Das Carnet - Félix LeMens - E-Book

Das Carnet E-Book

Félix LeMens

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Beschreibung

Sie hatten zu lange gewartet! Nun waren beide tot! Noch bevor sie ihn in ihr Geheimnis einweihen konnten! ... So bleibt dem vornehmen, altersschwachen Herrn Golder nichts anderes übrig, als kurzum seinen Grafiker Philipp zu entlassen und ihn in Begleitung seines Kumpels Felix auf die Suche nach dem verschollenen Carnet eines Genforschers aus der NS-Zeit zu schicken. Doch die zwei müssen sich beeilen, denn ein fanatischer Professor ist ihnen mit seinen Schergen dicht auf der Spur. Die Jagd nach dem Carnet führt sie durch tiefe Schluchten im Oman, über prächtige Palais in Paris, zu vergessenen, düsteren Bunkern in Bayern. Ein Thriller - Roman, der zum Nachdenken anregt, der Gesellschaftskritik ebenso aufzeigt, wie die Risiken der Genmanipulation. Mit wunderbar lebensnahen Charakteren, teils böse, teils kritisch, aber immer authentisch!

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DANKSAGUNG

Einen besonderen Dank möchte ich der Erstleserin, unabkömmlichen Redaktions-Hilfe und antreibenden Kraft aussprechen. Danke, Sandra!

Inhaltsverzeichnis

PROLOG

Kapitel 1

Kapitel 2

Kapitel 3

Kapitel 4

Kapitel 5

Kapitel 6

Kapitel 7

Kapitel 8

Kapitel 9

Kapitel 10

Kapitel 11

Kapitel 12

Kapitel 13

Kapitel 14

Kapitel 15

Kapitel 16

Kapitel 17

Kapitel 18

Kapitel 19

Kapitel 20

Kapitel 21

Kapitel 22

Kapitel 23

Kapitel 24

Kapitel 25

Kapitel 26

Kapitel 27

Kapitel 28

Kapitel 29

Kapitel 30

Kapitel 31

Kapitel 32

Kapitel 33

Kapitel 34

Kapitel 35

Kapitel 36

Kapitel 37

Kapitel 38

Kapitel 39

Kapitel 40

Kapitel 41

Kapitel 42

Kapitel 43

Kapitel 44

Kapitel 45

Kapitel 46

Kapitel 47

Kapitel 48

Kapitel 49

Kapitel 50

Kapitel 51

Kapitel 52

Kapitel 53

Kapitel 54

Kapitel 55

Kapitel 56

Kapitel 57

Kapitel 58

Kapitel 59

Kapitel 60

Kapitel 61

Kapitel 62

Kapitel 63

Kapitel 64

Kapitel 65

Kapitel 66

Kapitel 67

Kapitel 68

Kapitel 69

Kapitel 70

Kapitel 71

Kapitel 72

Kapitel 73

Kapitel 74

Kapitel 75

Kapitel 76

Kapitel 77

Kapitel 78

Kapitel 79

Kapitel 80

Kapitel 81

Kapitel 82

Kapitel 83

Kapitel 84

Kapitel 85

Kapitel 86

Kapitel 87

Kapitel 88

Kapitel 89

Kapitel 90

Kapitel 91

EPILOG

ZUSATZINFORMATIONEN

PROLOG

Der Weg, ein Pfad –

mal schlüpfrig und fad,

verschlungen, verkommen,

alles genommen,

brav und solide,

dass es so bliebe.

Vorbei an miesen Wegbegleitern

oder an freudigen Wegbereitern,

gekreuzt von Wegabschneidern

oder lahmen Wegvermeidern.

Die Richtung ist wichtig,

die Anderen sind nichtig.

Du musst ihn gehen.

Du musst es sehen.

Was andere sagen

oder Dich fragen,

ist einerlei –

sie sind nicht dabei.

1

Die 88-jährige J. S. Eisner verließ die Freiherr-vom-Stein-Straße 30 in Frankfurt an einem schwülen Sommertag Ende August.

Welkes, herabgefallenes Laub wehte über die Straßen und blieb raschelnd in den Rinnsteinen hängen.

Trotz ihres hohen Alters ging J. S. Eisner mit festem Schritt die Straße zum Grüneburgpark hinunter und bog links in den Grüneburgweg ein. Es schien ihr, als ob sie diesen Weg, den sie so unzählig viele Male in ihrem Leben zurückgelegt hatte, nicht mehr oft beschreiten würde. Wehmütig blickte sie an den vertrauten Fassaden der Häuser und Villen mit ihren roten Sandsteinornamenten empor und ließ ihren Blick weiter zum inzwischen wolkenverhangenen Himmel schweifen, der ihr bedrohlich schwülwarmen Wind ins Gesicht blies. Sie blinzelte, wischte Staub aus ihren klaren hellen Augen, die so wach und gütig waren.

Die hochgesteckten Haare verliehen ihrem Gesicht vornehme Zurückhaltung, wobei jede Geste und jedes Lächeln ein gelebtes Leben und unzählige Erfahrungen preisgaben. Eine kleine, elegante Dame, die die Weisheit eines bewegten Lebens in sich trug. Die Absätze der stilvoll feinen Straßenschuhe machten ein dezentes Geräusch auf den Steinplatten, als sie weiter zu ihrer Wohnung in einem der prächtigen Stadtpalais ging. Behutsam, langsam, dennoch sicher. Sie hielt inne. Ihr fiel das Atmen schwer, so fand sie Halt am eisernen Gartenzaun für eine kurze Weile. Frau J. S. Eisner drehte sich etwas unbeholfen um. Es war ihr, als ob sie verfolgt werden würde. Sicher war es nur Einbildung. All die Jahre hatte sie diese Ahnung, dass es eines Tages so weit sein müsste und sie kommen würden, um sie wieder zu bedrängen.

Viel Zeit war verstrichen, seit man versucht hatte, etwas, das sie lange sicher behütet hatte, zu bekommen. Zeit, in der sie schweigend lebte. Sie wusste genau, wo es war. An einem sichren Ort.

Vor dem Haus stehend und etwas zitternd, drehte sie den Schlüssel im Schloss des großen Eingangsportals um. Mit aller Kraft stemmte sie sich wie gewohnt dagegen. Der schwere geschnitzte Türflügel schwang auf und sie betrat das Entrée mit den vornehm marmorverkleideten Wänden.

Das Knarzen der Aufzugtür hallte durch das Treppenhaus. Langsam hob sich die alte Fahrstuhlkabine und brachte sie in den zweiten Stock, den ihre Wohnung komplett einnahm sowie auch die dritte Etage, in der sich die alten Dienstbotenkammern und Gästezimmer befanden.

Eine großbürgerliche Wohnung, die seit 1930, unverändert bis auf ein paar technische Neuerungen, die Zeiten unbeschadet überstanden hatte. Nicht viele Gebäude in Frankfurt waren noch in solcher üppigen Pracht und Originalausstattung erhalten.

Sie stieg aus dem Aufzug. Hier oben brannte kein Licht; nur ein schwacher Schein, der durch die facettiert geschliffenen, satinierten Glasscheiben der mächtigen, zweiflügeligen Wohnungstüre schien, erhellte matt den Treppenabsatz.

Diffuses Licht fiel durch die verzierte Buntglasdecke über ihr. Die breite Marmortreppe endete in der zweiten Etage. Ein separates Dienstbotentreppenhaus befand sich auf der Hofseite und führte vom Keller bis zum Speicher über alle Etagen. Doch dieses benutzte sie nie. Vor der Türe stehend sortierte sie die Schlüssel. Sie konnte sich nicht erinnern, das Licht angelassen zu haben.

»Langsam werde ich einfach alt – alt und müde«, murmelte sie, als sie die Wohnungstür aufschloss.

Der weite Eingangsbereich, von dem aus mittig Flügeltüren zu den geräumigen Salons abgingen, lag im Halbdunkel.

Das Licht kam aus dem Hauptsalon, in dem der riesige Kristalllüster hell entflammt war. Leise schritt sie den Korridor entlang. In ihr kroch langsam ein Gefühl von Angst hoch und sie schrak zurück, als sie den schwarz gekleideten jungen Mann sah, der in einem der antiken Fauteuils saß. Schwarzes kurz geschnittenes Haar, schwarzer enger Pullover und schwarze Jeans und auch schwarze Schuhe. An ihm war alles schwarz! Wie der leibhaftige Tod, kaschiert mit freundlich glatt rasiertem Gesicht, wobei der schwarze Bartschatten eine elegante Kontur schwang.

»Meine liebe Frau Eisner … wie schön, Sie so munter zu sehen! … Ich habe schon auf Sie gewartet«, säuselte er mit schmeichelnd weicher Stimme und südlichem Akzent in den großen Raum. Sie blickte ihn stumm an.

»Setzen Sie sich doch und machen Sie es sich bequem«, fuhr er honigsüß fort. »Ich denke, wir zwei unterhalten uns ein bisschen. Es wird langsam Zeit, uns etwas zu verraten!« Seine Stimme nahm einen schärferen Unterton an: »Viel Zeit wird Ihnen wohl eh nicht mehr vergönnt sein, also sollten wir uns beeilen.« Ein leises Lächeln zeichnete sein Gesicht.

Zittrig wankte sie zu der Sitzgruppe und nahm gegenüber des fremden Mannes Platz. Mit leiser, fester Stimme ließ sie ihn wissen: »Von mir bekommen Sie nichts, junger Mann, und hören auch nichts! Sie haben Ihren Weg umsonst gemacht!« Sie presste die Lippen aufeinander und sah ihn stur an.

Alles Sanfte an ihm war plötzlich weg. Kalt und scharf stieß er laut hervor: »Was soll das denn jetzt?! So kommen wir hier nicht weiter. Es gibt keine Alternative, erleichtern Sie sich! Geben Sie endlich ihr kleines Geheimnis preis und legen Sie sich zur Ruhe!«

»Kommen Sie aus Spanien?« Sie sah ihn ruhig an. »Schickt er Sie?« … Ihr Herz pochte wild.

»Wir arbeiten für das Höhere! Er wird die Welt besser machen!«

Angewidert schüttelte sie ihren Kopf, sie spürte den aufkeimenden Zorn in sich. Schnell fand sie ihre Beherrschung wieder, blickte dem Mann in Schwarz direkt in die Augen und antwortete mit gelassener Stimme: »Gar nichts wird er. Scheitern werden Sie! Also nehmen Sie besser den nächsten Flieger nach Spanien und legen sich an einen Strand.«

Irritiert von so viel Starrköpfigkeit sprang er auf und trat auf sie zu. Als sie seine schwarzen Handschuhe auf sich zukommen sah, wusste sie, dass es vollkommen egal war, ob sie etwas sagte oder nicht, der Ausgang des Gespräches wäre ihr Ende. Seine Latexdaumen saßen fest unter ihren Augen. Sie konnte den Geruch von Gummi und Puder wahrnehmen sowie von seinem hölzernen Parfum. Der Schmerz war enorm, als sich seine Daumen immer weiter in ihre Augenhöhlen schoben. Ihr Puls raste und ihr Herz pochte in ihrer Brust.

»Jetzt red’ schon, du altes Miststück, oder …«, fauchte er. »Ich weiß, dass es hier ist! Wo ist es?«, schrie er …

Niemals würde sie ihm und seiner Zelle etwas verraten, war ihr letzter Gedanke, bevor sie das Bewusstsein verlor, in den Sessel zurücksank und für immer schwieg. Sie hatte gesiegt! Ihr bereits schwaches Herz hörte auf zu schlagen.

Die untergehende Sonne, die durch die Wolken strahlte, funkelte in den Prismen des Kristalllüsters wie tausend Sterne, die auf dem Weg in die Ewigkeit leuchteten, noch ein letztes Mal, dann schoben sich Wolken vor das Abendrot.

Er starrte den alten Körper an, wie er klein und leblos im Sessel saß. Die Stille der Wohnung pochte in seinem Kopf. Irgendwo tickte eine Kaminuhr und schlug mit hohem Klang die volle Stunde an.

Der Wind hatte zugenommen und wirbelte Staub und vertrocknetes Laub hoch. In der zweiten Etage des Stadtpalais erloschen die eben noch hell erleuchteten Fenster.

Schwülwarme Dunkelheit legte sich über die Stadt.

2

Langweilig glatte Einheitsfassaden in prüder Proportion reflektierten das gelbe Spätsommerlicht. Durch penible Einhaltung der Trauflinie wird nichts gewagt, noch sich mit üppigem Zierrat auf Giebeln und Kuppeln ausgetobt.

München leuchtet schon lange nicht mehr! Zumindest nicht städtebaulich. Bis auf wenige Ausnahmen neuerer Gebäude, kommt die aktuelle Architektur so einfältig daher, wie die scheinbar spießige Gesinnung des Bau- und Stadtrats. Sogenannte Stararchitekten klatschen ihre langweiligen Gebäuderiegel in Straßenfluchten und an den Altstadtring. Belanglose Bauwerke, die sich nach einigen Jahren bereits verwaschen und alt zeigen und schon wieder auf ihren baldigen, unvermeidbaren Abriss warten. Die Stadt ruht sich auf ihrer Historie aus – mehr nicht. Keiner wagt hier richtig gute Architektur.

Nur sterile, öffentliche Räume ohne Aufenthaltsmotivation. Es scheint, als ob die Architekten jegliche runden Formen und Bögen verbannen, weil es uncool ist und sie ja nicht dem Vorwurf unterliegen wollen, man würde geschmäcklerisch bauen.

Schön sind die Ecken, die von Zerstörung verschont worden sind. Die sind in München wirklich sehr schön!

Immer wieder schießen mir diese Gedanken durch den Kopf und ich muss mich aufregen, wenn ich all den unschönen Mist sehe, der uns umgibt.

Mir geht es nicht darum, irgendwelche eklektizistischen Stile von 1900 nachzubauen. Doch an manchen Stellen kann man adaptiert die Formensprache einer Stadt aufgreifen.

Ich ging die Sonnenstraße entlang, hatte Hunger und war somit leicht anfällig für die Hässlichkeit, die sich mir hier in meiner Heimatstadt bot.

Ich bin natürlich auch sehr kritisch, besonders wenn ich hungrig bin. Viel hatte ich in letzter Zeit nicht gegessen, viel war passiert. Gerade krempelte sich einiges um, was man mir auch ansehen konnte. »Der Bringer bin ich momentan wirklich nicht«, dachte ich, als ich mein Spiegelbild in einem Schaufenster sehen musste.

Die Haare standen in alle Richtungen ab, und das ohne erkennbaren Schnitt, und der Bart war einfach zu lang und ohne Kontur. Ich trage meist einen Dreitagebart. Nicht so einen langen, überbewerteten Hipster Bart, in dem Millionen von Mikroorganismen wohnen und Speisereste kleben. Überall laufen diese Bärte rum, mit deren Hilfe so manch langweilige Fresse kaschiert wird. Aber die sind mittlerweile ja auch schon wieder out. Vielleicht hatte ich mich auch ein wenig gehen lassen. Das passte eigentlich nicht zu mir und störte mich.

Eigentlich … eigentlich möchte ich dieses Wort vermeiden!

Die Sonnenstraße tat ihrem Namen alle Ehre, die Sonne brannte herunter und der Schweiß lief in feinen Linien unter meinem T-Shirt vorn und hinten den Oberkörper hinab. Mit jedem Schritt machte sich ein Gefühl in mir breit, als ob ich aus dem einen Leben in ein anderes trat. Ich fühlte mich irgendwie befreiter als zuvor und bereit für Neues.

Willkommen im neuen Ich! Philipp, Grafiker, Single und vierzig, immer noch schlank, athletisch und 186 cm groß. Bei den meisten Frauen hab ich ein einfaches Spiel. Die braunen Haare sind noch braun, seitlich schon etwas grau, der Bart ist hingegen schon richtig grau durchsetzt. Am besten jedoch kommen meine blauen Augen an; ein klares Blau! Ach ja – meine Beine finde ich zu dünn trotz Sport. Aber man kann nicht alles haben.

Das sagte auch Marie, meine Ex, als sie ging. Wobei ich schon sehr froh bin, sie los zu sein. Natürlich war es anfangs verliebte Zweisamkeit. Mit der Zeit musste ich jedoch feststellen, kochen konnte sie nicht und blasen konnte sie auch nicht. Fad und langweilig waren ihre Gerichte und auch der Sex mit ihr. Jedes Mal schrappte sie mit ihren Backenzähnen an meinem Schwanz entlang und ihre langen blonden Haare fielen vorn über und kitzelten auf meinem Bauch und am Sack. Das machte mich richtig aggressiv und aus meiner Perspektive sah sie dann aus, wie so ein Styroporkopf mit Langhaarperücke, wie er im Salon Glückssträhnchen an der Ecke im Schaufenster steht. Erotik geht anders! Ich bekam das Bild mit dem Styroporkopf nicht mehr aus dem Sinn.

Marie sagte immer, sie fühlte sich auch irgendwie erniedrigt. Nicht durch mich oder meine Art, sondern so generell beim Sex. Na ja, liegt wohl in der Natur der Sache. Mann dringt letztendlich in Frau – Punkt.

Momentan kann ich nicht so richtig mit Frauen, wobei ich Frauen liebe. Doch die sind mir gerade viel zu anstrengend. Wird wahrscheinlich an mir selber liegen.

Der letzte Versuch einer Kontaktanbahnung lief über ein Dating Portal und hatte mir Astrid beschert. Schon als ich sie sah, ahnte ich, das könnte kompliziert werden. Trotzdem saßen wir uns gegenüber, an einem wackligen Tisch in einem Hipster Café nahe dem Gärtnerplatz. Um uns herum lange Bärte, kantige Brillen, eine entsprechende Anzahl von Kinderwägen und Mega-Müttern und natürlich auch die breite Variation der Kaffeespezialitäten.

Astrid hatte einen leicht aufmüpfigen Blick, wach und forsch, was mir gefiel, und saß sehr aufrecht, den Oberkörper kampfeslustig nach vorne gedrückt.

Wir unterhielten uns über den Job und das Leben. Sie machte eine Ausbildung zur tibetischen Heilyogatherapeutin und war der Typ von Frau, der verschiedene Heilansätze in sich barg und sie bereitwillig allen zukommen ließ … ungefragt! Ihr Haar war zu einem seitlichen, dicken Zopf gebunden. Das sah richtig scheiße aus, fand ich.

»Du Philipp«, meinte sie, »du bist nicht so in der Mitte, ich fühle keine Balance in dir – ja, du stehst halt jetzt genau an der Wende, geht allen Männern um die vierzig so.« Sie starrte mich dabei an. »Ist aber nicht schlimm – alles gut«, beteuerte sie noch.

Das war nun genau das, was ich nicht hören wollte. Schon gar nicht von jemandem, der mir vorwirft, ich hätte keine Mitte und dabei einen Seitenzopf trägt! Das unweigerliche Verlangen daran zu ziehen stieg in mir auf.

»Du stehst halt gerade voll zwischen den Leben und bist hilflos. Im Job hakt es und in dir auch«, quakte sie weiter.

Ich wollte ihr schon gar nicht mehr zuhören … aber hatte sie etwa recht damit? Dieser Gedanke ärgerte mich am meisten und der Drang, mit meiner Rechten den Zopf zu ziehen, wurde immer größer. Genervt rutschte ich auf dem Stuhl hin und her. Mir war heiß, die Sonne schien, ich wollte lieber an der Isar mit ’nem Kumpel joggen gehen, als hier zu sitzen. Astrid schien das trotz aller Heilkräfte nicht zu merken und plapperte schon eifrig Wochenendideen vor sich hin, was man machen könnte.

Ich sagte: »Nein, geht nicht!«

»Was?«, meinte sie.

»Nein, ich hab keine Zeit am Wochenende.«

»Ahh, ja dann gehen wir am Dienstag ins Kino oder Mittwoch.«

Ich fixierte sie und überlegte, woher sie diese Sicherheit nahm, dass ich mit ihr irgendwo hinging. Das würde ich nicht tun!

Das weitere Gespräch verlief besser. Ja, es war auch sogar ganz interessant.

So verblieben wir uns zu schreiben und uns doch in jedem Fall wieder zu treffen. Vielleicht dann doch Kino oder auch mehr? Ich bin bei sowas ja sehr aufgeschlossen! Warum auch nicht? Ich musste grinsen. Sie kam eigentlich ganz okay rüber und lachte auch viel, das gefiel mir. Ich machte ihr noch ein Kompliment und lud sie ein, das gefiel ihr wiederum.

3

Während ich im Kopf noch mit Astrid und den Frauen beschäftigt war, meldete sich mein Magen lautstark zu Wort und erinnerte mich knurrend daran, dass ich einen Mordshunger hatte.

In einer Pizzeria am Lehnbachplatz war glücklicherweise auch gleich ein kleiner Tisch neben großen Kübeln mit Olivenbäumen frei. Ich nahm Platz und bestellte bei der sehr netten Kellnerin eine Pizza, eine Flasche Wasser und ein Glas Weißwein.

Bald darauf kehrte sie mit den Getränken wieder und etwas später mit einer übergroßen, knusprigen Pizza. Ich verschlang sie mit Heißhunger. Bei einem anschließenden Espresso studierte ich die schöne Fassade der Alten Börse und des Justizpalastes und beobachtete die vorbeilaufenden Passanten.

Laut zogen lachende Touristen vorbei. Ich nahm den letzten Schluck Espresso und schnappte mir die Tageszeitung, die am Nebentisch herrenlos lag.

Die Schlagzeile beschrieb ein Schreckensszenario über genmanipulierte Designer-Babys der Zukunft. In China war bereits solch ein Versuch durchgeführt worden. Es ging um irgendeine Genschere. Schreckliche Wende, was wird da noch auf uns zukommen, dachte ich noch, doch schnell schüttelte ich den Gedanken wieder ab und legte die Zeitung zurück auf den leeren Tisch. Das mit der Genmanipulation war mir eh zu hoch und außerdem war mein Kopf ohnehin schon ausgelastet. Schließlich wollte ich meine Gedanken ordnen, um mein Leben in neue Bahnen zu lenken!

Dass es dann bald eine solch wahnwitzige Wendung nehmen würde, war mir an diesem Tag nicht bewusst.

Angefangen hatte es damit, dass die Wirtschaftsvereinigung, für die ich die letzten Jahre alle möglichen Grafikarbeiten freiberuflich erledigt hatte, mich aussortiert hatte. Natürlich verfügte ich als Freiberufler noch über andere kleine Kunden, aber für die Wirtschaftsvereinigung arbeitete ich schon hauptsächlich und auch sehr viel.

Von oberster Stelle wurde mir sehr gedankt und auch ein sehr gutes Abschlussauftragshonorar ausgezahlt. Man müsse immer mal wieder neue freie Mitarbeiter beschäftigen, so will es die Richtlinie, hieß es.

Letztendlich nachvollziehbar und auch okay. Ich hatte eh nicht mehr die allergrößte Lust die verhalten emotionale Unternehmenssprache in Anzeigen, Geschäftsausstattung, Messeauftritten und Broschüren zu gestalten. Irgendwann ist Schluss! Richtig!

Finanziell ging es mir soweit gut. Ich hatte einen jungen Designer, für den ich ein Konzept entworfen hatte, und eben diverse andere kleine, immer wiederkehrende Kunden. Außerdem sagte ich mir: Ich habe nun so viele Jahre durchgehend gearbeitet, da wird mir eine kurze Auszeit sicherlich guttun. Zu mir zukommen und mal was Ruhiges unternehmen. Der Wechsel oder das Ende in der Vereinigung kam genau zur richtigen Zeit. Vielleicht mach ich mal eine Yogastunde bei Astrid, überrasche sie und lass mich von ihr in das Thema »Heilyoga« entführen, überlegte ich grinsend.

Ich blinzelte relaxt in die Sonne, die gerade zwischen den Olivenbäumen zu mir schien und wollte zahlen. Die Bedienung brachte mir die Rechnung und dies mit einem zauberhaft natürlichen Lächeln, das ich mit einem guten Trinkgeld quittierte und stand dann auf. Jetzt erst mal nach Hause und mich rasieren und duschen!

Ich ging weiter in die Maxvorstadt, wo ich eine Dreizimmerwohnung mit Balkon in einem schicken Bau aus den 1960ern bewohne und auch stolzer Eigentümer bin.

80 m2 in München sind schon eine sichere Bank bei den Mieten. Als mein Vater starb, hatte er mir einen schönen Betrag und Aktien hinterlassen.

Ich war am Morgen beim Sport gewesen und hatte zwar im Studio bereits geduscht, aber nachdem ich meinen Bart in Façon gebracht hatte, nahm ich nochmals eine erfrischende Dusche an diesem schönen, heißen Sommertag. Ich fühlte mich nun schon wesentlich besser. Etwas Entspannung tut immer gut! Also legte ich mich aufs Sofa; so konnte ich noch etwas vor mich hindösen. Mein Goodbye-Termin in der Wirtschaftsvereinigung war erst in zwei Stunden.

Irgendwer aus der obersten Riege wollte mich sprechen. Eine Chefsekretärin hatte mir vor zwei Tagen Bescheid gegeben und mir 100-prozentiges Erscheinen abgerungen, es sei extrem wichtig. Wahrscheinlich wollte man nur, dass ich eine Verschwiegenheitsklausel unterschreibe und die Klappe halte. Wenn man wo lange genug dabei ist, bekommt man so einiges mit.

Bei leiser Musik chillte ich nur in Boxershorts bekleidet auf dem Sofa. Gemütlich streckte ich mich aus, nichts konnte mich stören – das Telefon klingelte, mein Kumpel Felix rief an.

»Felix, ich ruf dich zurück, okay? Ich bin grad nicht in Sprechlaune!«

»Ja, mach das! Kein Thema und bis später! … Was machst du denn?«

»Nichts, und das will ich gerade genießen.«

»Ich kann vorbeikommen?«

»Felix! Nein!«

Er legte lachend auf.

Unglaublich easy der Typ, dachte ich, einfach angenehm und ein sehr guter Freund. So viele enge Freunde hatte ich gar nicht. Freunde kommen, Freunde gehen über die Jahre. Oft trennen sich gemeinsame Wege, ohne dass es zuerst auffällt. Man hat auf einmal unterschiedliche Interessen oder ein Wohnortwechsel erschwert das Kontakthalten. Die meisten waren aus München weggezogen.

Aus der Schulzeit waren noch zwei übrig geblieben. Wir sehen uns paar Mal im Jahr – aber so richtig eng sind wir auch nicht.

Ich fühlte mich wohl, so wie es gerade war, abgesehen von dem beruflichen Stress in der letzten Zeit. Eigentlich lag Astrid total falsch – ich hatte gar kein Problem mit meinem Alter und »wo ich gerade stehe«. Das musste ich ihr nochmals klarmachen. Und ihr den Zopf öffnen! Auf dem Profilbild hatte sie die Haare offen, das sah wesentlich besser aus!

4

Gottfried Golder saß in einem bequemen Liegesessel im Schatten der hölzernen Veranda mit ihren kunstvoll gearbeiteten Säulen und verziertem Geländer und starrte in den Garten. Die großkronigen Bäume strahlten eine meditative Ruhe aus. Der warme Wind raschelte durch ihre Blätter.

Die physische Unbeweglichkeit setzte ihm sehr zu. Sicher, er konnte gehen und sich bewegen, aber alles ziemlich langsam und eingeschränkt. Große Touren waren nicht mehr möglich. »Die Früchte meines ausschweifenden Lebens legen sich auf meine Lungen … das ist nicht gut«, dachte er.

Das Telefonat, das ihn erreicht hatte, stimmte ihn sehr traurig. Kleine Spatzen stritten im Buchsbaum und Bienen summten leise. Der schöne, friedliche Garten in München Nymphenburg konnte ihn nicht aufheitern.

Er hatte zu lange gewartet und immer keine Zeit gehabt oder sich zu viel vorgenommen, immer wieder vertröstet und aufgeschoben mit dem dummen Spruch: Es sei nicht aufgehoben! – Doch dann war es zu spät.

Kurt war nun tot.

Sein alter Jugendfreund aus Frankfurter Zeit. Ein eigenwilliger Mensch, der seinen eigenen Weg ging. Jahrelang hatte er als Ingenieur im Ausland, im Oman, gearbeitet, wo er auch blieb und verstarb. In seinem letzten Telefonat kündigte er sein nahes Ende an. Diagnose Bauchspeicheldrüsenkrebs, heimtückisch und tödlich. Kurt hatte ein erfülltes Leben und war zügig nun mit 86 Jahren verstorben. Er wollte Gottfried etwas zusenden, doch schaffte es nicht mehr.

… Wie es immer so ist: Das mach ich gleich, wenn ich wieder zu Hause bin …

Doch nach Hause kam Kurt einfach nicht mehr. Sein Körper war alt und verbraucht, wie auch der von Gottfried.

»Bald ist Schluss mit dem Leben – da denken wir immer alles super regeln zu können und alles im Griff zu haben und plötzlich stehen wir unvermittelt vor einer neuen, vollkommen anderen Situation«, sinnierte Gottfried.

Er musste jetzt schnell reagieren und einen Plan entwickeln. Er hatte schon eine Idee und die perfekte Person ausgesucht.

Nur, die wusste noch nichts davon. Gut, dass er selbst sehr vermögend war und seine auserwählte Person nicht. Insofern würde Geld als Motivator dienen. Jeder Mensch ist für eine bestimmte Summe einsetzbar … Das hatte ihn sein langes Leben gelehrt. So wird er durch andere Augen sehen und mit fremden Beinen gehen, um das Vermächtnis und Geheimnis, das Kurt ihm anvertrauen wollte, zu holen.

5

Ich stand auf und zog kurze Bermudas und ein T-Shirt an.

Da ich nun nicht mehr für die arbeite, kann ich an diesem heißen Septembertag auch leger erscheinen, entschied ich.

Die verklemmte Kleiderordnung im Wirtschaftsverband ist doch eh schon überholt. Als ob die Männer dadurch fähiger wären, wenn sie mit Krawatte und Anzug im Meeting sitzen!

Beschwingt lief ich die Treppe in den Hof hinunter, holte mein Fahrrad und machte mich auf den Weg in das Allerheiligste der Wirtschaftsvereinigung.

Mit dem Rad unterwegs zu sein, ist super entspannend! Auto habe ich gar keines mehr. Ich hab es vor zwei Jahren in ein Rad getauscht, das ist schon ein großes Stück Lebensqualität. Auch auf die S-Bahn verzichten zu können, ist ein großer Luxus. Die ist die reine Katastrophe in München!

Ich stellte mein Rad am Königsplatz ab, ging durch die wie immer blankgeputzte Drehtür hindurch und stand auch schon an der Empfangstheke.

»Hallo Philipp, schön dich zu sehen«, sagte Monika, die Empfangsdame mit dem gewissen Etwas. Immer freundlich, nie nachtragend und halt einfach professionell.

Wir hatten mal was nach einer Betriebsfeier. Jedoch vor Jahren, also schon vergessen und passé.

»Gut, dass du da bist, nach dir wurde schon gefragt … Moment«, sagte sie zu mir, während sie eine Nummer wählte. »Ja, er ist soeben eingetroffen, … gut, ich schicke ihn hinauf.«

»Sechste Etage«, raunte sie mir mit einem glamourösen Augenaufschlag zu. »Man holt dich dort ab.«

Das überraschte mich nun wirklich. Im sechsten Stock waren die Notare und der Stab der Vereinigung. Was wollten die von mir? Ich fuhr mit dem Aufzug nach oben und betrachtete mich im Spiegel: »Hhmm … vielleicht doch zu lässig … und so frisch sehe ich nach wie vor nicht aus, obwohl ich meinen Bart getrimmt habe. Die Augenringe sind jetzt auch nicht so vorteilhaft …, ich hab einfach viel gearbeitet und mich nicht erholt!«

Ja! Als Mann ist man schon auch eitel! Man möchte Frauen gefallen oder zumindest sollten sie einen nicht gleich als unbrauchbar abstempeln.

Die Tür ging auf, ich trat heraus und eine Dame, die ich noch nie gesehen hatte, leitete mich mit kühler Distanz durch die Flure in ein behagliches, aber etwas dunkles Eckbüro. Angenehm kühl, fast zu kühl für mein Sommeroutfit. Sie bat mich Platz zu nehmen und stellte mir ein Tablett mit diversen kleinen Mineralwasserflaschen hin.

»Herr Golder wird jeden Augenblick kommen«, schnarrte sie.

Sie stellte sich als »Frau Nerdersen« vor und blickte mich intensiv mit mattgraublauen Augen an. Sie kroch förmlich in mich hinein, setzte an, als ob sie noch was sagen wollte, drehte sich dann schnell um und schon war sie leise und dezent weggetreten.

Ich blickte umher und dachte nach, ob ich den Namen schon einmal gehört hatte. Golder?! Irgendwie kam mir der Name bekannt vor … ganz oben! Ganz hohes Tier hier! Eine Lichtgestalt und das Gewissen der Wirtschaft in Süddeutschland!

Die Gedanken wurden unterbrochen, als die Tür aufschwang und ein Mann hereinkam, den man wohl als Grandseigneur bezeichnen konnte. Vornehm zurückhaltend, gediegen, aber mit einer weltmännischen Eleganz.

»Verehrter Herr Zacher, danke, dass Sie es sich einrichten konnten.«

Das hat er schön formuliert, dachte ich – na ja, ich wurde ja mehr oder weniger gezwungen und hier herzitiert … – ich stand kurz auf, um ihn zu begrüßen, und dann setzten wir uns je in einen Ledersessel, in dem ich mit meinen nackten Oberschenkeln festklebte.

»Möchten Sie Kaffee? Tee?«

Ich verneinte. Er fügte noch hinzu, Frau Nerdersen mache auch einen vorzüglichen Cappuccino, doch ich winkte höflich ab. Mir war nicht nach was Warmen.

»Gestatten Sie mir, dass ich mich Ihnen erst mal vorstelle: Gottfried Golder, ich bin der notarielle Beistand und, sagen wir mal, ein Organisator hier im Hause. Sie wundern sich sicher etwas darüber, warum Sie uns hier heute aufsuchen sollten.«

»Ja, offen gesagt, weiß ich es nicht genau, nein – ich weiß es gar nicht«, meinte ich.

»Richtig, woher auch?«, schob er nach. »Ich möchte es auch gar nicht lange machen, sondern direkt auf den Punkt kommen. Sie sind von Ihren Aufgaben hier entbunden?«

Ich lachte und meinte: »Ja, so ungefähr trifft es das! Man hat mir den Vertrag gekündigt.«

»Ahh gut, ja, das ist gut«, murmelte er.

Ich wusste wirklich nicht, was daran gut sein sollte! Aber ich war neugierig zu hören, um was es eigentlich ging.

»Hören Sie, …«, fuhr er fort, »Sie können ja weiterhin auf einem etwas anderen Bereich für uns aktiv werden. Eine Art Recherche oder Besorgung.«

Ich unterbrach ihn sogleich: »Ähm, Herr Golder, bei aller netten Hilfe Ihrerseits, aber Event ist nicht so mein Metier!«

Ich wusste, dass hier eine Stelle ausgeschrieben war, doch Eventplanung, an alles denken müssen und 200 Prozent planen und durchführen und dafür ein lasches »hat ja gepasst« einzukassieren, war für mich nicht die Erfüllung.

»Nein, nein, ich dachte an etwas ganz anderes«, sagte er schnell. »Mir kam zu Ohren, dass wohl die Grafik eine andere Agentur übernimmt und da Sie ja bei uns lange im Hause waren, haben Sie wahrscheinlich gerade nicht so viele Kunden an der Hand oder möchten sich vielleicht etwas entspannen.«

Ich stutzte: »Herr Golder, wie geht denn das, bei einer Recherche zu entspannen? Ich kann Ihnen wirklich nicht folgen, was bitteschön soll ich denn für die Wirtschaftsvereinigung machen?« Ich schaute ihn fragend und eindringlich an.

»Für die Vereinigung rein gar nichts«, betonte er. »Ich formuliere es anders: Es ist für mich – rein privat. Sie fliegen in den Oman.«

Ich starrte ihn mit offenem Mund an. »In den Oman?!«, wiederholte ich monoton.

»Ja genau, ein paar Tage Entspannung in der Sonne – das ist doch was Schönes. Sie müssten nur schnell etwas dort für mich erledigen. Das ist alles. Dafür gehen der Flug und die Hotels natürlich auf meine Kosten und eine kleine Aufwandsentschädigung, ein Obolus, ginge ebenso an Sie. Was sagen Sie?«

Ich war platt! Vom Oman hatte ich zwar schon was gehört, aber nie daran gedacht, dorthin zu fliegen.

»Das kommt nun etwas überraschend«, stammelte ich.

Irgendwie hatte er mich total aus der Bahn damit gebracht. Ich hatte an alles Mögliche gedacht, aber nicht an eine Reise in den Orient, um was für einen alten Herrn zu erledigen.

»Nehmen Sie sich eine hübsche Reisebegleitung mit. Ihre Freundin zum Beispiel«, meinte er mit überzeugendem Blick. Ich starrte auf mein Wasserglas und dachte für mich, eine Freundin, na toll, die hatte ich jetzt nicht mehr! Laut sagte ich: »Ich weiß nun wirklich nicht genau … das kommt jetzt etwas …«

»Denken Sie darüber nach«, unterbrach er mich, »und geben Sie mir nächste Woche gleich Montagfrüh Bescheid. Die Reise beginnt dann, sagen wir mal, nächsten Freitag. Genau in einer Woche.«

»Aber ist es dort nicht sehr heiß und ich habe auch gerade keine Freundin«, meinte ich etwas nachdenklich und ärgerte mich im selben Moment über meine Äußerung. Hilfloser kann man sich ja nicht präsentieren! Aber Herr Golder war so der Typ eines guten Großvaters, dem man sich blind anvertrauen kann.

»Na wunderbar«, meinte er strahlend, »das ist ja bestens, Freundinnen stören ja auch manchmal. Dann nehmen Sie doch einen Freund mit. Es handelt sich um eine Wanderung in den Bergen, Abenteuer, Sie wissen schon«, kicherte er.

Nein, ich wusste gar nichts und resümierte laut: »Um es zusammenzufassen, ich kann einen Freund mitnehmen und bekomme alles bezahlt? Den Flug …«

»Richtig! Business Class«, schob er ködernd ein.

»Das Hotel«, zählte ich weiter auf.

»5 Sterne«, sagte er triumphierend.

»Und einen Obolus«, meinte ich abschließend.

»Ja, auch das ist richtig!« Er lächelte. »5.000 Euro nach Beendigung der Reise und der Erledigung. Darunter verstehe ich einen Umschlag einzusammeln und mitzubringen. Das wäre es schon. Natürlich ohne Rechnung und auf die Hand«, schob er hüstelnd nach.

Das war ja klar, aber sollte mir recht sein, dachte ich, passt zu den oberen Etagen! Keine Rechnung, kein Nachweis und dann das große Vergessen.

»Rechnen Sie so mit fünf bis sieben Tagen«, sagte er.

»Gut, ich melde mich bei Ihnen, ich denke kurz darüber nach und gebe Ihnen Montagfrüh Bescheid.«

Irgendwie hatte ich jetzt schon Lust zu sagen: Klar, ich mache das! Aber ich wollte noch mal darüber schlafen und für ihn nicht so leicht verfügbar sein.

Wir standen gleichzeitig auf, ich schaute ihm lange und fest in die Augen. Er erwiderte mit einem ruhigen, warmen Blick und sagte abschließend: »Ich freue mich, dass Sie mir helfen. Alles Nähere erfahren Sie dann am Montag.«

Daraufhin ließ er mich alleine und verschwand langsam gehend durch eine Nebentür. Ich stand etwas blöd in dem Büro mit schweißnassen Oberschenkeln vom Ledersessel, in dem ich vorne zwei dunkle Flecken hinterlassen hatte.

Schon schwang die Tür auf und diese Nerdersen spazierte rein. Sie blickte auf mich, dann auf den Sessel zu den Sitzabdrücken und forderte mich mit schneidiger Stimme auf, alleine zum Lift zu gehen, ich wüsste ja jetzt, wo der sei, da müsse sie sich nicht mehr die Mühe machen. Sie öffnete langsam die Fenster und blickte hinaus.

»Nein, das brauchen Sie nicht. Auf Wiedersehen und einen schönen Tag noch.« Mit diesen Worten ging ich raus. Sie aber erwiderte nichts mehr und blickte nur stumm nachdenklich vor sich hin.

Ich war etwas verunsichert: Warum reißt sie die Fenster auf? Ich hab schließlich zwei Mal geduscht heute!

6

Draußen empfingen mich heiße Luft und Sonnenschein. Ungewöhnliche 30 Grad und das im September.

Ich kramte sofort mein Handy aus der Hosentasche und wählte die Nummer von Felix. Er ging nicht ran, was mir gar nicht passte. Wo war der denn wieder? In der Uni hatte ja das Semester noch nicht begonnen! … Ich legte auf und schrieb eine WhatsApp, er möge doch sofort zurückrufen. Wahrscheinlich war er irgendwo an der Isar baden.

Ich musste lächeln bei dem Gedanken, Felix zu fragen, ob er mit mir in den Oman reisen wollte. Ich war mir sicher, es gab gerade keinen anderen Menschen, der mich auf so eine kuriose Reise begleiten könnte und das alles noch nebenbei als normal empfinden würde.

Er ist zwar zwölf Jahre jünger als ich, doch das macht nichts aus! Er ist so erfrischend anders und chaotisch und nimmt Leute so, wie sie sind, nicht wertend. Kennengelernt hatte ich ihn über meine Ex, Marie.

Da hätten sich die richtigen zwei gefunden, meinte sie lachend, als sie noch in unserer Beziehung lachte.

Marie ging, Felix blieb!

Mittlerweile haben wir eine richtig gute Freundschaft, in der jeder jeden, egal wann, anrufen kann und in der ich alles ansprechen und aussprechen darf, auch mal was Peinliches oder was mir komisch vorkommt.

Er hat was total Entwaffnendes. Er ist jung, clever und gerade mit einem Musikstudium und Zeichenkurs beschäftigt. Mir scheint es so, als ob er das nur aus Zeitvertreib macht.

Geld hat er anscheinend, irgendwie lebt er, nur darüber spricht er selten. Er hat die Gabe, alles an Information aus einem herauszuholen, doch von ihm erfährt man relativ wenig. Das fällt nur nie jemandem auf. Felix ist einfach zu schlau für die depperte Umwelt. Ja, er ist extrem schlau, hochintelligent sogar. Es ist unglaublich, wie viel der weiß!

Ich hab den Verdacht, dass er einen Wikipedia-Link in seinem Hirn hat! Anders kann ich es mir echt nicht erklären, wie er sonst, egal zu welchem Thema, seine Infos so schnell abrufen und etwas beisteuern kann.

Ich nahm mein Rad, stieg auf und schon klingelte das Telefon. Also stieg ich wieder ab, holte umständlich das Handy aus der Tasche und ging ran: »Hey Felix … sag mal, hast du heute Abend Zeit?«

»Nee, leider nicht«, meinte er. »Ich muss noch was erledigen, geht heute nicht. Aber ich wollte vorhin, als ich angerufen hatte, eigentlich fragen, ob wir am Sonntag wandern gehen wollen? Mal raus, Berge – Frischluft – Bewegung – Ausdauer.«

»Ja klar, perfekt! Ich wollte dir gerne was ganz Spezielles vorschlagen.«

»Was denn?«

»Ach, das sage ich dir dann, wenn wir in den Bergen sind. Bist du eigentlich schon am Konservatorium?«, fragte ich so nebenbei, um festzustellen, ob er überhaupt Zeit hatte.

»Nein, erst ab Oktober.«

»Ahh, okay … gut, hast was vor, so demnächst?!«

»Philipp! Was willst du? Sag es geradeheraus! Hey Felix, was ich dich schon immer fragen wollte …«

Ich wollte jetzt am Telefon aber nichts erzählen.

»Jaa, mach ich am Sonntag, okay?! … Ist ’ne längere und komische Geschichte. Ideal beim Wandern zu bequatschen.«

»Ja okay, wird schon nicht so wichtig sein. Holst mich ab?«

»Nimm dir die nächsten zwei Wochen nix vor, vielleicht brauch ich dich«, fügte ich schnell hinzu.

»Was bitte willst du?«, fragte er wieder.

»Jetzt warte doch bis Sonntag, und ja, ich hole dich ab. So um zehn Uhr? Okay?« Ich legte grinsend auf.

Das gefiel mir, ihn mal etwas schmoren zu lassen.

Nach ein paar Minuten kam schon die erste WhatsApp mit einem geballte-Faust-Emoji und der klaren Anweisung zu sagen, was ich möchte … Geduld ist nicht seine Stärke. Ich schwieg.

Bevor ich nach Hause fuhr, ging ich noch schnell zu Ahmid, einem Friseur um die Ecke. Die Jungs dort schneiden schnell, gut und günstig für elf Euro.

Laute Hiphop Musik beschallte mich, als ich auf dem Friseurstuhl Platz nahm. Man sitzt hier in einer anderen Welt. Die Typen sind allesamt nett und alles ist sehr relaxt.

Brav und geduldig warten alle Männer bis sie dran sind. Es ist eine ganz eigene, entspannte Atmosphäre. Nicht so hektisch und aufgesetzt wie in manchen Salons, die auf »teuer« machen. Die Friseure hier, wenn es denn mal welche vorher waren, kommen irgendwo zwischen Afghanistan, Syrien und dem Irak her, sind schon lange oder erst seit kurzem hier, so genau weiß man es nicht, aber stehen von morgens bis abends im Salon.

Schon nach einer Minute unter dem Plastikumhang war ich schweißgebadet. Ich hasse Haareschneiden!

»Hey, Bruder – machen wir so wie immer?«, fragte Ahmid. »Willst du Tee?«

Ich verneinte. Mit einem Tee wäre ich komplett verdampft! Er schnitt gekonnt und schnell, die langen Fransen waren ab und ich zufrieden. Ich zahlte und bestieg klatschnass mein Rad und fuhr nach Hause.

Dank dem Fahrtwind war ich relativ schnell wieder getrocknet. Auf mehr Sport hatte ich keine Lust, dazu war es zu warm. Also machte ich es mir auf meinem Balkon bequem und ließ mir nochmal dieses – doch etwas merkwürdige – Treffen mit dem alten Golder durch den Kopf gehen … das Angebot, den damit verbundenen Auftrag und auch, wenn mir der Sinn der Sache und die Hintergründe nicht klar waren und das Ganze mir etwas komisch vorkam, kam ich dennoch zu dem Entschluss, dass es genau das Richtige für mich in meiner momentanen Situation war. Raus hier und eine Reise unternehmen, die einem auch noch gezahlt wird! Eine Reise in ein vollkommen neues Leben!

7

Ramón schwor laut am Telefon mit nordspanischem Dialekt, dass er sie nicht umgebracht hatte.

Die Alte war einfach gestorben, er hatte nur etwas Druck ausüben wollen. Er hatte dann auch gleich die ganze Wohnung durchsucht, aber nichts Brauchbares gefunden. Ja! Sicher wollte er weitersuchen, … klar musste er nochmals dort rein! … Ja, er blieb noch eine Weile in Frankfurt und jaa, er wollte auch weiterhin die Wohnung beobachten! Nach Spanien wollte er erst wieder, wenn er was herausgefunden hatte. Und ja, er spricht sich mit dem Professor und Mark hier ab und lässt sich von der Zelle in Frankfurt unterstützen. Leicht aggressiv sagte er: »Enrique, du brauchst hier nicht aufkreuzen! Das ist nicht nötig. Ich mach das hier, dafür bekomme ich ja dann, wenn wir alles gefunden haben, viel Geld, hast du gesagt!«

Genervt und wütend drückte er seinen Onkel weg. Er hasste ihn.

Ramón saß in seinem kleinen Zimmer einer schäbigen Pension im Frankfurter Bahnhofsviertel und zog eine Line Kokain auf dem Tisch mit der abgestoßenen Glasplatte.

»Gut, dass es hier alles ums Eck gibt, was man so einwerfen will«, dachte er und nahm einen großen Schluck Wasser um den bitteren Geschmack runterzuspülen.

Er musste nun konzentriert nachdenken, was er als Nächstes unternehmen würde. Er wusste auch nicht, warum die Eisner einfach so unter seinen Händen gestorben war. Er hatte im Bad Medikamente für Herz und Kreislauf gesehen. Vielleicht war ihr Herz zu schwach gewesen?

Dabei hatte er sich so professionell gefühlt, betont cool gesprochen und die Worte hatte er so nach Agentenfilmen gewählt. Er fand sich richtig gut, … und dann nibbelte die Alte ab! Megakacke war das. So glattrasiert und ganz in Schwarz gekleidet war neu für ihn, drum hatte er diverse Selfies von sich gemacht, das gefiel ihm.

Er musste noch einmal in die Wohnung, aber momentan war dort die Polizei zugange, um zu erforschen, ob es Mord oder natürliches Versterben war.

Er lehnte sich in dem schäbigen Sessel zurück, legte seine Beine auf den Tisch und trank einen Wodka mit Bitter Lemon.

… Wenn das endlich hier erledigt ist und sie alles haben – dann werde ich mir von dem vielen Geld eine fette Hütte am Meer kaufen! Mittelmeer, nahe Barcelona! Weg von Nordspanien und der Familie und dann können mich diese arroganten Typen kreuzweise …

Ramón träumte schon mal, wie schön sein Leben sein würde – während einige Viertel weiter ein überheblicher, hochgebildeter Professor neben seinem leicht minderbemittelten Sohn vor sich hin wütete.

8

Am Samstag wurden mir wieder einige WhatsApps geschickt, über die Felix versuchte rauszufinden, was ich denn von ihm wollte. Aber ich blieb standhaft!

Ich dachte nochmals in Ruhe nach und wog ab. Der Reiz der Reise, alles umsonst und auch noch 5.000 Euro extra, waren immer noch Argumente genug! Nein …, egal, was sich da für ein Haken versteckt, das Ganze bleibt eine saucoole Aktion, dachte ich. Mal sehen, was Felix sagt … er muss einfach Zeit haben!

Endlich war Sonntag!

Das Leihfahrzeug, das ich für unseren Ausflug gebucht hatte, machte einen guten Eindruck und ich holte Felix pünktlich wie ausgemacht im Lehel ab.

Wir fuhren auf die Salzburger Autobahn in Richtung Tegernsee, um eine Höhenwanderung zum Risserkogel zu machen.

Ich kannte die Tour nicht. Felix meinte, dass sie landschaftlich super sei. Er zappelte schon voller Vorfreude auf dem Beifahrersitz hin und her und spielte an den Knöpfen des Armaturenbretts herum.

»Hey, nun sag schon, was willst du mir sagen oder mich fragen?«

»Jetzt warte halt, bis wir oben sind!«

»Hey, du bist so ein Arsch – echt! Wehe, es geht nur um einen langweiligen Mist!«

Ich konnte förmlich spüren, wie ungeduldig er war.

Ich schaute aus dem Autofenster die lieblich kitschige Landschaft an. Man hätte fast meinen können, der liebe Herrgott hat es besonders gut gemeint an diesem Tag in Bayern!

Knallblauer Himmel spannte sich über prächtige oberbayerische Bauernhäuser, alle penibel bis auf den letzten Platz mit üppig rankenden Blumen bestückt, das Holz der Balkone und Giebel glänzte in sanften Honigtönen mit dunkelbraunen Schattierungen, teils grün bemalte Kanten gaben den Schnitzereien eine optische Dreidimensionalität. Die frischen, weiß verputzten Wände leuchteten mit kitschig-barocker Lüftlmalerei umrankten Fenstern und Türen. Wie zufällig hingewürfelt gruppierten sich schmucke Bauernhöfe und Häuser um die obligatorischen Dorfkirchen und verbliebenen Gasthäuser. Die Luft war ungewöhnlich mild und duftete nach frisch geschnittenem Gras und Heu, das auf den Feldern in sauberen Reihen zum Trocknen auslag. Sattes Grün der Wiesen stand im bunten Kontrast zu allerlei möglichen Grün-, Rot-und Gelbnuancen, was die Natur so hergeben kann, und zum dunkelblauen Himmel.

Ich atmete die gute Luft ein und sinnierte vor mich hin.

… Die Sonne scheint, der Himmel ist blau, die Luft ist lau – grad schee is! …

Felix sang vergnügt vor sich hin und ließ sich nicht davon aus der Ruhe bringen, dass wir nicht alleine, sondern mit vielen anderen Städtern und Dörflern auf der Landstraße im Schritttempo an den gewünschten Ort in den Bayerischen Voralpen schlichen. Hin und wieder gab er mir Anweisung, wie ich zu fahren hatte.

… Die Sonne scheint, der Himmel ist blau, die Luft ist lau – wir stehen im Stau! …

Der uns auch auf der Landstraße weiter begleitete und wie die anderen landhungrigen Ausflügler – seit Jahrzehnten immer an der gleichen Ampel – standen auch wir! Felix sang immer noch vor sich hin … singen kann er wenigstens, studiert ja auch Musik! Mit großem Zeitverlust und unterschwelliger Gereiztheit, so dämlich gewesen zu sein, ausgerechnet an einem Sonntag Richtung Alpen zu fahren, trödelten wir weiter die Landstraßen entlang.

… Die Sonne scheint, der Himmel ist blau, die Luft ist lau – und los geht’s! …

Endlich erreichten wir unser Ziel und fieberten der sonnigen Entspannung auf herrlichen Berggipfeln mit grandioser Fernsicht und wohltuender, dem Alltag entfliehender Einsamkeit entgegen.

Doch entfliehen kannst du höchstens ein paar russischen Touristen und fußlahmen Kurgästen, aber dem wahren Bayern nicht!

Am total überfüllten Parkplatz der Wallbergbahn fanden wir noch einen Platz auf einer abschüssigen Böschung mit direkter Absturzmöglichkeit über einen Abhang in einen Wildbach. Also balancierte ich dicht neben dem Auto zum Kofferraum.

»Hier, deine Schuhe«, sagte Felix und hielt mir die Tasche mit meinen Wanderschuhen hin.

»Danke dir! Ich hoffe, wir gehen jetzt nicht unisono mit allen, die auch im Stau standen, auf den Berg.«

»Nee, wir fahren doch mit der Gondel rauf. Dann kannst du mir erzählen, was du vorhast«, lachte er. Wir gingen zur Bahn und mussten auch gar nicht so lange anstehen.

»Na, geht doch«, sagte ich und machte schon die ersten Fotos aus der Gondel von dem See. Felix bohrte natürlich weiter nach, was ich denn so Tolles nun auf dem Schirm hätte. Ich schwieg. Es machte mir Spaß ihn etwas zappeln zu lassen.

Oben angekommen war ich entsetzt beim Anblick der Massen, die sich dicht an den Tischen auf der Terrasse des Bergrestaurants drängten. Felix, der schon einmal oben am Wallberg war, meinte beschwichtigend: »Die Touristen sind relativ kalkulierbar. Sie bleiben hier und essen nur, die wenigsten gehen weiter.«

Wie auch, wenn die meisten in irgendwelchen Flipflops und Latschen hier saßen, dachte ich mich umblickend.

Das Panorama war schon mal traumhaft! Beschwingt gingen wir in Richtung Setzberg an einer Alm vorbei. Hier hatte sich, dank Gondelbahn, ein Grüppchen versammelt, das genau den Abriss der Mitbürger lieferte, den ich am liebsten gleich in Entzugskliniken, Ernährungseinrichtungen für Naturheilweisen oder anderen psychischen Anstalten einliefern lassen würde.

Man hatte einen Pfarrer nebst Tisch, weißem Leintuch und liturgischem Gerät im VW-Bus hinaufgekarrt, den es fettleibig mit dickem Bauch fast aus dem goldbestickten Messgewand sprengte und der nun im Sonnenschein mit rotfleckigen Wangen und schweißiger Stirn seine Utensilien ausbreitete. Wie Hühner auf der Stange hatte sich ein aufgemascherltes Völkchen auf hölzernen Bänken neben urigen Almhütten niedergelassen und blickte kritisch auf jeden Fremden, sprich uns, der die Szenerie durchwanderte.

»Was ist denn hier los?«, murmelte ich. Felix starrte entgeistert auf die Personen und meinte nur: »Was ist denn das für ’n ends-krasses Gruselkabinett?« Ebenfalls aufs Hochplateau war eine Blaskapelle mit niederem Gefolge aus verblichenem Militär transportiert worden.

… Die Sonne scheint, der Himmel ist blau, die Luft ist lau – es wird noch schlimmer! …

Streng in Tracht gewandet, schmetterte eine dralle Blonde ein »Griaß Eiich« in die Runde, etwas zu schrill und spitz, passend zu ihrem Blick auf die anderen Damen, ob da nicht eine a scheeners Dirndl anhat oder ob die Herren, allesamt mit Trachtenjanker, ihr die gewünschte Aufmerksamkeit schenkten. Für mich ist klar, dass der Erfinder des Dirndls schon ein Frauenversteher war – besser lassen sich gar nicht, auf relativ angenehme Weise, üppige Leiber kaschieren. Wobei ebenso tolle Körper in schönen Dirndln steckten. Wie immer alles eine Frage des Geschmacks.

Eifrig plapperten – leicht überdreht – die Damen übers Wetter, wie schön es doch sei und die Herren der Schöpfung kommentierten mit nickendem jaa, scho, gei … und waren froh, nichts weiter sagen zu müssen.

Felix meinte nachdenklich: »Diese ganze Ansammlung von Menschen bietet auf den ersten Blick das Bild des heilen Bayerns, auf den zweiten Blick ein trauriges Abbild einer gefangenen Gesellschaft! Findest du das nicht auch?«

Die Kapelle setzte sich spielend in Bewegung und so blieb ich Felix erst mal eine Antwort schuldig. Irgendein Marsch-Blas-Lied wurde geboten, das an das Oktoberfest und Volksmusiksendungen erinnerte. Ein Mann Mitte vierzig war der vielleicht Jüngste unter all den Greisen, die musizierend dahinschritten mit einer Mimik, als ob sie noch niemals Spaß in ihrem versoffenen Leben gehabt hätten. Von Lebensfreude keine Spur! Blass und rotwangig mit blauroten feinen Alkoholäderchen marschierten sie mit festem Schritt einem Trauermarsch gleich. Fahnenträger, Würdenträger und Lederhosenträger behangen mit allerlei Accessoires, was der bayrische Brauchtumsladen so hergibt. Ohne die musikalische Begleitung wäre der Aufmarsch ein Klappern und Scheppern von Ketterln und Anhängern und Knarzen des Leders der Stiefel gewesen.

»Wusstest du«, fing Felix wieder an, »dass noch 1913 die katholische Kirche in München kurze Lederhosen für sittenwidrig hielt?« Er lachte.

»Das war ja wieder klar«, meinte ich. »Die Kurzen sind doch die einzig tragbaren und praktisch sind sie allemal. Latz auf, Latz zu – alle anderen sind depperte Landhausmode.«

… Die Sonne scheint, der Himmel ist blau, die Luft ist lau – der Zeigefinger ist mahnend erhoben! …

Der Pfaffe begann seine Rede mit den salbungsvollen Worten: »Wir haben uns heute hier versammelt …«

Wie beschämend ich es finde, sich keine andere Begrüßungsformel mal einfallen zu lassen! Aber in der Kirche gibt es keine Veränderungen; wozu auch? Die anwesenden Herren warteten ja eh nur darauf, sich Bier in den Schädel zu kippen und die Damen, übereinander herzufallen, um die neuesten Entgleisungen in der Gemeinde anzuprangern und auszutauschen. Die mitgeschleppten Kinder, gerade noch festgehalten, schielten schon auf den naheliegenden Felszacken, den es zu beklettern galt, um der faden Erwachsenengesellschaft zu entfliehen.

Durch die offenen Fenster der Alm-Küche sahen wir die vorgearbeiteten, gedrehten Knödel und viel fettes Schwein lag bereit, das dann mit den lechzenden Worten »des is scho was Feines« empfangen werden würde. Nein! Es ist – meiner Meinung nach – nichts Feines, sondern was Gesundheitsschädliches. Aufgrund von Fettleibigkeit durch zu starken Fleischkonsum müssen wieder Millionen Euros vom Krankensystem für Stands, OPs und Medikamente ausgegeben werden. Ganz abgesehen von der Umweltbelastung und Tierquälerei durch die Massenviehhaltung.

Felix grüßte eine Küchengehilfin durchs Fenster, die verstohlen lächelnd ihm einen verwegenen Blick zuwarf.

»Schau! Wie schön Bayern sein kann«, grinste er und deutete auf die Knödeldreherin.

… Die Sonne scheint, der Himmel ist blau, die Luft ist lau – trink man no oane! …

Wir bogen um die Ecke, nichts war mehr zu sehen oder zu hören, außer dem Piepsen der Bergdohlen. Ein wunderbarer Blick öffnete sich auf die Berge und die Voralpen. Ein kleines Lüftchen mit dem Duft von Latschenkiefern, gelbem Laub, nassem Gras und würziger Erde wehte uns in die Nase. Totale Ruhe und Entspannung. Nun offenbarte sich das tolle Bayern. Hier oben, dem Himmel so nah, ist die Natur alleiniger Protagonist!

An einer dem Süden zugewandten Hangwiese setzten wir uns hin und packten unsere Brote und Wasserflaschen aus. Auf dem Rücken liegend, der Vögel große Schleifen am Himmelsblau nachziehend, streckten wir uns wohlig auf dem moosigen Gras der Sonne entgegen. Insekten summten. Ein unglaublicher Genuss, den man an sich immer kostenlos haben kann, dachte ich.

Seit der Knödeldreherin hatte Felix kein Wort mehr gesagt. Nicht mal das kleinste Nachhaken kam mehr. Sein bockiges Schweigen und ein Blick in seinem Gesicht verrieten mir, dass es höchste Zeit war mit der Sprache herauszurücken. Aber gerade als ich dazu Luft holte, erhellte sich Felix’ Miene wieder und freudig plapperte er los und erklärte mir, dass die Jurameerplatten, als Italien in uns rammte, sich hochstellten und deutete dabei auf riesige bizarre Felsplatten, die gen Himmel ragten. Ich musste schmunzeln … wie schnell er sich doch ablenken ließ! Dennoch, ich konnte ihn nicht länger zappeln lassen: »Sag mal, willst du mit mir in den Oman fliegen?«

»Klar«, sagte er prompt. »Da wollte ich schon immer mal hin, der Sultan vom Oman hat in Garmisch schon seit den 80ern ein Haus. Ist es das? Willst du Urlaub mit mir machen?«

Was dieses Haus in Garmisch jetzt mit der Reise zu tun hatte, wusste ich nicht, aber Felix hat immer so viele Dinge im Kopf, das muss dann raus.

»Ja cool, dann gleich nächste Woche! Reise geht auf mich, musst nix zahlen, so sieben Tage ungefähr.«

Er starrte mich ruhig aufrecht sitzend mit großen Augen an.

»Mann, was willst du wirklich? Warum solltest du mich einladen? Philipp, was ist los?« Die Ungläubigkeit und den Verdacht, ich sei verrückt geworden, sah ich ihm deutlich an.

»Also … Folgendes«, sagte ich, »du weißt doch, dass ich meinen Job verloren hab.«

»Ja klar! Weiß ich!«, unterbrach er mich.

»Gut. Man hat mich noch mal in die Wirtschaftsverwaltung gerufen und ich musste zu so ’nem alten Typen, den ich nur vage kannte, und der hat mich gefragt, ob ich jetzt, wo ich ja vermutlich Zeit hab, doch was für ihn erledigen kann, weil er zu klapprig ist. Ich soll einen Umschlag in der Bergregion des Omans abholen und kann auch eine Reisebegleitung mitnehmen. Das ist alles. Toll, nicht?«, fügte ich noch schnell hinzu.

»Hey, ich mach keinen Drogenkurier oder so was!« Felix schaute ziemlich ernst zu mir rüber.

»Spinnst du? So was würde ich auch nicht machen. Der ist alt! Der nimmt doch keine Drogen!«

»Ach, trauen kann man den Alten nie, das ist vielleicht der oberste Boss! Also, der will uns beiden Flug, Hotel und alles zahlen?«

»Ja genau, Business Class, tolles Hotel und …« Ich hielt kurz inne. Ob ich ihm was von den 5.000 Euro erzählen sollte? Felix war schließlich mein bester Freund und vor ihm mochte ich keine Geheimnisse haben. »Und ich bekomm noch Geld extra …«

»Ach, wie viel?«

»5.000 auf die Kralle!«

Felix pfiff durch die Zähne.

»Da scheint es wer ernst zu meinen! Aber …, hmm…, wir machen das!«, sagte er.

Ich wäre ihm am liebsten um den Hals gefallen, meinte aber nur: »Cool, dann rufe ich ihn morgen gleich an.«

Felix grinste breit über das ganze Gesicht. Nun begann seine Gehirnverarbeitung. Er sprang auf und setzte einen lauten Schrei ab: »Wie geiil! Für lau in den Orient! Ähh, was zieht man da an? Wie warm ist es da? Wie zahlt man da, wo genau ist es, sag!«

»Das weiß ich auch nicht genau«, meinte ich etwas kleinlaut. »Aber morgen erzähl ich dir’s. Ich muss diesen Golder gleich in der Früh anrufen und dann frage ich, was es für ein Umschlag ist und kläre alle Einzelheiten, okay?«

Hektisch stopfte Felix Brote und Trinkflaschen wieder in den Rucksack und sagte nur: »Ich kann jetzt hier nicht ruhig sitzen! Los, lass uns weiterziehen! Das ist ja mega ends-fresh!«

Während wir zum Gipfel samt Kreuz kraxelten, wurde mir alles, was Felix über den Oman wusste, erzählt. Woher er immer diese Infos hat, fragte ich mich wirklich.

Das Panorama auf die umliegenden Berge war fantastisch. Wir atmeten noch ein letztes Mal tief durch, bevor es wieder an den Abstieg ging. Immer wieder neue Perspektiven aufgestellter Jura-Felsplatten begeisterten uns und verdeutlichten auf diese simple Weise die jüngste Erdentstehungsgeschichte.

»Hast du das auch gehört?«, fragte Felix. »Man hat die Genstränge von Embryonen manipuliert. Das finde ich so abgefahren!«

»Ja, hab es gelesen, aber bei dem Kapitel bin ich draußen, das sagt mir gar nix«, antwortete ich und unterdrückte ein Grinsen. Das war wieder typisch! Während ich beim Anblick der herrlichen Natur gedanklich gerade mal von der Jura- in die Kreidezeit gekommen war, hüpfte Felix schon wieder im Hier und Heute mit Blick auf die Zukunft!

»Ich finde die Epigenetik sehr spannend! Das mit der Genschere kenne ich noch gar nicht, muss ich mich mal einlesen, wenn ich Zeit hab.«

Und auch das war wieder sowas von klar, dass Felix das spannend fand. Mir war dieses Thema einfach zu hoch. Aber er kann es mir ja dann erklären – in einfachen Worten, dachte ich.

Sein Wissendurst und seine gedanklichen Weitsprünge, bei denen ich kaum hinterherkam, erstaunten mich immer wieder! Ich lächelte und freute mich, dass er im Oman mit von der Partie war.

Schweigend wanderten wir weiter. Auf Höhe der Alm angekommen empfing uns wieder die Musik.

»Hey, die spielen ja noch«, meinte Felix, »und gar nicht schlecht, tolle Version von einem Bayern Blues mit Trompete, echt gut.«

Dicht gedrängt saßen die Granden des Dorfes oder die Wichtigtuer am Tisch und prahlten mit großer Geste »mir san scho verreckte Hund« und meinten den Durchblick und Geschick zu haben, wie mir schien.

»Da wird groß diskutiert an dem Tisch mit den Männern«, zwinkerte mir Felix zu.

»Mhh … eher banale, dämliche Sichtweisen, als wirkliches Erkennen. Einen Durchblick hat da keiner mehr, so wie es aussieht! Die lallen schon«, stellte ich fest.

»Die sind schon alle ziemlich blau«, lachte Felix. »Knallen sich in praller, heißer Sonne das Bier in den Schädel und halten lautstark Stammtischparolen. Sind auch nur Leute und sicher einzeln ganz umgänglich und nett. Hardliner gibt es in jeder Bevölkerungsschicht und in jedem Bundesland!«

Felix lächelte ihnen vergnügt zu. Nicht mehr ganz so kritisch, eher neugierig, weil abgefüllt und dadurch offen, beäugten sie uns, als wir durch die Reihen gingen. Eine lustige und besoffene Dirndl-Milf lachte uns zu und forderte uns auf, uns dazuzusetzen. Sie war ganz fasziniert von Felix’ Tattoos und seinem Piercing – er hatte mal wieder sein T-Shirt ausgezogen und über eine Schulter gehängt. Wir lachten zurück, winkten und gingen weiter.

»Jetzt zieh dein Hemd wieder an, sonst fällt noch ganz Asien um«, sagte ich und zeigte auf eine Reisegruppe, als wir wieder die Terrasse des Berggasthofes erreichten. Ein Geschwader von Asiaten zückte schon die Handys, als sie Felix’ muskulösen Oberkörper mit den Kois und den Ornamenten auf Schulter, Brust und linkem Arm sahen.

»Ja, mach ich ja schon!«, grinste er und machte dabei einen besonders braven Gesichtsausdruck. Bei diesem lieben Hundeblick fielen die Mädels immer scharenweise um. Er ist schon ’n Hingucker und ein gutaussehender Kerl, das kann man neidlos sagen.

»Seit wann hast du denn so ein krasses Waschbrett?«, fragte ich erstaunt. Das war mir so nicht in Erinnerung, aber wann läuft man auch ohne T-Shirt rum.

»Ich hab meine Ernährung etwas umgestellt und lasse den Zucker weg, wo es geht«, meinte er, »und mit dem Joggen hab ich auch wieder angefangen und mach Six-Pack-Madness in einem Cyber-Kurs im Fitnessstudio. Wobei die Bauchmuskeln echt schnell wieder verschwinden. Man muss an sich sehr viel trainieren. Gerade geht es, aber wenn ich was esse, dann ist das Waschbrett weg!«, lachte er.

»Das ist mir zu anstrengend«, erwiderte ich. »Ich bleib beim flachen One-Pack.«

Unten im Tal wieder angekommen, gingen wir gemächlich zum Auto, zogen die Wanderschuhe aus und verstauten sie im Kofferraum. Genüsslich aßen wir noch die restlichen Brote und dann ging es die Straße zurück und runter zur Bundesstraße … Die Sonne scheint, der Himmel ist blau, die Luft ist lau – wir stehen schon wieder im Stau …

Und das bis München! Ich hatte noch nie so lange zurück gebraucht! Die tief stehende Sonne erfüllte alles mit goldrotem Licht.

»Bayern ist schon toll und auch vielfältig. Was mich hier nur nervt, sind diese kleinkarierten, engen Sichtweisen und Muster, in denen einige leben oder gezwängt werden. Das kommt bestimmt von der Kirche und der Landesregierung, da bin ich mir sicher.«

Felix stimmte mir zu: »Die haben schon sehr das Bild von Bayern geprägt, obwohl es ein ganz andres gibt. Liberal und lebenswert. Trachten finde ich ja schon ganz gut, muss ich sagen. Die Mädels schauen einfach super sexy in einem Dirndl aus. Außerdem haben wir beide auch oft mal die kurze, abgewetzt speckige Lederhose an und tragen einfach ein T-Shirt dazu. Ab in den Biergarten oder an die Isar mit einem Hellen, fertig!«

»Klar, so ist Bayern oder München sehr entspannt«, bestätigte ich. Unser Motto: Ois isi und ja ned verkrampft.

Während der Fahrt besprachen wir die Reise und ich ließ ihn noch mal wissen, wie froh ich war, dass er Zeit hatte. Es sei gerade kein Problem, meinte er, weil er noch nicht mit dem Semester begonnen hatte und auch grad nichts Wichtiges geplant hatte.

Ich setzte Felix wieder an seiner Wohnung ab und fuhr zu mir nach Hause und war irgendwie total gut gelaunt und freute mich total auf den Oman. Ich hoffte, der Golder würde keinen Rückzieher machen oder dass es nicht doch noch einen Haken an der Sache gab. Zu Hause machte ich mir noch eine Kleinigkeit zu essen und schaute »Tatort« an. Astrid klingelte durch und wollte mich am nächsten Tag sehen.

»Hey, wie geht es dir? Morgen kann ich leider nicht, ich bin mit ’nem Kumpel verabredet.«

»Schade. Ich melde mich dann wieder bei dir, sobald ich bei meiner Ausbildung etwas Licht sehe«, schlug sie vor.

»Ja, mach das! Wir treffen uns in jedem Fall«, erwiderte ich.

Sie war ja ganz unterhaltsam und hatte schon ’ne super Figur, nur der Seitenzopf sah blöd aus. Warmhalten war die Devise! Vielleicht ging ja mal was.

Der Tatort war lahm und die weißhaarigen Kommissare einfach nach all den Jahren der Ermittlung ausgelutscht.

9

Montagmorgen stand ich schon früh auf und hatte bereits von Felix Nachrichten auf dem Handy, ich solle, sobald ich doch was wüsste, Bescheid geben.

»Na klar! Was denkt der denn? Ich möchte doch selber, dass er mitkommt. Alleine möchte ich nicht reisen«, murmelte ich vor mich hin.