Das Buch der Flucht - Johann Hinrich Claussen - E-Book

Das Buch der Flucht E-Book

Johann Hinrich Claussen

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Beschreibung

Die Bibel erzählt von Menschen, die vertrieben und verschleppt werden, fliehen müssen, in der Fremde leben und Heimat suchen – von der Vertreibung aus dem Paradies über den Auszug aus Ägypten und das Babylonische Exil bis zu Jesus und seinen Aposteln, die heimatlos durch die Welt ziehen. Johann Hinrich Claussen lässt uns in seinen prägnanten Nacherzählungen und Erläuterungen die Bibel als DAS Buch der Flucht neu entdecken. Eine bewegende Lektüre für alle Sesshaften, Suchenden und Heimatlosen. Ein roter Faden durchzieht die Bibel, der bisher kaum wahrgenommen wurde: Der Untergang der Heimat, Flucht, Exil und die Sehnsucht nach Rückkehr in ein gelobtes Land prägen Geschichten, prophetische Reden und Lieder. Johann Hinrich Claussen lässt diese Texte in einer dramaturgisch meisterhaften Auswahl und Anordnung kongenial zu uns sprechen, immer mit dem Blick für das Wesentliche und ohne etwas hinzuzudichten. In knappen Erläuterungen zeigt er, welche realen historischen Erfahrungen von Zerstörung, Flucht und Exil den Texten zugrunde liegen. So erweist sich die Bibel als ein Produkt traumatischer Erfahrungen. Ihre Geschichten, Lieder, Gebote und Theologien wurden Verfolgten und Vertriebenen zur neuen, unverlierbaren Heimat – und sind es für viele Menschen bis heute. 44 ausgewählte Fotografien aus den Jahren 1860 bis 1950 zeigen auf berührende Weise, wie Menschen überall auf der Welt durch Krieg, Verfolgung und Not heimatlos werden.

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Das Buch der Flucht

Die Bibel in 40 Stationen

Neu erzählt vonJohann Hinrich Claussen

C.H.Beck

An Deck des Schnelldampfers «Bremen», 1930er-Jahre

Zum Buch

Ein roter Faden durchzieht die Bibel, der bisher kaum wahrgenommen wurde: Der Untergang der Heimat, Flucht, Exil und die Sehnsucht nach Rückkehr in ein gelobtes Land prägen Geschichten, prophetische Reden und Lieder. Johann Hinrich Claussen lässt diese Texte in einer dramaturgisch meisterhaften Auswahl und Anordnung kongenial zu uns sprechen, immer mit dem Blick für das Wesentliche und ohne etwas hinzuzudichten. In knappen Erläuterungen zeigt er, welche realen historischen Erfahrungen von Zerstörung, Flucht und Exil den Texten zugrunde liegen. So erweist sich die Bibel als ein Produkt traumatischer Erfahrungen. Ihre Geschichten, Lieder, Gebote und Theologien wurden Verfolgten und Vertriebenen zur neuen, unverlierbaren Heimat – und sind es für viele Menschen bis heute.

45 Fotografien aus den Jahren 1860–1950, teils einzigartige historische Dokumente von namhaften Fotografen, zeigen auf berührende Weise, wie Menschen überall auf der Welt durch Krieg, Verfolgung und Not heimatlos werden.

«Heimat verlieren, Heimat suchen, Heimat finden – Claussens Buch lässt auf der Höhe der Wissenschaft aufleuchten, wie tief die Schriften der Bibel die existentielle Dimension des Lebens berühren.» Jörg Lauster

Über den Autor

Johann Hinrich Claussen, geboren 1964, ist Kulturbeauftragter der Evangelischen Kirche in Deutschland. Bei C.H.Beck erschienen von ihm u.a. «Gottes Häuser» (2. Aufl. 2012), «Gottes Klänge» (2. Aufl. 2015) sowie zuletzt «Reformation. Die 95 wichtigsten Fragen» (3. Aufl. 2017).

Inhalt

Vorwort

Präludium: Erste Vertreibung, erste Flucht: Adam und Eva, Kain und Abel

1: Zwei Königreiche und ein Volk

2: Der Untergang Israels

3: Die Flucht in den Süden

4: Die Zerstörung Jerusalems

5: Die Stadtklage

Zwischengedanken: Die Entdeckung Gottes im Unheil

6: Das gezeichnete Ich: Jeremia

7: Das leere Land

8: An den Flüssen Babylons und Ägyptens: Lieder aus dem Exil

9: Die Verwirrung der Sprachen: Der Turmbau zu Babel

10: Die ganze Welt: Die Geschichten von der Schöpfung

11: Ein neuer Gottesdienst: Der Sabbat

12: Die Rückkehr und ein geheimnisvoller Knecht Gottes

13: Ein Rest wird gerettet: Die Geschichte von der Sintflut

14: Eine neue Heimat in der Schrift: Die Bibel entsteht

15: Das Fest der ersten Flucht: Der Auszug aus Ägypten

16: Der fremde Gott und der fremde Prophet: Mose

17: Auf dem Weg in das versprochene Land: Die Wüste und der Berg

18: Mit dem Gesetz: Die Zehn Gebote

19: Die Vernichtung der Abweichler

Zwischengedanken: Die Gemeinde und ihre Gewalt

20: Aufbruch auf ein Wort hin: Abraham

21: Der verlorene Bruder: Jakob

22: In die weite Welt: Josef

23: Mitgehen: Rut

24: In der Wüste und am Fluss: Johannes der Täufer

25: Ohne Obdach und auf der Flucht: Jesus

26: Wandern und Wunder: Kampf gegen Not und Dämonen

27: Worte wie Samenkörner: Gleichnisse

28: Das Gesetz der Liebe

Zwischengedanken: Was sollen wir tun?

29: Ohne Haus, Familie und Beruf: Weggefährten

30: Der Weg in den Tod

31: Ins Offene schauen und gehen: Der Auferstandene

32: Begeisterung in Jerusalem: Pfingsten

33: Grenzüberschreitungen im Ausland: Die ersten Christen auf der Flucht

34: Vom Verfolger zum Verfolgten: Paulus

35: Streit um die Fremden: Paulus gegen Petrus

36: Reisen bis ans Ende der Welt

37: Die Geburt der Theologie aus der Heimatlosigkeit

38: Das Ende von Jerusalem

39: Das himmlische Jerusalem

40: Gemeinden der Gastfreundschaft

Anhang

Dank

Zeittafel zur Geschichte Israels und des frühen Christentums

Karten

Zu den Abbildungen

Literatur

Nachweis der Bibeltexte

Vorwort

Präludium

1. Zwei Königreiche und ein Volk

2. Der Untergang Israels

3. Die Flucht in den Süden

4. Die Zerstörung Jerusalems

5. Die Stadtklage

6. Das gezeichnete Ich: Jeremia

7. Das leere Land

8. An den Flüssen Babylons und Ägyptens

9. Die Verwirrung der Sprachen

10. Die ganze Welt

11. Ein neuer Gottesdienst

12. Die Rückkehr und ein geheimnisvoller Knecht Gottes

13. Ein Rest wird gerettet

14. Eine neue Heimat in der Schrift

15. Das Fest der ersten Flucht

16. Der fremde Gott und der fremde Prophet

17. Auf dem Weg in das versprochene Land

18. Mit dem Gesetz

19. Die Vernichtung der Abweichler

Zwischengedanken: Die Gemeinde und ihre Gewalt

20. Aufbruch auf ein Wort hin: Abraham

21. Der verlorene Bruder: Jakob

22. In die weite Welt: Josef

23. Mitgehen: Rut

24. In der Wüste und am Fluss: Johannes der Täufer

25. Ohne Obdach und auf der Flucht: Jesus

26. Wandern und Wunder

27. Worte wie Samenkörner

28. Das Gesetz der Liebe

29. Ohne Haus, Familie und Beruf

30. Der Weg in den Tod

31. Ins Offene schauen und gehen

32. Begeisterung in Jerusalem

33. Grenzüberschreitungen im Ausland

34. Vom Verfolger zum Verfolgten: Paulus

35. Streit um die Fremden: Paulus gegen Petrus

36. Reisen bis ans Ende der Welt

37. Die Geburt der Theologie aus der Heimatlosigkeit

38. Das Ende von Jerusalem

39. Das himmlische Jerusalem

40. Gemeinden der Gastfreundschaft

Für Ulrich Aldag

man muss geduldig träumenin der Hoffnung dass der Inhalt sich erfülltdass die fehlenden Wörterin die verstümmelten Sätze einziehenund die Gewissheit auf die wir wartenden Anker wirft

ZbigniewHerbert

Vorwort

Viel habe ich Flüchtlingen bisher nicht geholfen. Dafür gab es Gründe, wahrscheinlich keine besonders guten. Einmal habe ich es doch getan. Meine Kirche hatte ein altes, zum Abriss vorgesehenes Verwaltungsgebäude wieder in Betrieb genommen, um Flüchtlingen, die am Hamburger Hauptbahnhof gestrandet waren, eine Übernachtung zu bieten. Für eine Spätschicht hatte ich mich eingetragen. Junge Leute, die alles organisierten, wiesen mich ein, gaben mir eine signalorange Helferweste und stellten mich in den Speisesaal hinter einen riesigen Suppentopf. Der Saal war eilig und billig eingerichtet worden. Getränkekisten mit Brettern darauf dienten als Tische und Bänke. Ich wärmte die Suppe auf und kochte Tee. Dann kamen die Busse, einer, zwei, drei – bis nach Mitternacht, und brachten Menschen: Familien mit kleinen Kindern, junge Männer einzeln und in Gruppen, dunkel und ärmlich gekleidet, zu dünn für den Winter. Einen inneren Widerstand musste ich anfangs überwinden, dann ging es. Die Suppe, die Bananen, der Tee wurden höflich angenommen. Sprechen konnten wir nicht miteinander. Irgendwann fiel mir auf, dass ich hier schon einmal gewesen war. Damals war der Saal nicht mit Getränkekisten und Brettern, sondern mit einem schweren langen Tisch und mächtigen Stühlen möbliert gewesen. Auf ihnen saßen Bischöfe, Professoren und Oberkirchenräte, um das theologische Examen abzunehmen. So ändert sich die Welt: Damals wurde ich hier von meiner Obrigkeit geprüft – jetzt teilte ich Flüchtlingen Suppe aus. Letzteres war mir angenehmer.

Am nächsten Morgen saß ich wieder an meinem Schreibtisch, noch müde von der Nachtschicht. Ich blätterte in meiner Bibel. Ich suchte nach etwas, das mich aufwecken könnte. Ich blätterte hin und her, vor und zurück, schließlich kam ich zum Propheten Jesaja und dort zu den «Völkersprüchen». Das sind Weissagungen über die Nachbarn Israels: Ägypten und Babylon, Moab und Tyrus, die Assyrer und Philister. Ein lautes, schrilles Weh wird da gerufen über einzelne Reiche und Städte.

Sieh, Damaskus hört auf, eine Stadt zu sein,

und wird zur Trümmerstätte, zum Trümmerhaufen.

Die Städte der Aroer werden verlassen für immer,

und es wird aus sein mit dem Königtum aus Damaskus.

Alle Völker der alten Welt überfällt dieses Wehgschrei.

Ha, ein Tosen vieler Völker, wie das Tosen des Meeres!

Ein Brausen der Völkerschaften, wie das Brausen gewaltiger Wassermengen!

Er schilt sie, und sie fliehen in die Ferne,

sie werden gejagt wie die Spreu auf den Bergen vom Wind

und wie wirbelnde Blätter vom Sturmwind.

Am Abend, siehe, da ist Schrecken,

und ehe es Morgen wird, sind sie nicht mehr da.[1]

Quer las ich nun über diese Kapitel hin mit all ihrem Weh und Ach, dem Schelten und Fliehen, den zertretenen Völkern und vernichteten Städten, dem Geschrei und der Totenstille danach. Ich fand keinen Halt, keinen Ausblick.

Wächter, ist die Nacht bald hin? Wächter, ist die Nacht bald hin?

Der Wächter spricht: «Wenn auch der Morgen kommt, so wird es doch Nacht bleiben.»[2]

Endlich stieß ich auf einen Vers, bei dem ich anhalten konnte. Den las ich genau, einmal, zweimal, dreimal.

Dies ist die Last für Arabien: In der Wüste, im Gestrüpp der Wüste müsst ihr übernachten, ihr Karawanen der Dedaniter. Den Durstigen bringt Wasser, die ihr wohnt im Lande Tema, bietet Brot den Flüchtigen. Denn sie fliehen vor dem Schwert, vor dem gezückten Schwert, vor dem gespannten Bogen, vor der Gewalt des Kampfes.[3]

Dieser Vers sollte mich noch länger begleiten.

In den Monaten danach begann ich, die Bibel neu zu lesen – als ein Flüchtlingsbuch. Im Grundbuch der abendländischen Kultur entdeckte ich nun Geschichten, Lieder, Gebete, Klagen und Visionen von Geflohenen, Vertriebenen, Deportierten, Ausgezogenen, Entkommenen, Heimatsuchenden, Migranten und Wanderern aus dem Morgenland. Vieles sah ich neu oder las es anders. Es war eine lange Neu-Lektüre dieses alten Buches. Währenddessen folgten die unterschiedlichsten Ereignisse aufeinander: Viele Menschen, aus unterschiedlichen Ländern, kamen nach Europa, dann nur wenige, weil die Fluchtrouten gesperrt wurden, bis sie andere Routen fanden oder auf dem Weg starben. Die einheimische Bevölkerung reagierte sehr unterschiedlich: Anfangs begrüßten viele die Flüchtlinge freundlich, dann beschimpften einige sie, manche zeigten Größe, andere äußerten Skepsis oder Befürchtungen. Feindseligkeit und Gelassenheit, Euphorie und Ernüchterung, Gewöhnung und Erschöpfung wechselten sich ab. Manchmal schien wieder Ruhe einzukehren, aber das täuschte. Denn gleichgültig, ob viele oder wenige kamen, das «Thema» blieb, und die «Krise» wird bleiben. Die «Flüchtlingskrise» ist nicht nur ein aktuelles Problem, sondern eine epochale Herausforderung – und dies nicht allein in politischer, polizeilicher oder diakonischer, sondern auch in kultureller und damit religiöser Hinsicht, denn sie stellt die grundsätzliche Frage nach dem Eigenen und dem Fremden. Deshalb lohnt sich ein frischer Blick in das Grundbuch europäischer Kultur. Es ist ein Buch von Flüchtlingen für Flüchtlinge. Heimatverlust und Heimatsuche sind seine Kernthemen. Durch Vertreibung und Flucht verloren die Israeliten ihre alten Gottesbilder und fanden im Exil andere Vorstellungen der Gottesbeziehung und des menschlichen Zusammenlebens. Erst mit dem Verlust von König, Tempel und eigenem Land entstand der Glaube an den einen Gott, fand die Religion ihren Ort in der Sprache, wurde das Buch zum neuen Tempel, bildete sich eine humane Moralität.

Vielleicht ist dies ein gemeinsames Kennzeichen der drei monotheistischen Weltreligionen, dass sie von Flüchtlingen und Heimatlosen ausgingen. Der Polytheismus ist eine Religionsform für verwurzelte Völker: Ihre Götter haben feste Wohnsitze – diesen heiligen Berg, jenen Hain, diese Quelle, jenen Tempel. Der Glaube aber an nur einen Gott, der auf der ganzen Welt zu Hause ist und zugleich nirgends, ist ein Glaube von Menschen, die keine sichere Heimat mehr haben, die ihren Ort auf dieser Erde erst suchen müssen und deshalb auf einen Gott hoffen, der so wie sie nicht sicher wohnt, aber mit ihnen geht. So war es bei den Israeliten, deren höchstes Fest an die Flucht aus Ägypten erinnert. Ähnlich war es bei den ersten Christen, die Palästina verlassen mussten und in alle Welt ausschwärmten. Ähnlich war es auch bei den Muslimen: Ihre Zeitrechnung beginnt mit der Flucht Mohammeds aus Mekka (im Jahr 622 nach christlicher Zählung).

Wer in dieser Perspektive die Bibel liest, dem geht auf, dass sie ein Menschheitsbuch ist, in dem sich die Erfahrungen der Gegenwart widerspiegeln können. Das heißt natürlich nicht, dass aus den biblischen Erzählungen und Weisungen unmittelbar Erkenntnisse darüber zu gewinnen wären, wie man heute mit Flucht- und Wanderungsbewegungen umgehen sollte. Aber die Wahrnehmung dafür wird geschärft, dass das Abendland aus dem Morgenland stammt und ohne dieses nicht zu denken ist, dass das Grunddokument des vermeintlich Eigenen ein Buch der Fremden ist, dass es Geschichten und Gedanken enthält, die dazu anstiften, eine eigene Balance aus Barmherzigkeit und Besonnenheit, Nüchternheit und Nächstenliebe zu finden.

Wenn man die Bibel heute mit diesem Fokus liest und anderen zum Lesen gibt, dann sollte man versuchen, etwas miteinander zu verbinden, was scheinbar gegensätzlich ist, nämlich eine existentiell engagierte Lektüre und die Einsichten, die die historische Bibelwissenschaft erarbeitet hat. Meist steht beides unverbunden nebeneinander: hier die erbauliche Nacherzählung und dort die akademische Rekonstruktion. Wenn man aber die Bibel als Flüchtlingsbuch betrachtet, lässt sich beides verknüpfen. Man kann verstehen, dass die biblischen Geschichten zwar dem widerstreiten, was die nüchterne Historiographie feststellt, aber dadurch ganz neue Lebensperspektiven und Sinnhorizonte eröffnen.

Die Bibel als Sammlung antiker Schriften ist etwas ganz anderes als die Bücher, die man heute kennt. Die allermeisten von ihnen wurden nicht von einzelnen Autorenpersönlichkeiten verfasst, sondern entstanden in einem langen Prozess des Redens und Hörens, des Nacherzählens und Weitersagens, dann des Aufschreibens und Fortschreibens, des Redigierens und Komplettierens. Deshalb ist es fast unmöglich zu sagen, welcher Vers «ursprünglich» oder «später hinzugefügt» ist. Diese Unterscheidung ist zwar unerlässlich, weil sie dazu anstiftet, den überlieferten Text kritisch zu untersuchen, aber sie ist zugleich eine moderne Frage, die den Verfasserkollektiven der Bibel unverständlich gewesen wäre. Diese haben im Licht ihrer eigenen Fragen und Erfahrungen überliefert, was sie gehört und gelesen haben.

Wer die Bibel heute mit seinen eigenen Fragen und Erfahrungen liest, schreibt sie auf seine Weise ebenfalls fort. Es entspricht der inneren Dynamik der Bibel, sie auf sich selbst hin zu lesen und im eigenen Nacherzählen fortzuschreiben. Manchmal verbinden sich dann die Zeiten oder werden miteinander überblendet: Die Geschichte verbleibt nicht in ihrer unverständlichen Ferne und die Gegenwart nicht in ihrer flüchtigen Heutigkeit. Dabei gehört es allerdings zu einer modernen Lektüre, dass man die – immer vorläufigen – Ergebnisse der historischen Wissenschaft berücksichtigt. So soll nun in diesem Bibellesebuch versucht werden, die Bibel auf eine Grundfrage und Grunderfahrung hin neu zu lesen, die ihre Verfasser und Redaktoren beschäftigt hat und die uns heute erneut beschäftigt. Einige Kapitel werden sich strenger am Original orientieren, andere stärker der historischen Kritik verpflichtet sein, andere wiederum einzelne Geschichten schlicht oder frei nacherzählen – je nachdem, was erforderlich oder angemessen ist. Texttreue und freie Bearbeitung sollen dabei keinen Widerspruch darstellen, sondern gemeinsam dazu beitragen, dass ein Bild entsteht, das heutige Leser hoffentlich irritiert und inspiriert. Vollständigkeit wird dabei nicht angestrebt, eine Auswahl von vierzig Stationen soll genügen.

Da die Bibel hier als ein Menschheitsbuch vorgestellt werden soll, in dem sich existentielle Grunderfahrungen vieler Zeiten widerspiegeln können, enthält dieses Buch nicht nur Texte, sondern auch Bilder. Es sind Photographien von Flucht und Vertreibung, Deportation und Exil, Ankunft in der Fremde oder Rückkehr in die Heimat. Sie stammen aus dem Zeitraum zwischen 1860 und 1950, sind also zeitlich so weit entfernt, dass sie sich von tagesaktueller Pressephotographie unterscheiden, aber doch nah genug, um assoziative Brücken zwischen dem Damals und dem Heute zu schlagen.

Natürlich ist es sinnvoll, im historischen Rückblick und in aktuellen Debatten zu unterscheiden: «Flucht» und «Vertreibung» sind nicht dasselbe, «Auswanderung aus der Armut» ist etwas anderes als «Deportation». Doch wenn man die Menschen auf diesen Bildern sieht und mit dem Blick auf sie die biblischen Texte liest, dann bekommt man eine Ahnung davon, wie relativ solche begrifflichen Differenzierungen sind und was Menschen in den unterschiedlichsten historischen Situationen existentiell verbindet, die ihre Heimat verlieren und in der Fremde überleben müssen. Deshalb heißt dieses Buch einfach nur «Das Buch der Flucht».

Für das, was mir mit diesem Buch vorschwebt, habe ich bei dem polnischen Dichter Zbigniew Herbert die passendsten Worte gefunden: «Der Dialog mit der Vergangenheit, das Hinlauschen auf die Stimmen derer, die uns verlassen haben, das Berühren der Steine, auf denen halb verwischte Inschriften früher Schicksale zurückgeblieben sind, das Beschwören der Schatten, damit sie sich nähren von unserem Mitleid … das Verweilen bei der Vergangenheit kann, aber es muss nicht die Flucht aus der Gegenwart, die Enttäuschung bedeuten. Denn wenn wir uneingefroren auf eine Reise in die Zeit ausziehen, mit dem ganzen Gepäck unserer Erfahrung, wenn wir die Mythen, Symbole und Legenden prüfen, um für uns aus ihnen das, was gültig ist, herauszufinden – dann kann man dieser Mühe kaum ihr tätiges Verhalten absprechen.»

Präludium: Erste Vertreibung, erste Flucht: Adam und Eva, Kain und Abel

Ellis Island, New York, 1905

Geschichten vom Anfang erzählen davon, wie es immer war und sein soll. Sie sind Urgeschichten, die Grundmuster menschlichen Lebens entwerfen. Dazu erzählen sie, wie alles wurde – und immer noch ist. Sie malen Bilder davon, wie Himmel und Erde erschaffen wurden, wie das Leben entstand und der erste Mensch auf die Welt kam. Der erste Mensch aber ist jeder Mensch. Deshalb gehört zu den Urgeschichten der Bibel auch eine Erzählung, die von Vertreibung und Heimatverlust berichtet.

Es war einmal, ganz am Anfang, alles gut für den Menschen, für die Frau und den Mann. Sie lebten im Paradies. Wenn sie sich umsahen: Siehe, es war sehr gut! Es war ein Leben ohne Krankheit und Schmerz, Geburt und Tod waren noch nicht erfunden, es gab kein Gut und Böse, keine Not und deshalb auch keine Gier, nichts war knapp und alles mühelos. Das war ein Kinderleben, ein Leben in träumender Unschuld. Der Mann lebte mit seiner Frau wie Bruder und Schwester. Ihr Vater sorgte für sie, sie mussten sich um nichts sorgen. Und was der Vater ihnen befahl, das befolgten sie, so als hätten sie keinen eigenen Willen, kein selbständiges Urteil. Doch konnten sie nicht für immer Kinder bleiben. Irgendwann mussten sie aufwachen und erwachsen werden.

Da hörte die Frau eine Stimme. Diese Stimme schlängelte sich an sie heran, schmeichelte und lockte:

«Willst du nicht von allen Bäumen des Gartens essen?»

Die Frau antwortete, was sie gelernt hatte: «Wir dürfen von allen Bäumen essen, nur nicht von den Bäumen in der Mitte des Gartens, weil wir sonst sterben.»

Die Schlange widersprach: «Ihr werdet bestimmt nicht sterben. Im Gegenteil, euch werden die Augen aufgehen. Ihr werdet endlich wissen, was Gut und was Böse ist. Ihr werdet wie Gott sein, wenn ihr davon esst.»

Da sah sich die Frau die Früchte von den Bäumen in der Mitte des Gartens an. Sie waren eine Lust für die Augen. Deshalb nahm sie eine von dem einen Baum – er hieß «Baum der Erkenntnis» – und biss hinein. Dann ging sie zu ihrem Mann und gab sie ihm. Der aß von der Frucht, ohne zu fragen. Und tatsächlich, den beiden gingen die Augen auf. Sie sahen sich an und erkannten plötzlich, dass sie nackt waren. Das war ihnen vorher, als sie noch Kinder waren, gar nicht aufgefallen. Nun aber sahen sie sich an und schämten sich. Zum ersten Mal betrachteten sie einander mit erwachsenen Augen und lernten die Scham kennen, eines der tiefsten und schmerzlichsten Gefühle. Doch die beiden wussten sich zu helfen und wurden erfinderisch. Vorher war ihnen alles gegeben worden, jetzt schufen sie zum ersten Mal selbst etwas Neues: Aus Feigenblättern machten sie sich Schurze.

Da hörten sie, wie Gott sich näherte. Er liebte es, in der Kühle des Abends durch seinen Garten zu wandeln. Furcht überkam die beiden. So konnten sie ihm nicht vor die Augen treten. Deshalb versteckten sie sich unter den Bäumen. Aber Gott rief: «Wo seid ihr?»

«Wir haben deine Schritte gehört», antwortete der Mann, «da bekamen wir Angst, denn wir sind ja nackt.»

«Wer hat dir denn gesagt, dass du nackt bist?», fragte Gott. Er wusste aber schon, was geschehen war: «Hast du etwa von den Früchten gegessen, die ich euch verboten habe?»

Gott konnte dem Mann und der Frau nicht vergeben. Die beiden zeigten keine Reue und baten nicht um Verzeihung. Stattdessen schoben sie die Schuld hin und her, der Mann auf die Frau und die Frau auf die Schlange. So blieb Gott nichts anderes übrig, als ein Urteil zu verkünden und eine Strafe festzusetzen. Mann und Frau wurden aus dem Garten vertrieben. Nie wieder sollten sie in das Paradies ihrer Kindheit zurückkehren. Sie mussten hinaus in die wirkliche Welt. Harte Worte gab Gott ihnen mit auf den Weg.

Zur Schlange sprach er: «Verflucht bist du vor allen Tieren, auf deinem Bauch wirst du kriechen und Staub fressen. Feindschaft setze ich zwischen dir und den Menschen.»

Zur Frau: «Du wirst viele Schwangerschaften haben und deine Kinder unter Mühen gebären. Nach deinem Mann wirst du verlangen, und er wird über dich herrschen.»

Zum Mann: «Verflucht ist der Acker deinetwegen, mit Mühsal sollst du dich von ihm ernähren. Dornen und Disteln soll er tragen, das Kraut des Feldes musst du essen. Im Schweiße deines Angesichts sollst du dein Brot essen, bis du wieder zu Erde wirst, von der du genommen bist. Staub bist du und zum Staub kehrst du zurück.»

So vertrieb Gott die beiden aus dem Paradies ihrer Kindheit, schickte sie in die wirkliche Welt und sicherte die Grenze durch Engel mit Flammenschwertern. Aber auch wenn er ihnen nicht vergeben konnte, so half er ihnen doch – ein wenig. Ihm musste aufgefallen sein, dass sie mit ihren Feigenblattschurzen draußen, in Kälte und Nässe nicht überleben würden. Also nahm er Felle und machte ihnen zum Abschied warme, feste Kleidung.[1]

Auf diese erste Eigenmächtigkeit sollte eine zweite, viel schrecklichere Schuld folgen. Aus dem ersten Streit zwischen Mensch und Gott folgte die erste Vertreibung, die zweite Schuld aber mündete in die erste Flucht der Menschheitsgeschichte.

Zwei Söhne hatten der Mann und die Frau. Der eine mit Namen Abel war ein Schafhirte, der andere namens Kain war ein Bauer. Einmal wollten die beiden Brüder etwas von ihrer Arbeit Gott zum Opfer bringen: Kain nahm dazu von den Früchten seines Feldes, Abel von den Erstlingen seiner Herde. Aber Gott behandelte beide nicht gleich. Abels Opfer nahm er freundlich an. Kain verweigerte er dies. Neidisch wurde darauf der eine Bruder auf den anderen. Finster senkte Kain seinen Blick und sah Abel nicht mehr an. Gott bemerkte dies und sprach zu ihm: «Warum senkst du so zornig deinen Blick?»

Doch Kain antwortete ihm nicht, sondern sprach zu Abel: «Lass uns auf mein Feld gehen.»

Als sie dort waren, erschlug er ihn.

Dies war der erste Mord.

Bald darauf rief Gott nach Kain und fragte ihn: «Wo ist dein Bruder Abel?»

Frech antwortete der: «Ich weiß es nicht. Soll ich der Hüter meines Bruders sein?»

«Kain, was hast du getan? Hörst du nicht, wie die Stimme des Blutes deines Bruders von der Erde zu mir schreit?»

Und er verfluchte Kain: «Dein Acker soll dir keine Früchte mehr geben. Unstet und flüchtig sollst du sein auf Erden.»

So wurde Kain zum ersten Flüchtling. Er floh vor der Stimme des Blutes seines Bruders, das er auf seinem Feld vergossen hatte.

Kain war der erste Mörder, und wie viele Mörder nach ihm zeigte er keine Reue, gab seine Schuld nicht zu, sondern beklagte sich wehleidig über die Schwere seiner Strafe: «Ich habe keinen Acker und keine Heimat mehr. Ich muss mich verbergen und fliehen. Jeder kann mich totschlagen.»

Da machte Gott ein Zeichen an diesem verfluchten Flüchtling, damit niemand ihn töte. Denn wer das täte, sollte siebenfache Rache erfahren. Im Schutz dieses Zeichens floh Kain in den Osten und musste dort fortan in der Fremde leben. Nur seine Schuld nahm er mit sich.[2]

1

Zwei Königreiche und ein Volk

Ellis Island, New York, 1905

Palästina ist der archäologisch wohl am besten erforschte Flecken der Erde. Nirgendwo wurde so aufwendig und umfassend gegraben, wurden die Funde mit vergleichbarer Sorgfalt gesichert und untersucht, wurden so komplexe Zusammenhänge rekonstruiert wie hier. Das hat natürlich damit zu tun, dass kaum ein Landstrich von so welthistorischer Bedeutung ist wie eben dieser. Zudem gibt es immer noch starke weltanschauliche Interessen an der Archäologie des Heiligen Landes. Doch das Bild, das die moderne Archäologie von seiner frühen Geschichte zeichnet, unterscheidet sich deutlich von dem, was man zu kennen meint.

Die Geschichte des Heiligen Landes beginnt im Übergang von der späten Bronzezeit zur frühen Eisenzeit, etwa um 1100 vor Christus. Menschen wanderten in vielen verschiedenen Zügen ein oder lebten schon im Land, zogen aber darin umher. Oft waren es Nomaden, die erst langsam sesshaft wurden. Sie bildeten Familien, Sippen und Stämme, gründeten Dörfer, aus denen Städte wurden, die in wechselnden Koalitionen zusammenfanden oder gegeneinander kämpften. Mauerreste zeugen vom Leben in diesen ersten urbanen Zentren, Brandspuren dagegen von Eroberungen und Vertreibungen.

Schließlich entstanden zwei Königreiche, die das Gebiet zwischen sich aufteilten. Das deutlich größere, mächtigere und kulturell fortschrittlichere war Israel im Norden mit der Hauptstadt Samaria. Sein kleinerer Bruder im Süden mit der Hauptstadt Jerusalem wurde Juda genannt. Ein gemeinsames Großreich unter den Königen David und Salomo, das beide Teile umfasst hätte, hat es wahrscheinlich nie gegeben. Israel und Juda haben sich unabhängig voneinander entwickelt. Beide waren durch Verwandtschaften, eine gemeinsame Sprache, religiöse und kulturelle Ähnlichkeiten verbunden. Aber dass die Menschen des Nordens und des Südens sich als ein «Volk» verstanden, ist unwahrscheinlich. Die Bevölkerung war damals noch gar kein Volk, das sich von anderen Völkern abgehoben hätte. Die Israeliten waren anfangs Kanaanäer. Man könnte sie auch Palästinenser nennen, die sich in kaum etwas von Philistern oder anderen Nachbarn unterschieden. Die Abgrenzung zwischen den vermeintlich von außen eingewanderten «Israeliten» hier und den «Kanaanäern» dort ist erst viel später aufgekommen.

Das zeigt sich auch in der Religion. Sie wurde zunächst an vielen Orten ausgeübt, in den Häusern und Dörfern, an ungezählten kleineren Kultstätten überall im Land sowie in einigen größeren Tempeln. Noch im neunten Jahrhundert vor Christus scheint es weder in Israel noch in Juda einen zentralen Kult gegeben zu haben. Dies änderte sich, als die Könige des Nordens und des Südens mächtig genug waren, die Religionsausübung an ihre Residenz zu binden und in Samaria sowie – später und deutlich kleiner – in Jerusalem Zentraltempel bauten. Diese waren einem Gott namens Jahwe gewidmet, der im Laufe des neunten Jahrhunderts zum obersten Gott eines Pantheons aufstieg und, wenn man den Archäologen glauben darf, eine Frau mit Namen Aschera hatte. Eine Erinnerung daran findet sich in einem alten Gebet.

Jahwe ist König.

Darüber freue sich die ganze Erde. Alle Inseln sollen fröhlich sein.

Wolken und Dunkelheit sind rings um ihn her.

Feuer geht ihm voraus und verbrennt alle seine Feinde.

Seine Blitze erhellen den Erdkreis. Die Erde erschrickt.

Vor Jahwe schmelzen Berge wie Wachs. Er ist der Herrscher der ganzen Erde.

Der Himmel verkündet seine Gerechtigkeit. Alle Völker sehen seine Herrlichkeit.

Du, Jahwe, bist der Höchste über der ganzen Erde. Du stehst hoch erhöht über allen anderen Göttern.[1]

Die Archäologie kann immer nur einen winzigen Bruchteil der Frühgeschichte sichtbar machen und erklären. Doch eines ist deutlich: Das Israel des Anfangs war, bevor unsere eigentliche Geschichte beginnt, gar nichts Besonderes. Es war ein Volk wie alle Völker ringsum, mit einem Gott, wie es einige gab. Besser gesagt, es waren zu Beginn zwei kleine Königreiche, die, je nachdem wie es den Großmächten im Süden oder im Osten gefiel, ein gutes oder schwieriges Dasein führten. Solange Israel und Juda auf eigenem Grund und Boden lebten, jeweils noch ihren König und ihren Tempel hatten, waren sie genau wie alle anderen. Sie waren ein Teil von Kanaan. Zu Hause sein heißt eben auch: wie alle sein, sich nicht unterscheiden. Zu etwas Einzigartigem, zu «Israel», wurden sie erst, als ihnen alles genommen wurde und sie fortmussten.

2

Der Untergang Israels

Anatolien, 1915

Mitte des achten Jahrhunderts vor Christus sollte in Bethel, einer bedeutenden Stadt in Israel, ein Fest gefeiert werden. Die Gassen und der Tempel müssen voller Menschen gewesen sein. Es wurde geopfert, gesungen, gebetet, gehandelt, geredet und gefeiert. Da erschien auf einmal ein Fremder. Mitten in den frommen Lärm rief er schrill hinein:

Hört dieses Wort, ihr vom Haus Israel, ich muss diese Totenklage über euch anstimmen: Die Jungfrau Israel ist gefallen, sie steht nicht wieder auf. Niedergestreckt liegt sie am Boden, und niemand ist da, der sie aufrichtet. Denn so spricht Gott: «Von der Stadt, die zum Kampf ausrückt mit tausend, bleiben nur hundert übrig, und von der Stadt, die zum Kampf ausrückt mit hundert, bleiben nur zehn übrig dem Haus Israel.»[1]

Amos hieß der Fremde. Er kam aus Juda und war ganz anders als die amtlich bestallten Propheten in der Stadt, die Hundertschaften der Wahrsager am Tempel und am Hof. Eigentlich war er gar kein Prophet, sondern bloß ein Viehzüchter und Maulbeerfeigenzüchter aus Tekoa, einem Dorf südlich von Jerusalem. Warum ausgerechnet er dazu bestimmt war, das heilige Fest im Norden zu stören, lässt sich nicht erklären. Der Geist Gottes muss über ihn gekommen sein. So fühlte er sich berufen, eine schreckliche Neuigkeit anzukündigen.

Gott wird brüllen vom Berg Zion, aus Jerusalem lässt er seine Stimme so laut werden, dass die Weiden der Hirten verdorren und der Gipfel des Karmel vertrocknet.[2]

Aber noch hörte allein Amos dieses Gottesgebrüll. Die anderen waren dafür taub, besonders die vielen Propheten, die ihren Seherdienst im Tempel und am Hof verrichteten. Sie meinten, in sicheren Verhältnissen zu leben, unter Gottes Schutz zu stehen, und wiegten das Volk in Sicherheit. Sie konnten sich nicht vorstellen, dass in wenigen Jahren das Reich Israel untergehen würde, die Hauptstadt erobert, der König gestürzt, der Tempel zerstört, die Oberschicht verschleppt werden würde. Sie hatten kein Auge für den heraufziehenden Sturm, kein Ohr für das näher kommende Donnergrollen.

Was Amos tat, war Aufruhr. Er störte den öffentlichen Frieden in Bethel, indem er Unheil ankündigte und damit dem herrschenden Glauben widersprach, wonach Jahwe der oberste Gott Israels war und Israel das Volk Jahwes, verbunden durch Thron und Altar, eine untrennbare Einheit. Amos leugnete diese Einheit. So etwas stand unter Strafe.

Während Amos seine Zornreden hielt, schickte Amazja, der Oberpriester von Bethel, einen Boten nach Samaria zu Jerobeam, dem König von Israel, und ließ ihm sagen: «Ein Mann namens Amos macht einen Aufruhr gegen dich, mitten im Haus Israel. Das Land kann seine Worte nicht ertragen. Denn er verkündet: ‹Jerobeam wird durch das Schwert sterben, die Israeliten werden gefangen genommen und aus ihrer Heimat weggeführt.›»

Dann sagte Amazja zu Amos: «Du, Seher, verschwinde von hier, flieh ins Südreich, iss dein Brot in Juda, weissagen magst du in deiner Heimat. In Bethel aber darfst du nicht mehr weissagen, denn dies ist ein Heiligtum des Königs.»

Aber Amos antwortete Amazja: «Ich bin kein Prophet und kein Jünger eines Propheten, sondern bin ein Hirte und züchte Maulbeerfeigen. Doch Gott hat mich von meiner Herde weggenommen und mir gesagt: ‹Geh, weissage meinem Volk!› Deshalb höre du jetzt Gottes Wort. Weil du sagst, dass ich nicht gegen Israel weissagen soll, deshalb spricht Gott zu dir: ‹Deine Frau wird nach der Zerstörung dieser Stadt zur Hure werden. Deine Söhne und Töchter werden durch das Schwert fallen. Dein Acker wird verteilt. Und du wirst fern von hier, in der Fremde, in einem unreinen Land sterben. Israel wird aus seiner Heimat vertrieben.›»[3]

Es heißt, Propheten wären Sturmboten, Wächter, die auf einer hohen Zinne stehen und am Horizont nahendes Unheil erspähen, Seismographen, die kommende Erdbeben spüren und das Volk warnen. Aber seltsam, man hat den Eindruck, als wollte Amos die Oberen und die Bevölkerung Israels gar nicht warnen. Dann hätte er erwarten müssen, dass sie auf ihn hören und auf seinen Ruf hin irgendetwas tun. Amos scheint jedoch auf kein Echo gehofft zu haben. Vielleicht wollte er gar nicht zu seinen Zuhörern in Bethel sprechen, sondern zu ihren Nachfahren. Man meint, dass seine Worte weniger für seine Zeitgenossen als für spätere Generationen gesprochen, erinnert, überliefert, auf- und fortgeschrieben wurden. Denn erst nach der Katastrophe, die sie ankündigten, sollten sie überhaupt verständlich werden. Doch das lag noch weit in der Ferne.

Amos kündigte einen neuen Tag an. Bisher hatten die Menschen, wenn sie in Angst waren, den Tag Gottes herbeigesehnt. Dann würde Gott kommen und ihnen helfen. Amos sah den Tag Gottes kommen, aber er erkannte, dass der ganz anders sein würde als gemeinhin erhofft.

Weh denen, die auf den Tag Gottes hoffen! Was soll er euch denn bringen? Der Tag Gottes ist Finsternis und nicht Licht. So wie einer vor dem Löwen flieht und dann fällt ein Bär über ihn her und er rettet sich ins Haus, stützt sich mit der Hand an die Wand, da beißt ihn eine Schlange! Ja, der Tag Gottes wird finster und nicht licht sein, dunkel und nicht hell.[4]

Der Tag Gottes wird ein Tag der Vernichtung sein. Gott wird sein Volk vernichten. Dazu wird er sich einer Weltmacht aus dem Osten bedienen. Er wird die Assyrer herbeirufen und ihnen Israel in die Hand geben. Warum wird Gott dies tun? Was für ein Gott soll das sein, der sein eigenes Volk aufgibt und dann niemanden mehr hat, der ihn anbetet und ihm opfert? Verrückt dieser Gedanke, einem Gott könnte sein Volk so viel und so wenig bedeuten wie die übrigen Völker. Aber genau dies ließ Amos Gott sagen:

Seid ihr Israeliten für mich nicht genauso viel wert wie die Kuschiter? Habe ich nicht die Philister ebenso aus Kaftor geführt wie die Israeliten aus Ägypten oder die Aramäer aus Kir?[5]

Was Amos in Bethel vorausgesagt haben soll, geschah einige Jahre später tatsächlich. Israel hatte sich stark genug gefühlt, der Großmacht seiner Zeit, Assyrien, zu trotzen. Die Assyrer aber waren damals der Schrecken der Völker. Der Prophet Jesaja hat ihre furchtbare Macht so beschrieben:

Vom Ende der Erde kommen sie. Schnell eilen sie heran. Keiner von ihnen ist müde oder schwach, keiner gähnt oder schläft. Ihre Pfeile sind scharf und alle ihre Bogen gespannt. Ihre Wagenräder sind wie ein Sturmwind, und sie brüllen wie junge Löwen. Sie werden daher brausen und den Raub packen und davontragen, dass niemand ihn retten kann. Wenn man dann das Land ansehen wird, sieh, da ist es finster vor Angst, und kein Licht scheint mehr.[6]

Im Jahr 722 vor Christus wurde Israel von den Assyrern zerstört. Darüber gibt es einen ausgesprochen kurzen, sachlichen Bericht.

Hoschea, der König Israels, hatte den Assyrern den Tribut verweigert. Er hatte eine Verschwörung geplant und Boten zum König von Ägypten, dem Feind der Assyrer, gesandt. Als dies Salmanassar, der König von Assyrien, erfuhr, ließ er Hoschea gefangen nehmen und sperrte ihn in ein Gefängnis. Danach zog er durch Israel und belagerte Samaria. Nach drei Jahren eroberte er die Hauptstadt. Er führte die Bevölkerung fort und siedelte sie um nach Halach und an den Habor, den Fluss von Gosan, und in die Städte Mediens. Dann ließ er Leute von Babylon kommen, von Kuta, Awa, Hamat und Sefarwajim und ließ sie anstatt der Israeliten in den Städten des Nordens wohnen.[7]

Israel war zerstört, die Städte erobert, der König gefangen gesetzt, ein Großteil der Bevölkerung in andere Länder verschleppt oder geflohen, das Land mit Fremden neu besiedelt. Eigentlich hätte die Geschichte Israels damit zu Ende gewesen sein müssen. Doch im Süden sollte sie einen neuen Anfang nehmen.

3

Die Flucht in den Süden

Frohnleiten (Österreich), 1942

Archäologische Funde weisen darauf hin, dass es nach dem Untergang des Nordreichs zu einem erheblichen Zuwachs der Bevölkerung im Südreich gekommen sein muss. Das lässt sich nur dadurch erklären, dass viele Flüchtlinge aus Israel nach Juda einwanderten. Es lebten fortan aber nicht nur mehr, sondern auch unterschiedlichere Menschen im Süden. Denn die Bevölkerung Israels war vielfältiger gewesen als diejenige Judas. Bei den Verwandten im Süden fanden die Flüchtlinge aus dem Norden Schutz vor den assyrischen Feinden und eine neue Heimat. Wie ihre Flucht vonstattenging, wie sie empfangen wurden, wie sie sich eingliederten, ist nicht bekannt. Doch gibt es Anzeichen dafür, dass erst jetzt so etwas wie ein Bewusstsein der Zusammengehörigkeit heranwuchs. Es entstand die Idee, gemeinsam zu einem «Volk» zu gehören. Das zeigt sich am Namen. «Israel» war vorher allein die Bezeichnung des Nordreichs gewesen. Dieses war zerstört, aber sein Name lebte im Süden weiter, wurde dort zum Namen des ganzen Volkes. Aus Flüchtlingen und Einheimischen in Juda wurde nun «Israel».

Jetzt erst, das legen philologische Beobachtungen nahe, scheint man damit begonnen zu haben, eine gemeinsame Geschichte zu erzählen, die den Norden und den Süden von Anfang an verbinden sollte. Das neue, eine Volk Israel bildete sich in Juda auch dadurch, dass es sich eine einheitliche Gründungsgeschichte gab. Drei sagenhafte Könige – Saul, David und Salomo – sollen ein großes und herrliches Königreich geschaffen haben, mit einem prächtigen Königspalast und einem noch bedeutsameren Tempel in Jerusalem. Erst später wurde es von schlechten Nachfolgern in zwei Reiche aufgespalten. Aber eigentlich war Israel ein Reich und Jerusalem seine Hauptstadt. Diese Geschichte mag es den Flüchtlingen aus dem Norden erleichtert haben, im Süden heimisch zu werden und sich als Teil des Ganzen zu verstehen. Dabei aber wurde das ehemals viel mächtigere, nun aber schrecklich verwüstete Nordreich schroff abgewertet, und die tatsächlichen Größenverhältnisse wurden rückblickend in ihr Gegenteil verkehrt.

Vor allem vor einer Aufgabe standen die Menschen im Südreich nun – die Einheimischen wie die Flüchtlinge –, nämlich die Katastrophe im Norden zu verstehen. Etwas musste grundsätzlich falsch gewesen sein. Ob das Unheil nicht die Strafe für eine Schuld war? Warum, so fragte man sich jetzt im Süden, hatte Gott sich im Norden seines eigenen Volkes beraubt?

Nun erinnerte man sich an Amos, dessen vorzeitige Totenklage in Bethel man damals nicht recht verstanden haben dürfte. Jetzt schien sie einen Sinn zu ergeben. Man erinnerte sich auch an einen anderen Propheten, der in ähnlicher Weise dem Norden Unheil angesagt haben soll – als gerechte Strafe für eine große Schuld. Zu den Habseligkeiten, die man hatte retten und mitnehmen können, müssen auch Prophetenworte und -geschichten gehört haben.

Während der Zeit, als Jerobeam König des Nordreichs war, sprach Gott nicht nur zu Amos, sondern kurz darauf auch zu Hosea.

Er sagte ihm: «Geh, nimm dir eine Hure zur Frau und zeuge mit ihr Hurenkinder! Denn wie eine Hure läuft das Land von mir weg und treibt Hurerei mit anderen.»

Hosea ging los und nahm Gomer, die Tochter Diblajims, zur Frau. Sie wurde schwanger und brachte einen Sohn zur Welt.

Da sprach Gott zu Hosea: «Nenne ihn Jesreel. Denn nur noch kurze Zeit, dann werde ich das Blut rächen, das das Königshaus in Jesreel vergossen hat, und dann mache ich mit dem Nordreich und seinem König ein Ende. Dann werde ich den Bogen Israels zerbrechen in der Ebene von Jesreel.»

Ein zweites Mal wurde Gomer schwanger und brachte eine Tochter zur Welt.

Da sprach Gott zu Hosea: «Nenne sie Ohne-Erbarmen. Denn ich will mich nicht mehr Israels erbarmen und ihnen nicht vergeben.»

Nachdem Gomer ihre Tochter Ohne-Erbarmen entwöhnt hatte, wurde sie wieder schwanger und brachte einen zweiten Sohn zur Welt.

Da sprach Gott zu Hosea: «Nenne ihn Nicht-mein-Volk. Denn ihr seid nicht mein Volk, deshalb will ich nicht euer Gott sein.»[1]

Am eigenen Leib, am Leib seiner Frau und seiner Kinder soll der Prophet Hosea den Menschen des Nordreichs gezeigt haben, dass sie ehr- und schamlos waren wie Huren, untreu und deshalb selbst schuld daran, dass Gott sie verlassen würde, weil sie ihn, mit dem sie doch verheiratet waren, in seiner Ehre verletzt hatten.