Das Buch der Wunder - Stefan Beuse - E-Book

Das Buch der Wunder E-Book

Stefan Beuse

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Beschreibung

Penny und Tom sind sehr unterschiedliche Geschwister: Während Penny für jedes Wunder offen ist, braucht Tom für alles eine wissenschaftliche Begründung. Doch als immer mehr Dinge geschehen, die er sich nicht erklären kann, entwickelt Tom sein eigenes Sensorium für Wahrheit. Gemeinsam mit seiner Schwester findet er heraus, wie sie die Wirklichkeit beeinflussen können, indem sie sich "auf eine andere Frequenz einstellen". Die Membran zwischen der sichtbaren und der unsichtbaren Welt wird durchlässig. Zwölf Jahre später arbeitet Tom erfolgreich in einer Werbeagentur, als plötzlich seltsame Dinge geschehen: Ein alter Fall wird neu aufgerollt, ein geheimnisvolles Mädchen weiß mehr, als es dürfte, und irgendetwas scheint hinter Tom her zu sein. In diesem Moment erinnert er sich an "Das Buch der Wunder", ein Vermächtnis seiner Schwester, das sich wie eine Prophezeiung liest und ihn zwingt, sich seinem wahren Wesen zu stellen. Stefan Beuses neuer Roman ist eine magische Coming-of-age-Geschichte, die ebenso spannend wie poetisch von der größten aller Sehnsüchte erzählt: der nach uns selbst.

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Seitenzahl: 205

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Table of Contents

Intro

I HAUS AUS LICHT

II DER DSCHUNGEL

III DAS WESEN

IV DUNKLE ENERGIE

V DAS LICHT

Stefan Beuse

Impressum

 

 

 

 

 

 

Mystery creates wonder and wonder is the basis of man’s desire to understand.

Neil Armstrong

I

HAUS AUS LICHT

 

1

»Was glaubst du?«

Penny hielt den Stein genau vor die Sonne.

»Was glaubst du, wie viel Karat sind das?«

Sie betrachtete die Einschlüsse. Kleine Bläschen, winzige Äste in einem sattgrün strahlenden Meer.

Einschlüsse bedeuten nicht immer eine Wertminderung, hatte ihr Vater gesagt. Sie verleihen dem Stein oft erst seine Einzigartigkeit.

Penny drehte den Smaragd vor dem Licht. Er wog schwer in der Hand und wies ein lebhaftes Feuer auf.

»Was meinst du, was ist der wert?«

Sie zog einen Ärmel ihres Kleides über die Hand, befeuchtete das Stück Stoff über ihrem Zeigefinger und polierte damit eine Stelle, die stumpf geworden war von der Erde.

»Meinst du, wir sind jetzt gemachte Leute?«

Tom stieß Luft durch die Nase.

»Gemachte Leute.«

Er warf einen Blick auf das, was sie in der Hand hielt.

»Das ist Glas, Penny. Wahrscheinlich von einer Flasche.« Seine Schwester kniff ein Auge zu, wie ihr Vater, wenn er am Werktisch saß und die Lupe vor das andere Auge klemmte.

»Sieh dir das an.«

Sie bewegte den Stein so langsam, dass jede Facette einzeln aufblitzte.

»Das ist ein echtes Prachtstück.«

Grünes Licht zitterte über ihr Gesicht, und Tom musste an dieses Bild aus der Kinderbibel denken: Eva im Paradies. Die erste Frau der Welt stand lächelnd in einem Kornfeld, das genauso gelb leuchtete wie der Ginster hinter Pennys Kopf. Sie lächelte etwas an, das sich außerhalb des Bildes befand, und Penny hatte immer wissen wollen, was das war.

Adam natürlich, hatte Tom gesagt, ohne einen Witz machen zu wollen. Wer denn sonst.

Ihn selbst hatte immer bloß interessiert, wie das Kornfeld ins Paradies gekommen war. Er glaubte nicht, dass Adam und Eva so viel Getreide brauchten, dass sie gleich ein ganzes Feld anlegen mussten. Und Gott erschuf nur die wichtigen Dinge. Den Himmel. Das Meer. Aber bestimmt keine Kornfelder.

Ach, die Bibel, hatte ihr Vater erklärt. Die Bibel ist so eine Art Märchenbuch. Man muss das alles nicht immer so wörtlich nehmen.

Das Korn steht für etwas anderes, sagte ihre Mutter. Die Bibel ist voller Bilder, die weit mehr bedeuten als das Offensichtliche.

Dass das Buch voller Bilder war, sah Tom selbst. Aber seine Mutter meinte gar nicht die Zeichnungen. Sie meinte etwas, das überhaupt nichts mit gemalten Bildern zu tun hatte, und Tom fand das anstrengend. Er verstand nicht, warum seine Mutter Dinge sagte, die sie nicht meinte. Er verstand nicht, warum in der Bibel Sachen standen, die eigentlich etwas anderes bedeuteten. Und er verstand auch nicht, wieso er, nur weil seine Schwester vor einem Ginsterbusch hockte, an dieses Bild vom Paradies denken musste.

Immer weiter tanzte das grüne Licht über ihre Haut. Penny blinzelte an dem Glas vorbei in die Sonne und kniff die Augen zusammen.

»Hör auf damit.«

Tom drückte ihre Hand mit dem Klumpen darin nach unten.

»Davon kriegst du ein Loch in der Netzhaut.«

Penny schüttelte seine Hand ab und legte den Stein in die Mulde, die ihr Kleid zwischen den Oberschenkeln bildete.­

»Loch in der Netzhaut, Loch in der Netzhaut.«

Sie schloss die Augen.

»Dafür ist die Sonne doch viel zu weit weg.«

»150 Millionen Kilometer«, sagte Tom. »Das ist nichts. In kosmischen Dimensionen ist das gar nichts.«

Dass 150 Millionen Kilometer in kosmischen Dimensionen gar nichts waren, hatte er aus der Welt der Wissenschaft. Die Welt der Wissenschaft lag immer auf dem Couchtisch bei ihnen im Wohnzimmer, und jeden Tag nach der Schule las Tom darin. Er legte sich aufs Sofa, wie sein Vater, wenn er Feierabend hatte, er vergrub die Füße unter dem mittleren Sitzkissen, schlug das Buch auf und sagte am nächsten Morgen: Wusstet ihr, dass Mikroorganismen etwa siebzig Prozent des gesamten Lebens auf der Erde ausmachen? Dass es mindestens zwei bis drei Milliarden verschiedene Arten davon gibt?

Sein Vater sah ihn dann verblüfft an, weil er Tom für zu jung hielt, um die Welt der Wissenschaft zu verstehen. Das ist noch zu komplex für dich, sagte er. Das erklär ich dir, wenn du groß bist.

Trotzdem sind davon bisher weniger als 0,5 Prozent überhaupt entdeckt und klassifiziert worden, ergänzte Tom.

Ganz langsam, dicht über seinen Teller gebeugt, begann sein Vater zu nicken, und Tom wusste, dass er etwas geschafft hatte.

Seine Mutter setzte die Tasse ab.

Ja, findet ihr das nicht unglaublich?, fragte sie. Wie wenig wir eigentlich wissen?

Tom hatte sich seine Schultasche geschnappt und war nach draußen gerannt. Er wusste nicht, was genau ihn so aufgebracht hatte, aber es war dieselbe Art von Wut, die er jetzt auch seiner Schwester gegenüber empfand.

»Weißt du eigentlich, wie heiß die Sonne ist?«, fragte Tom.

Penny krümmte die Finger ihrer rechten Hand zur Faust und hielt sie wie ein Fernrohr vors Auge. Sie ließ eine punktgroße Öffnung, durch die gleißendes Licht fiel. Dann drückte sie den Tunnel zu und öffnete ihn wieder. In der Krümmung ihrer Finger leuchtete es rot.

»Fast 6.000 Grad«, sagte Tom.

Penny nahm den Smaragd in beide Hände. Spürte sein Gewicht.

»Du bist ja bloß neidisch.«

Vorsichtig legte sie ihn in die Kiste zu den anderen Steinen.

»Weil du noch nichts hast.«

»Neidisch.«

Tom ließ Erde in das Sieb fallen.

»Wenn ich Glasscherben suchen würde, hätte ich schon eine ganze Wagenladung davon.«

»Wenn ich Gerippe suchen würde, müsste ich dringend mal zum Arzt gehen.«

»Ich suche keine Gerippe.«

Tom warf die Erde mit dem Sieb hoch.

»Sondern?«

»Verstehst du sowieso nicht.«

Er nahm den Eimer und rappelte mit dem Inhalt.

»Außerdem ist hier drin schon alles voll davon.«

»Voll von was?«

Tom merkte, dass sein Unterschenkel einschlief. Vorsichtig verlagerte er das Gewicht, streckte ein Bein aus und bewegte die Zehen.

»Knochen.«

Penny beugte sich über den Eimer. Ein paar gelbliche Brocken lagen darin, die an versteinertes Kaugummi erinnerten.

»Das sind doch keine Knochen.«

Sie wollte eines der Stücke anfassen, traute sich dann aber doch nicht und zog ihre Hand zurück.

»Papa hat gesagt, dass hier früher eine Kneipe war.«

Tom klopfte mit der flachen Hand auf das Beet.

»Genau hier. Wo jetzt unser Garten ist. Und dann ist eine Bombe draufgefallen. Im Krieg.«

Pennys Augen wurden groß. Ihre Iris kam ihm plötzlich noch grüner vor als sonst.

»Und deswegen suchst du nach Knochen?«

Sie wich vor dem Eimer zurück und setzte sich ein Stück weiter nach hinten.

»Das ist eklig, Tom.«

»Das ist der Grund, warum du hier so viel Glas findest.«

Er nickte in Richtung ihrer Kiste.

»Geschmolzene Flaschen. Das sind deine Schätze.«

»Als ob Flaschen schmelzen könnten.«

»600 Grad«, sagte Tom. »Der Transformationsbereich von Glas. Ab da wird es formbar.«

Penny hatte keine Ahnung, wovon er sprach. Sie drückte die Schaufel in die Erde und achtete darauf, keine Wurzeln zu durchtrennen. Die feinen Lebensadern der Pflanzen nicht zu verletzen. Als würde man Haare zerreißen, so fühlte sich das an, und von dem rupfenden Geräusch, das dabei entstand, zog sich alles in ihr zusammen.

Tom schüttelte das Sieb, bis nur noch Bröckchen über das Plastikgitter sprangen. Er wollte gerade mit der Untersuchung des Materials beginnen, als seine Schwester einen Schrei ausstieß.

Penny streckte ihm die Schaufel entgegen. Aus der Erde darauf ragte ein langes, regenwurmartiges Ding.

»Wirf das weg«, sagte er. »Das ist voller Keime.«

Tom wusste, dass sie Mäuse im Garten hatten. Immer nach Feierabend kam ihr Vater in seinem weißen Uhrmacherkittel aus der Werkstatt und zählte die Erdhäufchen auf dem Rasen.

Diese verfluchten Biester, schimpfte er dann. Die Biester sind immun geworden gegen das Gift.

Das Gift waren kleine Schwefelkegel, die man an der Spitze anzünden und tief ins Mauseloch drücken musste, damit der Rauch in das verzweigte Tunnelsystem unter der Erde drang und die Schädlinge vernichtete.

»Wirf das weg«, wiederholte Tom und deutete unter den Ginster.

Langsam ließ Penny die Schaufel sinken.

»Ist das eine Maus?«

»Eine Wühlmaus, ja.«

Tom beugte sich über den leicht behaarten Ringelschwanz.

»Sie ernährt sich von Wurzeln und Zwiebeln. Das ist der Grund, warum Papa sie loswerden will.«

»Weil die Pflanzen sterben, wenn sie keine Wurzeln mehr haben«, sagte Penny, und Tom zog den Ärmel seines Pullovers über die Hand. Er nahm den Schwanz zwischen Daumen und Zeigefinger, hob die Maus aus der Erde und spürte das unruhig baumelnde Gewicht zwischen seinen Fingern wie einen Juckreiz.

Tom starrte auf die winzigen Erdkrumen im Fell und dachte: Mikroorganismen. Zwei bis drei Milliarden verschiedene Arten. Davon über 99 Prozent noch unentdeckt.

Er schleuderte die Maus von sich. Mit einem sehr kleinen Geräusch landete das Tier unter dem Ginster.

»Was machst du denn da?«

Penny kroch zu ihr.

»Du kannst sie doch nicht einfach wegwerfen!«

Die Maus war kleiner, als er gedacht hatte. Ihr Mund stand offen, die Augen waren zu Strichen geschlossen. Wie im Zeichentrickfilm, wenn jemand ohnmächtig wird.

»Tom! Ich glaube, sie atmet noch!«

Pennys Augen funkelten.

»Wir müssen ihr was zu fressen geben!«

Seine Schwester rupfte Gras aus und legte es neben die offene Schnauze. Sie zog Blütenblätter vom Ginster und hob das Mäuseköpfchen an.

»Nicht, Penny, die ist voller Bazillen!«

Sie bettete den Kopf auf eine Schicht aus gelben Blättern und murmelte etwas, das Tom nicht verstand: ein seltsam­ beruhigender Singsang, der ihn einen Moment lang vergessen ließ, was er wusste. Er wusste, dass die Maus tot war.

Der steife Körper. Die aufgerissene Schnauze, erstarrt im Moment des Schmerzes.

Tiere empfinden keinen Schmerz, hatte sein Vater gesagt. Die sind wie Pflanzen. Die spüren nichts.

»Aber sie kann doch nichts essen.«

Tom schüttelte den Kopf.

»Du bist so dumm. Wenn sie wirklich aufwacht, muss sie erst mal trinken.«

Tom merkte, dass er rot wurde. Er spürte Pennys Blick und wandte sich ab. Sein Gesicht glühte. Für eine kurze, schreckliche Sekunde wusste er gar nichts mehr.

Ein Wissenschaftler versagt nicht.

Tom sprang auf und rannte zum Juweliergeschäft seines Vaters.

Ein Wissenschaftler irrt sich und lernt daraus.

Ein guter Wissenschaftler stellt seine Erkenntnisse ständig infrage.

Tom drückte die Tür zur Werkstatt auf. Sein Vater saß an dem Tisch vor dem Fenster. Die Lupe klemmte in seiner rechten Augenhöhle, er war dicht über ein Uhrwerk gebeugt und hielt einen winzigen Schraubendreher in der Hand.

Als Tom fragte, was Mäuse für gewöhnlich trinken, sah er auf. Das Auge seines Vaters wurde durch die Lupe stark vergrößert. Sein Blick schien von weit her zu kommen, aus einem Land, in dem kleine Zahnräder präzise ineinandergriffen und eine Mechanik in Gang hielten, die man erst verstand, wenn man alt genug war.

Tom wiederholte die Frage, und erst jetzt meinte das Riesenauge wirklich ihn. Sein Vater nahm die Lupe ab, ließ sie in die Brusttasche seines Kittels fallen und folgte ihm in den Garten.

Penny sang der Maus gerade etwas vor. Sie war so vertieft, dass sie die beiden nicht kommen hörte.

Ihr Vater blieb in einiger Entfernung stehen und sah zu, wie seine Tochter vor einer auf Blütenblätter gebetteten Maus kniete und ein Lied sang. Es war Row, row, row your boat. In Pennys Alter hatte Tom es auch in der Schule gesungen, eine harmlose Melodie, aber der Text handelte davon, dass alles nur ein Traum war, das ganze Leben, und dass es bloß darum ging, sein Boot ruhig über den Fluss zu steuern. Tom fand das unheimlich. Er wollte nicht, dass alles nur ein Traum war. Er wollte, dass immer mehr entdeckt und entschlüsselt wurde, und jetzt wartete er darauf, dass sein Vater etwas sagte. Dass er mit Penny schimpfte oder sie vor dem Gift in der Maus warnte. Aber er stand einfach nur da und klopfte schweigend gegen die Brusttasche mit der Lupe darin.

»Ich hab ihr schon erklärt, dass das nichts bringt.«

Tom hakte die Daumen hinter den Hosenbund.

»Die ist doch tot wie sonst was.«

Sein Vater sah regungslos zu, wie seine Tochter Glasbrocken aus einer Kiste nahm und um die Maus herum verteilte.

»Oder?«

Tom blickte ihn von unten an.

»Oder, Papa?«

Sein Vater war lang und dünn. Er vergrub die Hände in den Kitteltaschen, und Tom hatte plötzlich Angst, dass der nächste Windstoß ihn einfach wegwehen könnte.

»Aber natürlich, Junge.«

Sein Vater legte ihm eine schlaffe Hand auf den Kopf.

»Das weißt du doch.«

Dann drehte er sich um und ging. Tom sah ihm nach. Sein Vater machte kleine Schritte, sein Kopf war gesenkt und hing ein bisschen schief, wie bei der Maus.

»Row, row, row your boat gently down the stream – merrily, merrily, merrily, merrily, life is but a dream«, sang Penny.

Hinter seinem Vater fiel die Tür zu. Durch das Fenster sah Tom ihn am Werktisch Platz nehmen und die Lupe vors Auge klemmen, aber er beugte seinen Oberkörper nicht über das Uhrwerk, er starrte weiter nach draußen, durch eine Lupe, die nichts klarer machte in der Entfernung, sondern alles verschwimmen ließ.

Tom hockte sich neben seine Schwester und sah zu, wie sie immer mehr Glas übereinanderschichtete.

»Was machst du denn da?«

»Ich baue ihr ein Haus«, sagte Penny. »Ein Haus aus Licht. Damit sie es schön hat, wenn sie aufwacht. Und denkt, sie ist eine Kaiserin oder so. Bei dem ganzen Reichtum. Den ganzen Edelsteinen.«

Das Flaschengrün ihrer Iris war voller Einschlüsse. Als hätte jemand das noch nasse Pupillenschwarz mit einem feinen Pinsel durch die wässrige Farbe gezogen, bis jeder Strahl auf andere Art zerfasert und verästelt war.

»Penny …«

Tom schüttelte den Eimer, in dem er die Knochen gesammelt hatte. Es klapperte hohl und klang nach Plastik.

»Glaubst du wirklich …«

Er suchte nach den passenden Worten, als seine Schwester plötzlich aufsprang und in Richtung des Hauses lief.

»Mama!«

Ihre dürren Strumpfhosenbeine stapften die Stahltreppe vom Garten hoch zu ihrer Wohnung.

»Mama, den Löffel, schnell!«

Ihre Mutter drückte ihnen jeden Tag Lebertran aus einer großen blauen Tube direkt auf den Löffel. Ein Löffel voll Licht, nannte sie das. Da ist das Sonnenvitamin drin, sagte sie. Damit ihr groß und stark werdet.

Damit ihr euch in der Schule besser konzentrieren könnt, sagte ihr Vater. Vitamin D ist wichtig für Wachstum und Knochenaufbau.

Davon, dass es auch helfen konnte, Mäuse von den Toten zurückzuholen, hatte er nie etwas gesagt.

Tom starrte auf den pelzigen Körper inmitten der Scherben. Grünes, gelbes, rotes und weißes Licht fiel über die Maus. Wie in der Kirche, wenn die Sonne durch das große Fenster mit den farbigen Scheiben leuchtete.

Er beugte sich dicht über das Tier. Beobachtete den Bauch, die Krumen im Fell. Kurz meinte er, eine Bewegung wahrzunehmen. Aber das musste der Schatten eines Blattes gewesen sein.

Tom wartete, bis die Tür hinter Penny zugefallen war. Dann stand er auf und rannte in die Werkstatt.

 

2

Der Arbeitsplatz seines Vaters war verlassen. Durch die halb geöffnete Tür zum Laden sah Tom ihn am Verkaufstresen stehen und mit einer Kundin sprechen. Sein Vater hatte ihm den Rücken zugewandt, er gestikulierte mit beiden Armen, und Tom starrte auf das Weiß seines Kittels. Über dem Rückgrat verlief ein scharf gebügelter Kniff, der mit jeder Bewegung einknickte.

Plötzlich ein Rasseln, direkt neben ihm. Ein hohles, krankes Luftholen, gefolgt von durchdringendem Gongen.

Tom vergaß immer wieder, dass die ganze Werkstatt voller Uhren hing. Küchenuhren, Kuckucksuhren, Wanduhren, antik und modern, mit Pendel, ohne Pendel. Sie warteten darauf, wieder in Ordnung gebracht oder abgeholt zu werden, und zu jeder vollen und jeder halben Stunde pingte und kuckuckte es, mischte sich helles Klingeln in mächtiges Gongen. Tom fuhr davon jedes Mal ein Schreck durch die Glieder, aber sein Vater hatte sich wohl so an das sonderbare Konzert gewöhnt, dass er es gar nicht mehr wahrnahm. Er stand einfach weiter mit der Kundin vor der Vitrine und machte Marionettenbewegungen, während Tom eine der Zigarrenkisten vom Regal nahm und hastig eine Papiertüte herauszog.

Für jede Uhr, die gebracht wurde, beschriftete sein Vater ein Reparaturtütchen. Er schrieb darauf den Namen des Kunden und was repariert werden musste, er malte klare, blaue Druckbuchstaben, und nachdem die Uhr abgeholt worden war, strich sein Vater das leere Tütchen mit der Handkante glatt und legte es in eine Zigarrenkiste. Tom hatte nie begriffen, warum er das tat, die Tütchen hatten keine Funktion mehr, aber wenn eine Kiste voll davon war, stellte sein Vater sie ins Regal wie eine Trophäe.

Tom lief zurück in den Garten und sah hoch zum Ende der Stahltreppe. Penny war noch immer in der Wohnung.

Schnell zog er den Ärmel seines Pullovers über die rechte Hand, drückte mit der anderen die Kanten des Tütchens zueinander und griff vorsichtig, damit er den Scherben nicht zu nahe kam, über die gläserne Mauer.

Die Maus passte nicht ganz. Sie war zu groß für die Tüte, der Schwanz wölbte sich oben raus.

Eine Maus gehört nicht in eine Tüte, die für kaputte Uhren vorgesehen ist, dachte Tom. Er hätte sie einfach dalassen sollen, aber jetzt war es zu spät. Jetzt hatte er etwas begonnen, und wenn man etwas begonnen hatte, musste man es auch zu Ende führen. Selbst, wenn man plötzlich überhaupt nicht mehr wusste, was man da eigentlich tat.

Er wusste nur, dass etwas anders gewesen war, als sein Vater mit kleinen Schritten und schiefem Kopf zurück in die Werkstatt gegangen war. Etwas Dunkles, Unsichtbares hatte über ihm gelegen, etwas, über das man besser nicht nachdachte, und jetzt machte das Gewicht der Maus etwas Komisches im Bauch.

Tom biss die Zähne aufeinander und drückte mit der Schaufel auf den Mäuseschwanz, bis er in der Tüte blieb. Er faltete die Tüte oben zusammen und zog seinen Pullover darüber.

Mit jedem Schritt auf den Stufen wurde das stählerne Dröhnen der Außentreppe lauter, hallte es in seinem Kopf wie die Glocken des Kirchturms, den er von seinem Bett aus sehen konnte.

Tom drückte die Balkontür zur Wohnung auf. Seine Schwester kam ihm entgegen, in der Hand einen Löffel voll Lebertran. Sie starrte darauf wie beim Eierlaufen.

»Da kommt ja der Nächste«, sagte seine Mutter.

Penny wollte an ihm vorbei. Er machte Platz, damit sie die Hand mit der Tüte darin nicht gegen seine Haut drückte.

»Ein Löffel voll Licht«, sagte seine Mutter, und Tom fixierte die glibberige gelbe Paste, die Hand in das Tütchen verkrallt.

»Deine Schwester hat auch schon, stell dich nicht immer so an.«

Penny mochte den Lebertranglibsch. Sie öffnete jedes Mal bereitwillig den Mund, wie die alten Frauen in der Kirche bei der heiligen Kommunion. Tom hatte nie verstanden, warum sie das taten. Warum sie die Hände nicht wie alle anderen zu dieser Bettlerschale formten, in die der Priester dann die Hostie legte, der Leib Christi, Amen, der Leib Christi, Amen, mit einem Blick, der die Hostie zu vergleichen schien mit dem unheiligen Gesicht vor ihm.

Der Priester hieß Johannes Zöllner, er sah einem streng in die Augen, und die alten Frauen formten mit ihren Händen keine Schale, sondern hielten sie gefaltet vor den Bauch. Sie öffneten ihre Münder wie Schnäbel, streckten die Zunge heraus, beugten den Oberkörper nach vorn, die Augen geschlossen, und warteten darauf, dass Johannes Zöllner ihnen die Hostie in das Loch ihres lippenlos offenen Mundes schob, damit sie den Leib Christi nicht beschmutzten.

Das Lächeln dieser Frauen, nachdem Johannes Zöllner ihnen die Oblate auf die Zunge gelegt hatte. Nachdem ihr Mund zugeklappt war, als säße der Leib Christi jetzt bei ihnen in der Falle.

Das ist, wie wenn einem ein Engelchen auf die Zunge pinkelt, sagte seine Mutter und meinte das Prickeln der Lebertranpaste im Mund. Noch mehr als vor dem Geschmack des gelbtransparenten Gelees ekelte sich Tom vor diesem Satz.

»Damit du groß und stark wirst«, sagte seine Mutter, und Tom spürte das Gewicht der toten Maus in seiner Hand.

Er schloss die Augen, beugte sich vor und öffnete den Mund. Er atmete nicht, während er den Glibber mit den Lippen vom Löffel zog, damit er ihn nicht riechen musste. Er unterdrückte den Brechreiz beim Schlucken und lief in das Zimmer, das er mit seiner Schwester teilte.

Lebertran, dachte er, den bitteren, leicht modrigen Nachgeschmack noch im Mund, ist ein dünnes, hellgelbes Öl, das durch das Pressen oder Erwärmen von Fischlebern gewonnen wird.

Langsam erwärmte Fischlebern, dachte Tom, obwohl er genau das nicht denken wollte. Dünnes, hellgelbes Öl.

Er zog die Tüte unter seinem Pullover hervor und sah den Mäuseschwanz durch das Papier schimmern wie den Schatten eines halben Fragezeichens. Unruh austauschen 7,50 stand auf der Tüte, in der präzisen, wie gedruckt wirkenden Handschrift seines Vaters.

Tom konnte die Maus gerade noch hinter die Reihe mit den Was-ist-was-Büchern werfen, bevor er ins Bad rannte und sich übergab.

 

3

»Was glaubst du«, fragte Penny, nachdem ihre Mutter das Licht bei ihnen ausgemacht hatte. »Glaubst du, die Maus hat es gut im Himmel?«

Draußen war die Dunkelheit blau, und normalerweise hätte Tom gesagt, dass es so etwas wie den Himmel gar nicht gab. Dass der Himmel nichts als eine Täuschung war, entstanden durch die Brechung und Streuung von Licht in der Atmosphäre.

Die Erde, Penny, dreht sich mit Überschallgeschwindigkeit durch eiskalten, pechschwarzen Raum, hätte Tom normalerweise gesagt, und nur diese schmale Dunsthülle verhindert, dass irgendwer das mitbekommt. Der Himmel, Penny, ist eine gigantische Illusionsmaschine, eine riesenhafte blaue Leinwand mit Sonne und Mond und Wolken drauf, und er ist nur da, um die Finsternis und die Leere dahinter vergessen zu machen, dieses allumfassende, monströse Nichts, von dem wir nicht mal wissen, ob es wirklich nichts ist, weil es zu über siebzig Prozent aus etwas besteht, von dem wir absolut keine Ahnung haben. Aber das sagte er nicht. Er sagte nicht, dass der Schwefel die Maus von innen zersetzt und ihre Lunge in einen blutigen Klumpen Matsch verwandelt hatte. Er sagte nicht, wie leicht sie plötzlich gewesen war, als er sie nach dem Abendessen heimlich unter dem Ginster vergraben hatte. Er schaffte es nicht, ihr die Wahrheit zu sagen, weil er noch immer dieses Lied im Kopf hatte, noch immer dieses Licht sah, das sich ständig veränderte. Je länger er hingesehen hatte, desto weniger hatte er gewusst, ob die Maus sich nicht doch noch bewegt hatte.

»Vielleicht hat sie es ja geschafft«, sagte Tom. »Vielleicht ist sie aufgewacht, hat das Gras gefressen und ist weggerannt.«

Das nächtliche Blau verwandelte seine Bettdecke in eine unheimliche Landschaft, und Tom merkte, dass Penny ihm nicht glaubte. Er hörte es an der Art, wie sie schwieg. Wie es über ihm nicht raschelte.

In den Geräuschen, die seine Schwester machte oder nicht machte, konnte Tom lesen wie in ihrem Gesicht. Jede Nacht lag er unter ihr im Hochbett, den Blick auf die Bretter ihres Lattenrosts gerichtet, während sie, keine Armlänge von der Zimmerdecke entfernt, den Neonhimmel über sich hatte, Leuchtsterne in drei Größen, dazu ein Mond mit Nase.

»Wie soll sie denn da rausgekommen sein?«, fragte Penny, und Tom hörte, dass sie enttäuscht war von ihm, enttäuscht davon, dass er sie mit einer Kinderantwort abspeisen wollte. »Dann hätte doch das ganze Haus einstürzen müssen.«

Er hakte seine Finger unter ein Brett, das sich verschoben hatte, und rückte es so zurecht, dass alle Latten wieder parallel waren.

Tom wusste, dass es seine Pflicht war, ihr die Wahrheit zu sagen. Der Wissenschaftler ist immer auch Wahrheitssucher, hatte sein Vater ihm beigebracht. Wer sich der Wissenschaft verschreibt, ist stets bemüht um die bessere Antwort.

Wer hat uns denn zum Mond gebracht?, fragte sein Vater, wenn alle beisammen waren, und warf dabei Blicke zu seiner Frau. Der Glaube? Das Vertrauen auf einen Gott, der schon alles für einen richten wird? Nein, mein Junge. Ohne den unermüdlichen Wissensdrang der Forscher stünde da oben jetzt nicht diese Flagge. Ohne die Wissenschaft säßen wir vor einem riesigen Haufen Irgendwas, und dieses Irgendwas machte uns Angst. Aufgabe der Wissenschaft ist es, uns die Angst zu nehmen.

Tom starrte auf die blauen Hügel der Bettdeckenlandschaft. Auf den Bretterhimmel darüber. Siebzig Prozent des Universums besteht aus Dunkler Energie, dachte er. Einer Kraft, von der wir absolut nichts wissen. Nur, dass sie da sein muss, weil sonst alle Rechnungen nicht funktionierten. Weil es die Welt, die wir kennen, sonst nicht gäbe.

Tom hörte, wie seine Schwester an den Sternen herumknibbelte. Wie sie die Fingernägel unter die Ränder schob und die Zacken rhythmisch gegen den Putz flappen ließ.

Flapp, flapp, flapp.

Er musste ihr die Wahrheit sagen. Auch, wenn diese Wahrheit bedeutete, dass man eben lebte und starb, vielleicht so gut es ging lebte, mit viel Sonnenvitamin für den Knochenaufbau, mit viel Lernen und Forschen, mit Mondlandungen und Weltraumflügen, aber am Ende war eine tote Maus immer noch eine tote Maus und damit etwas, für das es sich nicht lohnte, ein Lied zu singen.