Die Einsamkeit der Astronauten - Stefan Beuse - E-Book

Die Einsamkeit der Astronauten E-Book

Stefan Beuse

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Beschreibung

Wann wirst du zum Helden deines eigenen Lebens? Stefan Beuse über Liebe, Freiheit und die Rebellion gegen ein manipulatives System – eine fesselnde Dystopie

Und wenn nicht du falsch in der Welt bist – sondern der ganze Rest? Jonah lebt in der Siedlung. Hier kümmert sich die CoffeeCompany um das Glück der Bewohner und regelt den Alltag bis ins kleinste Detail. Alle sind zufrieden, nur Jonah fühlt sich fremd. Als die rebellische Lia neu in seine Klasse kommt, verliebt er sich Hals über Kopf in sie. Die beiden beginnen, Fragen zu stellen: Was will die CoffeeCompany wirklich? Gemeinsam stoßen sie auf ein manipulatives System aus Gefühlskontrolle und Überwachung. Doch noch bevor sie etwas unternehmen können, verschwindet Lia – und Jonah muss alles riskieren, um sie wiederzufinden. Ein fesselnder Roman, in dem die Grenzen der Wirklichkeit zunehmend verschwimmen.

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Das ist das Cover des Buches »Die Einsamkeit der Astronauten« von Stefan Beuse

Über das Buch

Und wenn nicht du falsch in der Welt bist — sondern der ganze Rest? Jonah lebt in der Siedlung. Hier kümmert sich die CoffeeCompany um das Glück der Bewohner und regelt den Alltag bis ins kleinste Detail. Alle sind zufrieden, nur Jonah fühlt sich fremd. Als die rebellische Lia neu in seine Klasse kommt, verliebt er sich Hals über Kopf in sie. Die beiden beginnen, Fragen zu stellen: Was will die CoffeeCompany wirklich? Gemeinsam stoßen sie auf ein manipulatives System aus Gefühlskontrolle und Überwachung. Doch noch bevor sie etwas unternehmen können, verschwindet Lia — und Jonah muss alles riskieren, um sie wiederzufinden. Ein fesselnder Roman, in dem die Grenzen der Wirklichkeit zunehmend verschwimmen.

Stefan Beuse

Die Einsamkeit der Astronauten

Hanser

Für Chiara, Luka, Dion, Ari — und all die anderen Astronauten, die jeden Tag ein bisschen die Welt retten.

On your last day on earth, the person

you became will meet the person you

could have become.

(Anonymous definition of hell)

I

DIE SIEDLUNG

1

Sie hockt neben mir, in unserem Versteck, vor uns die Hügel der Sperrzone, hinter uns der Wald, dahinter die Siedlung.

»Lass uns hier weg«, sage ich, weil es schon fast dunkel ist und man nach Einbruch der Dämmerung nicht mehr draußen sein darf. Weil es verboten ist, auch nur in die Nähe des Sees zu kommen.

Lia starrt weiter in Richtung der Hügel, die den See umschließen. »Ich will da hin«, sagt sie. »Ich muss wissen, warum sie euch so viel Angst machen.«

Wir kauern am Waldrand, in dem Loch, das ein umgestürzter Baum mit seinem Wurzelwerk aus dem Boden gerissen hat. Ich atme den erdigen, leicht torfigen Geruch und spüre, wie mir die Kälte von unten in die Knochen kriecht.

Auf den Hügeln bewegt sich was. Ich hab das die ganze Zeit schon gesehen, aber ich dachte, ich bilde mir das ein. Vielleicht bilde ich es mir ein. Vielleicht sind das nur Blätter und nicht das, was ich denke.

Ich drehe mich um. Ich weiß nicht, ob sie uns schon entdeckt haben. Ich erkenne nicht viel in dem Wald, aber wenn ich mich konzentriere, höre ich ein Rauschen, Rascheln, Knacken, und ich weiß nicht, ob das Tiere sind. Ob das nur Wind und Holz und Blätter sind.

»Wir sollten nicht hier sein, Lia. Mit dem See ist etwas. Wer auf seine Oberfläche blickt, verliert den Verstand, heißt es.«

»Wer sagt das«, fragt sie, »die CoffeeCompany?«

Es klingt immer noch spöttisch, wie sie das sagt, und ich fühle mich immer noch ertappt.

»Menschen verschwinden von dort«, versuche ich mich zu rechtfertigen. »Keiner von denen, die trotz der Warnungen hingegangen sind, ist je wieder zurückgekommen.«

»Und davor hast du Angst«, fragt sie, »zu verschwinden?«

Ich überlege. Mit Lia zu verschwinden hieße, am besten Ort der Welt zu sein. Weil sie bei mir wäre. Mit Lia fühle ich mich wie in einem Superheldenfilm. Nur, dass nicht ich der Superheld bin, sondern sie.

»Keine Ahnung«, sage ich. »Wir müssen vorsichtig sein.«

»Du warst dein ganzes Leben lang vorsichtig«, sagt sie, und da hat sie leider recht.

Auf den Hügeln gleiten Schatten umher wie Laub, das in Zeitlupe durcheinanderwirbelt und immer neue Schemen formt.

Ich weiß nicht, ob ich es ihr sagen soll.

Dann sage ich es.

»Ich hab was rausgefunden«, flüstere ich. »Du hattest recht. Es ist natürlich nur ein Verdacht. Aber wenn das wahr ist …«

»Erzähl’s mir.«

Sie beißt sich auf die Unterlippe, wie immer, wenn sie etwas nicht erwarten kann. Lia ist eine ganze Wundertüte voll von solchen Gesten.

»Wenn irgendwer erfährt, dass ich davon weiß …«

»… bist du geliefert. Schon klar. Aber wenn du es für dich behältst, sind wir alle geliefert.«

Vorsichtig drehe ich den Kopf. Weit und breit kein Bildschirm, kein Mensch. Nicht mal ein auffälliger Stein.

Sie sieht mich an. Ich spüre ihren Blick im Magen wie eine sanfte, sehr langsame Explosion.

»Morgen Abend«, flüstere ich. »Wenn es dunkel wird, am Waldrand. Du wirst mich nicht erkennen.«

Sie lächelt. Ganz leicht nur. Aber da ist es wieder, das Superheldengefühl.

Ich kenne Lia jetzt schon 24 Tage. Ich weiß noch immer nicht, woher sie kommt und wer sie eigentlich ist. Aber ich bekomme allmählich eine Ahnung davon, wer ich sein könnte, wenn ich es schaffen würde, der zu sein, den sie in mir sieht.

2

Lia war aus einer anderen Gegend in unsere Klasse gekommen, und wer jetzt denkt, das hier wird die typische Geschichte von der neuen Schülerin, die anders ist und sich auf den einzigen freien Platz neben den Außenseiter setzt, hat irgendwie recht und liegt gleichzeitig total daneben.

Klar fiel sie mir sofort auf. Allein durch ihre Haare und die Sachen, die sie trug. Bei uns sehen nämlich alle so aus, als müssten sie jeden Tag eine Tante besuchen, die sehr darauf achtet, dass man saubere Sachen anhat und sich ordentlich kämmt. Die Erwachsenen sehen aus wie Anwälte, und wir sehen aus, als wollten wir später mal Anwalt werden. Wir laufen wachsam und freundlich durch die Gegend, weil wir nie wissen, wer gerade hinter welchem Fenster steht und ob nicht einer von der CoffeeCompany in der Nähe ist.

Dass Lia anders war, sah man auf den ersten Blick. Alles an ihr sagte, dass es ihr egal war, was andere über sie denken. Sie hatte Klamotten an, die angeblich nur die Verrückten tragen, so halb fledderig, halb selbst gemacht. Ihre Haare waren schwarz wie Kohle, sie fielen ihr ins Gesicht, und wenn sie einen ansah, lauerten ihre Augen unter den zitternden Haarspitzen wie eisblaue Bergseen. Natürlich gibt es das gar nicht, lauernde Seen. Aber jemanden wie Lia gibt es eigentlich auch nicht. Und trotzdem stand sie da, mit ihrer Frisur, die keine Frisur war, mit ihrer Haltung, als wollte sie es mit der ganzen Welt aufnehmen.

Klar dachten wir sofort, dass sie aus der DraußenWelt kam. Dass sie es irgendwie geschafft hatte, sich in unsere Siedlung zu retten. Aber genau das sollten wir nicht denken, darauf hatte uns Herr Doktor Freitag schon vorbereitet. Zwar wusste er selbst nicht so genau, aus welchem Teil der Siedlung sie stammen sollte und warum sie anders aussah als wir, er versicherte aber, dass alles seine Richtigkeit hatte und sich die neue Schülerin schnell einfinden würde.

Als sie neben mir saß, fiel mir zuerst ihre Haut auf, dann ihr Geruch. Das stimmt nicht, erst fiel mir auf, wie nah sie plötzlich war. Als hätte sich eine zweite Schwerkraft eingeschaltet, die von ihrem Körper ausging, von der Haut ihrer Beine, die man durch die Löcher in ihrer Hose sah. Dann fiel mir ihr Geruch auf. Wir sind es nicht gewohnt, dass Leute nach etwas riechen. Wir waschen uns so gut, dass jeder von uns vor allem nach Sauberkeit riecht. Lia roch nach Erde, nach Feuer und nach Körper. Sie roch genauso, wie ich mir den Geruch in der DraußenWelt vorstellte, also nach Kampf, Zerstörung und Krieg. Ich weiß nicht, ob ich ihren Geruch besonders angenehm fand, aber weil es ihr Geruch war, atmete ich tief und nicht zu schnell, damit sie mein Atmen nicht hörte. Damit sie bloß nicht dachte, ich sei irgendwie komisch oder so.

Ihr Geruch kribbelte bis unter meine Schädeldecke. Mir war schwindelig und auch ein bisschen schlecht.

»Hallo«, sagte sie, mit ganz wenig Stimme. Es war kein normales Hallo, keine höfliche Begrüßung, eher ein: Hey, erkennst du mich nicht? Ich bin’s doch. Und das Verrückte war, dass ich sie wirklich erkannte. Dass sich unsere Begegnung zu vertraut anfühlte, um so zu tun, als seien wir einfach zwei Jugendliche, die freundlich zueinander sein müssen, weil sie jetzt für den Rest des Schuljahres nebeneinandersitzen. Aber genau das waren wir. Und das irritierte mich so sehr, dass ich erst nicht merkte, wie sie meinen Füller nahm und ihn ständig auf- und zudrehte. Und ich bin sicher, sie selbst merkte das auch nicht. Es war einfach der Gegenstand, der ihren Händen am nächsten lag, zwischen uns, auf meinem Tisch, der jetzt unser Tisch war.

Es ist unhöflich, jemanden nicht anzusehen, der Hallo gesagt hat, also drehte ich den Kopf und sah ihr Gesicht und ihre Haut, ich sah die Sommersprossen um ihre Nase, die zitternden Haarspitzen, ihre Augen mit den winzigen goldenen Einschlüssen in der Iris.

Ich sagte auch »Hallo«. Dann sah ich ihre Hände, die blau waren von der Tinte.

3

Wenn du fünfzehn bist und dich irgendwie komisch in der Welt fühlst, sagen alle, das ist normal. Das gibt sich. So wie eine Krankheit: Mach dir keine Sorgen, das wird schon wieder. Als müsste man nur ein bisschen warten, und dann fühlt man sich nicht mehr fremd, sondern so wie alle. Als gälte es, diese Zeit irgendwie hinter sich zu bringen, um, endlich erwachsen, einen Einkaufswagen durch den Supermarkt zu schieben und die Preise von Butterpäckchen zu vergleichen. Um endlich dreimal am Tag die Gartenstühle feucht abzuwischen, damit sie genauso weiß leuchten wie die der Nachbarn. Um endlich ein Leben zu führen, das hauptsächlich darum kreist, möglichst unauffällig zu Ende zu gehen.

Mit Lia fühlt sich alles zum ersten Mal anders an. Als wäre nicht ich falsch in der Welt, sondern als wäre der ganze Rest falsch.

»Geht’s noch etwas langweiliger?«, sagt sie, wenn ich nach ihrer Herkunft, ihren Freunden, ihren Hobbys frage, und dann erzählt sie irgendwas, von dem ich sowieso nicht weiß, was davon stimmt und was nicht, und ich schäme mich, weil ich selbst schon so blöde Fragen stelle wie meine Eltern.

Meine Eltern sitzen jeden Abend vor ihrem Bildschirm und sehen Nachrichten über die DraußenWelt, um sich daran zu erinnern, wie gut sie es haben. Sie hören Lieder, die davon handeln, dass Liebe alles ist und dass man seines eigenen Glückes Schmied sein soll, aber wenn ich sie frage, was das ist, Liebe, und was das ist, Glück, dann schauen sie mich so halb irritiert und halb angeekelt an und trinken weiter ihren Kaffee.

»Was ist denn das für Kaffee«, sagte Lia, als sie in ihrer ersten großen Pause bei uns einen Schluck davon nahm. »Das ist überhaupt kein Kaffee, wie könnt ihr so was trinken? Das ist warmes schwarzes Wasser.«

»Alle trinken das«, habe ich gesagt, und da hat sie noch einmal probiert und den Kaffee ausgespuckt und sich umgedreht wie jemand, der plötzlich merkt, dass er in die falsche Richtung gerannt ist.

4

Es ist ganz normal, dass du dich mit fünfzehn komisch fühlst, sagen sie. Und es klingt immer wie: Komm du erst mal in mein Alter. Aber genau das will ich nicht. Werden wie die. Das weiß ich spätestens, seit Lia da ist. Mit Lia fühle ich mich immer noch fremd. Aber jetzt sind wir wenigstens zu zweit.

»Tiefseeforscher und Astronauten«, sagt sie. »Hoch über allem und gleichzeitig tief unten im Meer.«

»Wir brauchen Schutzanzüge«, sagt sie. »Schutzanzüge und Helme. Weil wir nicht gemacht sind für diese Welt. Weil uns der Druck sonst zerquetscht und der Unterdruck platzen lässt.«

»Was ist Unterdruck«, frage ich, obwohl ich es weiß. Aber ich muss sichergehen, dass Lia dieselben Dinge wie ich meint mit den Worten, die sie sagt. Manchmal sind unsere Worte gleich, aber wir meinen etwas Unterschiedliches. Wie bei Kaffee.

»Wenn von allen Seiten etwas an dir reißt«, sagt Lia. »Wenn du aufhörst, dich fest zu fühlen, und denkst, dein Körper will sich auflösen. Wenn du Angst hast, dich überallhin zu verteilen. Das ist Unterdruck.«

»Dann fühle ich mich so, wenn du da bist«, sage ich. »Wie Unterdruck.«

5

Kurz nachdem sie ihren Kaffee knapp am Anzug von Herrn Doktor Freitag vorbeigespuckt hat, sind ihre Finger immer noch blau. Lia hält die Tasse umklammert, sie starrt fassungslos auf den Rest Kaffee darin und fragt mich, was das bloß für eine Gegend ist, in der ich hier lebe.

Mit ihr an der Ausgabestelle zu stehen fühlt sich an, wie vor aller Augen einen Preis in Empfang zu nehmen. Ich bin aufgeregt und stolz und glücklich. Ich weiß nicht, was ich sagen soll. Ich danke allen, die nie neben mir sitzen wollten. Ich danke Emilia Knox und ihrer gehässigen Freundin Greta. Ich danke unserem Sportcrack Jens Ramme, der selbst den Klassenstreber Justus van Laack mir vorzog. Vor allem aber danke ich meinen Eltern, die es mit unermüdlichem Einsatz und beständiger Verweigerung jedweden Verständnisses geschafft haben, mich zu dem sozial inkompatiblen und vollkommen gestörten Fünfzehnjährigen zu machen, der ich heute bin.

Ihnen allen gebührt mein tief empfundener Dank dafür, dass sich dieses zauberhafte Wesen an jenem Morgen neben mich gesetzt und mich sofort von Platz eins verdrängt hat. Ich bin jetzt nämlich nicht mehr der seltsamste Typ der Klasse. Vielleicht bin ich noch der zweitseltsamste, aber Nummer zwei zu sein ist okay. Nummer zwei bleibt unsichtbar, und Unsichtbarsein ist für mich so ziemlich der beste Zustand der Welt. Das totale In-Ruhe-gelassen-Werden.

»Was sind denn das für Leute, die Leitungen für schwarzes Wasser in die Häuser legen und dann behaupten, das sei Kaffee?«

Sie sagt das so laut, dass sich natürlich alle umdrehen und sie mehr oder weniger verstohlen beobachten. Jeder dieser Blicke fühlt sich an wie ein Orden.

Ich beuge mich zu ihr. Soll doch jeder wissen, dass wir jetzt schon auf dieser Vertrautheitsebene sind: so weit also, uns zueinanderzubeugen und uns Dinge zuzuraunen.

Ob es da, wo sie herkommt, die CoffeeCompany etwa nicht gibt, frage ich, weil ich mir das kaum vorstellen kann.

»Die was?«, fragt sie, und es klingt nicht, als wollte sie einen Scherz machen. Also erkläre ich es ihr. Obwohl ich jeden Moment damit rechne, dass sie anfängt zu lachen und »O Mann, du glaubst auch jeden Scheiß« oder so was sagt. Weil: Wenn es einen gibt, der seit Jahren den Meistertitel im Verarschtwerden hält, dann bin ich das.

»Die CoffeeCompany sorgt dafür, dass wir immer und überall frischen Kaffee haben«, sage ich und bemühe mich, wie ein Werbesprecher zu klingen, damit ich jederzeit den Rückzug antreten und das alles wie einen Witz aussehen lassen kann. »Morgens, mittags, abends, nachts. Der Kaffee ist kostenlos, und er schmeckt allen gut.«

»Mir nicht«, sagt sie. »Außerdem ist das kein Kaffee.«

Wenn sie sich über mich lustig machen wollte, hätte ich das spätestens jetzt gemerkt, hoffe ich.

»Etwas anderes gibt es bei uns nicht«, sage ich. »Wenn wir Durst haben, trinken wir Kaffee.«

»Aber es gibt hier doch ganz normale Wasserleitungen!«

Ich starre sie an. »Hat dir denn keiner gesagt, dass man das nicht trinken darf?«

»Warum sollte man Wasser nicht trinken dürfen?«

»Weil man krank davon wird, das weiß doch jeder!«

Lia sieht mich an, als hätte ich sie nicht mehr alle. »Hast du’s ausprobiert?«, fragt sie. »Wenn das nämlich die Alternative zu dieser Brühe ist, würde ich mir das an deiner Stelle gut überlegen.«

Ihre Augen machen ein Lochgefühl in meinem Bauch. Als würde ich aus großer Höhe irgendwo runterfallen.

»Die Brühe kommt von der CoffeeCompany«, versuche ich sie zu beruhigen und füge mit meiner halb ironischen Werbesprecherstimme hinzu: »Und die CoffeeCompany will nur unser Bestes.«

Ich lotse sie von der Ausgabe weg. Mit unseren Tassen in den Händen gehen wir aus dem Keller ins Erdgeschoss, durch die Gänge des Schulgebäudes, vorbei am Sekretariat, am Lehrerzimmer, an all den Räumen, von denen ich denke, dass sie vielleicht mal wichtig für sie werden könnten. Ich zeige ihr die Klassen, die Turnhalle. Ich lasse sie durch die Fenster der verschlossenen Türen auf die Schädel und Skelette für Bio und die giftigen Stoffe für Chemie sehen. Dabei versuche ich ihr zu erklären, was die CoffeeCompany eigentlich ist, und das ist schwieriger, als ich dachte. Weil mir nämlich plötzlich auffällt, dass ich gar nicht so viel über sie weiß. Die CoffeeCompany war irgendwie immer schon da, wie Bäume oder das Wetter oder all das andere, von dem keiner mehr wissen will, woher es ursprünglich kommt.

Wir gehen über den Pausenhof. Wir setzen uns auf die steinerne Tischtennisplatte am Rande des Fußballfelds, lassen die Beine baumeln und sehen den anderen dabei zu, wie sie in Grüppchen beisammenstehen, Fußball spielen, kauen, Kaffee trinken.

»Die CoffeeCompany schickt uns Botschaften«, sage ich, weil ich nicht weiß, wo ich anfangen soll. »Wir lesen sie jeden Tag. An Litfaßsäulen, Bushaltestellen, auf den Bildschirmen und Monitoren, die überall in der Siedlung verteilt sind. Wir finden sie in unseren Briefkästen. Vor der Haustür. An den Klinken. Kleine Aufmerksamkeiten, selbst gefilzte Schlüsselanhänger, handgemachte Topflappen, mit Sprüchen drauf, die uns an das erinnern sollen, was wichtig ist. Liebe ist alles, zum Beispiel. Liebe ist alles, was zählt. Oder: Liebe ist alles, was fehlt. Manchmal rufen sie auch an. Denk an die Liebe, sagen sie, und wenn meine Mutter lächelnd auflegt, weiß ich, dass wieder die CoffeeCompany dran war und meine Mutter vielleicht wirklich kurz vergessen hat, an die Liebe zu denken. Liebe ist nämlich sehr wichtig bei uns. LoveCulture nennt die CoffeeCompany das, und wir finden, das klingt schön. Ist dir noch keine ihrer Botschaften aufgefallen?«

Sie sieht mich entgeistert und irgendwie lauernd an, als erwartete sie, dass ich in der nächsten Sekunde etwas vollkommen Verrücktes tue. »Hab ich nicht drauf geachtet.«

»Aber du hast doch bestimmt zum Einzug ein kleines Geschenk an deiner Tür gehabt«, sage ich, »ein Geschirrtuch mit einer Herztasse drauf wenigstens.«

»Jonah …« Sie blickt zu Boden. Es ist das erste Mal, dass sie meinen Namen sagt, und zum ersten Mal denke ich: Mein Name ist schön. Ich habe einen schönen Namen. »Ich kann dir nicht sagen, ob an meiner Tür ein Geschenk hing.«

Sie sagt das auf eine Art, die es verbietet, weiter nachzufragen. Ich fühle mich, als hätte sie mir gerade gestanden, dass ihre Eltern tot sind. Vielleicht sind ihre Eltern tot. Vielleicht kommt sie doch aus der DraußenWelt, von einem völlig zerstörten Ort.

»Ist auch nicht so wichtig«, sage ich und wechsele das Thema, um das komische Gefühl loszuwerden: »Jedenfalls gibt es täglich eine Videokonferenz. MorningCall nennt die CoffeeCompany das. Nur für die, die wollen, natürlich, aber ich habe noch nie von jemandem gehört, der nicht wollte. Also, der sich getraut hat, nicht teilzunehmen. Zwar weiß keiner, ob man bestraft wird, wenn man mal eine Konferenz versäumt, aber wir wollen unser Glück besser nicht auf die Probe stellen.«

Ich lache. Es klingt ein bisschen dümmlich.

»In der Konferenz sieht jeder von uns immer nur sechs weitere Leute, obwohl angeblich die ganze Siedlung dabei ist. Wir vermuten, dass ein Zufallsgenerator bestimmt, wer von uns wen sieht, oder ein Algorithmus, der Menschen mit bestimmten Gemeinsamkeiten zusammenbringt.«

Ich warte darauf, dass sie etwas sagt oder wenigstens fragt, was ein Algorithmus ist, aber sie starrt nur weiter auf ihre Fußspitzen.

»Einer der Teilnehmer hat immer einen lächelnden Kaffeebecher in Herzform als Hintergrundbild. Deshalb glauben wir, dass er von der CoffeeCompany ist. Der Mann sagt Dinge, die im ersten Moment gut klingen, aber wir wissen nie, was er eigentlich meint. Seine Stimme ist gleichzeitig wie unter Wasser und als würde er in eine Würstchendose sprechen, die jemand vor sehr langer Zeit auf dem Mond vergessen hat.«

Das bringt sie kurz zum Lachen, und die Art, wie sie mich dabei ansieht, lässt mich wünschen, ich wäre einer dieser superwitzigen, schlagfertigen Typen, die ständig rumzwinkern und im Sportunterricht die Mannschaften wählen.

»Einmal im Monat schaltet sich sogar der Chef der CoffeeCompany dazu. Er hat keinen Kaffeebecher im Hintergrund, aber wir vermuten trotzdem, dass er der Chef ist, weil ihn alle gleichzeitig sehen. Und weil niemand sonst so wohnt. Das Wohnzimmer des Chefs ist riesig, man kann nirgendwo Wände erkennen, und überall schweben winzige Lichtpunkte wie Glühwürmchen durch den Raum. Es sieht aus, als käme der Chef aus einer anderen Dimension.«

Ganz leicht strafft sich ihr Körper. Sie wirkt jetzt irgendwie aufmerksamer, und das ermutigt mich, ihr etwas zu erzählen, das ich zumindest damals ziemlich skurril fand.

»Einmal haben ein paar von uns heimlich einen Screenshot gemacht, um das Wohnzimmer des Chefs als Hintergrund für sich selbst zu verwenden. Gewissermaßen als Witz. Also die Art von Witz, die man sich auf dem Schulhof über den Lehrer erzählt, um sich und den anderen weiszumachen, man nähme die Schule und den ganzen Quatsch nicht ernst. Doch als dann bei der nächsten Konferenz viele von uns diesen geklauten Chef-Hintergrund hatten, war das, als bekäme man einen Scherz, den man sich selbst ausgedacht hat, immer wieder von anderen erzählt. Außerdem sah der geklaute Hintergrund überhaupt nicht aus wie beim Chef. Es sah nicht aus, als ob winzige Lichter überall im Raum herumschweben, es sah aus wie die unscharfe Fototapete einer Großstadt bei Nacht. Wir haben dann schnell wieder die alten Strand-, Western- oder Weltraumbilder hinter uns eingeschaltet, die längst keiner mehr lustig findet, sondern nur noch traurig.«

»Seid ihr oft traurig?«, fragt Lia.

Ich zucke mit den Schultern. »Wir leben in der LoveCulture, am sichersten Ort der Welt, und die CoffeeCompany tut alles, um uns glücklich zu machen. Wir haben keinen Grund, traurig zu sein, oder?«

Ganz langsam dreht sie den Kopf. Sie sieht mich an, als hätte ich eine riesenhafte und unsagbar eklige Spinne auf der Stirn.

»Also, ich fühle mich natürlich schon manchmal traurig«, sage ich schnell. »Aber ich glaube, das ist nicht unbedingt normal. Dass sich Leute bei uns nicht so fühlen, wie sie sich fühlen sollten.«

»Und wie ist das, wenn du traurig bist?«

»Weiß nicht«, sage ich. »Wie etwas verlieren und erst dadurch daran erinnert werden, dass es mal da war.« Ich überlege. Dann sage ich und merke schon währenddessen, wie bescheuert das klingt: »Wie die Erinnerung an die eine große Liebe, die alle anderen Lieben unmöglich macht.«

Ich schäme mich ein bisschen, wie ein uralter Typ zu reden, der wehmütig auf sein Leben zurückblickt, aber Lia lächelt, ganz leise nur, wie hinter vorgehaltener Hand. Man kann ihre Grübchen ahnen, wenn man weiß, dass sie da sind, und ich mache eine kurze Pause, weil man in Applaus ja auch nicht reinquatscht.

»Jedenfalls spricht eigentlich niemand darüber«, sage ich. »Weil es das gar nicht geben darf. Trauer. Weil man sich dann irgendwie aussätzig vorkommt.«

Lia schweigt lange. Sie scheint über etwas nachzudenken.

»Wie fühlt sich das an, in der Siedlung zu leben?«, fragt sie schließlich, und ich überlege. Es ist schwierig, das jemandem zu beschreiben, der nicht hier geboren ist.

»Seltsam zerfleddert«, sage ich, »irgendwie farblos. Wie tausend Schichten übereinander. Als müsste sich das Licht durch zahllose Hüllen quälen.«

Ich schließe die Augen.

»Ein bisschen ist es wie kurz vorm Aufwachen. Wenn du einen Traum hattest und denkst, du musst ihn aufschreiben, weil du in seinen Bildern eine Botschaft vermutest, die dein Leben ändern kann. Du willst den Traumbildern Worte überwerfen wie Tücher über zufällig in die Wohnung geflogene Vögel. Du musst schneller sein als die Vögel, damit sie nicht panisch gegen Schränke und Türen flattern, weil sie nicht begreifen, dass du sie nur fangen willst, um sie freizulassen. Sie begreifen nicht, dass du ihre Rettung bist.«

Als ich die Augen wieder öffne, lächelt sie mich an.

»Genau so«, sagt sie, und die goldenen Flecken in ihrer Iris leuchten. »Lass uns versuchen, genau so miteinander zu sprechen. Die Leute in der Siedlung sagen Kaffee und meinen etwas anderes. Ich will nicht, dass wir falsch miteinander reden.« Sie legt eine Hand an meine Schulter. »Ich will, dass wir Worttücher über die Bilder in uns werfen. Egal, ob die Tücher zu groß, zu klein oder zu schwer sind. Hauptsache, wir bemühen uns, etwas Wahres zu sagen und nicht die Sprache zu benutzen, die auch sie benutzen. Sie sagen ein Wort, und es wird dreckig. Ich will keinen Dreck zwischen uns.«

Seitdem reden wir manchmal komisch miteinander, wenn wir etwas Wichtiges erklären wollen. »Das ist jetzt unsere Geheimsprache«, sagt Lia. »Die Sprache der Wahrheit.«

6

»Hat das hier eigentlich einen Namen?«

Lia deutet über die Straßen und Häuser der Siedlung. Wir stehen auf dem Dach unserer Schule, wir halten uns am Geländer fest, wir können fast bis zur Waldgrenze sehen.

»Die Siedlung?«, frage ich. »Sie heißt wie unsere Angst. Unsere ständige, sich reproduzierende und multiplizierende Angst davor, nicht zu genügen. Nicht glücklich genug zu sein, um weiter in der LoveCulture leben zu dürfen.«

Wir haben zwei Freistunden. Lia hat die Leiter im obersten Stock entdeckt und gesagt: »Lass uns da rauf.« Und jetzt sind wir hier, am höchsten Punkt der Siedlung. Alles ist ordentlich und klar. Jedes Haus hat denselben Grundriss, dieselbe Aufteilung. Dach, Fenster, Fassade, sogar die Terrassen und Gärten sind gleich. Neben jedem Haus gibt es einen Schuppen, ein großes Trampolin und eine Sandkiste. Von hier oben sieht es aus, als hätte jemand, der von der kleinsten Unregelmäßigkeit in den Wahnsinn getrieben wird, auf Millimeterpapier Rechtecke und Kreise zu einer sich ständig wiederholenden Formation so gruppiert, dass jeder Fehler sofort auffallen muss, jede nur leicht abweichende Sonnenschirmfarbe, ein nicht weggeräumter Ball auf einer Rasenfläche.

Aber es gibt keinen Fehler.

Du gehst jeden Tag durch dieselben Straßen, vorbei an identischen Häusern, an winkenden Nachbarn, die lächelnd hinter blank geputzten Fenstern stehen oder von ihren Terrassen grüßen. Du gehst durch Straßen, die keine Namen tragen, nur Nummern und Buchstaben, damit du dich nicht verläufst. Damit du nicht aus Versehen zu nah an den Wald kommst oder an eine fremde Tür klopfst, weil du dein eigenes Haus verwechselt hast.

»Die Angst ist überall«, sage ich. »In jeder Ritze, in den Fugen zwischen den Steinen.«

»Aber ihr lebt doch in der LoveCulture«, spottet sie. »Im Land des ewigen Lächelns.«

»Die Leute lächeln, weil sie Angst davor haben, unglücklich zu wirken.«

»Deswegen sehen viele Gesichter hier so seltsam aus?«, fragt sie. »Wie stehen geblieben zwischen Lachen und Schreien?«

»Das sind die Pillen.« Ich sehe zu Boden. »Die Pillen machen, dass die Schichten durchlässiger werden. Dass wir eine Ahnung davon bekommen, was Licht ist. Für einen kurzen Moment wissen wir dann, dass wir nur wegen der Schichten denken, es sei dunkel, aber wenn die Wirkung nachlässt, vergessen wir es sofort wieder. Als hätten wir uns das Licht bloß eingebildet.«

»Die Pillen kommen auch von der CoffeeCompany?«

»Ja«, sage ich. »Sie heißen wie die Sprüche auf den Topflappen. Wie die Lieder, die meine Eltern hören. Wie die Botschaften auf den Monitoren, die überall hängen. Sie heißen Ich werde gebraucht. Ich werde geliebt. Ich bin wertvoll. Jeder von uns hat seine eigene Sorte. Die Pillen werden uns beim HealthCheck empfohlen. Dort kontrollieren sie auch die persönliche Zusammensetzung und Dosierung immer wieder neu.«

»Beim HealthCheck?« Lia bekommt wieder diesen angeekelten Ausdruck.

»Jeden Monat müssen wir zu einer Art Gesundheitsprüfung«, erkläre ich. »Der CoffeeCompany ist es wichtig, dass wir glücklich sind und gesund bleiben. Der HealthCheck ist kostenlos«, füge ich hinzu. »Wie der Kaffee.«

»Und die Pillen?«, fragt sie.

Ich überlege. Ich habe meine Eltern deswegen schon streiten gehört. Dass die Pillen meiner Mutter unbezahlbar geworden seien, von meinen gar nicht zu reden.

»Verstehe«, sagt sie, ohne eine Antwort abgewartet zu haben. »Wie heißen denn die Pillen, die du bekommst?«

»Wir sprechen eigentlich nicht darüber.«

»Ziemlich langer Name«, sagt sie, ich mache »Ha-ha«, aber in Wahrheit bin ich froh, dass sie nicht nachbohrt. Jeder hier schämt sich für seine Pillen. Der Name steht auch nicht auf der Packung, die Pillen unterscheiden sich nur durch ihre Farbe. Meine haben einen leichten Mint-Ton, die von meiner Mutter sind rosa, die von meinem Vater hellbraun.

»Manchmal denke ich, es wäre einfacher, wenn es wenigstens ganz finster wäre«, sage ich. »Weil dann nichts mehr an das Glück erinnern würde, das irgendwann mal da gewesen sein muss.«

»Soll das heißen, ihr seid nicht glücklich?« Sie tut überrascht. »Obwohl ihr am sichersten und freundlichsten Ort der Welt lebt?«

Ich komme mir plötzlich vor wie ein Verräter. Weil ich die ganze Zeit alles von außen beurteile, als würde ich nicht dazugehören. Dabei bin ich genauso Teil der Siedlung wie die anderen auch. Außerdem weiß ich gar nicht, ob es stimmt, dass alle die Pillen nehmen. Weil nämlich niemand darüber spricht. Ich kann mir zwar nicht vorstellen, dass wir die Einzigen sind, mein Vater, meine Mutter und ich, aber möglich wäre es. Möglich wäre es, dass der Rest der Siedlung von Natur aus glücklich ist, nur wir nicht.

»Lass uns wieder runter«, sage ich. »Wir dürfen gar nicht hier sein.«

Wir klettern vom Dach, steigen die Treppen hinab, gehen durch die Straßen der Siedlung.

»Zeigst du mir, wo du wohnst?«, frage ich.

Wir haben noch vierzig Minuten bis zur nächsten Stunde, es ist bestimmt das dritte Mal in dieser Woche, dass ich sie frage, und diesmal sagt sie nicht Geht’s noch langweiliger, diesmal sagt sie: »Okay, du hast es nicht anders gewollt«, und sieht dabei aus wie eine Ärztin, die eine niederschmetternde Diagnose zu verkünden hat. »Ich erzähl dir die Wahrheit.«

Sie bleibt stehen, inmitten von Gärten, Hecken, Häusern. Ein Fenster spiegelt zu, schließt sich lautlos.

»Ihr alle seid Teil eines Experiments. Die ganze Siedlung.«

Nicht mal das ferne Schnappen einer Heckenschere ist zu hören. Nur das Verhallen ihrer Worte in den Straßen.