darunter ein Buch mit dem Titel You Become What You Believe, der unter den gegebenen Umständen von einer geradezu tragischen Ironie war. Im unteren Bereich des Regals bemerkte ich eine Karte, die gegen die Bücher gelehnt war und auf der Vorderseite ein Kätzchen zeigte. Ich nahm sie mit meiner Latex-Hand und schlug sie auf. Vielen Dank, dass Sie sich bei uns gemeldet haben. Es hat uns sehr gefreut. Wir kennen Ihre Adresse nicht und dürfen Ihnen unsererseits nicht verraten, wo wir wohnen, aber es ist uns ein Trost, dass diese furchtbare Tragödie wenigstens etwas Gutes hatte. Ich steckte sie in eine Asservatentasche.

Ich bemerkte in einer Zimmerecke eine Tür. Die räumliche Anordnung dieses Gebäudes war mir ein völliges Rätsel. Ich schob sie auf und stand in einem hellen Zimmer mit Ausblick auf den Garten.

Von draußen fiel grünliches Licht herein. An den Wänden standen Bänke, auf denen verstreut Zeichnungen herumlagen. Ich betrachtete sie. Ein mit Kohle gemaltes Herz, aus dem Schlangenköpfe lugten, wobei der Herzmuskel und die Tierhälse ineinander verschmolzen waren und der Eindruck entstand, das Herz würde zucken. Ein weiteres Herz, diesmal in zwei Hälften geteilt, aus dem Zwischenraum quoll Blut hervor. Aus einem dritten Herz starrte mich ein einsames Auge an und schien mir zu folgen, während ich die Bänke abschritt. Ich bekam eine Gänsehaut. Diese Zeichnungen waren Beweismaterial, kein Zweifel.

Das rosa Zimmer im oberen Stockwerk hatte nichts Auffälliges zu bieten, jedenfalls keine Blutspuren. Es war ein gewöhnliches Mädchenzimmer – ein weiterer Zeichenblock, an den Wänden Bilder von Pferden, ein Globus auf einem buntgestrichenen Schreibtisch, über eine Seite des Bettes hing ein hellviolettes Federbett, am Boden lag ein Plüschelefant. Auf dem Nachttisch fiel mir eine Schneekugel auf, farbige Kristallsplitter glitzerten in einem eiförmigen Steinbrocken. Als Kind hatte auch ich mich für bunte Steine interessiert.

In dem großen Schlafzimmer roch es metallisch und süßlich, und mir stockte kurz der Atem. Die Gerichtsmedizinerin war bereits da. Mary Oliver. Seitdem ich im vorigen Jahr nach Derbyshire gekommen war, hatten wir bereits mehrfach Gelegenheit gehabt, unsere Bekanntschaft in der Gegenwart von Leichen zu vertiefen. Wir teilten ein Interesse an seltenen Krankheiten und eine peinliche Vorliebe für die Sendung Child Genius.

Durch die klaffende Halswunde des Mannes schimmerte weißlicher Knochen, und ich musste unwillkürlich an die Schlachthaus-Fotos von Tierschutz-Aktivisten denken. »Ist der Schnitt an der Kehle die Todesursache?«

»Wahrscheinlich. Nach der Autopsie weiß man mehr.«

»Ist die Luftröhre durchtrennt worden?«

»Ja, ein glatter Schnitt, und zwar mit einer nach vorne gerichteten Bewegung. Wenn ich richtig sehe, hat der Mörder zwei Mal zugestochen. Deswegen auch die Blutspritzer.«

»Braucht man für diese Art von Schnitt anatomische Kenntnisse?«

»Nein, blindes Drauflosstechen tut es auch, auch wenn man dann vielleicht etwas Glück braucht, um die richtige Stelle zu treffen.« Sie zögerte und schaute mich an. »Oder Unglück, je nachdem, aus wessen Perspektive man es betrachtet.«

»Todeszeitpunkt?«

»Schwer zu sagen, wie Sie bereits ahnen.«

»Aber …«

»Seine Unterarme sind kühl. Von seiner Körpertemperatur und den Totenflecken her würde ich sagen, zwischen zwei und fünf Uhr morgens. Er ist seit seinem Tod nicht mehr bewegt worden. Wie immer sind das natürlich alles nur vorläufige Informationen.«

»Gut. Hat er sich gewehrt?«

»Ich würde sagen, er hat tief geschlafen und hat das Bewusstsein vermutlich nicht mehr wiedererlangt. Nicht sehr schön.«

Wenn Mary das schon sagte, dann war der Fall wirklich scheußlich. Sie war einiges gewöhnt.

»Es handelt sich mithin um eine vorsätzliche Tötung, ist das richtig?«

»Im Augenblick kann ich keine Hinweise auf Selbstverteidigung entdecken. Hier ist kein Einbrecher auf frischer Tat ertappt worden, und es handelt sich auch nicht um einen typischen Fall von häuslicher Gewalt. Zu dumm, dass die Ehefrau reingeplatzt ist und alle Spuren kontaminiert hat.«

»Ich weiß.« Ich hatte wirklich alles drangesetzt, um sie davon abzuhalten, und dafür bezahlt. Trotzdem fühlte ich mich wie üblich verantwortlich für die Misere. »Das Mädchen wies ebenfalls Blutspuren auf, und damit nehme ich an, dass sie hier war und alles gesehen hat.« Ich versuchte, mir kurz vorzustellen, wie Abbie sich wohl gefühlt hatte. Ich war ungefähr so alt gewesen wie sie, als ich meine Schwester erhängt in ihrem Zimmer auffand. Hoffentlich würde Abbie mit Mitte dreißig ihre Horrorerinnerungen überwunden haben. »Man bekommt nicht viel aus ihr heraus.«

Mary sah mich stirnrunzelnd an. »Hat man die Waffe gefunden?«

»Nein. Wonach sollen wir suchen?«

»Nach einem sehr scharfen spitzen Messer.«

»Könnte es sich um eine Täterin handeln?«

Ich hatte gar nicht bemerkt, dass Craig sich hinter meinem Rücken angeschlichen hatte. Er war ein Klotz von einem Mann, aber in diesem Fall erstaunlich leise. Ich trat ein wenig zur Seite, damit er ins Zimmer blicken konnte.

»Craig möchte wissen«, erklärte ich, »ob jemand, der nur über geringe Muskelkraft verfügt, die Tat begangen haben könnte.«

»Kein Grund, gleich eingeschnappt zu sein«, sagte Craig. »Frauen verfügen nun mal über geringe Muskelkraft.«

»Ich wäre vorsichtig mit solchen Urteilen«, sagte ich. »Versuche mal, meine Freundin Hannah im Armdrücken zu schlagen. Wie auch immer, ich sehe, du gehst von einem Täter aus.«

»Ganz im Gegenteil«, sagte Craig. »Wahrscheinlich war es die Ehefrau des Toten.«

Wahrscheinlich ließ diese Vermutung mehr Rückschlüsse auf Craigs Ehe zu als auf die Täterschaft, aber das behielt ich lieber für mich.

»Für diesen Mord war nicht viel Körpereinsatz erforderlich«, sagte Mary. »Der Täter hat vor allem nach vorne zugestochen und weniger durchtrennt. Auch eine schwache Frau hätte das geschafft.«

Sie lächelte mir solidarisch zu.

Ich nickte dankbar in ihre Richtung und ließ noch einmal kurz den Blick durch den Raum wandern. Irgendwas stimmte nicht. Die herausgezogenen Schubladen, die verstreuten Klamotten – nichts davon hatte überzeugende Aussagekraft. Ich konnte mir nicht vorstellen, dass hier ein Einbrecher durchgestürmt war.

Vom Schlafzimmer ging ein Bad ab. In der Duschkabine und auf dem Fußboden waren Wassertropfen, als hätte jemand in den vergangenen Stunden geduscht.

Draußen auf dem Treppenabsatz fiel mir auf dem Fensterbrett, fast vollständig von der Gardine verdeckt, etwas auf, das mich auf den ersten Blick an eine Vase erinnerte. Doch dann bemerkte ich, dass es sich um eine Skulptur aus hellem Holz handelte. Ich besah sie näher – es war eine Miniaturversion von einer der steinernen Plastiken draußen in der Waldlichtung – ein schreiendes Kind. Das gleiche verzerrte Gesicht, bei dem mir die Haare zu Berge standen. Aber es gab auch einen Unterschied – dieses Kind hier war unbekleidet, und wo das Herz hätte sein sollen, war das Holz ausgehöhlt, und es klaffte ein Loch in der Kinderbrust.

KAPITEL 3

Draußen auf dem Hof traf ich Craig, der die Fassade hinaufblickte. Sein Atem schwebte als Wolke vor dem Mund. »In diesem Haus können nur Verrückte wohnen.«

Der gute alte Craig. Immer aufseiten der Opfer. Aber er hatte recht, eigentlich mochte ich diesen Haustyp, war aber nicht sicher, ob ich hier, derart abgeschieden und mitten im Wald, gerne gewohnt hätte, auch ohne Leiche im Schlafzimmer. Ich blickte auf den Turm in der Mitte des Gebäudes, seine Spitze ragte in den Morgenhimmel. »Man sieht förmlich die Gesichter von toten Kindern in der oberen Fensterreihe«, sagte ich, weil ich einen Augenblick lang Craigs Anwesenheit völlig vergessen hatte.

»Du hast nicht gerade einen deiner verrückten Momente, oder?«

Ich überhörte diese Bemerkung geflissentlich. Leider wusste er, dass ich in meinem letzten Job in Manchester wegen Stress beurlaubt gewesen war. Eigentlich konnte er sich nicht erlauben, so mit mir reden, denn ich stand rangmäßig eine Stufe über ihm. Ich wusste nicht, wie ich ihm das klarmachen sollte, ohne richtig unangenehm zu werden. Falls enge Zusammenarbeit irgendwann unvermeidlich war, würde ich Gelassenheit lernen müssen. Einstweilen atmete ich tief die bitterkalte, von Tannenduft durchtränkte Luft ein und versuchte, an etwas Nettes zu denken und mir nicht auszumalen, wie ich ihm eins in seine blasierte Fresse gab.

»Das Mädchen ist wieder hier«, sagte er. »Es sitzt mit der Mutter und Sanitätern im Krankenwagen. Das Opfer heißt Philip Thornton, seine Frau heißt Rachel Thornton. Sie behauptet, die vergangene Nacht bei ihrer Mutter verbracht zu haben, die sie gegen neun Uhr verließ, um nach Hause zu kommen. In Matlock hat sie getankt, das haben die von der Tankstelle bestätigt. Wann ist er gestorben?«

»Zwischen zwei und fünf Uhr, nimmt Mary an.«

»Wie kommt es eigentlich, dass du am Boden lagst, bist du hingefallen?«

Ich sagte nichts; ich hatte beschlossen, den Faustschlag ins Gesicht nicht zu erwähnen. Das hätte Craig gerade so gepasst.

»Ich glaube, sie war es, die bei uns angerufen hat, weil sie sich verfolgt fühlte«, sagte ich.

Craig seufzte theatralisch. »Na, super. Dann haben wir jetzt diesen armen Kerl auf dem Gewissen.«

 

Ich kletterte in den Krankenwagen. Abbie kauerte auf einem schweren grün gepolsterten Stuhl, die Beine eng an die Brust gepresst und den Körper vor- und zurückwiegend, und sah klein und verloren aus. Den Schal meiner Schwester hatte sie immer noch. An ihrer Seite saß die Mutter, aber zwischen ihnen gab es einen Abstand, der sich auch anderweitig bemerkbar machte, so blickte die Frau ihre Tochter niemals direkt an und hielt sich leicht von ihr abgewendet.

Ich konnte den Fall nicht übernehmen – er würde von einem Kollegen weiterbearbeitet werden –, aber in der Anfangsphase war jede Information wichtig, und so fiel es mir zu, die Ehefrau zu befragen. Unmittelbar nach einer Horrortat lieferten Verwandte oft entscheidende Hinweise, ohne dass man sich groß bemühen musste.

»Ms Thornton«, sagte ich. »Es tut mir leid, Sie stehen sicher unter Schock.«

Sie sah zu mir auf, ihr Blick war ausdruckslos. »Rachel, bitte.«

Ich setzte mich neben sie. Ihr Ungestüm war verflogen, und sie wirkte resigniert und erschöpft.

»Ich bin DI Meg Dalton«, sagte ich. »Ich muss Ihnen ein paar Fragen stellen. Es ist nicht einfach für Sie, ich weiß, aber je eher wir es hinter uns bringen, desto besser.«

Rachel rückte unmerklich von mir ab, verringerte aber nicht die Distanz zu Abbie. »Ich habe Ihnen doch gesagt, dass jemand mir gefolgt ist.« Sie schniefte und wischte sich mit einem Taschentuch die Nase.

Abbie hielt die Augen geschlossen und hatte den Kopf gegen die Innenseite des Krankenwagens gelehnt, ihr blutverschmiertes Haar fiel über die Rückenlehne. Ich hätte gern dafür gesorgt, dass man sie sauber und warm hielt und man sich gut um sie kümmerte. Aber angeblich waren Experten auf dem Weg, die sich mit Kindern auskannten; sie würden das übernehmen und gleichzeitig sicherstellen, dass keine Indizien verlorengingen.

Rachel kämmte sich mit blutverschmierten Fingern das dunkle Haar. Wimperntusche war ihr über die Wangen geronnen.

»Können wir draußen weiterreden?«

Sie nickte. Wir ließen Abbie im Krankenwagen zurück, wo sich die Sanitäter um sie kümmerten, und gingen ein Stück den Weg hinunter, der vom Haus in den Wald führte.

Ich spürte die eisige Kälte des Bodens durch die Sohlen meiner Turnschuhe, auch die Luft war schneidender als sonst. Ich musste daran denken, wie Abbie mit bloßen Füßen in den Bach gewatet war, und hoffte, die Sanitäter würden sie gut versorgen.

»Also, erzählen Sie mir von der Person, die Ihnen gefolgt ist.«

Rachel atmete stockend ein und schluckte schwer. »Niemand hat mich ernst genommen. Ich habe Ihren Kollegen davon erzählt, aber sie haben sich nicht darum gekümmert.«

»Haben Sie eine Ahnung, wer die Person gewesen sein könnte?«

Wir gingen langsam, Rachel schlurfte, als seien ihre Füße taub. »Ich habe niemanden erkannt, ich habe die Person immer nur ganz kurz gesehen und gespürt, dass ich beobachtet wurde, wenn ich das Haus verließ oder im Wald spazieren ging.« Sie schniefte und wischte sich übers Gesicht. »Einmal hatte ich sogar den Eindruck, jemand würde uns im Auto folgen.«

»Können Sie sich erinnern, welcher Autotyp das war?«

Sie schüttelte den Kopf. »Nein, tut mir leid.«

»Schon gut. Sie machen das sehr gut.«

Sie blieb abrupt stehen und blickte zu Boden. »Wie soll ich damit fertig werden? Ich habe keine Ahnung, wie ich das alles überstehen soll.«

Was sollte man darauf sagen? Ein Frau über vierzig, mit einer kleinen Tochter, der Mann tot. Ich hatte keine Ahnung, wie man so etwas überstand.

»Dort steht eine Bank«, sagte ich. »Wollen wir uns kurz setzen, wenn es Ihnen nicht zu kalt ist?«

»Mir ist nicht zu kalt, ich spüre nichts mehr. Ich könnte in einen See waten, auf dem Eisschollen treiben, und würde nichts spüren.«

Wir gingen zu der Bank, sie stand in der Lichtung mit den Skulpturen.

»Gehört das Stück Wald hier Ihnen?«, fragte ich. »Was ist mit diesen Plastiken?«

Sie schaute sie kurz an, seufzte auf und nickte langsam. »Furchtbare Dinger.«

»Sind sie alt?«

»Aus der Viktorianischen Zeit, glaube ich.«

Am Sockel der Skulptur in unserer unmittelbaren Nähe prangte ein Schild. Ich beugte mich vor. Für all die Armen und Schwachen, die für Starke und Reiche ihr Leben lassen mussten, stand dort zu lesen. Ziemlich traurig.

Ich warf einen Blick auf Rachel. Sie war sichtlich erschüttert, schien aber trotzdem stabil. »Nur noch ein paar weitere Fragen. Ist Ihnen das recht?«

»Schon gut.« Sie starrte geradeaus, als wäre sie selbst zu einer Skulptur geworden. »Ich glaube, ich habe noch gar nicht richtig begriffen, was passiert ist.«

»Danke für Ihre Bereitschaft, gleich gehen wir zu Abbie zurück. Erinnern Sie sich, wann Sie das erste Mal bemerkten, dass Ihnen jemand folgte?« Ich vermied die Formulierung, als Sie das erste Mal glaubten, dass Ihnen jemand folgte, oder etwas Ähnliches, das ihre Aussage in Zweifel zog.

»Vor ein paar Monaten. Ich habe mich gefragt, ob es etwas mit Phils Arbeit zu tun haben könnte. Er ist Sozialarbeiter, und manche Eltern können ziemlich unangenehm werden. Aber Phil glaubte nicht daran.«

Ich setzte mich so hin, dass ich ihr ganz zugewandt war. »Was glaubte er denn?«

Sie schwieg, und ihr Blick erstarrte. Als sie dann sprach, klang ihre Stimme belegt. »Er hat mir nicht geglaubt, er dachte, ich hätte mir alles nur eingebildet. Was für eine Ironie.« Sie verzog ihren Mund fast zu einem Lächeln und spielte mit dem Ehering, den sie am Finger hin- und herdrehte. »Aber in der letzten Zeit war er ohnehin komisch. Er verschwand ein paarmal, ohne mir zu sagen, wohin. Er tat recht geheimnisvoll.« Sie setzte sich gerade hin und wirkte lebhafter, als dämpfte die Erinnerung an das merkwürdige Verhalten ihres Mannes ihren Schmerz. Sie holte tief Luft und sah mich an. »Trotzdem liebe ich ihn. Wirklich.«

»Gut«, sagte ich. »Danke schön. Ich muss nur noch wissen, wo Sie heute Morgen waren.«

Sie zog ein Taschentuch aus ihrer Jackentasche und putzte sich geräuschvoll die Nase. »Das hat mich Ihr Kollege auch schon gefragt. Ich war bei meiner Mutter, das war seit langem geplant gewesen. Phil und Abbie sind früher nach Hause gefahren, und ich blieb noch ein paar Tage länger, um meiner Mutter zu helfen. Es ging um Testamentsangelegenheiten und dergleichen.«

Das war für mich immer das Schlimmste bei Ermittlungen. Das Leben dieser Frau hier neben mir auf der eiskalten Bank war gerade in tausend Stücke zerbrochen. Ich konnte ihren Schmerz nur erahnen, aber er war mir doch vertraut. Und gleichzeitig analysierte ich sie und fragte mich, ob sie als Täterin in Frage kam, ob sie ihrem Mann das Messer in die Kehle gerammt hatte. »Dann waren Sie also vergangene Nacht bei Ihrer Mutter und sind heute Morgen nach Hause gekommen?«

»Ja, wenn ich fort bin, telefonieren Phil und ich immer am Morgen. Aber er hat nicht geantwortet, auch nicht auf meine SMS reagiert. Ich war zwar noch nicht in Panik, weil er und Abbie beide regelmäßig Schlaftabletten nehmen, aber beunruhigt war ich doch. Und so habe ich mich auf den Heimweg gemacht. Und als ich dann hier ankam, traf ich Sie an und …«

Ich wartete, aber sie fuhr nicht fort.

»Wo lebt Ihre Mutter?«

»Ein paar Meilen hinter Matlock. Nicht sehr weit von hier.«

»Und Sie sind direkt von Ihrer Mutter nach Hause gefahren?«

Sie zögerte. »In Matlock habe ich getankt, das können Sie überprüfen.«

Etwas ließ mich aufhorchen. Mein Chef hätte es als Unsinn abgetan, aber ich wusste, dass hier meine jahrelange Erfahrung und Beobachtungsgabe am Werk waren. Mein Unterbewusstsein rumorte warnend. Etwas an ihrer Antwort stimmte nicht.

»Als Sie mir begegneten, waren Sie direkt von Ihrer Mutter gekommen, von dem Halt an der Tankstelle einmal abgesehen?«

Sie fuhr sich mit der Hand an ihre Kehle. »Das habe ich Ihnen doch bereits gesagt. Wegen des Verkehrs hat es eine Weile gedauert. Glauben Sie, dass Abbie … Eigentlich schläft sie wegen der Schlaftabletten gegen ihre Albträume immer sehr tief und erinnert sich am Morgen an nichts … Aber sie hat vielleicht … was? Den Mörder gesehen? Oder sie ist in unser Schlafzimmer gekommen und hat Phil gefunden …«

»Wie alt ist Abbie?«

»Zehn. Sie ist klein für ihr Alter.«

Ich sagte einen Augenblick lang nichts, spürte die kalte Luft in meiner Nase. Der Wind flüsterte in den Bäumen, von Ferne drang das Plätschern des Bachs an mein Ohr. »Was sind das für Tabletten?«

»Schlaftabletten, ich kann sie Ihnen zeigen.«

Eine Zehnjährige, die regelmäßig Tabletten einnahm. In den USA hatte die Pharmaindustrie Tabletten für alle parat – für Alt und Jung, Kranke und Gesunde. Aber in unserem Land war es noch immer ungewöhnlich, dass ein Kind Schlaftabletten einnahm.

»Und woher wussten Sie … dass etwas nicht stimmte?«, fragte ich. »Als Sie mein Auto sahen, meine ich. Sie machten einen sehr beunruhigten Eindruck.«

Rachel wandte sich von mir ab, als spräche sie mit jemandem auf der anderen Seite. »Ich wusste es einfach.« Sie putzte sich wieder die Nase.

Das Vogelgezwitscher, das Rauschen der Bäume und des Baches schienen in weite Ferne gerückt. Der Wald um uns herum war still geworden, als sei er angesichts der steinernen Kinder verstummt.

»Was bedeuten diese Skulpturen?«, fragte ich.

»Keine Ahnung. Irgendein altes Volksmärchen oder so was. Phil war wie besessen von ihnen, auch wenn er das immer geleugnet hat.«

»Auf der Treppe ist mir eine Plastik aufgefallen, die Ähnlichkeit mit einer der Skulpturen hier hat.«

»Sehen Sie. Das war Phil. Manchmal habe ich schon gedacht, er hat das Haus nur wegen dieser Skulpturen gekauft. Das Ding verschlingt Unsummen, ich wüsste nicht, warum er es sonst gekauft hat. Aber wenn ich ihn danach gefragt habe, hat er sofort dichtgemacht, nur einmal, als er betrunken war …«

»Was hat er da gesagt?«

»Es war ziemlich wirr, aber es ging um Buße.«

Ich horchte auf. »Buße? Was kann er damit gemeint haben?«

»Das hat er nicht gesagt. Seine Worte schienen etwas mit diesen Skulpturen zu tun zu haben.« Sie nickte in Richtung der Kinder aus Stein.

Buße. Ein Schlüsselwort. Wenn jemand Buße tun wollte, dann war oft ein anderer nicht fern, der Rachegedanken hegte. Welche Geschichte steckte hinter diesen Skulpturen? »Fällt Ihnen noch etwas ein, warum Sie heute Morgen bei Ihrer Ankunft derart beunruhigt waren?«

Sie zögerte. »Keine Ahnung. Ich nehme an, weil er auf meine Anrufe nicht reagiert hat. Außerdem mache ich mir immer Sorgen um Abbies Gesundheitszustand. Ich bin sicher, dass Phil weiß, was er tut, aber ich bin mir doch niemals ganz sicher, ob er die Medikamente in den richtigen Mengen verabreicht, wenn ich nicht da bin.«

»Welche gesundheitlichen Probleme hat Abbie?«

Rachel rieb sich die Nase. Die Atmosphäre zwischen uns war leicht angespannt, sie verschwieg mir etwas. Sie wirkte nicht länger wie betäubt und unter Schock, sondern mit einem Mal hellwach. Sie zog ihren Mantel fester um sich, als würde ihr die Kälte auf einmal zusetzen. »Man denkt nie daran, dass man ein Herz hat, bis es Probleme macht, stimmt’s? Und dann denkt man an nichts anderes mehr.«

»Hat Abbie Probleme mit ihrem Herzen?«

»Ja, eine Erbkrankheit in Phils Familie.«

»Und Abbie hatte eine Schwester?«

»Ja, Jess. Sie ist vor vier Jahren gestorben, mit gerade mal sechs Jahren. Aber nicht an einer Herzkrankheit, sondern aufgrund eines Unfalls.«

»Das tut mir leid. Waren die beiden Zwillinge?«

Rachel schüttelte den Kopf. »Abbie ist Phils Tochter, Jess war meine. Ich habe Abbie nach dem Tod von Phils Ehefrau adoptiert.«

Ich sah Rachel an, ihr Blick war leer. Ich überlegte, ob ich den Mund halten oder weiterreden sollte, ich entschied mich fürs Reden. »Ich habe meine ältere Schwester verloren, als ich zehn war und sie fünfzehn.«

Ihr Körper entspannte sich. Vielleicht hätte ich meine Schwester aus dem Spiel lassen sollen. Das war sicher nicht nach dem Lehrbuch für die Befragung von Tatverdächtigen. Aber Rachel Thornton war wie ich ein Mensch, und wenn man persönlich wichtige Erfahrungen mit anderen teilte, dann wurden auch die aufgeschlossener. Manchmal gestanden sie sogar einen Mord. Die meisten Mörder töten nicht mit Vorsatz – sondern wissen einen Augenblick lang vor Wut und Verzweiflung nicht mehr, was sie tun. Manchen fällt eine Last von den Schultern, wenn sie endlich gestehen, erklären, sich rechtfertigen können.

Außerdem wusste das mit meiner Schwester mittlerweile ohnehin jeder, der es wissen wollte. Man musste nur meinen Namen googeln. Ich Arme. Ich hatte meine Schwester im zarten Alter von zehn Jahren an einem Zimmerbalken erhängt aufgefunden, und jetzt war die ganze Welt informiert. Nachdem ich selbst jahrelang ein Geheimnis daraus gemacht hatte. Ich kam mir vor wie jemand, der betrunken eingeschlafen ist und beim Aufwachen keine Kleider mehr am Leib hat.

Wir blieben, beide in unsere privaten Horrorwelten versunken, nebeneinander auf der eisigen Bank sitzen.

Ich hoffte, sie würde noch mehr erzählen, wollte sie aber nicht drängen. Wir würden sie ohnehin zu einer Aussage vorladen müssen.

»Und wie geht es Abbie?«, fragte ich.

»Sie hat vergangenes Jahr ein neues Herz bekommen.«

»Darf sie deswegen keine Haustiere haben?«

»Genau. Ihr Immunsystem ist im Augenblick nicht voll funktionsfähig.«

Ich dachte an die Einstiche auf Abbies Arm, daran, wie sie halbtot vor Kälte den Hund umarmt hatte und vermutlich in seine Decken und Carries Schal gehüllt war. Nicht gerade ideal.

»Geht es ihr gut?«

»Natürlich.«

»Gab es bei der Transplantation Probleme? Geht es bei der Skulptur, die ihr Mann hergestellt hat, um dieses Thema?«

»Natürlich nicht. Das alles hat nichts mit Abbies Herz zu tun.«

Ich sah Rachel direkt an.

»Meinen Sie damit den Tod Ihres Mannes? Warum sollte sein Tod denn etwas mit Abbies Herz zu tun haben?«

Sie blinzelte ein paarmal und schüttelte den Kopf. »Nichts, ich weiß gar nicht mehr, was ich sage. Mit Abbies Herz ist jedenfalls alles in Ordnung.«

KAPITEL 4

»Ich kann im Augenblick keinen wichtigen Fall übernehmen«, sagte ich. »Ich habe am Tatort die Ehefrau des Opfers befragt, aber den Fall muss ich jemand anderem übergeben. Ich befinde mich im Augenblick in einer schwierigen Lage.«

DS Jai Sanghera lehnte am Fenster meines Büros, ein Bein hatte er hochgezogen und den Fuß im Yoga-Stil auf dem Fensterbrett abgestellt. »Hast du Richard schon gesagt, dass du nächste Woche nicht im Büro bist?«

Ich ging zur Tür und sagte leise. »Er hat mich zu sich bestellt. Ich kann ihm nicht die Wahrheit sagen, ich habe ihm erzählt, ich würde ein bisschen Zeit für meine Familie brauchen, zu Hause aufräumen und ein bisschen was reparieren, etwas in der Art.«

»Wenn du den Fall nicht übernimmst, dann setzt er jemand anderen darauf an. Vielleicht diesen Idioten aus Nottingham.«

Bei dem Gedanken daran, dass Abbie in einem unserer trostlosen Vernehmungsräume in die Mangel genommen würde, verkrampfte sich mein Magen. »Oder vielleicht diese eine Kollegin, die ist ganz nett.«

Jai schüttelte den Kopf. »Die hat schon einen wichtigen Fall am Hals. Es geht um Menschenschmuggel. Das kannst du vergessen.«

Ich hatte Abbie versprochen, dass ich mich um sie kümmern würde. Aber meine Familie konnte ich auch nicht im Stich lassen. Ich schluckte. »Ich kann meinen Urlaub nicht verschieben, du kannst dir nicht vorstellen, wie schwer das alles ist.«

»Ich weiß ganz genau, wie es ist, einen von den Großeltern zu verlieren. Sag ihm einfach, du kannst den Fall nicht übernehmen. Mit diesem Idioten aus Nottingham kommen wir schon irgendwie klar.«

 

Es war erst Montagmorgen, aber mir war, als hätte ich schon eine ganze Arbeitswoche hinter mir. Und Mum hatte ich auch noch immer nicht zurückgerufen. Ich öffnete die Tür zu DCI Richard Atkins Reich.

»Ach, das sind Sie ja, Meg.« Das sagte Richard immer, ganz gleich, ob er einem das Fell über die Ohren ziehen oder Lob austeilen wollte. »Setzen Sie sich.« Er wies auf die Sitzgelegenheit vor seinem Schreibtisch, in den durchgesessenen Polstern versank man immer so tief, bis man kaum noch zu sehen war. Auf diesem Platz waren schon einige Kollegen ganz klein mit Hut geworden.

Ich zog es vor zu stehen. »Ich kann diesen Fall leider nicht übernehmen. Ich habe für nächste Woche Urlaub beantragt.«

Richard musterte mich über Aktenberge und die winzigen Kakteen hinweg, mit denen er die Papierstapel an ihrem Platz hielt. Jeden Morgen verteilte er die Töpfchen aufs Neue, und ich versuchte jedes Mal herauszufinden, ob das neue Arrangement eine Bedeutung hatte, zum Beispiel etwas über seine Laune oder die Weltlage aussagte. Er ließ seine Fingerknöchel knacken. »Sie haben die Tochter des Opfers in eiskaltes Wasser fallen lassen«, sagte er. »Das ist grob fahrlässig. Sie hätte sich ernstlich verletzen können, und außerdem sind alle Beweisspuren an ihrem Nachthemd unbrauchbar. Was haben Sie sich dabei gedacht?«

»Das war ein Unfall. Sie wollte dem Hund etwas zu trinken geben, und …«

»Ein Hund? Ihre Tierliebe in allen Ehren, aber Sie dürfen sich nicht davon leiten lassen.«

Ich wollte etwas darauf erwidern, aber Richards Kommentar war dermaßen ungerecht, dass es mir die Sprache verschlug.

Richard hatte einige Kilos zugelegt, und seine Nase verriet, dass er regelmäßig tief ins Glas schaute. War ihm eigentlich klar, dass er sich in einen typischen Mann verwandelte, dem die Frau abhandengekommen war? Die hatte sich Gott zugewandt und kochte ihm leider nicht mehr ordentliche Mahlzeiten mit viel gesundem Gemüse.

»Keine guten Nachrichten«, sagte Richard. »Außerdem hatte die Frau des Opfers offenbar bei uns angerufen und einen Fall von Stalking gemeldet, nur ist dem niemand nachgegangen, was ist eigentlich damit?«

»Wir haben die Meldung nicht ignoriert, aber sie hat uns leider nur wenig Hinweise geliefert. Und außerdem liegen ihre Anrufe bereits sechs Wochen zurück, seitdem hatte sie sich nicht mehr gemeldet.«

»Das hat uns gerade noch gefehlt, wo Stalking im Augenblick ein heißes Thema ist. Lassen Sie uns hoffen, dass der Stalker nicht der Täter war.«

Das war moderne Polizeiarbeit. Nicht der brutale Mord stand im Zentrum, sondern die Tatsache, dass man uns Vorwürfe machen könnte. »Wenn wir schon hoffen, dann vielleicht darauf, dass wir den Mörder finden und in der Zwischenzeit niemand anderes zu Schaden kommt.«

»Ja, natürlich. Aber für die Presse ist das ein gefundenes Fressen, die werden so tun, als hätten wir von der Polizei dem Mann die Kehle durchgeschnitten.« Richard rieb sich den Nacken. »Aber Sie hätten auf keinen Fall ohne Verstärkung das Haus betreten dürfen.«

»Das weiß ich, aber …«

»Sie könnten tot sein.«

»Ich musste nachschauen …«

»Sie haben sich an die Spielregeln zu halten. Schluss mit Alleingängen. Das Stalker-Fiasko reicht im Augenblick vollkommen.«

»Aber jemand hätte verbluten …«

»Es gibt keine Entschuldigung für die Tatsache, dass Sie ein unnötiges Risiko auf sich genommen haben.«

Mann, durfte ich vielleicht mal einen Satz zu Ende bringen? Mir war aufgefallen, dass ranghöhere Kollegen in diesem Fall einfach weiterredeten und die Lautstärke so lange aufdrehten, bis sich beide Parteien irgendwann anschrien und am Ende eine entnervt aufgab. Aber mir fehlte die Energie dazu.

»Ich erinnere mich sehr wohl daran, dass Sie bei Ihrem letzten Mordfall ziemlich viel Glück hatten. Wir hatten bereits darüber gesprochen, aber so was ist nicht noch mal drin. Was ist mit einer schweren Verletzung oder gar dem Tod?«

»Stimmt. Das wäre unschön gewesen, aber ich war zu der Zeit vom Dienst beurlaubt, und damit hätte niemand Ihnen anlasten können, dass ich in einer Höhle ertrunken oder aus einer alten Windmühle in den Tod gesprungen bin.«

»Ich bin nicht überzeugt, dass die Journaille das genauso gesehen hätte.«

»Wie schön, dass Sie so um mein Wohl besorgt sind.«

Hatte er überhaupt mitbekommen, dass ich den Fall nicht übernehmen konnte?

»Wie gesagt, Sie haben sich an die Spielregeln zu halten«, sagte Richard. »Folgen Sie den Indizien, der Fall bietet Ihnen gute Gelegenheit dazu. Zeigen Sie, dass Sie im Team arbeiten können und sich ans Prozedere halten.«

Ganz bestimmt nicht.

»Ich habe vom nächsten Mittwoch an Urlaub«, sagte ich. »Ich übernehme den Fall besser nicht.«

»Sie haben keine Reise geplant, oder? Dann können Sie den Urlaub wenn nötig problemlos verschieben.«

»Das glaube ich nicht.«

Richard kniff die Augen zusammen. Er wusste genau, wie viel mir die Arbeit bedeutete, ich ging darin auf. Warum zum Teufel hatte ich ihm nicht etwas von einer Afrika-Expedition zur Rettung kranker Löwen vorgeschwindelt oder von einem komplizierten Frauenleiden, das einen Eingriff erforderlich machte? Ich fühlte, wie mein Puls schneller ging, vielleicht würde er alles herausfinden.

»Ich bin um Fairness bemüht, Meg, aber ich muss gestehen, Sie verwirren mich. Wir können natürlich Dickinson aus Nottingham um Hilfe bitten, aber ich frage mich ehrlich, ob Ihr Engagement bei der Arbeit …«

»Ich übernehme den Fall«, platzte es aus mir heraus. »Zur Not verschiebe ich meinen Urlaub.«

»Gut. Und ich möchte, dass Sie den Fall mit Craig bearbeiten.«

»Craig?«, fragte ich mit schwacher Stimme. »Aber …« Ich stockte, was hätte ich darauf Sinnvolles sagen können?

»Ich habe Ihnen nicht verkündet, dass Sie todkrank sind und nur noch ein halbes Jahr zu leben haben, sondern Sie gebeten, mit einem tüchtigen kompetenten Kollegen zusammenzuarbeiten.«

»Na ja, Richard …«

»Prima, dann wollen wir uns den Fall mal genauer ansehen.«

 

Im Besprechungsraum war es heiß und stickig wie in einem malariaverseuchten Sumpf, obwohl es draußen nach Schnee aussah. Es roch unangenehm nach Schweiß, und die Polizeikollegen husteten sich die Seelen aus dem Leib. Aber neben den Winterviren schwebte auch Adrenalin in der Luft, denn immerhin ging es hier um Mord. Ich schob meine Sorge um Urlaub und familiäre Verpflichtungen beiseite und ließ mich mitreißen.

»Sind die von Jackson Pollock?« Jai nickte in Richtung auf ein paar Fotos, auf denen jeweils ein Blutbad zu sehen war.

Ich tat so, als würde ich seine Bemerkung missbilligen, und legte die Stirn in Falten.

Richard kam hereinmarschiert, zog seine Jacke aus und wollte sie auf einen Stuhl werfen. Aber er verfehlte das Ziel, und die Jacke landete auf dem Fußboden. Ich wollte sie schon aufheben, aber eigentlich waren drei Mannsbilder näher dran als ich. Warum sollte ich mich verpflichtet fühlen, das Ding vom Boden aufzulesen? Noch dazu nach unserer Unterhaltung vorhin? Auch DC Fiona Redfern war nahe dran aufzustehen, aber am Ende rührte sich keine von uns beiden.

Jai hob die Jacke auf.

»Danke Ihnen, Jai.« Richard trat zur Seite und ließ mir den Vortritt. »Ich tue mich in diesen Tagen schwer mit dem Bücken.«