6,99 €
Ein Ghostwriter und Biograf reist in ein US-Amerikanisches Universitätsstädtchen, um die Geschichte eines Mannes aufzuschreiben, von dem er bislang kaum mehr kennt als ein verschwommenes Foto. Sein vermeintlicher Auftraggeber entzieht sich ihm, doch die Menschen in dem Haus, in dem er untergebracht ist, behandeln ihn als einen der Ihren. Sie verhalten sich ebenso rätselhaft wie Ned, ein junger Mann, der heimlich ein Mädchen beobachtet, zu dem er sich auf unerklärliche Weise hingezogen fühlt. Er kündigt seinen Job und widmet seine Tage fortan nur noch der Erforschung ihres Lebens. Bis er entdeckt wird und in Gefahr gerät. Die Zwillinge Aaron und Lia Singer, von ihrer Mutter vernachlässigt und von ihrem Vater missbraucht, flüchten in eine Welt der Geschichten und Bilder. Eines Tages fliehen sie tatsächlich: in die Wälder, zu einer Hütte an einem See, wo sie allein mit sich sind. Doch bald wird auch die Natur zur Bedrohung. Was sich in Stefan Beuses außerordentlich spannend und suggestiv geschriebenem neuen Roman „Alles was du siehst“ zunächst wie drei ganz verschiedene Erzählungen liest, wird zunehmend und immer raffinierter zu einer großen Geschichte über das Wesen der Identität und die geheimnisvollen Kräfte, die Menschen zueinanderfinden lassen. Mehr und mehr ergänzen sich die Teile zu einer einzigen Biografie. Aber wessen? Mit seiner klaren, souverän gehandhabten Sprache, seinen poetischen Bildern und den atemberaubenden Szenenwechseln entwickelt dieser glänzende Roman einen geradezu magischen Zauber.
Das E-Book können Sie in Legimi-Apps oder einer beliebigen App lesen, die das folgende Format unterstützen:
Seitenzahl: 178
E-Book-Ausgabe: © CulturBooks Verlag 2020
Gärtnerstr. 122, 20253 Hamburg
Tel. +4940 31108081, [email protected]
www.culturbooks.de
Alle Rechte vorbehalten
© Stefan Beuse 2009
Die Printausgabe erschien 2009 bei C.H. Beck
Gefördert vom Deutschen Literaturfonds e.V.
Der Autor dankt außerdem der Kulturbehörde der Freien und Hansestadt
Hamburg, der Cornell University, dem Bundespräsidenten, der GWK und der
VG Wort für die Unterstützung der Arbeit an diesem Buch.
ISBN 978-3-95988-170-8
Ein Ghostwriter und Biograf reist in ein US-Amerikanisches Universitätsstädtchen, um die Geschichte eines Mannes aufzuschreiben, von dem er bislang kaum mehr kennt als ein verschwommenes Foto. Sein vermeintlicher Auftraggeber entzieht sich ihm, doch die Menschen in dem Haus, in dem er untergebracht ist, behandeln ihn als einen der Ihren. Sie verhalten sich ebenso rätselhaft wie Ned, ein junger Mann, der heimlich ein Mädchen beobachtet, zu dem er sich auf unerklärliche Weise hingezogen fühlt. Er kündigt seinen Job und widmet seine Tage fortan nur noch der Erforschung ihres Lebens. Bis er entdeckt wird und in Gefahr gerät.
Die Zwillinge Aaron und Lia Singer, von ihrer Mutter vernachlässigt und von ihrem Vater missbraucht, flüchten in eine Welt der Geschichten und Bilder. Eines Tages fliehen sie tatsächlich: in die Wälder, zu einer Hütte an einem See, wo sie allein mit sich sind. Doch bald wird auch die Natur zur Bedrohung.
Was sich in Stefan Beuses außerordentlich spannend und suggestiv geschriebenem neuen Roman „Alles was du siehst“ zunächst wie drei ganz verschiedene Erzählungen liest, wird zunehmend und immer raffinierter zu einer großen Geschichte über das Wesen der Identität und die geheimnisvollen Kräfte, die Menschen zueinanderfinden lassen. Mehr und mehr ergänzen sich die Teile zu einer einzigen Biografie. Aber wessen?
Mit seiner klaren, souverän gehandhabten Sprache, seinen poetischen Bildern und den atemberaubenden Szenenwechseln entwickelt dieser glänzende Roman einen geradezu magischen Zauber.
Stefan Beuse
Alles was du siehst
Roman
Für David Foster Wallace
We don’t see things as they are, we see things as we are
In watermelon sugar the deeds were done and done again as my life is done in watermelon sugar. I’ll tell you about it because I am here and you are distant. Wherever you are, we must do the best we can. It is so far to travel, and we have nothing here to travel, except watermelon sugar. I hope this works out. (Richard Brautigan)
Einen einzigen Atemzug, mehr habe ich nicht. Mein Blick fliegt über die Oberfläche. Eine verstörende Weite, die sich bis zum Horizont erstreckt, dem scheinbaren Ende von Himmel und Erde. Dabei geht alles immer bloß weiter: Oben und unten fließen ineinander; die Grenzenlosigkeit selbst schafft die Grenze, ein Produkt aus Erdkrümmung und Luftspiegelung. Was wir Horizont nennen, ist nichts als eine optische Täuschung.
Ich drehe mich auf dem Rand des Schlauchbootes. Werfe einen Blick zurück zur Küste, wo die zerklüfteten Felsen steil Richtung Meeresboden abfallen. Mit jeder Minute trennen sich die dunklen Wellen schärfer von den Klippen und den Häusern darauf, in denen Leute am Fenster stehen und aufs Meer blicken, ohne es wahrzunehmen, weil sie Weite sehen, nicht Tiefe. Eine Wasseroberfläche, die den Himmel spiegelt und vergessen macht, dass die Dünung nur das sichtbare Echo eines Pulses ist, der seinen Ursprung in lichtlosem Schwarz hat, einer Finsternis, in deren Zentrum ein gewaltiges Herz schlägt. Man muss das wissen, bevor man sich dem Meer anvertraut. Man muss das wissen, sonst schluckt es einen.
Ich fahre mit der Hand an der Außenseite des Bootes entlang, die noch warm ist von der Hitze des Tages. Atme den Geruch des Gummis, der mir ein Gefühl von Zuhause vermittelt. Dann schließe ich die Augen und lasse mich fallen, mit dem Gesicht voraus ins Wasser.
Der kurze Kälteschock, obwohl das Meer über Monate hinweg Sonne gespeichert hat. Mein Puls sinkt auf fünfzig Schläge pro Minute, Blut wird aus den Unterarmen in den Brustraum gepumpt; ein Reflex, der seit Urzeiten in unser Reptiliengehirn graviert ist. Ich spüre, wie sich meine Gesichtshaut entspannt, wie ich ruhig werde. Eine Weile bleibe ich so liegen, Arme und Beine ausgebreitet, nur vom Auftrieb des Neoprenanzugs gehalten. Dann öffne ich die Augen und schwimme zur Boje.
Ich halte mich am Ankerseil fest. Lege meine Hand aufs Wasser, dass die Oberflächenspannung der Wellen an meiner Haut entlangstreicht. Ziehe den Bauchnabel ein, presse den letzten Rest Luft aus meinem Leib und verschließe den Gaumen, bis der Atemreflex einsetzen will.
Das irre Kitzeln, als ich ihm widerstehe. Wie eine Falltür, die unter mir aufgeht, während gleichzeitig ein Schwarm Vögel mit wild schlagenden Flügeln meine Schädeldecke anzuheben versucht. Jeder Wimpernschlag, mit dem ich die Grenze zur Ohnmacht verschiebe, stößt eine Tür auf.
Licht tanzt vor meinen Augen, Luft strömt ein, die Bauchdecke wölbt sich, die Rippenbögen dehnen und weiten sich. Ich atme bis unters Schlüsselbein, die Wirbelsäule streckt sich, das Kinn sinkt Richtung Brust. Ich konzentriere mich auf den Punkt zwischen meinen Brauen. Achtundsiebzig Meter. Die Tiefe, in der ich sie finden werde.
Zwei Minuten Hyperventilation. Schnelles, flaches Atmen, bis das Blut von Sauerstoff gesättigt ist. Dann der letzte, der entscheidende Atemzug. Achteinhalb Liter Luft, die mich an den Grund bringen werden. Eine Verdichtung bis hoch in die Luftröhre, dann tauche ich ab, ziehe mich am Ankerseil nach unten, einer Tiefe entgegen, die hier, knapp unter der Oberfläche, nicht mehr als eine helllichte Vision ist: Schwebstoffe, die in Sonnenlicht baden.
Wasser rauscht an mir vorbei, Auftrieb und Schwerkraft gleichen sich aus. Die erste Kältegrenze. Ich presse die Nasenflügel zwischen Daumen und Zeigefinger zusammen, drücke von innen Luft ins Mittelohr.
Fünf Meter.
Der Rotanteil im Licht verschwindet. Sieben Meter.
Der Druck auf das Gasgemisch in meiner Lunge wird größer. Einundzwanzig Prozent Sauerstoff. Achtundsiebzig Prozent Stickstoff. Der Rest ist Argon. Kohlendioxid.
Zehn Meter.
Meine Lunge ist auf die Hälfte ihres ursprünglichen Volumens geschrumpft.
Zwölf Meter.
Der Gelbanteil wird aus dem Licht gefiltert. Ich kann das Meer hören, seine Stille.
Sechzehn Meter.
Wie Schnee sinke ich in die Tiefe; die gekrümmten Finger nur noch lose um das Führungsseil geschlossen.
Zwanzig Meter.
Der letzte Grünstich verschwindet. Ich bin umgeben von reinem, überwältigendem Ultramarin, ein Blau, das hier keine Farbe, sondern ein Zustand ist. Ich muss mich zwingen, am Seil zu bleiben, ab dreißig Metern entfaltet der Stickstoff seine betäubende Wirkung. Sieben mal acht sind sechsundfünfzig. Mein Name ist, ich wohne in, und das ist meine Sozialversicherungsnummer. Ich habe einen Kontostand, einen Beruf und eine Vergangenheit. Das alles ist nichts, da, wo ich hingehe.
Fünfunddreißig Meter.
Der Druck in der Lunge wird negativ. Fünfundvierzig Meter.
Mein Herzschlag sinkt auf zwölf Schläge pro Minute. Der Atemreiz verschwindet. Ich falle.
Fünfzig Meter. Mir wird kalt.
Fünfundfünfzig Meter.
Die Farben verschwinden. Es ist dunkel. Sechzig Meter.
Jetzt kommen die Bilder.
Bienvenu. You are entering an arena that will question tradition, perception, and practicality. From the settlement of agriculture to the birth of the kitchen, life has presented us with the remarkable gift of creative thinking. For this I must return the favor and present my craft with passion, inquisition, and energy. I urge you to use this experience as a catalyst for your own interests, and hope that the world will come to seem even more mysterious, divine, and compelling. (Einladungskarte zu einem formellen Abendessen der Telluride Association)
Langsam kroch die Dunkelheit über das Land. Was als haarfeiner Riss am Horizont begonnen hatte, eine kaum wahrnehmbare Beimischung von Schwarz entlang der blassblau aquarellierten Grenze zwischen Himmel und Erde, gewann nun deutlich an Gestalt. Tief hängende Wolken ließen ihre Schatten vorausfliegen, verdichteten sich zu einer schweren Front. Es war, als hätte man den Himmel geteilt und wir flögen nun der Nachtseite entgegen, die unaufhaltsam gegen das letzte Licht des Tages rückte und auch den beständigen Schatten fressen würde, den die Propellermaschine noch immer über das zerklüftete Gebiet von Tompkins County warf, ein flexibles Abbild unserer Route.
Seit der Fortsetzung meines Fluges in Philadelphia war der Schatten nicht von meiner Seite gewichen. Durch das Bullaugenfenster sah ich ihn über Felskuppen springen, Täler auslecken und über Seen tanzen, sich derart quecksilbrig dem Grund fügen, auf den er projiziert wurde, dass er meine Reise, überhaupt jede Mühe, die man gemeinhin auf sich nimmt, um ein Ziel zu erreichen, zu verhöhnen schien. Als wollte er beweisen, dass ein Gedanke genügt, um von einem Ort zum anderen zu kommen, ein Lächeln, so schwerelos, so verspielt wie dieser Schatten selbst, der nie reißen würde, ganz gleich, was geschähe.
Libellenflügeln gleich schraubten sich die schimmernden Propellerkreise in die Wolkenfront, und ich warf einen letzten Blick auf den schmalen Stoß Blätter, der zusammen mit einer verschwommenen Fotografie vor mir lag; der bisher einzige Hinweis auf meinen Auftrag.
Aaron Singer.
Ein stummer Blitz, dann sprangen die Anschnallzeichen an, und noch während ein schieferfarbenes Meer hinter uns zusammenschlug, rüttelte ein Sturm an den Tragflächen. Die Seiten auf dem kleinen Tischchen begannen zu zittern; ich spürte, wie das Flugzeug immer stärker bebte, hörte es quietschen wie eine alte Tür, kaum mehr in den Angeln gehalten von Beschlägen, die mit dem nächsten Stoß zu bersten drohten.
Aus den Wolkenschlünden dämmerte ein diffuser, gasähnlicher Schein, und was ich zunächst für die erleuchteten Ränder ineinanderstrudelnder Wolkenmassen gehalten hatte, entpuppte sich als die Spiegelung meines eigenen Gesichts. So fremd, so ohne Zusammenhang erschienen mir die Konturen, dass ich erschrak, vor allem vor meiner Unfähigkeit, eine Beziehung zwischen mir und meinem Abbild herzustellen. Es war, als formten und verwürfen die Zerklüftungen der Wolken immer neue Skizzen, Modelle eines Menschen, der ich sein sollte und nicht war.
Aaron Singer. Der Name begleitete mich jetzt schon seit Wochen, doch je mehr ich über ihn nachdachte, desto stärker entzog er sich. Jedes Detail, das der Professor für mich gesammelt hatte, war nur ein neues Puzzlestück, das sich nicht fügen wollte, und je näher ich dem Ort kam, an dem er gelebt hatte, desto drängender wurden die immer gleichen Fragen: Wer war der Mann, dessentwegen man mich auf die andere Seite der Welt bestellt hatte? Wieso beauftragte man mich mit der Geschichte eines Menschen, der öffentlich nie in Erscheinung getreten war? Gab es überhaupt eine Geschichte? Und was an seinem Leben war so interessant, dass man ausgerechnet mich gefragt hatte, ohne auch nur zu versuchen, mein festgesetztes Honorar zu verhandeln?
Das einzige Foto, das von Singer existierte, erinnerte eher an Amateuraufnahmen von Ufos als an ein Porträt. Falls man überhaupt etwas darauf erkennen konnte, war es ein Umriss, eine Larve, die alles zeigte, was man darin sehen wollte, und in gewisser Weise war diese Darstellung seiner Person die perfekte Illustration dessen, was ich bisher über ihn gelesen hatte.
Konkret wusste ich nur, dass er in einer Holzhütte am See gewohnt hatte, nicht weit entfernt von dem Haus, in dem ich untergebracht sein würde: ein altes Anwesen, in dem eine Gemeinschaft lebte, über die mir der Professor keine Auskunft geben wollte. Alle Einzelheiten müssten vor Ort geregelt werden, hatte er gesagt, das gehöre zu den Bedingungen.
Ich hatte entgegnet, dass ich die Frage, mit was für Leuten ich die nächsten Monate verbringen würde, ebenso wenig für eine Einzelheit hielte wie die Tatsache, dass er mir noch immer nicht gesagt habe, worin mein Auftrag eigentlich bestehe.
Als Antwort hatte ich die Flugtickets per Post erhalten sowie ein Schreiben, das mir einen Großteil der üblichen Formalitäten ersparte. Ich wusste nicht, was mich mehr beeindruckt hatte: die Eigentümlichkeit des Auftrags oder die Unbedingtheit, mit der man ausgerechnet mich dafür wollte.
Ich presste meine Stirn an die Scheibe. Langsam, still wie in einem Traum, sah ich Schnee fallen, an meinem Fenster vorbeiwehen wie eine Erinnerung.
Da war sie wieder. Die Stimme. Der Erzähler, der alles kommentierte. Als würde in diesem Moment ein Buch über sie geschrieben. Oder als schriebe sie selbst das Buch, indem sie tat, was sie tat. Dachte, was sie dachte. Die Stimme war so eng mit ihr verbunden, dass es ihr unmöglich war zu sagen, was zuerst da gewesen war: die Stimme oder sie.
Hatte es irgendwann einen ersten Satz gegeben, der da lautete: «Am vierundzwanzigsten Januar um sechs Uhr zweiunddreißig wurde Kasey Sierra gegen ihren Willen in eine Welt geboren, die sie zeit ihres Lebens für einen Irrtum halten sollte; der Schneesturm außerhalb der Krankenhausmauern forderte zu dieser Zeit sechs Tote, und auch ihre Mutter überlebte die Geburt nur knapp»? – Hatte so ein Satz sie erschaffen, oder hatte das, was Doktor Redloff «die Krankheit» nannte, die Stimme hervorgerufen? Waren ihre Gedanken die Stimme? War die Stimme die Krankheit? Wann hatte sie begonnen? Gab es eine Zeit, in der sie die Stimme nicht gehört hatte, oder nur den Moment, in dem ihr klar geworden war, dass nicht alle Menschen sie hörten?
«In derart unsinnige Grübelei versunken, spazierte Kasey Sierra, gewandet in ein Kleid, dessen Auswahl die Einschätzung der Witterungsverhältnisse mindestens optimistisch erscheinen ließ, durch ihren Obstgarten», hörte Kasey die Stimme.
Doch der Obstgarten hatte Augen. Seine Äste fingen Gedanken, die Sonne blinzelte ihren Spott durch ein Meer höhnisch winkender Blätter, und nichts, gar nichts von dem war wahr, was in den Zeitschriften stand: dass das wie ein Schauer ist, der einem den Rücken runterläuft. Es gab kein Brennen am Hinterkopf und auch keinen Magnetismus, der sie dazu brachte, sich umzudrehen. Was Kasey Sierra spürte, was sie umgab, war ein dauerhaftes Feld, das die Welt da draußen außer Kraft setzte.
Kasey lebte in einem Körper, der nicht der ihre war, in einem Haus, das ihr fremd vorkam, unter Menschen, vor denen sie Angst hatte. Der einzige Halt, ihr Anker in der Welt da draußen war Randal. Randal, der genau das verkörperte, was sie nicht war, ein Fleisch gewordener Wille. Wenn er nicht da war, versteckte sie sich, vergrub sich in ihrem Haus, bis er wiederkam. Oder sie ging durch den Garten und lehnte sich an den alten Apfelbaum, dessen Stamm so dick war, dass ihre Fingerspitzen sich nicht mal berührten, wenn sie die Arme um ihn legte.
Kasey lehnte sich an den Stamm und schloss die Augen. Es war ein sehr alter Baum, und es gab nichts, was er nicht wusste.
Einmal hatte Kasey ihn gefragt, warum Randal so grob zu ihr war. Warum er sie manchmal schlug und auf den Boden warf und ihr die Kleider zerriss.
Das ist, weil er Angst vor dir hat, hatte der Baum da geantwortet. Weil du zu groß für ihn bist. Randal ist ein sehr einfacher Junge, und er weiß nichts von dem, was du weißt. Er sieht nichts von dem, was du siehst. Er kann nicht mal hören, was ich sage. Er ist wie ein Säugling, der ganz am Anfang steht. Der alles noch lernen muss. Sei nachsichtig mit ihm. Er meint es nicht so.
Das hatte Kasey verstanden. Der Baum war gut zu ihr, und er wusste immer Rat. Der Baum war es auch gewesen, der ihr gesagt hatte, dass sie die Tabletten nicht brauche, die Doktor Redloff ihr gab. Dass sie nicht krank sei, sondern bloß mehr wisse, mehr sehe und mehr fühle als andere. Dass es in Ordnung sei, keine Richtung zu haben. Einfach nur da zu sein. Schließlich tue er, der Baum, auch nichts anderes.
Aber als Mensch müsse sie doch in einer Menschenwelt zurechtkommen, hatte Kasey da gesagt, während er, der Baum, als Baum unter Bäumen natürlich nicht weiter auffalle, weil er ja gewissermaßen nicht aus der Reihe tanze durch das, was er tue.
Daran sähe man jetzt aber mal, dass sie keine Ahnung habe, hatte der Baum ihr geantwortet. Ob sie sich nicht vorstellen könne, dass auch sie für seine Baumkollegen als Mensch sozusagen nicht zu unterscheiden sei von anderen Menschen, obwohl sie doch ein ganz besonderer Mensch sei? Ob das nicht ein wenig oberflächlich sei, einen Baum nur danach zu beurteilen, ob er aussehe wie ein Baum?
Kasey versprach, darüber nachzudenken. Sie hörte Randals Wagen in der Ferne. Es war ein schöner, trockener Spätherbstmorgen; die Luft war wie blank geputzt, die Blätter des Apfelbaums raschelten im Wind, und die Straßen waren frei. Sie hörte, wie der Wagen an der Kreuzung hielt und wieder anfuhr. Gleich würde er um die Ecke biegen. Randal würde aussteigen und sie vielleicht küssen und mit ihr ins Haus gehen. Aber das wollte sie nicht. Zum ersten Mal war sie nicht froh, dass er kam und sie erlöste, mit seinem Willen, seiner Kraft. Sie wollte weiter hier sitzen und dem Baum zuhören. Es war gut, alles, wie es gerade war, und sie wollte nicht, dass es aufhörte.
«Ich muss los», sagte Kasey und ließ ihre Fingerspitzen noch einmal an der Rinde entlangstreichen.
Und da geschah etwas Seltsames. Es kam von oben, von direkt über ihr: ein Tropfen, der mitten auf ihrer Wange platzte und langsam in ihren Mundwinkel rann. Er schmeckte salzig. Kasey wischte sich die Spur des Tropfens von der Wange und betrachtete die Kuppe ihres Zeigefingers, während sie langsam zum Gartentor ging.
Es waren bereits sonderbare Dinge aus dem Baum gefallen, als sie darunter gesessen hatte. Nicht nur Äpfel und Blätter. Auch kleine Aststücke und letzte Woche sogar ein kleiner, schwarzer Deckel, von dem Randal gesagt hatte, dass er zu einer Kamera gehöre, woher zum Teufel sie den habe?
Aber das hier war das erste Mal, dass eine Träne aus dem Baum gefallen war.
Seit drei Monaten kannte ich nur seine Stimme, und obwohl ich ihn mir nie vorgestellt hatte, war ich überrascht von dem Mann, der am Flughafen auf mich wartete. Nicht, weil er dem Bild eines Professors widersprochen hätte, sondern weil er im Gegenteil genau so aussah, wie man sich einen Gelehrten vorstellt: leicht nach vorn gebeugt und etwas windschief, die Arme verschränkt, als müsste er sich selbst festhalten; eine große, knochige Gestalt, die mitten in der winzigen Halle von Ithaca Airport stand und von der ich nie gedacht hätte, dass es sich um den Mann handeln könnte, der mich hierher bestellt hatte. Doch abgesehen von einer schattenhaften Frau, die den Bistrotisch eines verwaisten Stehimbisses abwischte, war niemand mehr da, unsere De Havilland Dash 8 Turboprop aus Philadelphia war die letzte Maschine gewesen und der Rest der Passagiere längst im wirbelnden Schnee verschwunden.
«Blizzard», hatte die Frau von der Gepäckermittlung gesagt und mit den Schultern gezuckt. «Passiert in dieser Zeit oft. Manchmal landet hier drei, vier Tage lang gar nichts; seien Sie froh, dass nur Ihr Gepäck den Anschluss nicht geschafft hat, sonst säßen Sie jetzt in Philadelphia fest …»
Nach dem zweiten Anruf des Professors hatte ich meine Wohnung gekündigt, alles Wichtige in einen Rucksack gepackt und den Rest abholen lassen, von einem Händler, dessen erstes Angebot ich akzeptiert hatte. Ich besaß gerade soviel, wie ich in zehn Minuten zusammenraffen und forttragen konnte, das war immer so ein Grundsatz gewesen, ich wollte die Dinge nicht unnötig kompliziert machen.
«Heißt das, ich muss bis morgen auf mein Gepäck warten? Wenn ich Pech habe, sogar bis übermorgen?»
«Nein», hatte sie gesagt und gelächelt. «Wenn Sie Pech haben, warten Sie zwei Wochen. Wenn Sie Glück haben, finden Sie heute noch ein Taxi, das Sie da hochfährt.»
Ich gab ihr die ausgefüllten Formulare zurück und legte einen Fünfdollarschein dazu. Natürlich wusste ich, dass das die Sache nicht beschleunigen würde. Dass es absurd war, die Fluggesellschaft gewissermaßen als Belohnung dafür, dass sie meinen Rucksack verloren hatte, auch noch zu bezahlen. Aber es gab mir ein besseres Gefühl. Das Gefühl, alles getan zu haben, was in meiner Macht stand.
Wir müssen ein sonderbares Bild abgegeben haben, wie wir aufeinander zuwankten, in der neongrünen Trostlosigkeit dieser verlassenen Halle: der Professor mit den ungelenken Schritten einer Marionette, ich steif gesessen von über vierzehn Stunden Flug, schief von der Büchertasche über meiner Schulter. Nicht mal eine Zahnbürste hatte ich dazugesteckt, und ich verfluchte die Entscheidung, sogar Laptop und Fotoapparat im Rucksack verstaut zu haben.
«Willkommen in Ithaca.» Die Stimme des Professors klang, als hätte sie sich durch enge Windungen quälen müssen. Sie passte weder zu der zerbrechlichen Erscheinung, noch zu seinen Augen, die im Zusammenspiel mit den struppigen Brauen, den fahrig nach hinten gestrichenen Haaren und seinem nachlässig gestutzten Bart fast spitzbübisch wirkten. Ich war überrascht von ihrer Lautstärke, dabei hatten wir so oft telefoniert, dass ich mich eigentlich daran hätte gewöhnt haben müssen.
«Tut mir leid, dass ich so spät bin.» Ich schüttelte ihm die Hand. «Mein Gepäck ist nicht mitgekommen; ich musste pausenlos Formulare ausfüllen und mir anhören, dass es vermutlich Tage dauert, bis es gebracht wird.»
Der Professor starrte auf etwas hinter meinem Rücken.
Ich wandte mich um, sah aber nichts Besonderes.
«Na ja», sagte ich, «Rasierzeug kann ich zur Not nachkaufen, und an der Universität gibt es bestimmt einen Rechner, den ich so lange benutzen darf.»