Das Demokratiedefizit der EU nach dem Vertrag von Lissabon - Rainer Bollmohr - E-Book

Das Demokratiedefizit der EU nach dem Vertrag von Lissabon E-Book

Rainer Bollmohr

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Beschreibung

"Die Einheit Europas war ein Traum von wenigen. Sie wurde eine Hoffnung für viele. Sie ist heute eine Notwendigkeit für uns alle." Ist diese Feststellung von Konrad Adenauer in der Regierungserklärung vom 15.12.1954 heute noch mehrheitsfähig? In einer Zeit, in der die neu eingeführte Möglichkeit zum Austritt aus der EU tatsächlich genutzt wird, in der es jährlich über 1.000 Verstöße der Mitgliedstaaten gegen das EU Recht gibt, in der sich der Kommissionspräsident bereits drei Wochen nach Amtsantritt gegen ein Misstrauensvotum des Europäischen Parlaments wehren muss und in der die gemeinsame Antwort auf die Flüchtlingsfrage darin besteht, andere Staaten aufzufordern, die durchreisenden Flüchtlinge gegen Geld bei sich zu behalten. Noch überwiegt das Positive wie der gemeinsame Markt, die gemeinsame Währung und die vier Grundfreiheiten (Warenverkehr, Kapital, Dienstleistung, Personen inkl. Arbeitnehmerfreizügigkeit) sowie zumindest in Mitteleuropa die gelungene Kriegsvermeidung seit über 70 Jahren. Die mitunter noch zaghafte Redistribution zeigt Ergebnisse und erzeugt Wirtschaftswachstum. Das Gleiche gilt für die Umweltpolitik. Welche Bedeutung hat in dieser Situation ein mögliches Demokratiedefizit der Europäischen Union nach dem Vertrag von Lissabon? Welche Bedeutung haben die nationalen Parlamente für eine Demokratisierung der EU? Diesen Fragen geht Rainer Bollmohr in seiner Arbeit nach.

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Wissenschaftliche Beiträge aus dem Tectum Verlag

Reihe Politikwissenschaften

Wissenschaftliche Beiträge aus dem Tectum Verlag

Reihe Politikwissenschaften Band 72

Rainer Bollmohr

Das Demokratiedefizit der EU nach dem Vertrag von Lissabon

Der Einfluss der erweiterten Kompetenzen der nationalen Parlamente am Beispiel des Deutschen Bundestages

Tectum Verlag

Rainer Bollmohr

Das Demokratiedefizit der EU nach dem Vertrag von Lissabon

Der Einfluss der erweiterten Kompetenzen der nationalen Parlamenteam Beispiel des Deutschen Bundestages

Wissenschaftliche Beiträge aus dem Tectum Verlag,

Reihe: Politikwissenschaften; Bd. 72

© Tectum Verlag – ein Verlag in der Nomos Verlagsgesellschaft, Baden-Baden 2017

ISBN 978-3-8288-6856-4

ISSN 1869-7186

(Dieser Titel ist zugleich als gedrucktes Buch unter der ISBN978-3-8288-3957-1 im Tectum Verlag erschienen.)

Zugl. Dissertation Goethe-Universität Frankfurt am Main 2016

Siegelziffer D.30

Umschlaggestaltung: Tectum Verlag, unter Verwendung des Bildes #103281789 von fotostar,www.fotolia.com

Alle Rechte vorbehalten

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Vorwort

Die vorliegende Arbeit ist eine gekürzte Fassung meiner Dissertation, welche vom Fachbereich Gesellschaftswissenschaften der Goethe-Universität Frankfurt am Main im Jahr 2016 angenommen wurde.

Das Demokratiedefizit der Europäischen Union wird seit dem Vertrag von Maastricht 1992 diskutiert, und es gibt zahlreiche auch vertragliche Lösungsansätze. Zuletzt war es der nicht wirksam gewordene Verfassungsvetrag 2005, der im Vertrag von Lissabon 2009 aufging. Repräsentative Demokratie als Grundlage der Arbeitsweise und Stärkung der Parlamente sowie die Einführung der Bürgerinitiative und der doppelten Mehrheit sollten das Demokratiedefizit verringern. Es war das Ziel dieser Arbeit, in einem Vergleich vor und nach dem Vertrag von Lissabon und unter Zugrundelegung eines postnationalen Demokratiemodells zu prüfen, ob und wie durch die Erweiterung der Kompetenzen der nationalen Parlamente insbesondere am Beispiel des Deutschen Bundestages das Demokratiedefizit verringert wurde.

Für mich war die Erstellung dieser Arbeit eine besondere Herausforderung in verschiedener Hinsicht. Zum einen bin ich zwar Diplom-Politologe, habe aber als solcher nie gearbeitet, sondern war Manager und Unternehmensberater in Wirtschaftsunternehmen und bin damit also Quereinsteiger. Zum anderen war ich bei der Zulassung als Doktorand bereits im 70. Lebensjahr. Ohne die intensiven Gespräche mit dem leider zu früh verstorbenen Prof. Dr. Josef Esser, dem ich auch diese Arbeit widme, hätte ich den Versuch nie gewagt. Als er die Betreuung aus gesundheitlichen Gründen zurückgeben musste, hat sich die Nachfolgerin auf dem Lehrstuhl, Frau Professorin Dr. Brigitte Geißel, bereit erklärt, die Betreuung zu übernehmen. Dafür möchte ich mich besonders bedanken.

Ich danke ihr auch für die Erstellung des Erstgutachtens und Frau Professorin Dr. Sandra Eckert für das Zweitgutachten.

Besonderer Dank gilt auch Frau Dr. Birgit von Pflug, Leiterin des Referats Europa-Dokumentation in der Bundestagsverwaltung. Sie hat mir schwer verständliche Sachverhalte und Zusammenhänge erklärt, und mir Informationen zugänglich gemacht, die man weder gezielt suchen noch zufällig finden kann. Ich danke auch Herrn Dr. Volker Manz für seine kritische Begleitung und guten Ratschläge.

Schließlich danke ich meiner Frau Anne für ihr Verständnis und ihre Unterstützung beim Korrekturlesen und dem Auspendeln der Hänger und negativen Stimmungen.

 

 

Frankfurt, im März 2017

Rainer Bollmohr

Inhaltsverzeichnis

Abbildungsverzeichnis

Abkürzungen

1Einleitung, Forschungsfrage und Gang der Untersuchung

2Ein Demokratiemodell für die Europäische Union

2.1Demokratietheorien

2.2Darstellung eines Demokratiemodells der EU

2.3Erläuterungen zum Demokratiemodell

2.3.1Gemeinsame Bestimmungen und Grundsätze

2.3.2Wahlen und Entscheidungsformen

2.3.3Legitimation im Demokratiemodell

2.3.4Demokratische Kontrolle

Exkurs: Kontrolle durch das Subsidiaritätsprinzip

2.3.5Die EU aus der Sicht des Demokratiemodells

3Das Demokratiedefizit der Europäischen Union

3.1Das strukturelle Demokratiedefizit

3.2Das institutionelle Demokratiedefizit

3.2.1Das Legitimationsdefizit

3.2.2Das Repräsentationsdefizit

3.2.3Das Partizipationsdefizit

3.3Das Demokratiedefizit der EU im Vergleich mit dem Demokratiemodell

3.3.1Zusammenfassung der Defizite

3.3.2Vergleich des Demokratiedefizits mit dem Demokratiemodell

3.4Operationalisierung des Demokratiedefizits

3.4.1Beschreibung der Indikatoren

3.4.2Vergleich der Indikatoren vor und nach dem Vertrag von Lissabon

3.4.3Zusammenfassung

4Empirische Untersuchung der europapolitischen Arbeitsabläufe im Deutschen Bundestag im Jahr 2011

4.1Datenfluss von der EU zum Deutschen Bundestag

4.2Analyse der Kommissionsvorschläge und deren Bearbeitung im Deutschen Bundestag

4.2.1Vergleich der Befassung mit EU-Angelegenheiten in den Bundestags-ausschüssen 2008 zu 2011

4.2.2Bearbeitung der KOM-Dokumente im Deutschen Bundestag

4.2.3Zusammenarbeit des Deutschen Bundestages mit der EU

4.3Zwischenfazit

5Ergebnisse der empirischen Untersuchung – der Beitrag des Deutschen Bundestages zu Legitimation, Transparenz und Politisierung der EU

5.1Legitimation durch den Deutschen Bundestag

5.2Beitrag des Deutschen Bundestags zur Transparenz der EU-Rechtsetzung

5.3Beiträge des Deutschen Bundestages zur Politisierung der EU

6Fazit und Ausblick

6.1Fazit

6.2Ausblick

Anhang

Vergleich des Demokratiedefizits der Europäischen Union vor und nach dem Vertrag von Lissabon

Hinweis auf weitere Auswertungen und Dokumente

Quellen- und Literaturverzeichnis

Quellen

Europäische Union

Deutschland

Sonstiges

Literatur

Abbildungsverzeichnis

Abbildung 1:Demokratiemodell nach Dahl

Abbildung 2:Schema Demokratiemodell der EU

Abbildung 3:Demokratiemodell mit Berücksichtigung EUV, AEUV und Dahl

Abbildung 4:Vertrauen in die EU

Abbildung 5:Zustimmung durch Bundestag und Bundesrat entsprechend dem Integrationsverantwortungs-gesetz

Abbildung 6:Ebenen im Mehrebenensystem der EU

Abbildung 7:Vertikale und horizontale Zuständigkeiten

Abbildung 8:Zusammenfassung des Vergleichs des Demokratiedefizits der Europäischen Union vor und nach dem Vertrag von Lissabon

Abbildung 9:Veränderung der Defizite

Abbildung 10:Quantitativer Vergleich der Tagesordnungs-punkte der Ausschüsse mit EU-Fragen 2008/2011

Abbildung 11:Auswertung der KOM-Dokumente 2011 aus EUR-Lex und den Tagesordnungen der Bundestagsausschüsse

Abbildung 12:Inhalte der 2011 nicht in Ausschüssen behandelten KOM-Dokumente

Abbildung 13:Anzahl der KOM-Dokumente 2011 pro Ausschuss

Abbildung 14:Anzahl der Stellungnahmen gemäß Artikel 23 GG

Abbildung 15:Begründete Stellungnahmen 2011 nach Rechtsetzungsorganen

Abkürzungen

AAnhörung

AdRAusschuss der Regionen

AEUVVertrag über die Arbeitsweise der Europäischen Union in der Fassung vom 26.10.2012

AStVAusschuss der Ständigen Vertreter der Mitgliedstaaten

Az.Aktenzeichen der Drucksache des Deutschen Bundestages

BRBundesregierung

BVerfGBundesverfassungsgericht

BVerfG 2009Urteil zum Vertrag von Lissabon vom 30.06.2009 2 BvE 2/08

COREPERComité des Représentants Permanents (Ausschuss der Ständigen Vertreter der Mitgliedstaaten, auch AStV)

COSACConférence des organes spécialisés dans les affaires communautaires et européennes des Parlements de l’Union européenne (Konferenz der Ausschüsse für Gemeinschafts- und Europaangelegenheiten der Parlamente der Europäischen Union)

EEinwohner

ebd.ebenda, gleicher Titel wie zuvor

EBIEuropäische Bürgerinitiative

EGVKonsolidierte Fassungen des Vertrages zur Gründung der EG in der Fassung vom 24.12.2002 (Nizza)

EKEuropäische Kommission

EmEmpfehlung

EPEuropäisches Parlament

EREuropäischer Rat

EUEuropäische Union

EuGHDer Gerichtshof der Europäischen Union

EUVVertrag über die Europäische Union in der Fassung vom 26.10.2012

EUZBBGGesetz über die Zusammenarbeit von Bundesregierung und Deutschem Bundestag in Angelegenheiten der Europäischen Union

EUZBLGGesetz über die Zusammenarbeit von Bund und Ländern in Angelegenheiten der Europäischen Union

EZBEuropäische Zentralbank

FnFußnote

GGGrundgesetz für die Bundesrepublik Deutschland

GOGeschäftsordnung des Deutschen Bundestages

Hoher VHoher Vertreter der Union für Außen- und Sicherheitspolitik

InvbankEuropäische Investitionsbank

IntVGGesetz über die Wahrnehmung der Integrationsverantwortung des Bundestages und des Bundesrates in Angelegenheiten der Europäischen Union

i. V. m.in Verbindung mit

KOM/COMDokumente der Europäischen Kommission, z. B. Vorschläge für angenommene Rechtsakte, Mitteilungen, Berichte usw., versehen mit der entsprechenden Jahreszahl und einer fortlaufenden Nummer

MMitteilung

MSMitgliedstaat(en)

NPnationale Parlamente

ProtokollAls Anhang zum EUV gibt es 37 Protokolle, die Bestandteile der Verträge sind (Art. 51 EUV). Beispiel: Protokoll (Nr. 2) über die Anwendung der Grundsätze der Subsidiarität und der Verhältnismäßigkeit

QMqualifizierte Mehrheit

Ratsdok.Dokumente des Rats der Europäischen Union, oft parallel zu KOM

ReHRechnungshof

RNRandnummer in Urteilen des Bundesverfassungsgerichts

SSitze

sicso in der Quelle

StStimmen

UUnterrichtung

ÜAÜberweisung an die Ausschüsse

VVorschlag

VEUVertrag über die Europäische Union in der Fassung vom 24.12.2002

VvLVertrag von Lissabon

WiSozAWirtschafts- und Sozialausschuss

ZZustimmung

[ ]Ergänzungen des Verfassers

1Einleitung, Forschungsfrage und Gang der Untersuchung

Die Europäische Union (EU) ist der freiwillige Zusammenschluss von inzwischen 28 souveränen Staaten. Die sechs Gründerstaaten wollten Anfang der 1950er Jahre die Konfliktregion Mitteleuropa befrieden und die gemeinsame Wirtschaftskraft stärken. Die Ziele waren die Integration Deutschlands zur Vermeidung einer erneuten Kriegsgefahr in Europa, die Bildung eines Gegengewichts sowohl zur UdSSR als auch zu den USA sowie die optimale Nutzung der knappen Ressourcen nach dem Zweiten Weltkrieg. All dies mündete in die Schaffung eines gemeinsamen Marktes (Präambel Vertrag EGKS 1952; Pistone 2008; Weidenfeld 2009: 19). Im Wesentlichen sind diese Ziele erreicht worden. Aus den Anfängen hat sich ein Gebilde sui generis, ein Staatenverbund, ein Mehrebenensystem, eine Union entwickelt, die die Anforderungen der Globalisierung (Lempp 2009: 177) im 21. Jahrhundert zu bewältigen sucht und die sich auf dem Wege zur politischen Union befindet. Es gibt keine Vorlage und keine finale Vorstellung (Scharpf 2004: 3), aber es gibt den starken Willen zur Integration gemäß dem Motto aus dem Jahr 2000: „In Vielfalt geeint“.1

Die immer stärker werdende Integration und Einbeziehung weiterer Politikfelder spätestens seit dem Vertrag von Maastricht 1992 erforderten dabei eine stärkere Demokratisierung und Legitimation der europäischen Institutionen. Zur Demokratisierung trugen die immer weiter entwickelten Rechte des Europäischen Parlaments, die kontinuierliche Reduzierung der Einstimmigkeit2 in den Räten und die Klärung der Zuständigkeiten bei, zur Verbesserung der Legitimation die Direktwahl des Europäischen Parlaments (EP), die Wahl, das Zustimmungsvotum und die Kontrolle der Europäischen Kommission durch das EP sowie direktdemokratische Elemente und intensivere Kommunikationsaktivitäten der Kommission mit den nationalen Parlamenten und den BürgerInnen. Schon frühzeitig wurde aber auch befürchtet, dass die Stärkung des EP eine Schwächung der nationalen Parlamente hervorrufen könnte bzw. die eher föderale Funktionsweise des EP und die eher intergouvernementalistische Legitimationsvermittlung der nationalen Parlamente sich konterkarieren könnten (u. a. Dann 2004: 269). Dennoch haben die nationalen Parlamente im Vertrag von Lissabon (VvL) mehr Rechte auf europäischer Ebene erhalten, um so die Legitimation der EU zu stärken. Insofern ist eine ganze Reihe an Maßnahmen ergriffen worden, um dem Demokratiedefizit der EU zu begegnen und das Legitimationsvertrauen der BürgerInnen zu erhöhen. Nicht zuletzt angesichts der aktuellen krisenhaften Entwicklungen stellt sich die Frage, inwiefern dies gelungen ist. Es ist daher die Intention der vorliegenden Arbeit, anhand der Praxis zu überprüfen, in welchem Maße dieses Ziel erreicht wurde. Neue Möglichkeiten machen nur Sinn, wenn sie genutzt werden. Es soll der Frage nachgegangen werden, ob im Bundestag in der Behandlung von EU-Angelegenheiten Veränderungen im Vergleich zu dem Verhalten vor dem VvL zu erkennen sind.

Die Wahrnehmung eines Demokratiedefizits liegt auch in der Komplexität des EU-Systems begründet (u. a. Huget 2007: 50; Weidenfeld 2009: 120; Sonnicksen 2010: 158). Komplexität ist im Grunde kein Demokratiehemmnis, aber, wie später noch näher aufgezeigt werden wird, ist die Kenntnis der Sachverhalte, der Zuständigkeiten und der Verantwortlichkeiten Voraussetzung für die Legitimierung politischer Entscheidungen. Die Regierten sollten zumindest eine theoretische Möglichkeit haben, das Handeln der Regierenden zu erkennen und zu beurteilen.

Die EU ist kein Superstaat, der in einem hierarchischen Verhältnis zu den Mitgliedstaaten steht. Vielmehr gibt es einen stark ausgeprägten Dualismus (Hertel 1999: 165; Weiler in Scharpf 1999: 52) zwischen der EU und den Mitgliedstaaten. In fast allen Mitgliedstaaten gibt es Strömungen, die eine Organisation in Form der Supranationalität3 bevorzugen, während andere dem Intergouvernementalismus (Raunio 1999: 181) den Vorrang geben. Noch ist nicht entschieden, welche Variante sich durchsetzen wird.4 Der Dualismus bezieht sich aber auch auf Doppelfunktionen in den Strukturen der EU. So hat die Europäische Kommission sowohl legislative als auch exekutive Funktionen, und die Räte sowie die Ständigen Vertreter (Art. 240 AEUV) beachten sowohl nationale als auch EU-Interessen und haben sowohl vertikale als auch horizontale Zuständigkeiten. Einem möglichen Souverän der EU wird daher die Wahrnehmung der und die Partizipation an Entscheidungsverfahren erschwert. Das schwer Erkennbare und Zurechenbare der Verantwortlichkeiten setzt sich in den nationalen Parlamenten fort. Zum Beispiel setzen die nationalen Parlamente und Exekutiven die von der EU beschlossenen Sachverhalte in der Realität um, ohne dass die BürgerInnen ausreichend über die Zusammenhänge informiert werden. Dies wird bei der späteren Erörterung eines Legitimationskonzepts für die EU noch näher zu erläutern sein.

Die Einflussmöglichkeiten der Mitgliedstaaten, die die Zukunft der EU primärrechtlich über die Verträge steuern und die sekundärrechtlich über den Rat parallel zu ihren nationalen Institutionen Entscheidungen treffen, sind so groß, dass eine Prüfung der Legitimität auch im Hinblick auf nationalstaatliche Auswirkungen vorgenommen werden muss.5 Nach außen haben kleinere Staaten durch ihre Mitgliedschaft in der EU an Bedeutung gewinnen können, innerhalb der EU wird der Einfluss dieser Mitgliedstaaten gestützt durch die degressive Proportionalität bei der Sitzverteilung nach Mitgliedstaaten im EP (Art. 14 EUV) sowie durch die Stimmengewichtung im Rat der EU (Art. 16 EUV, Art. 238 AEUV, Protokoll 36 Titel II).

Der Dualismus betrifft auch die Souveränität der Mitgliedstaaten und die Legitimität der Institutionen der EU. Beides sollte durch eine Verfassung klarer definiert werden. Nach dem Scheitern der Verfassung wurde als Kompromiss mit fast gleichen Inhalten der VvL geschlossen. Es ist im Verlauf dieser Arbeit zu prüfen, ob Souveränität6 und Legitimation7 teilbar und/oder delegierbar sind. Die bisherige Diskussion über das Demokratiedefizit befasst sich mit diesen Aspekten und kommt zu unterschiedlichen Auffassungen.

In Wissenschaft und Politik haben die Neuerungen im Vertrag von Lissabon zur Verbesserung der demokratischen Strukturen der EU nur wenig Beachtung gefunden, insbesondere in Bezug auf die Rolle der nationalen Parlamente in EU-Angelegenheiten (Sprungk 2013: 551). Zum Teil wurden viele Erörterungen bereits nach der Erklärung von Laeken (2001), während des Verfassungskonvents (2002/2003) und vor dem Inkrafttreten des VvL (2009) geführt (pars pro toto: Abromeit 2001, 2002, 2003; Beck/Grande 2004; Benz 2003, 2009, 2010; Calliess 2004; Dann 2004; Habermas 2007; Hix 2003; Jachtenfuchs 2002; Kohler-Koch 2004; Maurer 2001, 2003, 2004; Moravcsik 2002, 2004, 2008; Tömmel 2001, 2006, 2008).

Unter Umständen lag es daran, dass das Demokratiedefizit als gering oder als gar nicht vorhanden eingeschätzt wurde.8 Es entsteht der Eindruck, dass die Änderungen möglicherweise als so marginal angesehen wurden, dass eine nähere Betrachtung nicht für erforderlich gehalten wurde.9 Es ist jedoch auch denkbar, dass die 2009 beginnende Eurokrise – eine Mischung aus übermäßiger Staatsverschuldung vor allem einiger Mitglieder des Euroraums, dem Fehlverhalten von Großbanken und einer Wirtschaftskrise – Demokratieprobleme als nebensächlich erscheinen ließ10 und sogar befürchtet wurde, dass die EU an der Eurokrise zerbrechen könnte (Habermas 2011 b: 112 ff; Mundell 201311). Das wird auch dadurch deutlich, dass der Euro seit seiner Einführung als ein wesentliches Integrationsinstrument dargestellt wurde, das nun gefährdet schien (Meyer 2014: 1 f). Die Krise dauert an und hat sich eher desintegrierend ausgewirkt, da viele Maßnahmen vom Europäischen Rat, also den Regierungschefs, an den nationalen Parlamenten und dem EP vorbei, getroffen wurden, meist keine Wirkung erzielten und außer einigen Finanzinstituten keine Gewinner zurückließen. Nationale Parlamente und Verfassungsbeschwerden blieben im Bemühen, die Gefahr der Vergemeinschaftung von Staatsverschuldung zu reduzieren, wirkungslos.12 Im Verlauf der Krise wurde zudem erkennbar, dass Verträge und Vereinbarungen von Mitgliedstaaten häufig nicht eingehalten13 und Bestimmungen des EUV mitunter stark überdehnt wurden.14 Bei der Nichteinhaltung von Rechtsakten der EU geht es in weniger als 30 % der Fälle um verspätete Umsetzung.

Auch die Organe der EU vermitteln nicht den Eindruck, als hätte die EU ein Demokratieproblem. Sie vertrauen da ganz auf die Mitgliedstaaten.

„Das Verhältnis der Europäischen Union (EU) zur Demokratie ist ein ambivalentes. Einerseits leistet die EU einen entscheidenden Beitrag zur Stabilisierung und Demokratisierung eines ganzen Kontinents. Andererseits ist nicht zu übersehen, dass der europäische Integrationsprozess – dem im EU-Vertrag an prominenter Stelle platzierten Demokratie-Bekenntnis zum Trotz – unter gewissen ‚Demokratiedefiziten‘ leidet“ (Biaggini 2005: 349).

Die hier zu untersuchende Problemstellung basiert auf den zahlreichen Versuchen15, das Demokratiedefizit der EU durch Veränderungen des Primärrechts institutionell zu verringern, und prüft zunächst durch einen Vergleich der Defizite vor und nach dem Vertrag von Lissabon, ob Verbesserungen erkennbar sind und ob die neuen Möglichkeiten der nationalen Parlamente daran ggf. einen Anteil haben. Anschließend wird in einer empirischen Untersuchung am Beispiel des Deutschen Bundestages überprüft, ob die neuen Regelungen auch zu geänderten Verfahrensweisen innerhalb der Abläufe des Parlaments und gegenüber der EU geführt haben.

Daraus ergibt sich die folgende Hypothese, die es in der Dissertation zu überprüfen gilt:

Durch den VvL sind den nationalen Parlamenten neue Aufgaben und Verantwortlichkeiten auf europäischer Ebene eingeräumt worden. Wenn dadurch das Demokratiedefizit der EU nachhaltig verringert wurde, dann wird dies an den Arbeitsabläufen und den Beschlüssen der nationalen Parlamente – in der vorliegenden Untersuchung des Deutschen Bundestages – in Bezug auf die geplanten Vorhaben der EU Kommission ablesbar sein.

Die Rolle der nationalen Parlamente kann künftig umso wichtiger werden, als die EU nicht als alleinige Trägerin des Systems gesehen werden kann, sondern Funktionen der Mitgliedstaaten immer mehr mit eingebunden werden, so dass sich kein wirkliches supranationales Demokratiemodell ergibt (Habermas 2011; Abromeit 2001, 2003). Dies zeigt sich auch an der mangelnden Durchsetzbarkeit der getroffenen Maßnahmen, da eine supranationale Struktur nicht aus einem Demos, sondern aus verschiedenen Demoi besteht, wodurch Top-down-Strukturen eingeschränkt sind (Bohman 2007: 44).

Aus der Sicht der nationalen Exekutiven hat die EU-Policy viele transnationale Elemente, und das wird von diesen auch so verstanden.

„Transnationale Politik erscheint bis heute als Außenpolitik, mithin als klassische Handlungsprärogative der Exekutive, unabhängig davon, ob sie in internationalen Organisationen und Regimen oder im supranationalen Raum stattfindet. Doch ist der Unterschied zwischen Internationalität und Supranationalität essentiell. Der durch die europäische Integration konstituierte supranationale Raum meint eine neue Ordnung als Einheit, in der die alten nationalen Ordnungen aufgehoben werden sollen. Dies hat mit Außenpolitik nichts mehr zu tun“ (Puntscher Riekmann 1997: 92).

Der britische Volksentscheid im Juni 2016 über den Austritt Großbritanniens aus der EU macht Maßnahmen erforderlich, die die EU und die Mitgliedstaaten wieder mehr zueinander führen könnten. Da könnten die nationalen Parlamente eine wichtige Rolle spielen. Die Beantwortung der Forschungsfrage kann darauf eine Antwort geben, bezogen auf die Verhältnisse des Jahres 2011. Das Primärrecht hat sich seitdem in den entscheidenden Zusammenhängen nicht wesentlich geändert.

Die Forschungsfrage

Die Dissertation möchte einen Beitrag zur Klärung der Frage leisten, ob die Neuregelungen der Kompetenzen der nationalen Parlamente dazu geeignet sind, ein mögliches Demokratiedefizit der Europäischen Union zu verringern. Zu diesem Zweck soll am Beispiel des Deutschen Bundestages quantitativ geprüft werden, ob und wie sich die europapolitischen Aktivitäten des Deutschen Bundestags entwickelt haben. Dies bezieht sich sowohl auf die im Grundgesetz und in den Begleitgesetzen zum VvL festgeschriebenen Rechte als auch auf die Möglichkeiten, die im VvL neu definierten Aufgaben wahrzunehmen, und zwar die Kontrolle der nationalen Regierungen in europapolitischen Angelegenheiten (Art. 10 EUV) sowie die Überwachung der Anwendung der Grundsätze der Subsidiarität und Verhältnismäßigkeit (Art. 12 EUV).

Bemühungen um eine Demokratisierung der Europäischen Union sind seit Ende der 1970er Jahren zu beobachten. Das reicht von der ersten Direktwahl des Europäischen Parlaments 1979 über die Einheitliche Europäische Akte 1986, die Verträge von Maastricht 1992, Amsterdam 1997 und Nizza 2001 sowie die Erklärung von Laeken 2001 und den Verfassungskonvent 2002/03 bis zum Vertrag von Lissabon (VvL) 2009. Die Demokratisierung war notwendig, da die EU immer mehr Hoheitsrechte16 übertragen bekam und daher immer größere Anforderungen an die Legitimation17 gestellt wurden.

Den häufig geäußerten Fragen, ob die EU demokratiefähig sei (Grande 1996: 341; Abromeit 2001 d: 265) und wie viel Demokratie die EU brauche (Hix 2008: 4; Beck 2004: 350), soll hier nicht weiter nachgegangen werden, da sich spätestens seit dem VvL die Grundlagen für eine Demokratisierung der EU geändert haben. Im Artikel 10 des Vertrags über die Europäische Union (EUV) wird festgelegt, dass die Arbeitsweise der Union auf der repräsentativen Demokratie beruht. Die Diskussion über die Demokratieform setzte bereits nach dem Vertrag von Maastricht ein, und gerade die repräsentative Demokratie wurde kritisch gesehen: „Eine Demokratisierung der Europäischen Union scheitert m. E. nicht deshalb, weil diese nicht demokratiefähig ist, sondern weil das für eine Demokratisierung vorgesehene Demokratiemodell, die repräsentative Demokratie (in welcher Form auch immer), für eine Europäisierung denkbar schlecht geeignet ist“ (Grande 1996: 349)18. Genau diese Demokratieform haben die Verfasser des VvL gewählt, wohlwissend, dass das EP in seiner derzeitigen Verfasstheit nicht den erforderlichen Ansprüchen genügen würde.19 Nicht zuletzt deshalb wurden die nationalen Parlamente in offizieller Funktion in den VvL aufgenommen.

Die Forschungsfrage ist mehrfach unterteilt und lautet:

a.Ist das Demokratiedefizit der EU durch den Vertrag von Lissabon verringert worden und wenn ja, welchen Anteil haben die neuen Rechte der nationalen Parlamente daran?

b.Ist die Legitimation der EU durch die Aktivitäten der nationalen Parlamente und die ihnen im VvL neu zugewachsenen Möglichkeiten erkennbar verbessert worden?

c.Haben diese Möglichkeiten durch die formalisierte Überprüfung des Subsidiaritätsprinzips und der Verhältnismäßigkeit sowie durch die direkten Kommunikationsmöglichkeiten der nationalen Parlamente mit den Organen der EU etwas dazu beigetragen?

Zunächst ist für die Beantwortung der Frage festzustellen, worin das Demokratiedefizit besteht, ohne, wie häufig geschehen, hauptsächlich nationalstaatliche Kategorien zu Grunde zu legen. Bevor das Defizit definiert wird, ist daher erforderlich, ein Demokratiemodell für eine supranationale Organisation wie die der EU zu entwickeln. Zur Minimierung des Demokratiedefizits wurden unter anderem die nationalen Parlamente mit zusätzlichen Rechten versehen. Die Untersuchung der Handlungsweisen der nationalen Parlamente wird am Beispiel des Deutschen Bundestages vorgenommen, indem die Tätigkeiten der Bundestagsausschüsse sowie die Sitzungsprotokolle des Deutschen Bundestages ausgewertet werden. Hierbei gilt es insbesondere festzustellen, wie die neuen Möglichkeiten in Art. 10 (2) und 12 EUV20 in aktive Politik umgesetzt werden.

Die Forschungslücke besteht darin, dass die Rückdelegation von Kompetenzen an die nationalen Parlamente durch den Vertrag von Lissabon bisher nicht intensiv dahingehend untersucht wurde, wie die Veränderungen in den Parlamenten umgesetzt wurden. Es stellt sich die Frage, ob und wie das Frühwarnsystem genutzt werden kann. Was machen die Parlamente mit dem Wissen, und gelingt es ihnen, vor den Entscheidungen im Rat in einen Dialog mit den Regierungen zu treten? Daher soll empirisch überprüft werden, wie weit der Einfluss des Parlamentes reicht – auch wenn hier die stärksten Einflussmöglichkeiten des Parlamentes in Form des Budgetrechts nicht greifen. Dazu ist auch erforderlich, dass EU-Angelegenheiten nicht mehr ausschließlich der Außenpolitik zugeschrieben werden, bei denen sich das Parlament erst gefordert sieht, wenn Verträge zu ratifizieren sind. Zeigt das Parlament in der täglichen Arbeit, dass die Rechtssetzungsverfahren der EU über außenpolitische Vorgänge hinausgehen? Der Faktor Zeit spielt dabei eine große Rolle, da oft sehr komplexe Sachverhalte in einem begrenzten Zeitrahmen zu behandeln sind.

Der Gang der Untersuchung ist so gestaltet, dass im zweiten Kapitel einige Demokratietheorien überprüft werden und dann daraus ein Demokratiemodell für die EU entwickelt wird. Hierbei werden die wesentlichen Neuerungen aus dem Vertrag von Lissabon und der Erklärung von Laeken berücksichtigt. Im VvL sind zwei Schwerpunkte erkennbar: das Bekenntnis zur parlamentarischen Demokratie (Art. 10 EUV) und die Stärkung der Nationalen Parlamente (Art. 12 EUV). Beides stützt den Parlamentarismus insgesamt.

Das Demokratiedefizit wird im dritten Kapitel theoretisch aufbereitet, der Schwerpunkt liegt dabei auf den Institutionen, da im weiteren Verlauf die Möglichkeiten der nationalen Parlamente untersucht werden sollen. Durch die Operationalisierung des Demokratiedefizits sowie einen Vergleich vor und nach dem VvL wird untersucht, wie sich das Demokratiedefizit durch den VvL verändert hat und welchen Anteil die nationalen Parlamente daran haben. Das strukturelle Demokratiedefizit (Kaina 2009: 172) wird nur der Vollständigkeit halber erwähnt, da dessen Änderung kaum geplant und nur wenig von außen beeinflusst werden kann. Die Konsequenzen des VvL sind auf Grund der geringen Zeitspanne zwischen seinem Inkrafttreten 2009 und dem Untersuchungszeitraum möglicherweise erst in Ansätzen beobachtbar (Kohler-Koch 2010: 245). Einige Stichproben bis ins Jahr 201421 haben jedoch gezeigt, dass das Jahr 2011 durchaus als repräsentativ angesehen werden kann. Als Untersuchungszeitraum wurde das Jahr 201122 gewählt, weil es das erste Jahr war, in dem sich die im VvL beschlossenen neuen Rechte der nationalen Parlamente voll auswirken konnten. Das Vergleichsjahr ist 2008.

Im vierten Kapitel wird am Beispiel des Deutschen Bundestages empirisch untersucht, ob das Demokratiedefizit der EU durch die neuen Möglichkeiten der nationalen Parlamente tatsächlich verringert wurde und im Kapitel fünf, ob dies an der Arbeitsweise des Deutschen Bundestages ablesbar ist. Abschließend wird im Kapitel sechs das Ergebnis der Untersuchung zusammengefasst und im Ausblick erörtert, welche Möglichkeiten der Verringerung des Demokratiedefizits noch bestehen, ohne gewisse Grundprinzipien der EU wie die Handhabung der Legislative und der Exekutive, das Initiativmonopol der Europäischen Kommission, die Nicht-Staatlichkeit der EU und die Form der Gewaltenteilung zu verändern. Der Grund dafür liegt sowohl in der Bewährung einiger Institutionen als auch in der geringen Wahrscheinlichkeit, bestimmte Regelungen mittelfristig verändern zu können.

Der empirische Teil der Arbeit ist zweigeteilt. Zunächst wird untersucht, ob das Demokratiedefizit der EU durch den Vertrag von Lissabon verringert wurde und welchen Anteil die nationalen Parlamente daran haben. Anschließend wird am Beispiel des Deutschen Bundestages überprüft, ob und wie die neuen Möglichkeiten an der Arbeitsweise des Deutschen Bundestages ablesbar sind. Dazu wurde die Bearbeitung der Vorschläge der Europäischen Kommission, die gemäß den Protokollen 1 und 2 EUV den nationalen Parlamenten zugeleitet werden, durch den Deutschen Bundestag ausgewertet (Einzelheiten Anhang Hinweis 1). Die geplanten Richtlinien, Verordnungen, Beschlüsse, Berichte, Informationen und Mitteilungen des Jahres 2011 wurden mit den Tagesordnungen der Bundestagsausschüsse verglichen. Anschließend wurden die Protokolle der Sitzungen des Deutschen Bundestages geprüft, ob Maßnahmen bezüglich der Subsidiaritätsprüfung sowie des Parlamentsvorbehaltes entsprechend den Begleitgesetzen zum Vertrag von Lissabon getroffen wurden. So sollte festgestellt werden, ob und wie sich die neuen Möglichkeiten praktisch ausgewirkt haben.

Ein postnationales Demokratiemodell soll also unter Berücksichtigung des VvL entwickelt und dann genutzt werden, um die Demokratiedefizite der EU darzustellen. Diese Demokratiedefizite werden dann mit den Demokratie relevanten Vertragsbedingungen vor und nach dem VvL miteinander verglichen. Anschließend wird im empirischen Teil am Beispiel des Deutschen Bundestagesmuntersucht, ob und welche Auswirkungen auf der Arbeitsweise des Parlamentes erkennbar sind.

1http://europa.eu/about-eu/basic-information/symbols/motto/index_de.htm.

2Einstimmigkeit ist per se nicht undemokratisch, im Gegenteil. Aber da, wo sie gefordert wird, kann es zu Zeitverzögerungen und zu sachfremden Forderungen für eine Zustimmung kommen. So hat in der Auseinandersetzung der EU mit Polen hinsichtlich der Bedrohung der Demokratie in Polen 2015/2016 Ungarn die Regierung in Warschau ganz offen unterstützt, indem es sich der Einstimmigkeit verweigerte (http://deutsche-wirtschafts-nachrichten.de/2016/01/18/). Einstimmige Entscheidungen sind oft nicht optimal, sondern werden auf der Grundlage des kleinsten gemeinsamen Nenners getroffen. Zum anderen fordern Mehrheitsentscheidungen die Folgebereitschaft der unterlegenen Minderheit, was bei der EU nicht immer der Fall ist, ablesbar an den über 1.000 Vertragsverletzungen pro Jahr.

3„Darunter werden die Merkmale der EU zusammengefasst, durch die sie sich in ihrer rechtlichen Struktur von völkerrechtlichen Organisationen unterscheidet“ (Ziltener 2000: 80).

4„Insgesamt stellt sich angesichts dieser institutionellen Entwicklungen die kritische Frage, ob sich die EU nicht längst auf den Weg zu eigener ‚Suprastaatlichkeit‘ aufgemacht hat und schon aus diesem Grund einen hohen Legitimationsbedarf aufweist. Gewöhnlich werden Antworten auf diese Frage gesucht, indem die autonom supranationale Entwicklung der EU den gleichfalls vorhandenen intergouvernementalen Formen gegenübergestellt und dann gemessen wird, welcher Modus in der Europapolitik dominiert“ (Höreth 2002: 4).

5Gemeint ist hier die Umgehung fehlender nationaler Mehrheiten für eine bestimmte policy durch eine europäische Lösung. Siehe Standardversion des Demokratiedefizits Nummer 5 (Føllesdal/Hix 2006: 537).

6Beaud (1996: 61) und Hurrelmann (2005: 15) vertreten die Meinung der Unteilbarkeit. Anders hingegen Landfried (2005: 15 f): „Die Europäische Union ist eine Gemeinschaft von Bürgern und Staaten. Deshalb gibt es wiederum zwei Quellen der Legitimation durch demokratische Verfahren. […] Souveränität wird teilbar, auch wenn dies per definitionem ein Widerspruch in sich selbst ist.“

7Die Problematik der Legitimation soll anhand von drei Zitaten verdeutlicht werden: „Die Legitimität einer politischen Ordnung stützt sich jedoch nicht allein auf die geltenden Grundnormen eines Gemeinwesens, sondern auch auf konstitutive Verfahren und auf den Legitimitätsglauben der Bürgerinnen und Bürger […]“ (Kaina 2009:200). „Beim Fehlen der exit-Option verbietet sich im Übrigen von vornherein die Konstruktion von Zusatz- oder Ersatzlegitimation via stillschweigender Zustimmung“ (Abromeit 1998 c: 297). „Im Hinblick auf die demokratische Legitimation der EU stellt sich zunächst die Frage, ob und inwieweit die ihrer Herrschaftsgewalt unterstehenden Unionsbürger, die selbst Mitglieder der Staatsvölker der Mitgliedstaaten sind, als Legitimationssubjekt angesehen werden können. Denn die Unionsbürgerschaft verleiht zwar traditionelle Bürgerrechte wie etwa das Recht auf Freizügigkeit, ein politisches Wahlrechts und das Recht auf diplomatischen Schutz. Sie verschafft jedoch nicht eine Staatsangehörigkeit als formales Band eines europäischen Volkes“ (Mellein 2007: 28).

8Schmidtchen (2004: 8) meint dazu: „Nimmt man das Demokratieprinzip ernst, dann kann man von einem Demokratiedefizit erst sprechen, wenn die Transmission des Bürgerwillens in Kollektiventscheidungen mißlingt und sich dieser Mangel zu vertretbaren Kosten beheben läßt.“ Nullmeier (2010: 21) bemerkt: „Die Klage über das Demokratiedefizit ist insofern verfehlt, als die eigentliche Struktur der EU verkannt wird.“ Auch Moravczik (2002: 621) äußert sich in diese Richtung: „When judged by the practices of existing nation-states and in the context of a multi-level system, there is little evidence that the EU suffers from a fundamental democratic deficit.“ Und schließlich hält auch das Bundesverfassungsgericht fest (BVerfG, 2 BvE 2/08 vom 30.6.2009, RN 278): „Die Europäische Union entspricht demokratischen Grundsätzen, weil sie bei qualitativer Betrachtung ihrer Aufgaben- und Herrschaftsorganisation gerade nicht staatsanalog aufgebaut ist.“

9Vgl. dazu etwa Kaufmann (1997: 481): „Angesichts der Unversehrtheit des Regelkerns des Demokratieprinzips, der Integration und adäquaten Rückführung europäischer Hoheit auf das Staatsvolk und schließlich der Deckung eventueller Verflachung des Legitimationsniveaus durch das Verfassungsprinzip integrierter Staatlichkeit kann von einem Demokratiedefizit der Europäischen Union im Rechtssinne keine Rede sein.“

10Bei der Europawahl 2014 haben EU-Kritiker und-Gegner im EP zugenommen (vgl. Meyer 2014: 1).

11http://info.kopp-verlag.de/hintergruende/deutschland/redaktion/-zusammenbruch-der-euro-zone-koennte-das-ende-der-eu-bedeuten-sagt-einer-der-vaeter-des-euro.html.

12https://www.bundesverfassungsgericht.de/SharedDocs/Pressemitteilungen/DE/2011/bvg11-055.html.

13„Die mangelnde Umsetzung rechtsstaatlicher Standards in Ungarn, Rumänien und Bulgarien, der routinierte Verstoß gegen den europäischen Stabilitätspakt seitens Frankreich und vieler anderer Euro-Länder, der weit verbreitete Betrug bei der Verwendung europäischer Strukturfonds und die Nichtumsetzung der Richtlinie zur Vorratsdatenspeicherung durch Deutschland sind nur einige der bekannteren Fälle“ (Neyer 2014: 167). 2011 gab es 1.775 Vertragsverletzungen gem. Jahresbericht der EK. (http://europa.eu/rapid/press-release_IP-16-2245_de.htm).

14Ein Beispiel: Der Ergänzung des Art. 136 AEUV wurde im Februar 2011 vom Deutschen Bundestag (Drucksache 17/4880) zugestimmt, um eine Änderung des Artikels 125 AEUV („No-bailout“-Klausel) auszuschließen. Der Bundestag hatte einen Parlamentsvorbehalt eingelegt und trotzdem dem Text zugestimmt. Die Vorbehalte hatten nur Einfluss auf das Verhältnis zwischen Bundestag und Bundesregierung. Der Vorgang zeigt andererseits, welche wichtige Rolle die nationalen Parlamente spielen könnten.

15Gemeint sind hier die Einheitliche Europäische Akte, die Verträge von Maastricht, Amsterdam und Nizza sowie der abgelehnte Verfassungsvertrag und der Vertrag von Lissabon.

16„[…] insofern übt die EU Hoheitsrechte aus, die bisher dem Staat i. e. S. vorbehalten waren. Daraus ergibt sich das oft beklagte demokratische Defizit. Die Beschlüsse der Kommission und des Ministerrates, auch die Entscheidungen des Europäischen Gerichtshofes, greifen immer tiefer in die Verhältnisse der Mitgliedstaaten ein“ (Habermas 1999: 185).

17„Legitimationsprobleme und das damit verbundene demokratische Defizit stellen wohl das meist diskutierte Funktionsproblem des EU-Systems dar. Die intensive Erörterung dieser Problematik ebenso wie konkrete Vorschläge zu ihrer Behebung begleiten denn auch den Integrationsprozess von seinen Anfängen bis zur Gegenwart“ (Tömmel 2006: 220).

18Als Begründung führt Grande (ebd. 352) aus, dass es vermessen wäre, „vom Wähler zu erwarten, daß er in der Lage sei, politische Verantwortlichkeiten überhaupt zu erkennen, geschweige denn sie zu bewerten.“

19„Sowohl die deliberative als auch die aggregative Komponente des demokratischen Prozesses erfordert eine angemessene und gleiche Repräsentation der von der Regelsetzung betroffenen Personen“ (Zürn 1998: 243). „Selbst mit einer maximalen Kompetenzausstattung würde das EP für politische Entscheidungen verantwortlich gemacht, die es nur zu einem geringen Teil selbst kontrollieren kann. […] Das europäische Demokratiedefizit lässt sich nur beseitigen, wenn den Bürgern Möglichkeiten der direkten Intervention in den europäischen Politikprozess eingeräumt werden“ (Beck 2004: 352).

20Art. 10 (2) „Die Mitgliedstaaten werden im Europäischen Rat von ihrem jeweiligen Staats- oder Regierungschef und im Rat von ihrer jeweiligen Regierung vertreten, die ihrerseits in demokratischer Weise gegenüber ihrem nationalen Parlament oder gegenüber ihren Bürgerinnen und Bürgern Rechenschaft ablegen müssen.“

Art. 12

„Die nationalen Parlamente tragen aktiv zur guten Arbeitsweise der Union bei, indem sie

a)von den Organen der Union unterrichtet werden und ihnen die Entwürfe von Gesetzgebungsakten der Union gemäß dem Protokoll über die Rolle der nationalen Parlamente in der Europäischen Union zugeleitet werden;

b)dafür sorgen, dass der Grundsatz der Subsidiarität gemäß den in dem Protokoll über die Anwendung der Grundsätze der Subsidiarität und der Verhältnismäßigkeit vorgesehenen Verfahren beachtet wird […]“

21Siehe z. B. die Beteiligung des EP an Rechtsakten der EU 2014 http://eur-lex.europa.eu/statistics/2014/legislative-acts-statistics.html?locale=de.

22Bei allen Kennzahlen wie z. B. der Anzahl der Abgeordneten im Europäischen Parlament oder der Stimmengewichtung im Europäischen Rat werden die Daten aus dem Jahr 2011 verwendet.

2Ein Demokratiemodell für die Europäische Union

Um festzustellen, ob und inwiefern das Demokratiedefizit der Europäischen Union durch die im Vertrag von Lissabon festgelegten Erweiterungen der Kompetenzen der nationalen Parlamente beeinflusst wurde, wird zunächst ein Demokratiemodell für die Europäische Union skizziert und daran anschließend das Defizit in Bezug auf das Modell dargestellt. Dieses Demokratiemodell orientiert sich an den besonderen Gegebenheiten der Europäischen Union. Demokratie wird dabei als Herrschaftsform verstanden, deren „Zweck […] die Verlängerung der individuellen Selbstbestimmung in den Bereich der kollektiven Entscheidungen hinein [ist], und zwar im Sinne einer Kongruenz von Entscheidungsunterworfenheit und Entscheidungsbeteiligung“ (Abromeit 2001a: 4). Eine andere minimalistische Definition, die noch die Verfahrensweise mit eingebunden hat, lautet: „Democracy is a method of collective decision making, a method to arrive at collectively binding decisions where the procedures and therefore the decision itself are generally accepted“ (Bühlmann 2008: 27).

Die Europäische Union ist kein Staat, weshalb es auch nicht angemessen ist, nationalstaatliche Anforderungen an die demokratischen Strukturen auf europäischer Ebene anzulegen. Die beiden oben angeführten Definitionen können hingegen als Basis für die Entwicklung eines Demokratiemodells der EU verwendet werden. Das Bundesverfassungsgericht geht in seinem Urteil vom 30.06.2009 über den VvL sogar so weit, in der Nichtstaatlichkeit der EU einen Beweis für die demokratische Struktur der EU zu sehen: „Die Europäische Union entspricht demokratischen Grundsätzen, weil sie bei qualitativer Betrachtung ihrer Aufgaben- und Herrschaftsorganisation gerade nicht staatsanalog aufgebaut ist“ (RN 278).

Die Europäische Union besteht aus demokratischen und rechtsstaatlich organisierten Staaten. Dies wurde formal als Beitrittsanforderung vor der vierten Erweiterung23 in den „Kopenhagener Kriterien“ von 1993 formuliert:

„Als Voraussetzung für die Mitgliedschaft muss der Beitrittskandidat eine institutionelle Stabilität als Garantie für demokratische und rechtsstaatliche Ordnung, für die Wahrung der Menschenrechte sowie die Achtung und den Schutz von Minderheiten verwirklicht haben; sie erfordert ferner eine funktionsfähige Marktwirtschaft sowie die Fähigkeit, dem Wettbewerbsdruck und den Marktkräften innerhalb der Union standzuhalten. Die Mitgliedschaft setzt außerdem voraus, dass die einzelnen Beitrittskandidaten die aus einer Mitgliedschaft erwachsenden Verpflichtungen übernehmen und sich auch die Ziele der politischen Union sowie der Wirtschafts- und Währungsunion zu eigen machen können […]“ (Europäischer Rat 1993, Ziffer 7.A)iii) 2. Absatz).24

Das bedeutet, dass die Beitrittsländer die politischen, wirtschaftlichen und Acquis-Kriterien erfüllen müssen. Inwiefern ist es dennoch erforderlich, zusätzlich Demokratiekriterien für die EU selbst zu definieren? Darüber gehen die Meinungen auseinander. Es hängt vom Grad der Integration ab und wie der Entwicklungsstand der Integration beurteilt wird. Befürworter des Intergouvernementalismus wie Majone (1998b) und Moravcsik (2002) sehen nur wenige Notwendigkeiten einer Verbesserung der demokratischen Strukturen der EU, da die Hauptakteure auf der EU-Ebene die Staaten seien, und diese seien ja per definitionem demokratisch organisiert. Ähnlich argumentiert auch das Bundesverfassungsgericht in seinen Urteilen zu den Verträgen von Maastricht und Lissabon.25

Andererseits wurden von der EU im Jahr 2011 1.713 Basisrechtsakte und 620 Änderungsrechtsakte erlassen, aber nur bei 72 Basisrechtsakten und bei 34 Änderungsrechtsakten war das EP beteiligt.26 Da von den insgesamt 2.333 Rechtsakten27 2.234 Verordnungen und Beschlüsse bzw. Entscheidungen unmittelbar in den Mitgliedstaaten wirksam werden und nur die 99 Richtlinien nach dem Erlass den NP zur Anpassung an das jeweilige nationale Recht (Art. 288 AEUV) überlassen werden, sollte die Demokratiestruktur und damit die Legitimation durchaus hinterfragt werden. Dazu werden in diesem Kapitel einige Demokratietheorien (2.1) erörtert, zudem wird der Stand der Demokratisierung im Hinblick auf die Erklärung von Laeken dargestellt und dann unter Einbeziehung der Auswirkungen des Mehrebenensystems in Verbindung mit dem VvL ein Demokratiemodell der EU entwickelt (2.2). Schließlich werden einige für die demokratischen Grundprinzipien wichtige Institutionen der EU mit dem Modell abgeglichen (2.3). Zunächst stellt sich also die Frage, welche Demokratietheorie in angemessener Form auf die EU angewendet werden kann.

2.1Demokratietheorien

Die Demokratie als Herrschafts- und Lebensform gibt es in vielen Arten (z. B. direkte oder indirekte Partizipation) und Formen (z. B. deliberative Demokratie, repräsentative Demokratie, Konkordanzdemokratie). Entscheidend ist, dass die politischen Prozesse nach bestimmten Regeln und Normen ablaufen. Dabei ist der jeweilige Zeitgeist sowohl im Verständnis des Begriffs als auch bei der Umsetzung durchaus zu beobachten.28 Gibt es theoretische Ansätze, die sich auf die EU anwenden lassen? Die Frage ist nicht leicht zu beantworten, da klassische Elemente der Demokratie auf der Ebene der EU nur in abgewandelten Ausprägungen vorhanden sind. So sind intermediäre Strukturen fast gar nicht erkennbar, die Zivilgesellschaft wird durch Lobbyismus ersetzt, Legislative und Exekutive sind auf verschiedenen Ebenen verteilt und eine parlamentarische Kontrolle als Beitrag zur Legitimation der Herrschaftsausübung (Dann 2004: 166) ist nur schwer nachzuweisen. Können die nationalen Parlamente hier einen Ausweg aus dem Dilemma bieten? Im Geflecht des Mehrebenensystems EU können die nationalen Parlamente eine wichtige Funktion übernehmen, indem sie über die Subsidiaritätsprüfung die EK kontrollieren und über nationale Regelungen – in Deutschland über die Begleitgesetze IntVG, EUZBBG und EUZBLG – das Abstimmverhalten des deutschen Vertreters im Rat beeinflussen. Neben den Möglichkeiten bedarf es auch der Entschlossenheit, die Repräsentationsaufgaben zur Verbesserung der Legitimation der EU wahrzunehmen.

Zunächst werden einige Theorien und Definitionen überprüft, um dann den Versuch zu unternehmen, ein Modell für die EU zu beschreiben. Dieses Modell bildet die Vorlage für die Darstellung des Demokratiedefizits der EU.

„Der Begriff Demokratie bezieht sich auf die Art der Herbeiführung kollektiv bindender Entscheidungen“ (Abromeit 2001a: 4). Dies soll in Form einer Selbstregierung und bei optimaler Wahrung von Recht und Freiheit erreicht werden. So das heutige Verständnis – der Demokratiebegriff wurde jedoch im Laufe der Jahre zahlreichen Transformationen unterzogen, sowohl semantisch (Buchstein 2003: 471 f) als auch inhaltlich (Dahl 1989: 213 ff). Von der Antike bis in die Mitte des 17. Jahrhunderts war Demokratie im Allgemeinen negativ besetzt, und einen gewissen Durchbruch gab es erst nach der Französischen Revolution (Buchstein 2003). Heute ist die Demokratieidee nicht mehr vom Repräsentationsprinzip zu trennen (Kaina 2009: 164) und nur bedingt im ursprünglichen Wortsinn zu nutzen. Kaina hat deshalb den „normativen Mindestgehalt von Demokratie [definiert]. Eine Demokratie muss im Mindesten die dauerhafte und regelmäßige Möglichkeit garantieren, dass sich die Menschen an der Herstellung von Entscheidungen, denen sie unterworfen sind, direkt oder indirekt beteiligen, indem sie diese entweder selbst treffen oder darauf effektiv Einfluss nehmen“ (ebd.: 165). In Kapitel 2.3 werde ich darauf eingehen, ob diese Definition auch für die Europäische Union gilt und welche Elemente unter Umständen hinzugefügt werden müssen.

Die neuzeitlichen Grundelemente sind im Prinzip immer gleich geblieben. Nach der Drei-Elemente-Lehre (Jellinek 1960: 394 ff) bedarf es stets eines Staatsvolkes, eines Staatsgebietes und einer Staatsgewalt, um staatliche demokratische Prozesse anwenden zu können. Dies ist auf die EU nicht anwendbar, und es stellt sich die Frage, ob Demokratie in postnationalen Strukturen möglich ist und ob es dann noch Demokratie genannt werden kann. Die Grundrechte, wie sie zum Beispiel in der „Charta der Grundrechte der Europäischen Union“ (Amtsblatt 2010 C 83/389)29 formuliert sind, zählen genauso zu den demokratischen Normen wie die Rückbindung aller politischen Entscheidungen auf Wahlen oder Abstimmungen, das Rechtsstaatsprinzip, ein allgemeines, gleiches, geheimes, unmittelbares und freies Wahlrecht sowie die Akzeptanz von Mehrheitsentscheidungen verbunden mit einem Minderheitenschutz (Mellein 2007: 66). Auch hier sind im Hinblick auf die EU durchaus kritische Anmerkungen zu machen.

Die Anwendungen der Regeln der normativen Demokratietheorie bestimmen in hohem Maße die politischen Prozesse. Die Regeln wiederum sind abhängig von Art, Form und Größe des jeweiligen Gemeinwesens (Dahl 2000). Die ältesten Überlieferungen über Demokratien gehen zurück auf etwa 500 v. Chr. und sind sowohl für einige Stadtstaaten im Mittelmeerraum als auch für manche Stämme in Nordeuropa überliefert (Dahl 2000: 11 ff). Dahl spricht hier von der ersten Transformation mit ausschließlich direktdemokratischen Formen (Dahl 1989: 13 f). Die Zahl der Berechtigten war nur so groß, dass direkte Beteiligungen und Mitbestimmungen möglich waren. Die zweite Transformation entstand durch größere Staaten und die Unzufriedenheit mit der Monarchie in ersten Anfängen im 17. Jahrhundert in England und Schweden (ebd.: 29), indem die Repräsentation eingeführt wurde. Es dauerte aber noch etwa 200 Jahre, bis sich die repräsentative Demokratie in Theorie und Praxis durchsetzte.

Dahl bezeichnet die Demokratie beim Übergang von der zweiten zur dritten Transformation als Polyarchie. Auf den Unterschied zwischen Polyarchie und Demokratie wird hier nicht näher eingegangen, allerdings sind die sieben Institutionen und fünf demokratischen Prozesse auf supranationale Regierungsformen und durchaus auch auf die EU anwendbar. Um sprachliche Missverständnisse zu vermeiden, wird Dahl im Original zitiert:

Abbildung 1:Demokratiemodell nach Dahl

 

Polyarchy and the Democratic Process

The following institutions …    are necessary to satisfy the following criteria

1. Elected officials

2. Free and fair elections

I. Voting equality

 

1. Elected officials