Das kalte Echo - Roz Watkins - E-Book

Das kalte Echo E-Book

Roz Watkins

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Beschreibung

Geisterhafte Stimmung, rationale Ermittlung: die neue englische Krimiserie mit DI Megan Dalton im Peak District Ein erschreckender Todesfall: in einer Höhle mitten im wilden Peak District wird ein Rechtsanwalt tot aufgefunden. Eine dunkle Botschaft: Während alte Legenden um Fluch und Hexerei im Ort umgehen, ist Detective Inspector Megan Dalton sicher, dass es sich um Mord handelt. Es gibt nur ein Problem: in die Felswand hinter dem Toten sind seine Initialen und das Bild vom Sensenmann gemeißelt. Und die stehen da schon seit hundert Jahren. Ein tödliches Echo: Bei den schwierigen Ermittlungen merkt Meg, dass irgendjemand ihre persönlichen Geheimnisse kennt - vielleicht sogar der Mörder? Meg muss ihre eigenen Dämonen bekämpfen, um den Täter aufzuspüren ... "Meisterhaft balanciert Watkins zwischen geisterhafter Stimmung und rationaler Ermittlung." Sunday Times "Diese Ermittlerin hebt sich ab: faszinierend, unglamourös, absolut glaubwürdig." The Times Crime Book of the Month

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Seitenzahl: 546

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Roz Watkins

DAS KALTE ECHO

Ein Fall im Peak DistrictRoman

Aus dem Englischen von Sylvia Spatz

FISCHER E-Books

Inhalt

PROLOGKAPITEL 1KAPITEL 2KAPITEL 3KAPITEL 4KAPITEL 5KAPITEL 6KAPITEL 7KAPITEL 8KAPITEL 9KAPITEL 10KAPITEL 11KAPITEL 12KAPITEL 13KAPITEL 14KAPITEL 15KAPITEL 16KAPITEL 17KAPITEL 18KAPITEL 19KAPITEL 20KAPITEL 21KAPITEL 22KAPITEL 23KAPITEL 24KAPITEL 25KAPITEL 26KAPITEL 27KAPITEL 28KAPITEL 29KAPITEL 30KAPITEL 31KAPITEL 32KAPITEL 33KAPITEL 34KAPITEL 35KAPITEL 36KAPITEL 37KAPITEL 38KAPITEL 39KAPITEL 40KAPITEL 41KAPITEL 42KAPITEL 43KAPITEL 44[Leseprobe: Roz Watkins – DAS BÖSE HERZ]

PROLOG

Der Mann stieg in die Höhle ein, die Knie waren ihm weich geworden, er schnappte nach Luft und merkte dabei, wie abgestanden sie war. Dann ließ er sich auf eine Sitzfläche fallen, die ein lang vor ihm verstorbener Höhlenbewohner in die Felswand geschlagen hatte. Vertraute Kälte drang durch den Hosenstoff an seine Beine. Ihm gefiel, dass es so ungemütlich war.

Er griff nach seiner Taschenlampe und stellte sie aufrecht hin, so dass der Lichtstrahl nach oben zeigte und von der Decke zurückgeworfen wurde. Über seinem Kopf hingen Fledermäuse, die winzigen Zehen in den Fels verkrallt, ihre pelzigen Körper in Spalten versteckt.

Wie entspannend es war, allein zu sein. Keine Kollegen, die einen mit finsteren Blicken musterten. Keine Mandanten, die einen wie ein wütender Insektenschwarm umschwirrten. Keine Ehefrau, die aus ihrer Enttäuschung keinen Hehl machte.

Er legte das Buch neben sich. Holte den Kuchen aus seiner Tasche, riss die knisternde Plastikverpackung auf, nahm das weiche Gebäck heraus und ließ sein Gewicht auf der Handfläche ruhen. Ein Zögern, dann führte er den Kuchen zum Mund, nahm entschlossen einen Bissen und kaute schnell. Nach zwei weiteren Bissen war nichts mehr übrig.

Die Luft wurde drückend. Seine Kehle schien sich zu verengen. Er lehnte sich gegen die Höhlenwand. Er bekam nicht genug Sauerstoff, schnappte nach Luft. Kniff die Augen zu. Ein Bild seiner lang verstorbenen Mutter tauchte aus der Erinnerung auf. Tief in ihren Rollstuhl gerutscht, der Kopf zur Seite hängend. Dann ein anderes, früheres – seine Erinnerungen an diese Zeit wie Fische, die durch gleißendes Wasser flitterten –, in dem sie ihm von oben zulächelte und ganz normal auf ihren zwei Beinen ging wie andere Mütter.

Er stand auf. Stolperte zur hinteren Wand der Höhle, umklammerte den Farn, der dort wuchs, fiel dagegen. Sein Magen verkrampfte sich. Er würgte, konnte kaum noch atmen.

Weitere Bildsplitter. Kates Gesicht während der Hochzeitsreise. Wie sie im Licht einer fremden Insel strahlte, lachte und ein Glas an ihre sonnenverbrannten Lippen hob. Er rang nach Luft, vergeblich. Wie Ertrinken. Damals in Cornwall, als Junge. Strandhäuschen, darüber ein strahlend blauer Himmel, und plötzlich warfen ihn die Wellen um. Schleiften ihn über den Meeresgrund, sein panisches und zugleich erstauntes Entsetzen.

Er stürzte zu Boden. Das Bild einer Katze aus seiner Kindheit, rotes Fell und wildes Temperament, aber innig geliebt. Ihr toter Körper auf der Straße. Dann ein Mädchen, in den Tiefen des Labyrinths, erhängt, erstarrt, die Kette mit der Schlinge.

Ein furchtbares Brennen, als wühlten sich Maden in seine Wangen. Er kratzte über sein Gesicht, seine Nägel hinterließen blutige Striemen, bohrten sich in die Augen.

Dann Finsternis, die ihn verschlang. Wieder ein Bild seiner Mutter, im Bett, ausgemergelt und aufgedunsen zugleich. Dem Ersticken nah. Ihr flehender Blick.

KAPITEL 1

Ich stieg aufs Gas, bis die Reifen im Schlamm durchdrehten, und betete zu den Göttern der Mordermittlung. Bitte gebt mir den nötigen Durchblick, damit ich selbstbewusst auftrete und mich im neuen Job nicht gleich blamiere.

Die Götter schwiegen, dafür dröhnte die Stimme meines Chefs aus der Freisprechanlage. »Haben Sie die Infos mitbekommen? Leiche in einer Höhle … riecht nach Mandeln … Buch über Philosophie …«

Ich starrte das Handy an, als ob ich dadurch besser hören könnte. Offenbar hatte Richard noch nicht gemerkt, dass der Empfang schlecht war, sonst hätte er seinen Monolog vermutlich unterbrochen. Hatte er tatsächlich »Philosophie« gesagt? Bei den Todesfällen, mit denen wir uns beschäftigten, waren normalerweise Chaos und Alkohol im Spiel, Philosophie hatte da eher nichts zu suchen.

Wieder ein paar von Richards Wortfetzen: »Kratzer im Gesicht …« Dann brach die Verbindung endgültig ab.

Ich wich einem Felsbrocken aus und richtete meine Aufmerksamkeit wieder auf die Straße. Sie stieg langsam zwischen halbverfallenen Feldmauern aus losen Steinen an, dahinter lagen Weiden mit mürrisch dreinschauenden Schafen, die wie weiße Tupfer aus dem Grün stachen. Es nieselte, was bedeutete, dass man jede Spurensicherung vergessen konnte. Zu meiner Linken gingen die Wiesen in Wald über; ich bemerkte einen trostlosen Parkplatz mit ein paar Polizeifahrzeugen, und mein Navi verkündete prompt, dass ich mein Ziel erreicht hatte.

Ich fuhr auf den Parkplatz und nahm mir einen Augenblick Zeit, um mich zusammenzureißen. Natürlich war der Tod eines Mannes kein Grund zum Jubeln, aber wenigstens waren die Umstände originell und ich zufällig in der Nähe. Ich war jetzt Inspector und der Lage gewachsen. Meine Mission Neustart in Derbyshire konnte beginnen. Ich holte zur Stärkung tief Luft, stieg aus dem Auto und betrat einen Fußweg, der zu beiden Seiten mit blauweißem Polizeiband abgegrenzt war.

Der Pfad stieg an und endete am Fuße eines stillgelegten Steinbruchs. Ich stapfte durch altes Laub und vor allem Matsch, was mein Hinken verstärkte. Die nasse Erde blieb so hartnäckig an meinem Schuhwerk kleben, als hätte sie es auf mich abgesehen. Höchste Zeit, mein Fitnessprogramm in Gang zu bringen. Derzeit beschränkte ich mich darauf, im New Scientist Artikel über die Vorzüge regelmäßiger Bewegung zu lesen. Leider wurde man mit Mitte dreißig überflüssige Pfunde auf diese Weise nicht los.

Durch die Bäume sah ich direkt auf einen schroffen Steinhang, rosig leuchtend im Abendlicht. An seinem Fuß spannte sich Polizeiband zwischen Felsbrocken und verkrüppelten Eichen, die so gut wie niemals Sonne abbekamen, und grenzte einen Bereich ab. Dicht an der Absperrung stand ein niedriges Polizeizelt. Dort nahm ich mir einen Ganzkörperschutzanzug, dazu Gesichtsmaske, Überschuhe und Handschuhe.

Der diensthabende Sergeant trug einen Bart und wirkte ein bisschen zu groß für seine Uniform.

»Sergeant Pearson«, sagte er. »Ben. Keine Spuren zertrampelt. Alles unter Kontrolle.«

Ich hatte ihn noch nicht persönlich kennengelernt, aber sein Name sagte mir etwas. Laut Gerüchten, die auf der Wache kursierten (verlassen konnte man sich auf so etwas nicht, das gebe ich zu), hatte er unzählige Tätowierungen. Zu sehen war nichts, aber angeblich war sein Rumpf vollständig tätowiert und Gegenstand großer Bewunderung – so viel zum Tratsch der Polizeikräfte in Derbyshire.

»DI Meg Dalton«, stellte ich mich vor und ließ meinen Blick kurz über den abgegrenzten Bereich schweifen. Da war niemand, der aussah, als wäre er tot.

Ben zeigte auf die steile Felswand. »In einer ehemals bewohnten Höhle.«

An dieser Wand zog sich eine enge Treppe hoch; die Stufen waren durch Jahre der Abnutzung blank und ausgetreten. An ihrem Ende, in einer Höhe von etwa fünfzehn Fuß, führte eine halbrunde Öffnung in den Fels, gerade hoch und breit genug für eine Person.

»Da oben ist eine Behausung, mitten im Fels? Mit einer Leiche?«

»Bingo«, sagte Ben.

»Ziemlich gruselig.«

Bens Augenbrauen schoben sich zu einem schnellen Runzeln zusammen. »Ach, dann haben Sie also davon gehört …?« Sein Blick wanderte hinauf zum dunklen Höhleneingang.

»Wovon gehört?«

»Tut mir leid, ich hatte Sie falsch verstanden. Vergessen Sie’s, es ist nicht wichtig.«

Ich seufzte. »Also, was ist mit dem Toten?«

»Laut Pathologe liegt der Todeszeitpunkt erst ein paar Stunden zurück. Die Spurensicherung war bereits oben.« Er deutete mit dem Kopf auf einen Mann in weißem Overall, der am Fuß der Felswand Erbrochenes in Augenschein nahm.

»Von wem stammt das?«

»Von einem Hund, hat wohl was Schlechtes gefressen.«

»Der Hund?«

»So hat man die Leiche entdeckt. Einem Typen ist der Hund weggelaufen, er hat überall nach ihm gesucht und irgendwann von dort oben was gehört«, Ben deutete mit dem Daumen zur Felsöffnung. »Er ist hinauf, hat die Leiche gesehen und seinen Hund wiedergefunden, der dabei war, etwas aufzulecken.«

»Ich hoffe, der Hund hat sich nicht an der Leiche zu schaffen gemacht.«

»Ein Labrador, der hätte sicher nichts dagegen gehabt. Aber es handelte sich um die Plastikverpackung von einem Kuchen oder so was. Sieht so aus, als wäre der vergiftet gewesen.«

»Ist der Hund okay? Wo steckt sein Besitzer? Hat jemand seine Aussage aufgenommen?«

»Alles schon erledigt. Die sind zum Tierarzt, aber dem Hund schien es wieder ganz gut zu gehen. Er hat nur ein paar Krumen gefressen, meinte der Besitzer.«

»Interessanter Fundort für eine Leiche«, sagte ich. »Mich haben Höhlenbehausungen immer schon fasziniert.«

Ben trat an die Steilwand und berührte den Fels. »In dieser Gegend gibt es unzählige Höhlen, natürlich waren die wenigsten jemals bewohnt.« Er zögerte, als sei er nicht sicher, ob er mich mit seinen Erzählungen noch länger aufhalten sollte, schließlich wartete ein Leichenfund auf mich.

»Ich mach mich besser auf den Weg«, sagte ich, obwohl ich eigentlich nicht scharf darauf war, mit meinem verwachsenen Fuß die Stufen hochzuhumpeln. Außerdem hatte das schwarze Loch im Fels etwas Beunruhigendes. »Was wollten Sie eben eigentlich noch sagen? Nachdem ich das Wort gruselig in den Mund genommen habe?«

Ben lachte, aber seine Augen blieben ernst. »Ach, machen Sie sich keine Gedanken. Ich bin hier in der Gegend aufgewachsen. Nichts als ein Gerücht, völlig unbedeutend.«

»Und was sagt dieses Gerücht?«

»Etwas Blödsinniges, angeblich spukt es in der Höhle.«

Ich lachte ebenfalls, er sollte bloß nicht auf die Idee kommen, dass mich das irgendwie verunsicherte. »Na, dieser Mann wird wohl kaum das Opfer eines Gespensts geworden sein.« Vor meinem geistigen Auge huschten bleiche Gestalten aus der Tiefe heran und begrapschten den Leichnam mit ihren langen Fingern. Ich verbannte sie sofort aus meinen Gedanken.

»Man sagte mir, der Tote rieche nach Mandeln. Bittermandeln?«

»Ja, ganz leicht. Eigentlich verbreitet eine Leiche diesen Mandelgeruch erst, wenn man den Magen öffnet.« Ben warf sich in Pose – Beine breit, die Brust vorgereckt – und redete sich warm. Ich hoffte, er würde es mit seinem belehrenden Gehabe nicht übertreiben. Dabei war ich nicht einmal mehr blond – ich hatte mein Haar braun gefärbt, damit wirkt man gleich intelligenter, und zwar im Farbton meiner Mutter, wegen der Glaubwürdigkeit. Aber dass ich klein war, daran konnte ich nichts ändern, und an meinem Hinken, das sofort Beschützerinstinkt auslöste, auch nicht.

»Stimmt, danke, ich weiß«, sagte ich ein wenig kurz angebunden. »Und, hat der Tote auch einen Namen?«

Ben warf einen Blick ins Protokoll. »Peter Hugo Hamilton.«

»Und er war bereits tot, als man ihn fand?«

»Ja, genau. Obwohl ich schon Leute gesehen habe, die toter waren.«

»Gib es das denn? Eine Steigerung von Totsein?«

Ben verschränkte die Arme. »Ohne Maden ist man noch nicht sehr tot.«

»Na, dann wollen wir mal sehen.« Ich ging zur Treppe und stieg sie langsam hoch. Nach wenigen Stufen zwickte es im Knöchel. Ich hielt an und warf einen Blick in die Tiefe. Ben streckte ungeschickt die Arme aus, als wollte er die Hände auf meinen Hintern legen und mich stützen, und darauf war ich nun gar nicht scharf. Ich stieg die Stufen so weit hinauf, bis ich in die Höhle spähen konnte. Ein schwacher Lichtstrahl fiel auf die hintere Wand, ansonsten war alles dunkel. Ich wartete ab, bis meine Augen sich an die Dunkelheit gewöhnt hatten, nahm die letzte Stufe und stieg hinein.

Modriger Geruch drang mir in die Nase. In der Höhle war es kühl und still, die Decke beängstigend niedrig. Ein kleiner Raum, allerdings verschmolzen die Wände mit dem Dunkel, und es war durchaus möglich, dass von hier aus Gänge tiefer in den Fels führten. Beim Dämmerlicht aus der winzigen Fensteröffnung und dem schmalen Eingang konnte man nicht viel erkennen. Ich griff nach meiner Taschenlampe und leuchtete umher. Eine völlig irrationale Vorstellung überfiel mich – vielleicht würde mich unerwartet etwas aus der Dunkelheit anspringen oder der Leichnam sich auf mich stürzen. Ich strich mir eine Strähne aus dem Gesicht, es war von kaltem Schweiß bedeckt. Zum Teufel, jetzt stell dich nicht so an und mach deinen Job, redete ich mir zu.

Der Tote lag an der hinteren Höhlenwand, sein Körper lang ausgestreckt und starr. Eine Hand war an den Magen gepresst, die andere umklammerte den Hals. Ich leuchtete mit der Taschenlampe in sein Gesicht. Aus Kratzern an seinen Wangen war Blut gesickert. Im Schein der Lampe leuchtete es in kräftigem Kirschrot.

Aus dem Mund des Mannes war ein Faden Erbrochenes auf den Boden der Höhle geronnen.

Ich ging in die Hocke und untersuchte seine Finger. Sie waren blutverschmiert. Der Arme hatte sich offenbar das Gesicht zerkratzt. Unter den Nägeln befanden sich grüne Partikel, als hätte er sich durch Blattwerk gekämpft.

Neben einem der abgewinkelten Arme befand sich ein Buch – das Handbüchlein der Moral und Unterredungen von Epiktet.

Auf dem Boden lag eine Plastikverpackung. Ich konnte das Etikett nur mit Mühe entziffern: Susies süße Sachen. Bitterschokolade und Mandeln. Ich ging wieder in die Hocke, roch an dem Plastik und verfluchte, dass ich Pilates aufgegeben hatte. Mir fiel am Geruch nichts Ungewöhnliches auf, aber vielleicht zählte ich auch nicht zu den wenigen Glücklichen, die Cyanide erschnuppern konnten.

Ich richtete mich wieder auf und beleuchtete die Wand neben dem Toten. Aus einer winzigen Spalte in der Decke sickerte Wasser; an den Stellen, auf die von Tür und Fenster aus Licht auf die Wand fiel, hatte sich Farn angesiedelt. Einige Pflanzen waren zerdrückt, so als sei der Mann dagegen gefallen, andere waren ausgerissen worden.

Kaltes Entsetzen erfasste mich. Hier ging es um eine Person, nicht um irgendein Todesopfer im Rahmen einer interessanten Ermittlung. Der Mann war ungefähr in meinem Alter. Ich dachte an all die Jahre, die er vielleicht noch vor sich gehabt hätte, dass er das Alter nicht mehr erlebte, seine Lieben am nächsten Tag aufwachten und ihr Leben plötzlich in sich zusammenfiel wie ein Kartenhaus.

Ich atmete einmal langsam durch den Mund aus, wie man es mir beigebracht hatte, dann trat ich an die Wand heran und beleuchtete den zerdrückten Farn. War da etwas in den Stein geritzt? Ich schob mit behandschuhten Händen sacht weitere Pflanzen beiseite und versuchte zu erkennen, was darunterlag. Eine Inschrift, auf jeden Fall einige Jahrzehnte alt, von Flechten überwachsen wie bei einem Grabstein aus viktorianischer Zeit. Der Farn musste sie vollständig verborgen haben, bis der Sterbende sich an ihn geklammert hatte.

Aus dem Augenwinkel bemerkte ich mit einem Mal etwas Helles. Ich fuhr herum, ein Kollege von der Spurensicherung kletterte gerade in die Höhle. Seine Stimme durchschnitt die Stille. »Wir haben eine Brieftasche mit einem Führerschein gefunden. Und einen Zettel. Mit einer handschriftlichen Notiz. Zweiter Vorname mit P, steht da.« Er zeigte mir ein halbzerknülltes Post-it, das in einer Plastiktüte für Sachbeweise steckte.

»Ist die Wand schon an der Stelle fotografiert worden, wo er den Farn ausgerissen hat?«

Der Kollege nickte.

»Okay, dann wollen wir mal sehen, was darunterliegt.« Ich zeigte auf die Kerben im Fels.

Gemeinsam zogen und schoben wir die Pflanzen sanft zur Seite.

Der Kollege von der Spurensicherung trat einen Schritt zurück. »Mann, was soll denn das sein?«

Noch ein bisschen Grün zur Seite geschoben, und nun war zu sehen, was in den Fels geritzt worden war. Ich spürte, wie mir die Brust eng wurde und das Atmen in der kalten Höhlenluft schwerfiel. Der Sensenmann – Kapuze, grinsender Totenschädel und Skelett, die Sense hoch über dem Kopf schwingend. Das Bild bestand lediglich aus ein paar Linien, die in den Fels gemeißelt waren, wirkte aber umso düsterer. Gevatter Tod erhob sich über den verstorbenen Mann, als sei er auf ihn losgegangen.

»Eine Sekunde«, sagte der Kollege. »Unter dem Bild steht etwas geschrieben, ist das ein Datum?« Er entfernte noch ein bisschen Farn.

Ich ging in die Hocke und leuchtete mit meiner Lampe auf die Inschrift. Mir lief es eiskalt den Rücken runter. »Das ist kein Datum«, sagte ich.

Der Kollege ging mit dem Kopf näher an den Fels heran und erstarrte. »Wie kann denn das sein? Diese Einkerbungen sind bestimmt über hundert Jahre alt, auch die Inschrift, und beides war jahrelang vom Farn bedeckt.« Seine Stimme klang in der Stille laut, aber ich hörte leises Zittern heraus. »Das begreife ich nicht … wie können das die Initialen von dem Toten sein?«

Auch ich hatte keine Erklärung dafür. Ich trat von der Wand zurück und wischte mir mit meinen grünbefleckten Handschuhen übers Gesicht.

Unter dem Bild des Sensenmanns stand eingraviert: »PHH, ich komm dich holen.«

KAPITEL 2

Ich verließ die Höhle. Draußen kletterte ich die Treppe im Rückwärtsgang hinab und bemühte mich, auf den ausgetretenen Stufen möglichst nicht auszurutschen. Ich war erleichtert, endlich im Freien zu sein, und nahm die letzten Stufen mit ein paar ungeschickten Sprüngen. Endlich wieder feuchter Waldgeruch, Tageslicht und fester Boden unter den Füßen.

Ben gesellte sich zu mir. »Und was meinen Sie?«

Was ich meinte? Keine Ahnung. »Die Initialen des Toten sind in den Fels eingraviert«, platzte ich heraus. »Aber so wie es aussieht, sind sie schon Jahrzehnte alt.«

Ben fuhr erschrocken zurück und wischte sich über die Stirn. »Mein Gott, das kann doch nicht sein.«

Mir wurde ungemütlich. »Was meinen Sie damit?«

»Es ist …«, Ben trat einen Schritt zur Seite. »Ich möchte nicht darüber reden.«

»Wenn es etwas mit dem Todesfall zu tun hat, sollten Sie’s besser sagen.«

»Ist Ihnen das Labyrinth ein Begriff? Auf der anderen Seite des Tals?«

Ich schüttelte den Kopf. »Was ist damit?«

Ben zögerte etwas. »Okay. Es ist ein riesiges Höhlensystem unter dem Devil’s Dice, diesem Felsen. Die unterirdischen Gänge ziehen sich über Meilen hin. Manche liegen unter Wasser. In einer der Höhlen ziemlich weit im Inneren hängt eine Schlinge. Lebensmüde Teenager kennen diesen Ort.«

Ich fühlte einen Adrenalinstoß, mir wurde heiß, dann kalt. Warum erzählte er mir das alles? Ich wollte das nicht wissen.

»Laut Gerücht ist es ein Zeichen, dass man weiterleben soll, wenn man die Schlinge nicht findet«, fuhr Ben fort.

Ich starrte ins Licht zwischen den Bäumen, da war es, dieses vertraute Gefühl, wie sich mir die Kehle zuschnürte. Ich durfte es nicht an mich heranlassen. Ich hatte das doch alles hinter mir. Hatte einen Neustart gewagt. Ich riss mich zusammen. »Und warum soll das wichtig sein?«

»Wenn man die Schlinge aber findet, wird man feststellen, dass die eigenen Initialen bereits in die Höhlenwand dahinter eingeritzt sind, heißt es.«

»Das heißt, jemand hat sie dort eingeritzt?«

»Angeblich tauchen sie von selbst auf.«

»Waren Sie schon einmal dort?«

Ben zögerte, fuhr sich mit der Zunge über die Lippen und nickte dann. »Als wir versuchten, ein Mädchen zu retten. Aber wir kamen zu spät. Ich kenne mich in den Höhlen aus, eigentlich hätte ich viel schneller bei ihr sein sollen.« Sein Gesicht schimmerte grünlich. Er presste die Hände gegen den Magen. »Ich geh da nie wieder rein. Nie wieder.«

Ich gab mir alle Mühe, nicht an die Kette zu denken, die starr irgendwo tief in einer Höhle hing. Meine Hände ballten sich zu Fäusten, die Nägel bohrten sich ins Fleisch. »Und was ist mit den Initialen?«

»Da waren welche in den Fels eingeritzt, eine ganze Menge sogar. Sie wirkten ziemlich alt. Wir haben nicht nachgeschaut, ob auch die von dem Mädchen darunter waren.«

»Dann reicht das alles schon lange zurück?«

»Offenbar begann alles zur Zeit der Hexenprozesse. Wenn ein Mädchen oder eine junge Frau unter Hexenverdacht stand, brachte man sie ins Labyrinth. Wenn man die Kette mit der Schlinge fand, befanden sich ihre Initialen bereits am Fels dahinter, und sie wurde gezwungen, sich zu erhängen. Im anderen Fall wurde sie für unschuldig erklärt, musste aber allein ihren Weg nach draußen finden.«

»Du lieber Gott.«

»Ich weiß. In viktorianischer Zeit gab es dann richtig viele Mädchen, die dort Selbstmord begingen.«

»Und der letzte Freitod?«

Er trat von einem Bein aufs andere. »Der liegt zehn Jahre zurück.«

Vor meinem geistigen Auge sah ich die mit den Initialen von Toten bedeckte Felswand. »Wenn sich dort immer wieder Leute umgebracht haben, warum hat man diese verdammte Todesschlinge nicht einfach beseitigt?«

»Der Eingang zum Labyrinth ist nach dem Selbstmord von diesem Mädchen … vergittert worden. Es gibt noch einen Zugang von oben, aber den muss man kennen.«

 

Zwei Stunden später übernahmen DCI Richard Atkins und ich auf der Wache – innerlich und äußerlich auf alles vorbereitet – die Fallbesprechung. Viele Polizisten dicht an dicht auf engstem Raum, die Luft zum Schneiden, Gestank von feuchten Turnschuhen und nassem Hundefell, aber die allgemeine Atmosphäre war wegen des mysteriösen Todesfalls angespannt.

An einer Seite des Raums stand eine Tafel mit Fotos vom Toten und der Umgebung des Fundorts. Ich ging näher heran, um sie mir anzusehen, während Richard auf der gegenüberliegenden Seite Namen und diverse Aufgaben an eine graue Tafel pinnte. Das war alles andere als ein Hightechsystem, aber wenigstens war es zuverlässig, da es nicht abstürzen konnte.

DS Craig Cooper musterte ebenfalls die Bilder und kam mir entschieden zu nahe. Craig hatte sich bei der Polizei ganz traditionell hochgearbeitet und stellte eine rückständige Haltung zur Schau, und zwar eine der übelsten: Hackte gerne beiläufig auf Homosexuellen herum, hatte einen Fünfzig-Zoll-LED-Fernseher zu Hause stehen, ein festes Abonnement bei Sky-Sport und war mit einer Barbie verheiratet. Ich hatte das dumpfe Gefühl, dass er seiner Meinung nach eigentlich meine Stelle hätte bekommen sollen, und wusste nicht, wie ich mit ihm umgehen sollte. Ich verschränkte defensiv die Arme.

»Okay!« Richard ging mit langen Schritten nach vorne. Er zog seine Jacke aus, sein Hemd zeigte unter den Achseln dunkle Flecken. Sein Gesicht glänzte. Ich nahm eine Haltung an, die ich als seine Stellvertreterin für angemessen hielt.

»Wir haben hier einen Toten zwischen dreißig und vierzig, der heute in einer ehemals bewohnten Höhle gefunden wurde, sie befindet sich auf einer Höhe von fünfzehn Fuß in einer Felswand im Steinbruch Eldercliffe.« Richard warf einen Blick in seine Aufzeichnungen. »Todeszeitpunkt um die Mittagszeit. Wir warten noch auf die Laborbefunde und das Ergebnis der Obduktion, vermuten aber Vergiftung durch Cyanid.«

Im Raum herrschte Stimmengewirr. Das mit der Cyanid-Vergiftung kam gut an, es erinnerte an Agatha Christie.

»In einer Höhlenwohnung?« DS Jai Sanghera schaute überrascht drein. »In fünfzehn Fuß Höhe an einer Felswand?«

Jai war ein ehemaliger Sikh, ohne Bart und Turban. Er machte einen stets friedliebenden Eindruck, doch angeblich gingen mit ihm hin und wieder die Gäule durch. Wirklich bezeugen konnte das niemand, aber es wurde allgemein behauptet.

»Genau, Jai«, sagte Richard gereizt. »Eine Höhle, die mal bewohnt war. Es führt eine Treppe hoch, und wir sind ziemlich sicher, dass er noch am Leben war, als er da raufging.«

»Es sei denn, der Mörder war der derzeitige Mr Universe«, sagte Craig.

»Oder das Opfer eigentlich ein Zombie, der untot und mit glasigem Blick die Treppe zur Höhle hochschwebte.« Richard hatte seinen kreativen Moment. »Sieht auch so aus, als hätte er da oben geraucht«, fügte er hinzu.

»Es hat da oben geraucht? Dann ist er erstickt? Was hat er denn geraucht?«

Richard warf Jai einen genervten Blick zu. »Natürlich einen Joint.«

»Dann hat er sich also selbst umgebracht.« Craigs Tonfall war höhnisch, für Selbstmord hatte er nichts übrig.

»Das wissen wir eben nicht. Einiges an dem Tod ist seltsam, Meg wird euch mehr darüber erzählen.«

Ich machte ein paar Schritte zur Seite ins Rampenlicht, wappnete mich innerlich. Über Craigs feistes Gesicht huschte ein hämisches Grinsen, das mich verunsicherte.

Ich berichtete von dem Kuchen, der wahrscheinlich vergiftet gewesen war, von dem in die Felswand gemeißelten Symbol und dass darunter seltsamerweise die Initialen des Toten eingeritzt waren.

»War der Kuchen aus einem Laden oder selbstgebacken?« Jai wippte mit seinem Bein auf und ab, als würde er am liebsten aufspringen und endlich loslegen.

»Mann, Jai, bist du schon wieder auf Speed oder was?«, sagte Craig.

»Das können wir nicht mit Bestimmtheit sagen.« Ich ignorierte Craig, Richard machte das so, hatte ich bemerkt – offenbar hatte er trotz all seiner Berufserfahrung noch keine bessere Strategie gefunden. »Auf der Plastikhülle befand sich ein Etikett mit der Aufschrift Susies süße Sachen, das Mindesthaltbarkeitsdatum war noch lange nicht erreicht.«

»Interessant«, sagte Jai und ignorierte Craig ebenfalls. »Welche Geschichte hat diese Höhle?«

»Dieser Teil des Felsens ist schon in vorviktorianischer Zeit als Steinbruch aufgegeben worden. Man nimmt an, dass die Höhlenbehausung in der Mitte des neunzehnten Jahrhunderts entstanden ist, angeblich haben bis vor ungefähr fünfzig Jahren noch Leute dort gelebt.«

»Ich habe gehört, dass es dort spuken soll«, sagte Jai.

Craig schnaubte verächtlich.

»Das ist nicht unwichtig«, sagte ich. »Denn vielleicht lassen sich Leute von dem Gerücht leiten.«

»Eben, das ist genau der Grund, warum da niemand reingeht«, sagte Jai. »Keine Kinder, keine Penner, niemand.«

Craig pfiff die Titelmelodie von Akte X – Die unheimlichen Fälle des FBI, es war einfach lächerlich. Jai hatte völlig recht, offenbar traute sich niemand in die Höhle. Wir hatten nicht wie üblich Bierdosen, Zigarettenstummel oder verquälte poetische Ergüsse von Teenagern gefunden.

Richard riss das Zepter wieder an sich. »Danke, Jai, aber ich nehme nicht an, dass der Tote einem Gespenst zum Opfer fiel. Wie auch immer, wenden wir uns lieber dem Kuchen zu.« Er ließ seinen Blick durch den Raum wandern wie der Zauberkünstler Derren Brown – jetzt kam die große Überraschung. »Wir haben versucht herauszufinden, wer hinter Susies süße Sachen steckt, aber anscheinend ist kein Unternehmen mit diesem Namen bekannt. Vielleicht will es unbekannt bleiben.«

»Na, das wird sich bald ändern, wenn sie weiter Cyanid in ihren Kuchen tun«, sagte Jai. Allgemeines Kichern. Richard sah Jai tadelnd an.

»Okay.« Jai setzte eine feierliche Miene auf, als wolle er betonen, dass er das Folgende ernst meine. »Da hat also jemand Cyanid in einen Kuchen getan und ihn so verpackt, als sei er in einem Laden gekauft worden. Sollte der Mann damit nicht den Eindruck bekommen, dass alles in Ordnung ist und er ihn unbesorgt essen kann? Dann geht es also um Mord und nicht um Selbstmord.«

»Keine vorschnellen Schlüsse, Jai.« Craig verschränkte seine kräftigen Arme über dem Ansatz seines Bierbauchs. »Kann immer noch Selbstmord sein, aber es sollte aussehen wie Mord, damit seine Verwandten die Lebensversicherung kassieren können.«

»Wenn er sich auch nur einen Deut um die Familie geschert hat, hätte er sich doch nicht umgebracht«, sagte Jai. Ich holte tief und hörbar Luft, ich konnte einfach nicht anders, und Jai sah kurz zu mir hin und lief rot an. Ich schenkte ihm ein halbherziges Lächeln und mimte Beschwichtigung, ich wollte nicht, dass die Leute mich wie ein rohes Ei behandelten.

»Stimmt«, sagte ich und versuchte, mich wieder unter Kontrolle zu bringen. »Es könnte sich um Mord oder Selbstmord handeln oder um vorsätzliches Vergiften von Kuchen.«

»Wenn es kein Selbstmord ist, steckt bestimmt die Ehefrau dahinter.« Richard hatte gerade eine schwierige Scheidung hinter sich.

»Sehr richtig, ich halte mir ebenfalls alle Optionen offen, genau wie Sie.« Ich wollte seine Bemerkung nicht einfach so hinnehmen, obwohl die Statistik auf seiner Seite war.

»Wer hat ihn denn gefunden?« Jai wippte wieder mit seinem Bein, diesmal wahrscheinlich, um Craig auf die Palme zu bringen.

»Ein Labrador. Der war scharf auf den Kuchen.«

»Hat er’s überlebt?«

»Hätte gar nicht gedacht, dass ihr zwei Hundeliebhaber seid«, sagte Craig.

Ich lächelte Jai zu. »Ja, ihm geht’s gut. Wir nehmen an, dass er nur …«

»Dem Hund geht’s gut.« Richard wippte auf den Fersen. »Schön, dass ihr euch alle solche Sorgen um unsere treuen vierbeinigen Freunde macht, aber neben einem Hund mit Magenbeschwerden gibt es auch noch einen Toten.«

»Er ist also in einer Höhle gestorben, in der es spukt«, sagte Jai. »Und an der Wand befindet sich eine hundert Jahre alte Inschrift, die anscheinend seinen Tod voraussagt?«

Ich nickte langsam und bedächtig.

Jai hatte mit seinem Zappeln aufgehört. »Ein Fall für einen Exorzisten?«

 

Wir beendeten die Sitzung, und alle verließen den Raum, um weiterzuarbeiten. Ich wollte mir noch mal die Fotografien ansehen und spürte, dass Craig schon wieder hinter mir stand und mir auf die Pelle rückte.

»Hoffe, du kriegst das hin«, sagte er.

Ich fuhr herum. »Und warum sollte ich das nicht hinkriegen?«

Er hob die Augenbrauen und zuckte mit den Schultern.

Ich spürte, wie ich rot wurde, Schamröte, heiß und schmerzhaft wie Nadelstiche.

»Alles klar?«, sagte Craig. »Du schwitzt wie ein Pädo im Nikolauskostüm.«

»Danke, Craig, mir geht es gut.«

Er trat näher an mich heran. Sein Atem roch nach Minzbonbon und altem Knoblauch. »Keine Sorge«, flüsterte er. »Ich werde ein Auge auf dich haben.«

KAPITEL 3

Ich zog mich an meinen Schreibtisch zurück und starrte den Bildschirm an. Ich war nach Derbyshire gekommen, um das alles hinter mir zu lassen. Um einen Neuanfang zu wagen, im Leben eine neue Seite aufzuschlagen, Tabula rasa zu machen, und was es an Klischees noch so gibt. Ich durfte nicht zulassen, dass ein Idiot wie Craig mich dermaßen aus der Fassung brachte. Ich rückte mich auf meinem Stuhl halbwegs zurecht, straffte meine Schultern und schob sie nach hinten. Ich würde beweisen, dass ich dem Job gewachsen war. Ich konnte klar denken, ich war gut in meinem Beruf.

Mein Versuch, mich aufzumuntern, klang selbst in meinen Ohren schwach – ein bisschen wie die Postersprüche, die bei angeschlagenen Unternehmen herumhingen, oder diese pseudo-positiven Lebensweisheiten, die depressive Freunde gerne auf ihren Facebook-Seiten posteten. Aber ich zwang mich dazu aufzustehen, um Jai zu suchen. Wir wollten am Abend die Ehefrau des Toten befragen.

»Was für ein Arschloch, dieser Craig«, sagte er. »Der würde mich genauso fertigmachen, wenn er nicht befürchten müsste, dass unsere PC-Brigade ihm was aufs Maul gibt.«

Ich merkte, wie meine Anspannung nachließ. »Tja, vielleicht.«

»Und wenn ihm nicht zu Ohren gekommen wäre, dass ich hin und wieder ausflippe.«

Ich musste lachen. »Vielleicht sollte ich mich aggressiver verhalten.«

Jai lächelte, aber dann wurde sein Gesichtsausdruck ernst. »Aber pass auf. Das ist ein Scheißkerl. Mach … ich weiß auch nicht. Sei einfach vorsichtig.«

 

Als Jai und ich von der Wache durch die mit Felsbrocken übersäten Hügel Richtung Eldercliffe fuhren, riss die Wolkendecke auf, und der Sonnenuntergang sorgte für ein farbenfrohes Lichtpanorama. Ich kannte die Kleinstadt ein wenig, Mum lebte in einem Randbezirk. Tief unten im Tal drängte sich ein Gewirr aus engen Straßen, als wollten sie den näher rückenden Steinbrüchen trotzen.

Wir fuhren vom Stadtzentrum aus eine schmale Straße hoch, sie war so steil, dass ich Druck in den Ohren fühlte. An der rechten Straßenseite stand eine Farm, links ging es zum Rand des Steinbruchs, und der Grund fiel jäh in die Tiefe ab. Wie ein Adlernest befand sich genau dort ein einzelnes Haus – ein Cottage aus dem Stein der Umgebung, als sei es aus dem Fels gewachsen.

»Das ist es«, sagte Jai. »Verrückt, diese Leute.«

»Tja. Nicht ganz der richtige Ort, wenn du dich mit Selbstmordgedanken trägst.« Der Satz war noch nicht heraus, da bereute ich ihn auch schon.

»Die Ehefrau ist Ärztin«, sagte Jai. »Kate Webster. Weiß sie schon Bescheid?«

Ich nickte. Wenigstens das mussten wir nicht mehr erledigen. Hamiltons Gesicht, das er mit seinen Nägeln blutig gekratzt hatte, fiel mir ein. Wie ertrug man die Vorstellung, dass der Ehemann in den letzten Minuten seines Lebens versucht hatte, sich die Haut vom Gesicht zu reißen?

Wir gingen zum Cottage, und eine zierliche Frau in Jogginghosen öffnete uns schwungvoll die Tür. Sie war schlank, ihr Gesicht aber aufgedunsen.

Ich zeigte ihr meinen Ausweis.

»Alles klar, ich bin Beth, Peters Schwester.« Sie wies uns in einen langen Korridor, in dem es nach Bienenwachs und Vanille duftete. Keine Frage, hier beschäftigten sie eine Putzfrau.

»Mein Beileid«, sagte ich.

Beth nickte kurz. »Kate wartet im Wohnzimmer, ich mache schnell Tee.«

Wir begaben uns in einen Raum, der von einem riesigen offenen Kamin und einem Panoramafenster beherrscht wurde. Von hier aus hatte man freien Blick in den jähen Abgrund des Steinbruchs. Die Vorhänge waren zurückgezogen, und man sah den dunklen Abendhimmel. Zwei gemütliche Sofas standen im rechten Winkel zueinander, eines vor dem Kaminofen, das andere mit dem Rücken zum Fenster. Man konnte um die Sofas bequem herumlaufen, im Unterschied zu meinem Wohnzimmer, in dem man immer aufpassen muss, sich nicht irgendwo anzustoßen.

Vor dem Fenster stand eine schlanke Frau, sie hatte uns den Rücken zugewandt.

»Dr. Webster«, sagte ich, »mein Beileid.«

Sie wandte sich um und musterte uns zurückhaltend. Ihre Augen waren gerötet, aber sie wirkte in ihrer Trauer zerbrechlich und zugleich gefasst, wie eine Schwindsüchtige zu viktorianischer Zeit.

»Es muss sich um eine Verwechslung handeln.« Sie trat ein paar Schritte auf uns zu. »Bitte sagen Sie mir, dass Sie hier sind, um mir das mitzuteilen.«

»Es tut mir leid. Die offizielle Identifizierung steht noch aus, aber er hatte seinen Führerschein dabei. Und das Foto entspricht genau Ihrer Beschreibung.«

Eine Träne fiel auf ihr T-Shirt. »Was zum Teufel ist ihm denn zugestoßen?«

»Sind Sie in der Lage, uns ein paar Fragen zu beantworten?«, fragte ich. Jai und ich gingen ein paar Schritte übers Eichenparkett und nahmen auf dem Sofa vor dem Kamin Platz. Ich hatte die Hoffnung, sie würde unserem Beispiel folgen. Tat sie aber nicht.

»Wie ist er gestorben?«

»Ich fürchte, das wissen wir noch nicht genau. Wann haben Sie ihn zum letzten Mal gesehen?«

Sie lief vor dem Fenster auf und ab, mit hängenden Schultern, die Arme verschränkt. »Ich habe ihn heute Morgen noch gesehen. Er arbeitete, montags arbeitet er immer von zu Hause aus. Meine Güte, es war alles wie immer. Man hat ihn angeblich in einer Höhle oder so was gefunden?«

»Ja, sie ist fünfzehn Meter über dem Boden in den Fels gehauen.«

»Was zum Teufel wollte er da? Normalerweise dreht er mal eine kurze Runde, um einen klaren Kopf zu bekommen, aber er sitzt doch nicht stundenlang in einer Höhle rum.«

»Wir wissen es nicht, sagt Ihnen dieser Ort etwas?«

»Ich weiß, dass es diese Höhle gibt. Hier in der Gegend sagt man, es spuke dort. Aber die Leute hier sind so. Sie sagen auch, unser Haus … Ach, vergessen Sie’s.«

Beth kam mit Tee und Keksen auf einem Tablett zurück. Sie stellte es auf einem wirklich großartigen Sofatisch aus alten bemalten Bodendielen ab und setzte sich. Kate entfernte sich vom Fenster und nahm neben ihrer Schwägerin Platz.

Jai nahm sich einen Becher mit Tee, bediente sich bei den Keksen und machte sich Notizen.

»Was erzählt man sich denn über dieses Haus?«, fragte ich.

»Ach, angeblich bringt es Unglück«, sagte Kate. »Angeblich hätten wir hier niemals einziehen sollen. Aber uns war das damals egal. Wie soll ein Haus Unglück bringen? Aber jetzt bin mir nicht mehr so …«

»Jetzt komm schon, Kate.« Beths Tonfall war scharf. »Das mit Peter ist schrecklich. Aber dafür kann doch das Haus nichts.«

»Aber was ist mit all den anderen? Bevor wir hier eingezogen sind?« Kate wandte sich an uns. »Das Haus stand zum Verkauf, aber niemand wollte es haben. Es stand jahrelang leer.«

Jai war gerade dabei, einen Keks zum Mund zu führen, und hielt auf halber Strecke inne. »Was war denn mit all den anderen?«

»Ein Mann ist über die Felsklippe gestürzt, oder er ist runtergesprungen, so genau weiß man das nicht. Und dann seine Tochter … furchtbar.«

»Das spielt doch alles keine Rolle«, fuhr Beth sie an. »Wir müssen rausfinden, wer Peter auf dem Gewissen hat.«

»Sie war gerade mal fünfzehn«, fuhr Kate fort. »Sie hat sich in diesem unterirdischen Höhlenlabyrinth auf der anderen Seite des Tals umgebracht. Alle haben behauptet, dieses Haus sei verflucht, aber wir dachten, lass die anderen reden, das betrifft uns nicht. Wir haben es für wenig Geld bekommen.«

»Ich kann mich noch daran erinnern«, sagte Jai. »Ein Einsatztrupp hat versucht, sie rechtzeitig zu finden und nach draußen zu bringen, aber …«

»Das spielt alles keine Rolle«, sagte Beth. »Kate ist mit den Nerven am Ende. Mit dem Haus ist alles in Ordnung.«

Ich erinnerte mich an Ben Pearsons Geschichte von dem Mädchen, das er zu retten versucht hatte. »Hat sich dieses Mädchen nicht im Labyrinth erhängt?«

»Ja. Es war einfach furchtbar. Und zu viktorianischer Zeit hat sich der Mann, der dieses Haus hier gebaut hat, von der Klippe gestürzt.« Kate war auf die Sofakante gerückt, und die Worte sprudelten nur so aus ihr heraus. »Auch andere sind hier umgekommen. Sogar Peters Großmutter hat von einem Fluch gesprochen. Irgendwas mit Hexen. Ihr zufolge können die Geister der Hexen einen über die Kante in den Abgrund stoßen, und deshalb soll man nicht zu nahe herangehen. Beth interessiert das selbstverständlich nicht die Bohne, wenn sie sich in ihrem scheußlichen Steingarten zu schaffen macht.«

»Absolut lächerlich, das ganze«, meinte Beth schnippisch.

Kate sah mich an. »Warum finden Bewohner dieses Hauses alle früher oder später den Tod?«

Beth verschränkte die Arme. »Meine Großmutter zeigt erste Anzeichen von Altersdemenz. Ich fasse es nicht, mein Bruder ist gerade ums Leben gekommen, und wir beschäftigen uns mit den Hirngespinsten einer alten Frau.«

Ich machte mir eine kurze Notiz, wir mussten diese Großmutter unbedingt befragen. Ich wurde immer hellhörig, wenn Verwandte einander schlechtmachten. In manchen Fällen vergaßen sie uns vollkommen. Doch bei Beth war das offenbar nicht der Fall. »Tut mir leid«, sagte sie. »Wirklich, das spielt alles keine Rolle. Was wollten Sie uns fragen?«

Ich lächelte beiden Frauen zu. »Hat eine von Ihnen beiden eine Ahnung, warum er sich ausgerechnet zu der Höhle begeben hat?«

»Höhlen hatten es ihm immer schon angetan«, sagte Beth. »Aber mir war nicht klar …«

»Einen Moment«. Kate sah mir direkt in die Augen. »War jemand bei ihm? Ist er deshalb zu der Höhle gegangen?«

Ich schüttelte den Kopf. »Nach allem, was wir wissen, nein.«

Sie blickte auf ihre Teetasse. »Gut.«

»Wir müssen sein Handy mitnehmen«, sagte ich. »Und seinen Laptop. Und wir müssen Ihr Haus durchsuchen lassen.«

Kate seufzte. »Tun Sie, was Sie für richtig halten.« Sie zögerte. »Nur damit Sie’s wissen … also, auf dem Laptop sind ein paar E-Mails von mir, in denen steht, dass es mir reicht.« Sie schüttelte mit einer Kopfbewegung eine Strähne aus dem Gesicht. »Aber das war nicht wirklich ernst gemeint, der übliche eheliche Kleinkrieg, wenn Sie wissen, was ich meine. In der letzten Zeit war es nicht immer leicht mit ihm. Aber ich habe ihn nicht umgebracht.« Sie lachte leicht hysterisch auf. »Im anderen Fall hätte ich diese E-Mails wohl gelöscht, was meinen Sie?«

Das musste ich mir merken – offenbar ging sie davon aus, dass sie an die E-Mails ihres Mannes ganz leicht herankam. »Wo waren Sie heute?«

»Was? Den ganzen Tag bei der Arbeit. Sie glauben doch nicht im Ernst, dass ich das gewesen sein könnte?«

»Reine Formalität«, sagte ich. »Womit verdiente Peter sein Geld?«

»Als Patentanwalt. Mit Erfindungen, na, Sie wissen schon.« Sie beugte sich über den Kaffeetisch, nahm einen Keks, betrachtete ihn voller Abscheu und legte ihn wieder auf den Teller. Mir war schon aufgefallen, dass die Dünnen unter den Trauernden solche Kekse niemals aßen.

»Es sieht so aus, als hätte er einen Schokoladenkuchen verzehrt. Auf der Plastikhülle stand Susies süße Sachen, haben Sie ihm den gekauft?«

»Sagt mir gar nichts. Aber Peter hatte eine Vorliebe für Süßes. Er naschte alles, was ihm angeboten wurde. Hat man außer ihm noch jemand im Wald gesehen?«

»Dem gehen wir gerade nach.«

»Ich kann mir nicht vorstellen, dass er sich den Kuchen selbst gekauft hat, auf dem Weg dorthin gibt es keine Läden.« Sie trommelte mit den Fingern gegen die Knie.

Kate Webster verbreitete prickelnde Energie, sie wirkte nicht wie schier vom Schlag getroffen wie die meisten Hinterbliebenen. Ich spürte plötzlich, dass ich nachhaken musste. »Sie sagten, in der letzten Zeit war es nicht immer leicht mit ihm?«

»Ach, ich weiß auch nicht. Es stimmt, er war unleidlich mir gegenüber, und er trank zu viel. Ich hatte den Eindruck, er verberge etwas.« Ihre Stimme klang erstickt. »O Gott, am Ende kommt heraus, dass er eine Affäre hatte. Das würde ich nicht ertragen.« Sie stand auf und stellte sich mit dem Rücken zu uns erneut ans Panoramafenster.

Ich behielt meine ruhige Tonlage bei. »Tut mir leid, dass ich mich danach erkundige, auch wenn ich nicht davon ausgehe, dass es so ist. Angenommen, er hatte eine Affäre, könnten Sie sich vorstellen mit wem?«

Sie wandte sich zu uns um, ihre Silhouette hob sich gegen den Abendhimmel ab. Wie sie sich gegen das Fenster lehnte, machte mich ganz nervös. »Mein Gott«, sagte sie. »Die anderen Fragen sind schon schlimm genug, und jetzt ausgerechnet diese – wer kommt Ihrer Meinung nach als Freundin Ihres Mannes in Frage, falls die beiden …«

»Tut mir leid.«

»Nur damit Sie Bescheid wissen, außerhalb der Arbeit hatte er keine sozialen Kontakte, und in seinem Büro gibt es fast nur Männer. Hin und wieder hat er eine Mandantin erwähnt, aber die mochte er nicht besonders. Nein, an der hatte er bestimmt kein Interesse.« Sie rieb sich an der Nase. »Mein Gott, sein Verhalten legt das ziemlich nahe, stimmt’s? Ich kann das alles einfach nicht glauben, ausgerechnet mir muss das alles passieren.«

Beth stand auf, ging zum Fenster, nahm Kate sanft am Arm und führte sie zurück zum Sofa. »Peter hatte keine Affäre«, sagte sie.

Ich nahm einen Keks. Leute beruhigten sich schneller, wenn man sich bei ihren Keksen bediente. Irgendeine Entschuldigung musste ich ja haben. »Darf ich mich nach seinen Essens- und Schlafgewohnheiten erkundigen?«, sagte ich.

Kate schlug kurz die Beine übereinander und ließ es dann wieder. »Er aß gerne, war immerzu am Essen. Aber in der letzten Zeit hat er ein paar Kilo abgenommen. Und vielleicht hat er im letzten Jahr auch ein bisschen unruhiger geschlafen, jedenfalls hat er mir dauernd die Decke weggezogen. Und manchmal litt er unter Albträumen. Stress im Job, hab ich mir gesagt.«

Ich wandte mich an Beth. »Ist Ihnen etwas aufgefallen?«

Sie schüttelte den Kopf. »Auf mich machte er einen normalen Eindruck.«

»Nahm er Medikamente gegen Depression?«

»Nein«, sagte Kate. »Er hasste Medikamente, eigentlich komisch, wenn man bedenkt, woran er arbeitete.« Ihre Mundwinkel hoben sich zu einem leichten Lächeln. »Wenn man Medikamente nahm, war man in seinen Augen psychisch schwach.«

»Wann haben Sie angefangen, sich wegen seines Trinkens Gedanken zu machen?«

»Ich habe mir nicht wirklich Gedanken gemacht. Na ja, es fing vor ungefähr einem Jahr an und ist mit der Zeit schlimmer geworden.« Ihre Unterlippe zitterte. Sie holte einmal tief Luft und redete dann weiter. »Wenn ich nach Hause kam, saß er oft schon mit einer Flasche Bier vorm Fernseher. Er behauptete immer, er habe nur eine getrunken, aber wenn er aufstand, schwankte er manchmal. Und er versteckte die Flaschen. Manchmal roch er, als habe er was geraucht. Und zwar keinen Tabak.«

»Können Sie sich vorstellen, dass er sich etwas antun wollte?«

»Wie bitte? Nein, auf keinen Fall.« Sie schüttelte entschieden den Kopf, so wie ein Hund sich das Wasser aus dem Fell schüttelt. »Nein, das hätte er mir nicht angetan.«

Die übliche Behauptung von Angehörigen, aber auf dem Sofa saß eine, die es besser wusste.

Ich stand auf. Im Kaminofen war mir etwas aufgefallen. Er war ein teures Gerät aus Gusseisen mit einer Vorderseite aus Glas. Ein Feuer brannte nicht, aber durch die verrußte Scheibe waren einige halbverbrannte Scheite und Papier zu erkennen. Das Papier war fast vollständig verkohlt, aber ein Blatt war an einer Ecke unversehrt und von Hand beschrieben.

»Was sind das für Papiere?«, fragte ich.

Kate sprang auf und stürzte zum Kaminofen. »Oh, gar nichts!« Sie griff mit einer Hand nach dem Schürhaken und mit der anderen zur Ofentür.

»Lassen Sie das!«, rief ich, als sei sie ein Hund, der sich gerade auf ein Picknick stürzen wollte.

Beth warf Kate einen wütenden Blick zu, und die erstarrte mit dem Schürhaken in der Hand. Sie drehte den Kopf langsam in meine Richtung, als überlege sie, ob ich ihr so einfach etwas untersagen konnte. Vermutlich schon, beschloss sie, legte den Haken auf dem Boden ab und entfernte sich vom Ofen. »Tut mir leid.« Sie zog sich aufs Sofa zurück. »Das ist nichts Wichtiges. Nur Schmierpapier, das ich zum Anzünden benutzt habe.«

Ich tauschte einen Blick mit Jai. »Gut, das würden sich unsere Leute gerne ansehen.«

 

Jai sollte die Befragung zu Ende führen. Ich bat darum, mir Peter Hamiltons Arbeitszimmer anschauen zu dürfen. Laut Kate hatte er dort gearbeitet, bevor er zu seinem letzten Spaziergang aufgebrochen war. Alles machte den Eindruck, er habe vorgehabt, auch wieder dorthin zurückzukehren. Keine Spuren von Aufräumarbeiten vor einem geplanten Selbstmord. Im Zimmer roch es leicht abgestanden, aber nicht unangenehm, ein bisschen wie in einer Bibliothek. Auf einem antik aussehenden Schreibtisch lagen Papiere, auf die jemand mit der Hand etwas notiert und in vielen Fällen wieder durchgestrichen hatte. Auf der Seite mit dem wildesten Durcheinander stand ganz oben Patentansprüche, und darunter überzogen chemische Formeln das Blatt wie ein Spinnennetz.

An den Wänden standen Bücherregale, auf denen sich wenig inspirierende Werke zu Biochemie und Patentrecht drängten, viele davon von einer Staubschicht bedeckt. Aber ganz unten im Regal wurde ich doch fündig – dort stand eine Sammlung von Fotoalben. Ich ging in die Hocke und zog ein Album heraus. Ein Ferienschnappschuss nach dem anderen. Kate Webster und Peter Hamilton, beide quietschvergnügt und quicklebendig. Lächelnde Gesichter, weiße Dörfer und keine einzige Wolke am Himmel. In den anderen Alben ging es ähnlich fröhlich-harmonisch zu, Unstimmigkeiten, wenn es denn welche gab, hatte man unter den Teppich gekehrt. Ich nahm das Album heraus, das so aussah, als sei es das älteste. Die Seiten waren steif, die Plastikfolien über den Fotos schimmerten gelblich und hafteten nicht mehr. Ich hielt die einzelnen Seiten am Rand, während ich langsam umblätterte.

Auf den ältesten Fotos war unter anderem eine Hochzeit abgebildet – Braut und Bräutigam, vermutlich Hamiltons Eltern. Ein späteres Bild zeigte das gleiche Paar mit zwei Jungen und einem etwas jüngeren Mädchen, vermutlich Beth. Die Frau saß nunmehr kraftlos im Rollstuhl. Auf ihrem Schoß lag eine Katze, ihr Fell ein so kräftiges Orange, dass sie ihrer Umgebung gleichsam alle Farbe stahl und sie grau aussehen ließ. Die Blicke der drei Kinder waren liebevoll auf das Tier gerichtet.

Ich warf einen Blick auf Seiten mit Fotos aus der späteren Kindheit. Sonnenverbrannte Rasenflächen und gelbe Sandstrände in Cornwall. Die Mutter verschwunden. Dann die Studienzeit – Stechkahnfahrten auf dem Fluss und Herumlümmeln in den College-Gärten von Cambridge, im Hintergrund glänzende Erkertürme und Zinnen. Auf den meisten Bildern war eine hübsche junge Frau zu sehen, ihre großen hellen Augen schienen direkt auf mich gerichtet. Sie stand im Zentrum, wie eine Sonne, um die alle anderen wie Planeten kreisen. Sie starrte in die Kamera, und Peter Hamilton starrte sie an. Ihr Gesicht prägte sich mir ein.

Ich erhob mich, blickte erneut auf den Papierwust auf dem Schreibtisch und nahm das Blatt mit der Überschrift Patentanspruch zur Hand. Auf der Rückseite stand noch etwas. Ich drehte das Blatt vorsichtig um. Ein einziges Wort, jemand hatte es unzählige Male geschrieben, in unterschiedlicher Größe, mit unterschiedlichen Kugelschreibern, kreuz und quer.

Verflucht.

KAPITEL 4

Als wir von Kate Websters Haus wegfuhren, schwirrten mir im Kopf Hexen, Flüche, Gift und Flashbacks von Peter Hamiltons blutüberströmtem Gesicht herum. Ich schaute kurz zurück zum Cottage, das sich mit verbissener Entschlossenheit an den Grund und Boden vor dem Abgrund klammerte, der sich zu drei Seiten hin öffnete. Eine Außenlampe beschien den kleinen Steingarten an einer Hausseite. Ich stellte mir vor, wie weit und steil es davor in die Tiefe ging, und fragte mich, ob das Haus vielleicht eines Tages einfach in den Steinbruch stürzen würde, als stünde es an einer von Erosion zerfressenen Küstenklippe.

»Hast du etwas Brauchbares herausgefunden?«, fragte ich Jai.

»Nicht wirklich. Offenbar unternahm er montags, wenn er von zu Hause arbeitete, einen Spaziergang, aber nicht immer in den Steinbruch. Er war scharf auf Süßes und hätte von jedem Wildfremden Kuchen angenommen, aber es gibt niemanden, der ihm Böses wollte.«

»Ganz offensichtlich.«

»Das Gerede von einem Fluch, der auf dem Haus liegen soll, fand ich ein bisschen merkwürdig. Hätte ich von einer Ärztin eher nicht erwartet.«

»Oder von einem Patentanwalt. Ist aber schon seltsam, dass so mancher Hausbewohner hier sein Leben lässt. Hast du nachgefragt, ob jemand kürzlich verstorben ist?«

»Hab ich, nein, das Mädchen vor zehn Jahren war die letzte.«

»Ben Pearson hat mir gestern von ihr erzählt. Der Sergeant im Dienst. Im Labyrinth sind angeblich die Initialen von Verstorbenen in den Fels geritzt.«

Jai sah mich kurz an. »So wie in der Höhle?«

»Ja.« Ich manövrierte den Wagen die steile Straße zum Stadtzentrum hinab und schickte Stoßgebete zum Himmel, dass mir niemand entgegenkommen möge. »Schon komisch, dass das Mädchen aus genau diesem Haus stammte, findest du nicht?«

»Schon, und die Ehefrau hat noch etwas anderes erwähnt.«

»Und was?«

»Als ich die beiden fragte, ob sie etwas von den Inschriften im Inneren des Felsens wüssten, setzte die Ehefrau zu einer Antwort an, die ich aber nicht ganz mitbekam. Ihre Schwägerin brachte sie sofort zum Schweigen, worauf die Ehefrau so tat, als habe sie gar nichts gesagt. Aber du kennst das vielleicht, im Nachhinein rekonstruiert man manchmal die Worte von jemand anderem – und ich glaube, sie hat was vom Keller gesagt.«

 

Ich setzte Jai bei ihm zu Hause in Matlock ab und nahm die A6 Richtung Belper. Es war spät geworden und dunkel, und der Nieselregen hatte sich in Nebelschwaden verwandelt, die das Scheinwerferlicht von entgegenkommenden Autos verzerrten. Entweder wurden meine Augen schlechter, oder bei Nacht zu fahren war in meinem Fall immer schon ein Akt von blindem Gottvertrauen gewesen. Jedenfalls kniff ich die Augen zusammen, um in dem diffusen Licht überhaupt etwas zu sehen, und wünschte, ich läge bereits im Bett.

Zu Hause schloss ich die Tür zu meinem winzigen angemieteten Cottage auf. Die Heizung lief, und ausnahmsweise wirkte der Flur mal gemütlich. Der lange rostfarbene Läufer schützte mich vor der Kälte des Steinbodens; auf den Regalen türmten sich Bücher, die ich noch nicht eingeordnet hatte. Auf einem dieser Türme blinkte ein rotes Lichtlein. Seit wann waren Nachrichten auf dem Anrufbeantworter in meinem Leben kein Grund mehr zu freudiger Aufregung, sondern eher für Tristesse? Ich kickte die Schuhe von den Füßen und drückte auf den Knopf. Die Stimme von Mum. Das Übliche. Wie es mir ging. Wie es bei der Arbeit lief. Ob ich genug essen würde. (Hatte sie mich eigentlich mal genau angeschaut?) Ihre Stimme klang anders als sonst – schrill und zugleich, als ob sie ins Telefon hauchte, damit niemand mithören konnte. Sie war seit einiger Zeit nicht sie selbst, als mache sie sich Sorgen, aber ich war die Letzte, der sie sich anvertrauen würde. Wahrscheinlich wurde es ihr doch zu viel, dass sie sich auch noch um Gran kümmern musste. Eine Welle aus Schuldgefühl und Hilflosigkeit überrollte mich. Morgen würde vermutlich wieder nichts aus einem Besuch bei ihr. Da steckte ich bis über beide Ohren in Ermittlungsarbeit.

Noch während die Nachricht lief, warf ich einen Blick ins Wohnzimmer und ging dann in die Küche. Hamlet kam durch die Katzenklappe gehechtet, ein blitzschnelles schwarzweißes Knäuel. Ich beugte mich zu ihm hinunter, nahm ihn auf den Arm, zugegebenermaßen ein bisschen gegen seinen Willen, und vergrub mein Gesicht in seinem weichen Bauch. Er schnurrte widerstrebend und kämpfte sich aus der Umarmung. Ich gab ihm Futter, obwohl er sich vermutlich schon den ganzen Abend bei meinem wohlwollenden Nachbarn den Bauch vollgeschlagen hatte, nahm mir ein Glas Wasser und setzte mich mit dem Laptop an den Küchentisch.

Nach längerem Suchen fand ich eine Webseite zu Mythen und Legenden in Derbyshire – mit der Geschichte vom Labyrinth, den Hexen und den Initialen im Fels, genau wie Ben Pearson es mir erzählt hatte. Doch schienen das alles unbestätigte Informationen. Auch von der bewohnten Höhle war die Rede. Angeblich spukte dort das Gespenst einer skelettdürren Frau, die um ihren verlorenen Liebhaber trauerte. Ich klappte meinen Laptop zu und rieb mir über die Arme, um meine Gänsehaut loszuwerden. Eigentlich glaubte ich doch gar nicht an Gespenster.

Ich stieg über die steile Treppe in den ersten Stock. Hamlet wuselte unterdessen zwischen meinen Füßen und brachte mich fast zu Fall. Oben angekommen, gab ich mir alle Mühe, meinem Impuls zu widerstehen und alle Räume zu inspizieren. Das konnte wirklich nicht so weitergehen. Ich schloss die Augen und lehnte mich an die Wand des kleinen Flurs. Vor meinem geistigen Auge erschien wieder die Schlinge im Labyrinth. Starr und leer. Dann flackerte an den Rändern des Bewusstseins ein anderes Bild auf. Von einem jungen Mädchen, das sich erhängt hatte. Ich kniff die Augen zu und presste die Fäuste gegen meine Schläfen. Das Bild löste sich auf.

Ich steckte meinen Kopf kurz durch die Türen zum chaotischen Arbeitszimmer und zum vollgestopften Gästezimmer, und wie immer flog mein Blick als Erstes zur Decke.

KAPITEL 5

»Es ist wohl das hier.« Jai deutete mit einem Kopfnicken auf ein Haus im georgianischen Stil, neben den anderen, relativ bescheidenen Häusern an der Straße wirkte es pompös, als würde es von unten extra angestrahlt. »Das sieht genauso aus, wie man es von Bonzen-Anwälten erwartet.«

Ich musste ihm recht geben. Die blasse Morgensonne schien auf ein Messingschild mit der Aufschrift Carstairs, Hamilton & Swift – Fachanwälte für Patent- und Markenrecht. Ich schob die schwere Tür auf, und wir befanden uns in einem erstaunlich modernen Empfangsbereich.

Die Dame am Empfang trug eine Dauerwelle, die zuletzt in den Achtzigern Mode gewesen war, und ein Namensschildchen, auf dem Wendy stand. Im Stillen beglückwünschte ich Carstairs und Co. zu dieser Wahl, hier wurden die Mandanten wenigstens nicht wie sonst üblich von einer aufgedonnerten Barbie empfangen. Beim Anblick unserer Dienstausweise bekam sie große Augen und sagte: »Oh, natürlich, Sie sind gekommen, um die Verdächtigen zu befragen. Ich bringe Sie sofort in den Konferenzraum.«

Sie führte uns zu einer eichengetäfelten Tür zu unserer Rechten. Kaum hatte sie die Hand nach dem Türgriff ausgestreckt, stürmte eine Frau von der Straße in den Empfang, wobei sie mir ihren kantigen Ellbogen in den Magen rammte. »Ich muss auf der Stelle mit jemandem reden, der Peters Fälle übernimmt.« Sie hatte eins von diesen spitzen Mäusegesichtern wie jene Mädchen, die mich in der Schule immer gehänselt hatten.

Wendy setzte ein karges Lächeln auf und sagte: »Einen Augenblick, ich komme sofort.«

Ich schubste der Frau beim Betreten des Konferenzraums die Eichentür wie zufällig gegen den Kopf und setzte sie im Geiste auf die Liste der Verdächtigen.

Der Raum hätte einem hochherrschaftlichen Haushalt alle Ehre gemacht. An den Wänden prunkten gewichtige Bücher, und knollennasige Herren blickten aus Goldrahmen unmutig auf den Betrachter herab.

»Und, was habe ich dir gesagt?« Jai hatte gerade in einem Stuhl mit hoher Lehne Platz genommen, genau gegenüber von einem der typischen Kastenfenster mit Blick auf die Straße.

»Na, da kämst du als Mandant beim Gedanken an die Kosten ganz schön ins Zittern.« Ich setzte mich über Eck, damit Jai und ich nicht wie in Kampfformation am Tisch aufgereiht wären, und legte den Mantel und meinen komischen Spezialschal ab. Er war viel zu lang, aber meine Schwester Carrie hatte ihn noch für mich gestrickt und dabei geschworen, sie würde so lange daran weiterstricken, bis sie es nicht mehr konnte. Und obwohl ich ihn immer ein paarmal um den Hals schlingen musste, damit ich ihn nicht im Dreck hinter mir herzog, konnte ich mich nicht von ihm trennen.

Wendy kam mit Kaffee und Keksen zurück.

»Hätten Sie einen Augenblick Zeit?«, sagte ich.

Sie stellte das Tablett auf dem Tisch ab und plusterte sich auf. »Natürlich.«

»Wie war Peter Hamilton denn so als Kollege, als Vorgesetzter?«

»Ach, der war richtig nett. Es ist so schade. Er war der Netteste von den dreien. Mit den andern beiden ist es manchmal kein Vergnügen. Auch wenn der arme Peter in der letzten Zeit ein bisschen launisch sein konnte.«

Ich fing Jais Blick auf. Mach du hier weiter und kitzele mit deinem Charme so viel Klatsch und Tratsch aus ihr raus, wie du kannst. Er begriff sofort, setzte eine mitfühlende Miene auf und einen vertraulichen Tonfall ein, ganz der Charmebolzen. »Da müssen Sie ja einiges über sich ergehen lassen. Und Peter Hamilton war in der letzten Zeit ein bisschen launisch?«

»Nur im letzten halben Jahr oder so. Er fuhr mich wegen Kleinigkeiten an.«

»Haben Sie eine Erklärung dafür?«

»Nicht wirklich. Die stehen alle drei unter Stress. Und die beiden anderen Partner …«

»Sie meinen Felix Carstairs und Edward Swift?«

Sie nickte. »Ja, die machten sich so ihre Gedanken wegen Peter.«

»Was meinen Sie damit?« Jai beherrschte sein Handwerk perfekt. Wendy lehnte sich entspannt an den Türrahmen, ganz so, als plaudere sie mit einer Freundin.

»Die zwei steckten immer wieder in Meetings zusammen. Mal ganz im Vertrauen, ich glaube, die wollten den loswerden.« Ihr stockte kurz der Atem, als sei ihr die weitreichende Bedeutung ihrer Worte gerade klargeworden. »O Gott, nein, so habe ich das natürlich nicht gemeint. Ich wollte sagen, sie haben versucht, ihn als Firmenpartner loszuwerden. Ich glaube, Peter kam mit seiner Arbeit nicht mehr nach. Offenbar hat Edward in seinen Akten geschnüffelt, als Peter auf Urlaub war. Aber Edward ist immer ein bisschen daneben. Der lebt in seiner eigenen Welt, wenn Sie verstehen, was ich meine.«

»Sie meinen, er zeigt autistische Züge.«

»Na ja, ein bisschen«. Sie zeigte mit Daumen und Zeigefinger, wie viel für sie »ein bisschen« war, und senkte die Stimme. »Und erkundigen Sie sich bei Felix unbedingt nach Stair-Gate.«

Jai lehnte sich vor, um sie zum Weiterreden zu bewegen, und sagte leise: »Was meinen Sie damit?«

»So nennen wir das hier. Wie damals bei Watergate, nur das sich in diesem Fall alles draußen auf der Treppe abspielte. Felix hat Peter angebrüllt, und dann passierte etwas Schreckliches – Peter ist die Treppe runtergefallen.« Sie trat einen Schritt auf uns zu und flüsterte. »Wir glauben, dass Felix ihn geschubst hat.«

»Wirklich?« Jais Tonfall klang jetzt verschwörerisch.

»Doch, doch. Felix ist kein einfacher Charakter. Einmal hat er draußen auf dem Parkplatz eine Katze überfahren, und das hat ihn völlig kaltgelassen.«

»Das klingt nicht gut.« Jai lehnte sich zurück.

Im Geiste setzte ich Felix sofort ganz oben auf die Liste der Verdächtigen, noch vor die Frau mit den spitzen Ellbogen. »Und wer ist das da draußen im Empfang?«

Wendy blickte säuerlich drein. »Die gerade eine Szene gemacht hat, weil ihr Patentanwalt es gewagt hat, einfach so zu sterben? Die meinen Sie? Das ist Lisa Bell. Meiner Meinung nach ist sie Teil des Dramas. Ich habe eine der Sekretärinnen sagen hören, dass Peter ihr zu wenig in Rechnung gestellt hat und die beiden Partner darüber gar nicht erfreut waren.«

Das war also die Mandantin, die Hamiltons Ehefrau erwähnt hatte. Lisa Irgendwie. Und mit der sollte er eine Affäre gehabt haben? Für diese Frau brauchte ein Mann aber ein ganz dickes Fell.

Ein kurzes energisches Klopfen an der Tür, und schon marschierte ein Mann herein, der so tat, als wäre hier alles seins – war es vermutlich auch.

Wendy fuhr überrascht auf. »Oh, ich gehe dann mal wieder zurück an die Arbeit.«

Der Unbekannte streckte uns seine Hand entgegen. »Felix Carstairs.« Er setzte sich Jai in der typischen Pose des Alpha-Männchens gegenüber. Ich spürte förmlich, wie Jai in Abwehrhaltung ging, dabei benahm der Mann sich nicht einmal provokant daneben. Er hatte die ebenmäßigen Gesichtszüge und geschmeidige Plumpheit eines attraktiven Zirkusponys.

»Wirklich furchtbar, das mit Peter, der Arme.« Er betonte jede Silbe einzeln, wie das Leute gerne tun, denen man bereits von klein auf signalisiert, dass sie eines Tages ohnehin der Chef sein und alle an ihren Lippen hängen werden. Ich dagegen brachte beim Reden in kurzer Zeit so viel wie möglich unter, bevor mich jemand unterbrechen konnte.

»Ja, furchtbar«, sagte ich. »Dürfen wir Ihnen ein paar Fragen stellen?«

»Gerne.« Felix setzte ein Lächeln auf, sein Selbstvertrauen umhüllte ihn wie ein Zaubermantel. Damals in Cambridge hatte ich darauf gesetzt, viele Typen wie ihn kennenzulernen, aber letztlich fühlte ich mich zu Mitstudenten hingezogen, die genau wie ich eine staatliche Schule besucht hatten.

»Wann haben Sie ihn zuletzt gesehen?«

»Am Freitag. Und am Montag habe ich den ganzen Tag hier gearbeitet. Wendy vom Empfang wird Ihnen das bestätigen.«

Schon interessant, dass er uns ein Alibi auftischte, bevor wir überhaupt danach gefragt hatten. Jai machte sich Notizen und beäugte Felix misstrauisch.

»Okay, danke«, sagte ich. »Ist Ihnen in den vergangenen Wochen etwas an ihm aufgefallen?«

»Er wirkte ein bisschen niedergeschlagen. Es war Selbstmord, nehme ich an, oder?«

Ich biss von meinem Schokoladenkeks ab und lehnte mich zurück. »Waren Sie gut befreundet?«

»Wir waren zusammen in Cambridge. Aber Sie wissen ja, wie das bei Männern ist – über die wichtigen Dinge spricht man nicht. Ich hätte mich vielleicht mehr für sein Leben interessieren sollen.« Er klang fast gelangweilt. »Noch was? Ich habe gerade viel zu tun.«

»Mit Fällen von Peter? Ich habe gehört, er war mit seiner Arbeit im Rückstand.«

»Nicht sehr. Wir arbeiten einfach alle sehr viel, und jede zusätzliche Aufgabe erhöht die Belastung.«

»Dann haben Sie sich am Ende doch Gedanken über Peters berufliche Leistungen gemacht?«