Erhalten Sie Zugang zu diesem und mehr als 300000 Büchern ab EUR 5,99 monatlich.
Mag sein, dass der "real existierende Sozialismus" tot ist, aber es lohnt, aus seinen Trümmern das zu bergen, worum es ihm ging: eine bestimmte Form des Miteinander-Seins oder – in der Begrifflichkeit des kanadischen Philosophen Érik Bordeleau – das "Common". Bordeleaus Essay schafft ein Verständnis für ebendieses Common, für die transindividuelle und gemeinschaftsstiftende Macht des politisch-kulturellen Projekts des Kommunismus, den er so aus den Klauen eines verkürzten und interessegeleiteten Geschichtsbildes löst. Bordeleau entwickelt sein Konzept des Common im Dialog mit Ansätzen der zeitgenössischen politischen Philosophie (darunter Texte von Badiou, Agamben, Deleuze & Guattari, Latour, Stengers, Groys, Bifo, Aspe, Nancy und dem Unsichtbaren Komitee) sowie in einer Beschäftigung mit Chinas Kulturrevolution, wie sie sich durch die Linse der chinesischen Gegenwartskunst darstellt. Ins Zentrum rückt für Bordeleau dabei die Frage nach der Rolle von Abstraktionen – ästhetischen wie politischen – im Wirken einer revolutionären Politik. Denn: Wie lässt sich widerständiges, veränderndes Handeln denken, wenn den wirkmächtigen Finanzabstraktionen, die unsere Gegenwart bestimmen, nichts entgegengesetzt werden kann? Bordeleaus Kartographie des Common mündet in einer Reihe von Vorschlägen zur Erneuerung radikaler Politik, die für transindividuelle, lokal und ökologisch abgestimmte Praktiken plädieren – einen Kommunismus der Resonanz für eine Zukunft, die Mehr-als-Menschliches ins Auge fasst.
Sie lesen das E-Book in den Legimi-Apps auf:
Seitenzahl: 246
Das E-Book (TTS) können Sie hören im Abo „Legimi Premium” in Legimi-Apps auf:
Érik Bordeleau, geb. 1978, ist außerordentlicher Professor am INRS (Montreal) sowie assoziierter Forscher am Center for Art, Business & Culture der Stockholm School of Economics, am SenseLab (Concordia University, Montreal) sowie an der Economic Space Agency (ECSA). Seine Arbeit situiert sich an der Schnittstelle von politischer Philosophie, Medien- und Finanztheorie, zeitgenössischer Kunst und Cinema Studies. Sie ist geprägt von einem ausgesprochenen Interesse an einem speculative turn und der Frage nach dem Möglichen im zeitgenössischen Denken. Er unterrichtet eine Reihe von Seminaren in kritischer Kryptoökonomie an der School of Disobedience der Volksbühne Berlin und entwickelt mit Saloranta & De Vylder The Sphere, eine P2P-Plattform zur Selbstorganisation in den darstellenden Künsten. Bordeleau lebt in Berlin.
Érik Bordeleau
Eine Kartographie
Aus dem Französischen übertragen von Juliane Seifert
Redaktionelle Beratung von Jakob Claus
We acknowledge the support of the Canada Council for the Arts.
ISBN (Print) 978-3-96317-214-4
ISBN (ePDF) 978-3-96317-745-3
ISBN (ePUB) 978-3-96317-746-0
© 2014 by Le Quartanier Éditeur
Vorwort © 2020 by Érik Bordeleau
Originally published in French as Comment sauver le commun du communisme?in 2014 by Le Quartanier Éditeur in Montréal, Québec.
Copyright für die deutsche Fassung © 2021 Büchner-Verlag eG, Marburg
Mit Ausnahme des Vorworts sämtliche Übersetzungen ins Deutsche von Juliane Seifert.
Satz und Covergestaltung: DeinSatz Marburg | tn
Druck und Bindung: Totem, Inowrocław/Polen
Printed in EU
Das Werk, einschließlich all seiner Teile, ist urheberrechtlich durch den Verlag geschützt. Jede Verwertung ist ohne die Zustimmung des Verlags unzulässig. Dies gilt insbesondere für Vervielfältigungen, Übersetzungen, Mikroverfilmungen und die Einspeicherung und Verarbeitung in elektronischen Systemen.
Bibliografische Informationen der Deutschen Nationalbibliothek
Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der DeutschenNationalbibliografie, detaillierte bibliografische Angaben sind im Internetüber http://dnb.de abrufbar.
www.buechner-verlag.de
Vorwort – Das ungezähmte Common
Einleitung – Das sinnliche Common und seine Abstraktionen: eine Kartographie
I
Der Kapitalismus als Spielfeld
II
Elemente einer Theorie des chinesischen No Man’s Land
III
Political Pop: Branding oder antikommunistischer Exorzismus?
IV
Sartre oder Über den Voluntarismus
V
Über das Common, die Resonanz sowie andere dunkle und animierte Dinge
Literatur
Endnoten
[S]ich als soziales Wesen zu betrachten […] bedeutet [immer],sich von außen zu begreifen, sich auf sich selbst zu beziehen,indem man sich selbst außer Acht lässt. Es ist das Markenzeichender ökonomischen Wahrnehmung der Welt, alles nur von außen zubegreifen. […] Wir entscheiden uns lieber für das Gegenteil –die kommunistische Geste. Die kommunistische Geste bestehtdarin, die Dinge und die Menschen aus dem Inneren,aus der Mitte, dem Milieu anzunehmen.
Unsichtbares KomiteeJetzt
Jedes Aktuelle umgibt sich mit einemNebel von virtuellen Bildern.
Gilles DeleuzeDialoge
Man kann sich diesem Buch aus verschiedenen Richtungen nähern. Aus der zeitlichen Distanz betrachtet – zum ersten Mal nahm dieses Buch im Jahr 2007 Gestalt an und wurde erst sieben Jahre später, im Jahr 2014, veröffentlicht –, stelle ich es mir in einem Gedankenspiel manchmal als das zweite Opus einer virtuellen und noch zu vollendenden Trilogie über Anonymität (Foucault anonymat, 2012), das Common und die Passion vor (dieser dritte Teil wäre einer Untersuchung unter dem voraussichtlichen Titel Signs of Passion: Giorgio Agamben and the Initiated Life gewidmet).
Dieser virtuellen Trilogie liegt eine langjährige und vielschichtige Faszination für die Kräfte des Impliziten zugrunde, die der große Logiker und Mathematiker Jean-Yves Girard als »die inkompressible Spannung im Herzen der Intelligenz«1 zwischen dem Expliziten und dem Impliziten beschrieben hat. Ein großer Abschnitt meines bisherigen philosophischen Wegs war von einer nachhaltigen Aversion gegen die intellektuellen und ästhetischen Gepflogenheiten geprägt, die sich aus dem kartesianischen Bekenntnis zum »Klaren und Deutlichen« ergeben sowie die aus ihm abgeleiteten Überzeugungen der Selbst-Transparenz, die diesem Credo bis heute Dauer verleihen.
Differenz und Wiederholung von Gilles Deleuze ist der dringend benötigte schizo-therapeutische Kontrapunkt zu einer solchen repräsentationalistischen Denktradition. Deleuze entfaltet darin eine umfassende »Ethik des Impliziten« sowie eine Philosophie verschiedener Modi der Implikation und preist zugleich – in einigermaßen kryptischen Begriffen – »das Deutlich-Dunkel als zweifache Farbe, in der die Philosophie die Welt malt mit allen Kräften eines differentiellen Unbewußten.«2 Wenn irgendetwas den Geist wiedergeben kann, in dem das vorliegende Buch verfasst wurde, dann diese Passage. Vor allem trifft dies auf das fünfte und letzte Kapitel zu, »Über das Common, die Resonanz sowie andere dunkle und animierte Dinge«, in welchem die Untersuchung der Idee des Transindividuellen in einer Reihe von Vorstellungsübungen zur Selbstvirtualisierung kulminiert – im anonymen und verwandelnden Element des Denkens.
Der französische Originaltitel Comment sauver le commun du communisme? spielt mit einer gewissen Doppeldeutigkeit. Man kann ihn im Deutschen entweder mit »Wie kann man das Common des Kommunismus retten?« übersetzen oder mit »Wie kann man das Common vor dem Kommunismus retten?«. Anders formuliert, in einer Paraphrase von Jacques Derridas Befragung der Religion am Eingang von Glaube und Wissen: Ist der Kommunismus eine Abstraktion, die rettet oder vor der man gerettet werden muss? Oder aber: Erhebt der Ismus im Kommunismus die Commons zu einer höheren und dauerhafteren Macht oder behindert er stattdessen die in ihm verkörperte, kosmopolitische Schwingung? Die Commons abstrahieren oder nicht abstrahieren, das ist hier die Frage … Im Großen und Ganzen scheinen die verschiedenen Erscheinungsformen linkspolitischen Empfindens an einem Konsens festzuhalten, der besagt: Die kommenden Commons sollten nicht von ihrer universalen Abstraktion begleitet sein; sie sollten vielmehr situiert und transversal empfunden werden. Wahrscheinlich würden einige Neorationalisten hier widersprechen und auch ich entdecke mehr und mehr mein Interesse für Variationen eines kybernetischen Kommunismus, die seinerzeit, als das Buch veröffentlicht wurde, niemals meine Aufmerksamkeit geweckt hätten.3
Die von mir im vorliegenden Buch entwickelte Definition eines sinnlichen Commons basiert auf Praktiken der affektiven Resonanz und transindividuellen Einstimmung, die einen Hang zum Lokalen und zu Modi der Bindung an ein assoziiertes Milieu betonen. Dieses Konzept eines sinnlichen Commons ist maßgeblich inspiriert von Fernand Deligny, den post-heideggerianischen Denkern der Gemeinschaft (Maurice Blanchot, Jean-Luc Nancy, Giorgio Agamben u.a.), Isabelle Stengers und Bruno Latours kosmopolitischem Vorschlag und, last but not least, Tiqqun und dem Unsichtbaren Komitee. Es fordert eine neue Form ökologischen Bewusstseins – wie Timothy Mortons sie in seinem Buch Dark Ecology (2016) als ecognosis vorstellt –, die lineare Kausalitäten herausfordert und eine erfahrungsbasierte und ästhetische Dimension eröffnet, die uns auf einen »dunklen« und resonanten Ort ausrichtet, an dem sich Myriaden von Dingen der Existenz einschleifen.4 Dieser Ansatz unterscheidet sich signifikant von denjenigen, die die Commons als einen Pool von geteilten und kollektiv verwalteten Ressourcen in den Blick nehmen. Man denke hier an Elinor Ostroms klassisches Governing the Commons: The Evolution of Institutions for Collective Action (1990), Dardots und Lavals einflussreiches Common: On Revolution in the 21st Century (2019) oder aber das in den letzten Jahren von Michel Bauwens gemeinsam mit der P2P Foundation hervorgebrachte gewaltige konzeptionelle und praxisorientierte Werk (darunter Peer-to-Peer: A Commons Manifesto und P2P Accounting for Planetary Survival, beide 2019). Das vorliegende Buch ist insgesamt weniger am Design von Prozessen der Entscheidungsfindung oder von kollektiven Regeln der Verteilung der Commons interessiert (ungeachtet ihrer zweifellos großen Bedeutung und Notwendigkeit) als an der qualitativen, transindividuellen Erfahrung des Teilens als solcher.5 Es befasst sich insofern grundlegend mit dem, was Muriel Combes in ihrer Studie zu Gilbert Simondons Philosophie des Transindividuellen als intimacy of the common umrissen hat.6 Die Intimität des Commons erscheint als ein zu schützender Bereich oder eine subjektive Zone der Verteidigung (zone à défendre) gegen immer noch invasivere und individualisierende Prozesse der Evaluation und Vermessung. Sie suggeriert die flüchtige und affektbasierte Erfahrung eines wilden Commons, die jeglichen Formen privater Aneignung entkommt.
Tatsächlich ist ein relationaler Begriff des sinnlichen Commons aus heutiger Sicht nur der bescheidene Versuch, etwas zu beschreiben, was weitaus eloquenter bereits als »Undercommons« ausgearbeitet worden ist (in einem Werk von immensem Einfluss, das ich erst einige Monate nach der Veröffentlichung meines eigenen Buches entdeckte und das mich seither begleitet hat). Aus den Bereichen von Black Studies und Radical Management Theory, der italienischen Autonomia-Bewegung wie den Sound Studies kommend, ist Fred Motens und Stefano Harneys The Undercommons: Fugitive Planning & Black Study (2013) eine leidenschaftliche und poetische Kritik neoliberaler Governance, deren Fragestellungen vielfältige Überschneidungen mit den Arbeiten des Unsichtbaren Komitees wie beispielsweise An unsere Freunde (2015) oder Jetzt (2017) aufweisen. Beide lehnen ein Konzept von Emanzipation ab, das vorrangig auf Selbstbewusstsein und Selbstreflexivität basiert, und beziehen sich auf jene »Trance«, die »unter uns und um uns herum«7 ist, um eine auf immanenter Aufmerksamkeit und der Macht kollektiver Improvisation beruhende Politik zu entwickeln. Sowohl die Undercommons als auch das Unsichtbare Komitee verlassen sich auf einen starken, heißt: messianischen, Entwurf des »Rufs« und halten im Hinblick auf die Frage der Organisation an einem tief verkörperten Sinn fest: »Sich zu organisieren hat noch nie bedeutet, dass man ein und derselben Organisation angehören muss. Sich zu organisieren bedeutet, auf welcher Stufe auch immer, nach einer gemeinsamen Wahrnehmung zu handeln.«8 In extremer Verkürzung: Die »prophetische Organisation der Undercommons«, auf die Moten und Harney hinweisen, resoniert innig mit der von Giorgio Agamben und dem Unsichtbaren Komitee entworfenen Vorstellung, dass nur eine Lebensform sich als wahrhaft widerständige Macht konstituieren könne.9
Das »laufende Experiment mit dem Informellen« und »der zukünftigen Gegenwart von Lebensformen«,10 das Moten und Harney in den Vordergrund stellen, kann als Versuch gelesen werden, McKenzie Warks schwierig Frage zur Occupy-Wall-Street-Bewegung zu beantworten: »Wie besetzt man eine (finanzielle) Abstraktion?« Es gibt keine einfache Antwort auf die Frage, wie man sich den finanziellen Abstraktionen widersetzen kann, die aus der Ferne unser Leben beherrschen, indem sie uns in der restriktiven Form des Homo oeconomicus isolieren – als privatisierte Selbstunternehmer und selbst-vermarktende Subjekte der eigenen Interessen. Die von mir angedeutete transindividuelle Annäherung an das Common betont die Fähigkeit zum Affekt und zum Affiziert-Werden. Sie beinhaltet eine starke Vorstellung von Haptikalität, verstanden als die Fähigkeit, durch andere zu fühlen. Dieser Touch der Undercommons breitet sich auf unterschiedliche Weisen aus; sie differieren erheblich in Hinblick darauf, wie wir die spekulative Macht der Abstraktionen fassen, das meint die Art, in der Abstraktionen unsere Beziehung zur Zukunft aktivieren, zur zukünftigen Gegenwart des »Kommenden«.
Es gilt, die Freude des Transindividuellen zu verteidigen, und sei es nur gegen seine Vereinnahmung durch das Kapital. Diese Verteidigung kann mannigfaltige Gestalt annehmen: Man könnte sagen, dass die Modulation dieses emergenten, flüchtigen und ereignisbasierten Sinns der Potenzialität in jedem Prozess kollektiver Formung immer schon auf dem Spiel steht. Sich dem Ungezähmten des Commons auszusetzen – seinem anarchischen Anteil (anarchic share) –, dem Möglichen, das in jeder Begegnung, in jeder Gelegenheit, in jeder Beziehung harrt. In diesem Sinne können beispielsweise die Taktiken des strategischen Essenzialismus verstanden werden: Mit Bedacht montieren sie ein ermächtigendes kollektives Interface – von uns vorschnell als eine »Identität« bezeichnet –, das seinen Teilnehmenden gestattet, auf einer eher systemischen Ebene kollektiv zu handeln, was bedeutet: in großem (symbolischem) Maßstab. Oder geht es einfach um die territorialisierenden Gesten, die den Abstraktionen der Macht trotzen, dem »problematischen Essenzialismus jener, die so denken und handeln, als wären sie etwas Besonderes«,11 dem Ruf nach permanenter Anpassung und Selbstoptimierung widerstehend.
Es liegt etwas inhärent Pharmakologisches – oder vielleicht schlicht Programmatisches? – in der praktischen Notwendigkeit, sich selbst als ein Wie-Eine:r (comme-un) zu verkörpern, als das »wie Eins« einer Identität. Pharmakologisch in dem Sinne, dass sich bestenfalls die Abenteuer des Form-Annehmens in die virtuosen Prozesse eines Angehörens im Werden (belonging in becoming) übersetzen. Schlimmstenfalls wandeln sich die strategisch verschlüsselten Modi öffentlicher (Selbst)Darstellung in selbstberauschende, stratifizierte Identitäten. Die Überkodierung des Sozialen in immer raffinierteren Hierarchien der Beherrschung ist dafür ein einschlägiges Beispiel. Sie ist seit Langem in Arbeit und hat in den letzten Jahren Fahrt aufgenommen.12 Dem metamorphen Common ergeht es schlecht, wenn es auf ein Set festgelegter sozialer Positionen trifft, die miteinander gemäß strengen »systemischen« Regeln interagieren. Einige social-media-durchdrungene Versionen von Identitätspolitik tragen dergestalt – perverser, unter Umständen auch unabsichtlicher Weise – zu einer wesentlichen Gamifizierung des sozialen Spielfelds bei.13
Im Anschluss sowohl an das zuvor über die Intimität des Commons Geschriebene als auch an die Notwendigkeit, die rhythmische und anarchische Informalität der Undercommons zu bewahren, meine ich, dass »die aufrührerische Produktion von Differenzen«14, wie Moten und Harney sie freudig präsentieren, etwas beinhaltet, das ich – in direkter Fortführung der gedanklichen Geste am Ausgang meines Buches – als ein kollektives und initiatisches Verfahren wechselseitiger Verschlüsselung bezeichnen würde. Das Design von Protokollen der Selbstverteidigung durch Techniken wechselseitiger Verschlüsselung ist ein Thema, das weit über den Zweck dieses Vorwort hinausreicht. Es genügt hier der Hinweis auf zahlreiche Überschneidungen mit Lovinks und Rossiters post-autonomistischem Vorschlag, Organisationen im Social-Media-Zeitalter vor dem Hintergrund der Blockchain und krypthographischer Technologien neu zu denken:
The mass introduction of cryptography is a reassessment of the secret society as a cultural technique. […] Invisible and secret organizations have been accused of the »terror of the informal,« which is reprimanded for not being accountable. This politically correct rhetoric needs to be countered with the argument that organized networks are not public organizations or state bodies.15
Wechselseitige soziale Verschlüsselung unterscheidet sich qualitativ von der gesellschaftlichen Darstellung (social display) einer politischen Orthodoxie. Es geht ihr um den anarchischen Anteil der Undercommons und dessen Zustand einer sich fortwährend und lebhaft entwickelnden Informalität; ebenso um die Kunst, bewegliche Attraktoren für unser eigenes Werden zu setzen, sowie die je unterschiedlichen Formen, in denen wir eine geteilte Potenzialität erfahren. Techniken der wechselseitigen Verschlüsselung geht es darum, eine minimal schützende Membran zu schaffen, um den Imperativ der Transparenz und der Soziabilität zu entschärfen und zu guter Letzt, oder vielleicht paradoxerweise, die Möglichkeit zuzulassen, sich selbst in der lebhaften Materialität der Welt zu ent-falten – ein Prozess, der in letzter Konsequenz dem entspricht, was Arjuna Neuman und Denise Ferreira da Silva deep implicancy, einen Zustand des tiefen Impliziert-Seins, genannt haben.16
Möglicherweise ist die anarcho-kommunistische wechselseitige Verschlüsselung letztlich nur die ureigene Voraussetzung für die Definition und Praxis eines kleineren Übels, eine Wendung, mit der Walter Benjamin einmal seine Erfahrung und Konzeption des Kommunismus charakterisierte:
Was sollte aber auch dieser [Brief] dir Neues sagen?! Daß mein Kommunismus von allen möglichen Formen und Ausdrucksweisen am wenigsten die eines Credos sich zu eigen macht, daß er – um den Preis seiner Orthodoxie – nichts, aber gar nichts ist, als der Ausdruck gewisser Erfahrungen, die ich in meinem Denken und in meiner Existenz gemacht habe, daß er ein drastischer, nicht unfruchtbarer Ausdruck der Unmöglichkeit des gegenwärtigen Wissenschaftsbetriebes ist, meinem Denken, der gegenwärtigen Wirtschaftsform, meiner Existenz einen Raum zu bieten, daß er für den der Produktionsmittel ganz oder fast beraubten den naheligenden, vernünftigen Versuch darstellt, in seinem Denken wie in seinem Leben das Recht auf diese zu proklamieren – daß er dies alles und vieles mehr, in jedem aber nichts anderes als das kleinere Übel ist17.
Érik BordeleauBerlin im Dezember 2020
Ich sagte ihm, dass das Common (commun), das ich zuerwecken suche, und der Kommunismus (communisme) nicht –wie man im Vertrauen auf den Klang der Worte glauben könnte –lediglich durch einen Isthmus getrennt werden, der leichthintrockenen Fußes zu überqueren sei.
Es handelt sich um einen Riss, eine eigentlich unüberwindlicheVerwerfung, denn das Common ist einzig in seiner Art,während der Kommunismus das Macht-Werk der Menschen ist,die eher zum Herrschen neigen, das heißt zum Selbstglauben.
Dieses Risses gewahr zu sein und dem Common die Möglichkeit derExistenz einzuräumen, ist zweifellos die schwierigste Aufgabe,die die Menschen sich gestellt haben/sich stellen könnten.
Fernand DelignyL’arachnéen et autres textes (Übers. d. Übers.)
Welche Lehren können wir aus den Erfahrungen des Kommunismus ziehen? Inwiefern sind sie für unser heutiges Leben noch von Belang? Seit dem Fall der Berliner Mauer und der Einbindung Chinas und der postsowjetischen Staaten in das Welthandelssystem wird die kommunistische Ära häufig als Anomalie oder als historischer Zwischenfall betrachtet, als eine Art Rückschritt oder Aufschub in einer vom unaufhaltsamen Vormarsch des Kapitalismus bestimmten Geschichte. Die Konformisten geben sich meist damit zufrieden, von Zeit zu Zeit das Schreckgespenst des stalinistischen Terrors oder die Katastrophe der maoistischen Umerziehungslager heraufzubeschwören (welche sie mit den Gräueltaten der Nationalsozialist:innen gleichsetzen) und sich dabei als Verteidiger der Freiheit und unserer wohlmeinenden Demokratien zu gerieren. Wenn wir aber jegliche strukturelle Verbindung oder in ihrem Wesen begründete Mitschuld der westlichen Demokratien am Siegeszug des Totalitarismus im 20. Jahrhundert leugnen, sind wir der Gefahr einer sich wiederholenden Geschichte schutzlos ausgeliefert. Der derzeit tonangebende liberale Moralismus und seine Teleologie vom Ende der Geschichte – welche auf der befremdlichen Ansicht beruht, es sei einfacher, sich das Ende der Welt vorzustellen als das Ende des Kapitalismus – gehen von einem vollendeten und befriedeten politischen System aus und festigen so die etablierten Machtverhältnisse: Das Feld des in der demokratischen Debatte Sagbaren wird begrenzt und das Spiel der politischen Kräfte dadurch von vornherein eingehegt. Der hinkende Vergleich von Faschismus und Kommunismus, ihre Verdichtung zu einer einzigen totalitären und antiliberalen Figur, untermauert den Status quo und diskreditiert die Erkundung eines dritten politischen Weges, der sowohl progressiv als auch radikal ist – ein Begriff, den die Massenmedien bekanntermaßen kategorisch ächten und der als eine Art Abschreckungsmantra fungiert. Auf diese Weise wird laut dem slowenischen Philosophen Slavoj Žižek, der das kommunistische Regime Titos selbst erlebt hat, »die Spezifität des Subjekts des radikalen Emanzipationskampfes ausgelöscht, dieses Subjekt bleibt ›unsichtbar‹, es hat keinen Platz in der ›kognitiven Kartographie‹ des Liberalen«.1 Eine Spezifität, die getilgt oder auf plumpe Weise dämonisiert wird, wie im letzten Teil von Christopher Nolans Batman-Trilogie The Dark Knight Rises (2012), in dem eine revolutionäre »Armee der Schatten« von einem blutrünstigen Psychopathen angeführt wird. Mit seiner Erzählung einer herbeifantasierten Apokalypse – die spätestens seit dem Erscheinen von Independence Day im Jahr 1996 das Grundgerüst eines jeden Sommer-Blockbusters bildet – ist dieser Film nur eines von zahllosen Beispielen dafür, wie unsere kollektiven politischen Vorstellungen geprägt werden und die Möglichkeit eines emanzipatorischen Kampfes, der nicht ipso facto in einer Diktatur oder in der »Anarchie« mündet, ausgeschlossen wird.
Es geht mir keinesfalls darum, die im Namen des kommunistischen Ideals begangenen Gräueltaten herunterzuspielen oder nachträglich zu rechtfertigen. Ganz im Gegenteil: Um die zerstörerischen Kräfte, die das 20. Jahrhundert geprägt haben, vollkommen erfassen und ihr Vermächtnis kollektiv annehmen zu können, müssen wir sie meines Erachtens zuerst von der gegenwärtigen moralischen Inflation befreien und dadurch das eigentlich Politische an ihnen zum Vorschein bringen.2 Durch das fortwährende Argumentieren mit der Zahl der Todesopfer rückt das moralisierende Disqualifizieren diese tragischen Ereignisse in ein unwirkliches Licht. Das schadet uns allen – der Boden der Erinnerungskultur wird zwangsläufig unfruchtbar, wenn man ihn immer und immer wieder mit der oberflächlichen Heraufbeschwörung eines seiner Geschichte beraubten und dadurch »absoluten« Bösen beackert. Es ist sehr schwer geworden, den lebendigen Lauf der Geschichte zurückzuverfolgen und das Bejahende und Emanzipatorische der revolutionären Gewalt nachzuempfinden, die das 20. Jahrhundert erfasste. Vor diesem Hintergrund ist ein Nachdenken über die kommunistische Erfahrung, insbesondere über ihre subjektive und ästhetische Dimension, unverzichtbar, wenn wir unserem Wunsch nach Miteinander-Sein (être-en-commun, im Englischen: being-in-common) Konsistenz verleihen und die Defizite der neoliberalen Ordnung aufzeigen wollen.
Selbstverständlich erweisen sich das sowjetische und das maoistische Modell mit ihren diktatorischen, freiheitsbedrohenden Praktiken und ihren Plänen zur Homogenisierung der Subjektivitäten als äußerst kontraproduktiv, wenn es darum geht, kollektive Existenzweisen zu ersinnen, die fähig sind, in Resonanz mit dem zu treten, was ich als sinnliches Common (commun sensible) bezeichnen werde. Denn während das Common singulär oder einzig in seiner Art ist, wie Fernand Deligny nahelegt – etwas Ungezähmtes, das uns durchdringt, ohne dass wir uns seiner je bemächtigen können – bleibt der Kommunismus als Doktrin unweigerlich eine Abstraktion. Die Frage, ob es sich bei dieser Abstraktion um eine rettende handelt oder um eine, vor der man sich retten muss, ist komplex und vielschichtig. Im Rahmen dieses Essays werde ich mich ihr widmen, indem ich auf die Entstehung des Projekts zur Schaffung des »Neuen Menschen« eingehe – das Modell einer revolutionären, von den Konditionierungen der »alten« bürgerlichen Welt befreiten Subjektivität, welche jene »Begeisterung für ein Abstraktes« bis hin zum Terror verkörpert, die laut Hegel der eigentlichen Definition von Fanatismus entspricht. Alberto Toscano, Autor des Buches Fanaticism: On the Uses of an Idea (2010) und Shootingstar des historischen Materialismus, stellt hierzu unumwunden fest:
Vom Standpunkt seiner verbissensten Gegner ist der Kommunismus eine politische Pathologie oder Abstraktion, eine gewalttätige Leugnung irdischer Unterschiede und Gewohnheiten, die der Beschränktheit der Geschichte und der Trägheit der Natur keine Beachtung schenkt.3
In Anbetracht der ideokratischen Gewalt des kommunistischen Projekts könnten sich wohl nur Intellektuelle, die in die allumfassende Macht dieses Konzepts vernarrt sind, dem gesunden Menschenverstand des Konkreten und Bewahrenden verschließen. Ein Verdacht, den der originelle Denker und Ikonoklast Boris Groys4, mit dem wir uns in Kapitel II in Zusammenhang mit der Analyse der Kunstproduktion im Sowjetregime noch ausführlicher befassen werden, durch seine provokanten Ausführungen bestätigt. Im Gegensatz zu zahlreichen linken Denker:innen, die die Idee des Kommunismus gerne vor dem retten würden, was man unter Verwendung der üblichen prophylaktischen Anführungszeichen als »real existierenden Sozialismus« bezeichnet, betont Groys, der Kommunismus vollziehe die »totale Versprachlichung des menschlichen Schicksals«, was wiederum der Grund dafür sei, dass »jeder, der mit kritischem Bewußtsein ausgestattet ist«, eine »instinktive Vorliebe« für den Kommunismus empfinde.5 Groys betrachtet den Kommunismus in diesem Sinne als moderne Umsetzung des Platonismus: »Die Sowjetunion hat sich in der Tat als ein Staat verstanden, in dem allein die Philosophie regiert.«6
Aus diesem Streben danach, mit den Mitteln der Sprache das gesamte Leben zu beherrschen, ergibt sich eine wirkmächtige Konzeption der Einheit von Gegensätzen, der sich nicht einmal die wissenschaftliche Rationalität, so wie wir sie üblicherweise begreifen, entziehen kann. Groys’ Beweisführung folgt einer messerscharfen Logik: Wenn das Leben von Natur aus widersprüchlich ist, kann man es nur beherrschen, indem man seine Paradoxien immer weiter vertieft. Die formale Logik aber, erklärt uns Groys – und das ist das Bürgerliche an ihr –, schließt alles Paradoxe aus. Wohingegen der dialektische Materialismus das Paradox zu seinem Hauptgegenstand macht und bis in seine politischen Diskurse hinein historisiert. All das deutet darauf hin, dass sich Groys der erbitterten antiplatonischen Totalitarismuskritik entgegenstellt, die der äußerst liberale Karl Popper in seinem 1945 in London veröffentlichten Werk Die offene Gesellschaft und ihre Feinde ausgeführt hat. Die von Popper geforderte demokratische Öffnung beruht auf der erkenntnistheoretischen Annahme, dass es unmöglich ist, Gesetzmäßigkeiten zu bestimmen, die den Gesamtverlauf der Geschichte lenken. Poppers Behauptung, sein berühmtes »Prinzip der Falsifizierbarkeit« stelle das Abgrenzungskriterium für Wissenschaftlichkeit dar, steht im Widerspruch zum umfassenden Anspruch des dialektischen Materialismus und erlangt dadurch eine ungeahnt politische Tragweite.
Angesichts der schwindelerregenden Wirkung von Groys’ unweigerlich paranoiden Deutungen des Kommunismus möchte man sich eher auf der Seite der Vernunft wissen – so wie eine britische Besprechung von Alain Badious Pamphlet Wofür steht der Name Sarkozy? (2008), das kurz nach seinem Erscheinen in Frankreich bereits eine Verkaufsauflage von 60.000 Exemplaren erreicht hatte:
Wenn er Mao zustimmend zitiert und sich unschlüssig ist über die positiven und negativen Aspekte der Kulturrevolution, fällt es schwer, nicht einen gewissen Stolz auf den banalen angelsächsischen Empirismus zu empfinden, der uns gegen die Tyrannei der reinen politischen Abstraktion feit.7
Nebenbei bemerkt hat ebenjener Badiou 2012 eine zeitgenössische Adaption von Platons Der Staat veröffentlicht, die ursprünglich unter dem Titel Du commun(isme) erscheinen sollte, zweifellos um die ideelle Seite von Platons philosophisch-politischer Unternehmung deutlich zu machen. Darin finden sich unter anderem das berühmte – in ein Kino verlagerte – Höhlengleichnis ebenso wie ein von den »Computer[n] für debile Multikonversation«8 angewiderter Sokrates, der Freud, Stalin und Mao zitiert und sich fragt: »Was soll man, angesichts dessen, was die gegenwärtig vorherrschende Erziehung an Reaktionärem, an rein Konservativen, ja an völlig Nichtigem produziert, anderes tun, als umzuerziehen?«. Hüten wir uns jedoch vor Sarkasmus und Spott: Badiou unterbreitet eine Theorie der politischen Inkorporation, auf die ich im letzten Teil dieses Essays zurückkomme und für die ich mich gern seiner Analyse des revolutionären subjektiven Säuberungsmechanismus unter Mao bedienen werde.
Unmittelbar betrachtet wirft uns die Frage der politischen Abstraktion unweigerlich auf einen der beiden Antipoden des sterilen Gegensatzes von Konkretheit und Idealismus, Konservatismus und Revolution zurück. Als fände Gewalt nur im Namen der Abstraktion statt! Es ist zugegebenermaßen leicht, und gelegentlich lebensnotwendig, die kommunistische Rigidität ins Lächerliche zu ziehen, wie wir in Kapitel III über die profanierende Wirkung der chinesischen Kunstrichtung des Political Pop sehen werden. Keineswegs minder amüsant ist allerdings auch der gute alte Quebecer Konservatismus mit seinem trotteligen Getue und seinem lähmenden Anti-Intellektualismus – um ein ebenso peinliches wie naheliegendes Beispiel herauszugreifen. »In den Augen der Leute, die nirgendwo hingehen, geht man immer zu weit«, wie der kanadische Regisseur und Aktivist Pierre Falardeau auf die Radikalismusvorwürfe gegenüber den Intellektuellen erwiderte. Dieses Nirgendwo ist im Übrigen der Ort einer recht trostlosen Utopie: eine Welt, die weder Hiatus noch Brüche kennt und die voll und ganz von wirtschaftlichen Zwängen überdeterminiert wird; eine Welt, in der alles auf die rohe und kompakte Evidenz des Überlebens ausgerichtet wäre; eine Welt, in der wir endlich von der Erfahrung der unvermeidlichen Lücke befreit wären, die der Existenz Spielraum verleiht, Potenzialitäten, die in jedem Da-Sein (être-là) persistieren.
Im Vorfeld ihrer Anwendung lässt sich die programmatische Gewalt des historischen Kommunismus leichter identifizieren als die – systemische und anonyme – des Kapitals. Denn Politik trägt, auf die eine oder andere Weise, die Notwendigkeit der Benennung in sich. Sie dreht sich um Bezüge, Slogans, Aussagen und Versprechen, um Programme und Parteien, die ihr Konsistenz und Aktualität verleihen und eben dadurch ihre Zuschreibung ermöglichen. Der Kommunismus als politisches Projekt bejaht in diesem Sinne die Souveränität der Politik gegenüber der Wirtschaft. Im Gegensatz dazu erweckt der Kapitalismus als Wirtschaftsordnung den Eindruck, aus sich selbst heraus zu funktionieren. Die Diktatur der Märkte ist gesichtslos, und Marx scheint ohne klar identifizierbaren Gegner machtlos. Nach Ansicht von Grégoire Chamayou, Wissenschaftler am renommierten französischen Forschungszentrum CNRS und Autor einer bemerkenswerten Theorie der Drohne (2014), ist diese Situation nicht bloß strukturell bedingt, sondern das Ergebnis von Verschleierungsstrategien:
Wo ist das Subjekt der Macht? Es ist stets genau dort, wo es sich angestrengt darum bemüht, nicht aufzufallen. Und ebendiese intensiven Verschleierungsbestrebungen sind es, die seine subjektive Gegenwart verraten.
Die herrschende Gewalt wendet heutzutage paradoxerweise selbst den alten Guerillagrundsatz an: Beraube deinen Feind des Feindes.9
Die Formen kapitalistischer Herrschaft entfalten ihre Wirksamkeit im Verborgenen und sind in der Lage, ein komplexes und nicht wahrnehmbares Netz von Abstraktionen zu bilden. Marx erklärt hierzu ohne Umschweife, »daß die Individuen nun von Abstraktionen beherrscht werden, während sie früher voneinander abhingen.«10 Wie kann es gelingen, unter diesen Voraussetzungen die Funktionsmechanismen der Macht aufzudecken? Wie schafft man es, Einfluss auf die scheinbar glatte und verzauberte Rationalität des Finanzmilieus zu erlangen? Die Aufstände, die sich 2011 ausgehend vom New Yorker Zuccotti Park in allen Ecken der Welt erhoben haben, standen vor derselben Herausforderung: Wie lässt sich eine Abstraktion besetzen (»How to Occupy an Abstraction?«)11? Es gibt sehr wohl einen einfachen und direkten Weg: Anstatt die neoliberale Herrschaft im Allgemeinen anzuprangern, kann man die Anatomie ihrer Schaltkreise aufdecken, wie zum Beispiel Geoffrey Geuens mit seinem Blick in »Das Gesicht der Märkte«, in dem er dasjenige der Oligarchie erkennt,12 oder die Narrative Structures von Mark Lombardi, ein neokonzeptueller amerikanischer Künstler, der von der abstrakten Malerei (die er bis 1994 betrieb) dazu überging, großformatige Zeichnungen von weitreichenden Netzwerken internationaler Akteure anzufertigen, die in diverse politische und finanzielle Machenschaften verstrickt sind. Lombardis Selbstmord im Jahr 2000 nährte nicht nur den Mythos des Verschwörungskünstlers, der bereit ist, dem Tod die Stirn zu bieten, um die Intrigen der Mächtigen zu entlarven, er bestärkte auch diejenigen in ihren Überzeugungen, die Verschwörungstheorien als simple psychopathologische Erscheinungen abtun.13
Eine kritische Karte der Machtbeziehungen zwischen Finanzimperien, Großkonzernen, Institutionen und Regierenden zu erstellen, ist ein wirkungsvolles Mittel, um die ökonomischen und politischen Kräfte offenzulegen, von denen unsere Welt bestimmt wird. Aber die kartografischen Bemühungen dürfen an dieser Stelle nicht haltmachen. Es reicht nicht aus, die Mechanismen der Realwirtschaft aufzudecken: Es ist ebenso notwendig, neue Beziehungsdiagramme zu skizzieren und kollektive Gefüge zu entwerfen, die es uns erlauben, uns von den Mechanismen zu befreien, die uns unterwerfen und emotional binden. Das Kapital nährt sich in der Tat von unseren atomisierten Leben; genauer gesagt, es produziert private Subjektivitäten, die als aktive Räume der Valorisierung angelegt sind. Ich werde versuchen, dies in Kapitel I mittels einer Analyse des Werks der kanadischen Künstlerin Melanie Gilligan zu veranschaulichen. Dieser Prozess, der unsere Existenzen zu Valorisierungstrajektorien macht, wird immer effektiver. Wirklich neu ist er jedoch nicht. Schon Marx’ Theorie basiert auf ebenjenem Gedanken, dass die kapitalistische Produktion nicht nur ein Objekt für ihr Subjekt darstellt, sondern auch ein Subjekt für ihr Objekt, und ist von Anfang an eine vernichtende Kritik der liberalen Fiktion par excellence: die Fantasie einer vollkommen ungebundenen, »freien« individuellen Existenz, welche gegenwärtig im großstädtischen ästhetischen Ideal eines Lebens in einem reibungslosen Universum gipfelt.14 Die Marx’sche Kritik des existenziellen Liberalismus und des Warenfetischismus bietet bereits genug Stoff, um zu belegen, dass die kommunistische Idee zweifelsohne aktuell ist (ganz zu schweigen von seinen Theorien des Mehrwerts, der Arbeitskraft und anderer »Realabstraktionen«). Bis heute lassen sich unzählige Abwandlungen dieser Themen im kritischen Denken finden. Um bei den Vorreitern zu bleiben, sei an die Stelle im Anti-Ödipus erinnert, an der Deleuze und Guattari beschreiben, wie der Kapitalismus mit dem ödipalen Dispositiv zur Produktion von Privatpersonen zusammenwirkt;15 oder an die lapidare Textstelle in Die uneingestehbare Gemeinschaft, in der Blanchot im Bestreben, die Bilanz aus der kommunistischen Erfahrung zu ziehen, erklärt: »[D]as isolierte Wesen ist das Individuum, und das Individuum ist nur eine Abstraktion, die Existenz, wie die schwachsinnige Auffassung des geläufigen Liberalismus sie sich vorstellt.«16 Denn das kommunistische Projekt zur Abschaffung des privaten Eigentums – und nicht des persönlichen, wie Daniel Bensaïd im Anschluss an Paul Sereni in