Das Dorf der toten Herzen - Agustín Martínez - E-Book
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Das Dorf der toten Herzen E-Book

Agustín Martínez

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Beschreibung

Der neue Thriller vom Autor des LITERATUR-SPIEGEL-Bestsellers »Monteperdido« Ein hitzeverbranntes Dorf mit zersetzenden Geheimnissen. Eine düstere Mordnacht in einem heruntergekommenen Landhaus. Und die verstörende Frage: Hat die 14-jährige Miriam den Mord an ihren Eltern in Auftrag gegeben? Staubig und unwirtlich ist es in Portocarrero, dem Dorf in der südspanischen Wüstengegend. Spröde und verschlagen sind seine Bewohner. Doch Jacobo und Irene müssen mit ihrer vierzehnjährigen Tochter Miriam hierherziehen, als Jacobo seinen Job verliert. Da geschieht in einer stockdunklen Nacht der Überfall: Zwei Männer dringen in ihr abgelegenes Landhaus ein und töten Irene. Als Jacobo im Krankenhaus aus dem Koma erwacht, fragt er verzweifelt nach seiner Tochter. Aber man lässt sie nicht zu ihm – und ein furchtbarer Verdacht keimt auf: Hat Miriam den Mord an ihren Eltern in Auftrag gegeben? Und was verbergen die Bewohner von Portocarrero?

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Agustín Martínez

Das Dorf der toten Herzen

Thriller

 

Aus dem Spanischen von Lisa Grüneisen

 

Über dieses Buch

 

 

Staubig und unwirtlich ist es in Portocarrero, dem Dorf in der südspanischen Wüstengegend. Spröde und verschlagen sind seine Bewohner. Doch Jacobo und Irene müssen mit ihrer vierzehnjährigen Tochter Miriam hierherziehen, als Jacobo seinen Job verliert. Da geschieht in einer stockdunklen Nacht der Überfall: Zwei Männer dringen in ihr abgelegenes Landhaus ein und töten Irene. Als Jacobo im Krankenhaus aus dem Koma erwacht, fragt er verzweifelt nach seiner Tochter. Aber man lässt sie nicht zu ihm – und ein furchtbarer Verdacht keimt auf: Hat Miriam den Mord an ihren Eltern in Auftrag gegeben? Und was verbergen die Bewohner von Portocarrero?

 

 

Weitere Informationen finden Sie auf www.fischerverlage.de

Biografie

 

 

Über den Autor und die Übersetzerin

 

Wenn Agustín Martínez schreibt, entstehen starke Bilder: Seine Kriminalromane sind Bestseller, und als Drehbuchautor arbeitet er für Kino und Fernsehen. Für seine Werke wurde Agustín Martínez mehrfach ausgezeichnet; sein erster Roman »Monteperdido« wurde als TV-Serie verfilmt. Geboren 1975 in Lorca in der Region Murcia, ging er für das Studium der audiovisuellen Kommunikation nach Madrid, wo er heute mit seiner Familie lebt.

 

Lisa Grüneisen, 1967 geboren, arbeitet seit ihrem Studium der Romanistik, Germanistik und Geschichte als Übersetzerin. Sie übersetzte unter anderem Bücher von Carlos Ruiz Zafón, Carlos Fuentes, Miguel Delibes, Alberto Manguel und Frida Kahlo.

 

Weitere Informationen finden Sie auf www.fischerverlage.de

Inhalt

Widmung

Teil 1 Die Rückseite der Nacht

Jacobo

Die Wüste

Das Krankenhaus

Chat

Die Kurve

Schnecken

Chat

Kakteen

Diamond

Chat

Kinder

Honig

Jogginganzug

Das Landhaus

Die Zisterne

Condor

Lazarus

Der Retter

Jacobo

Der Schlachter

Teil 2 Badlands

Stacheldraht

Song 1

Wunden

Fuertes

Abendmahl

Nora

Der Kater

Spaziergänge

Volvo

Spuren

Salz

Lithium

Sirenen

Lichter

Der Wächter

Travertin

Chat

Der Abgrund

Miriam

Totenwache

Erosion

Sandsturm

Nora

Danksagung

Für Laura, Darío und Laura.

Denn ohne sie wäre da nichts.

Teil 1Die Rückseite der Nacht

»Wenn die Lämmer im Gebirge verlorengehen,

hört man sie weinen. Manchmal kommt die Mutter.

Manchmal der Wolf.«

Cormac McCarthy, Die Abendröte im Westen

Jacobo

Ich will mich an dich erinnern, wie du auf meiner Brust liegst, wohlig erschöpft, nachdem wir uns geliebt haben. Und nicht, wie du zu meinen Füßen in einer Blutlache versinkst.

Ich versuche es mit aller Kraft. Glaub mir, ich versuche es.

Ich wünschte, wir wären wieder an jenem Strand. Dein nackter Rücken, die Reflexe der stürmischen See, die Wellen auf deine Haut malen wie eine Liebkosung. Und wie du dann mit mir in meine Studentenbude am Stadtrand gefahren bist, umtost vom Verkehr auf der Autobahn.

Ich will sehen, Irene, wie deine Augen auf mir ruhen und du mich anlächelst. Ich will wieder glauben, dass wir das Leben in vollen Zügen genießen werden. Dass wir wild sein werden und frei.

Aber die Zeit rast unerbittlich und hindert mich daran, dort zu bleiben, an jenem Strand oder in meiner Studentenbude.

Die Jahre fliegen vorbei. Das Studium, erste Jobs, Nächte mit zu viel Bier und ausgelassen lachenden Freunden, sie bleiben zurück und verschwimmen. Der leere Kühlschrank und die anfängliche Angst – vielleicht nur meine – vor dem Leben, das in dir entstand, Irene. Unsere Tochter Miriam, die Hochzeit.

Eine feste Stelle. Eine Kundenkarte vom Kaufhaus Corte Inglés und die grenzenlose Liebe zu diesem Baby, das uns aus seinem Bettchen anlächelte, sicher, dass seine Eltern es vor allem Bösen beschützen werden.

Ich will innehalten, aber es geht nicht. Die Zeit verfliegt, rasend schnell wie ein Projektil, bis zu diesem unglückseligen Tag.

Erinnerst du dich an jene Nächte, Irene, als wir uns erschöpft in den Armen lagen? Dein Rücken war kein glatter, ebener Strand mehr, aber das machte nichts. Wir haben einander beteuert, dass wir wieder von vorn anfangen können, nachdem alles in die Luft geflogen war. Wir haben uns etwas vorgemacht.

Der alte Mann an der Tankstelle, wo wir anhielten, das Auto beladen mit Koffern und all den Dingen, die sich nicht verkaufen ließen, konnte uns nicht weiterhelfen. Er wiegte nur bedächtig den Kopf und schwieg, das Lächeln wie eingefroren. Ihm fehlten ein paar Zähne. Als ich seine Haut betrachtete, wusste ich, wo wir gelandet waren. Nicht in einer wildromantischen Landschaft mit sanften Dünen und einem goldenen, endlosen Horizont, sondern in einer Wüste voller Schluchten, Steine und schrundiger Erde.

Miriam saß auf dem Rücksitz und verzog keine Miene, als wir ihr den Schokoriegel gaben. Sie schob ihn achtlos beiseite und daddelte weiter auf ihrem Handy, ohne ein einziges Mal nach draußen zu sehen, auf diese Landschaft, wo wir noch einmal von vorn anfangen wollten.

Auf diese Wüste, die uns rings um das Landhaus empfing, weit weg vom Dorf und jedem Geräusch. So weit weg vom Anfang und seinem Wellenrauschen. Mitten im Nirgendwo.

Du warst zu einer Fremden geworden. Oder war ich es, der sich entfremdet hatte? Ich schaute mich um und fragte mich, wie wir hier gelandet waren. War das die Zukunft, von der wir geträumt hatten?

Das Landhaus mit den weißgekalkten Mauern und den undichten Fenstern. Die winterliche Kälte kroch durch alle Ritzen. Miriam war zum Übernachten bei einer Freundin, und ich fragte mich wie so oft, wie wir aus der Sache wieder rauskommen sollten. Uns nicht länger wie bissige Hunde belauern, die ums Haus schlichen, das zum Gefängnis geworden war. Ich hasste diese verfluchten Fenster, die sich in schwarze Löcher verwandelten, wenn es Nacht wurde.

Ich hatte den Fernseher nicht eingeschaltet, deswegen hörte ich deine Schritte auf der Treppe und wusste, dass du gleich ins Wohnzimmer kommen würdest. Ich schaute zur Tür in der Hoffnung, deine Silhouette zu sehen, und stellte mir vor, dass du nackt wärst und zu mir sagtest: »Nimm mich in die Arme. Lass es uns tun, so wie früher.«

Die blaue Flamme des Heizofens flackerte kurz auf, ich erinnere mich genau daran. Der zuckende Feuerring, als mit einem Brummen die Heizung ansprang. Es gibt nebensächliche Details, die sich tief in meine Erinnerung eingegraben haben, doch die Gesamtheit dessen, was in jener Nacht geschah, bleibt unscharf wie eine schief zusammengefügte Puppe mit verrenkten Gliedern, ein Monster aus der Vergangenheit, das auf mich zugekrochen kommt und mich mit einem unzusammenhängenden Stammeln anfleht, ihm endlich Gestalt zu geben.

Die Küchentür ließ sich nicht richtig schließen. Unter dem Gewicht der eisernen Beschläge hatte sie sich gesenkt, die alten Türangeln konnten sie kaum noch halten. Wo die Tür sich öffnete, zeichnete sich halbkreisförmig ein Bogen auf den Bodenfliesen ab. Es war mir nicht gelungen, sie zu reparieren, und wir konnten uns auch niemanden leisten, der das für uns erledigte. Aber was erzähle ich dir von Geld, Irene?

Durch diese Tür kamen sie.

Dann sehe ich mich im Hausflur liegen, wie ich Blut spucke und meine Hände in den Boden kralle, als würde ich eine Wand hinabrutschen. Die klebrige Pfütze unter meiner Brust, ein absurdes Klatschen, als mein Körper hineingleitet.

Ich war aufgestanden und hatte zur Tür gesehen. Wieso hatte ich gedacht, du könntest nackt dort stehen, vielleicht nur in den weißen, nachlässig geschlossenen Bademantel gehüllt. »Lass uns vergessen, was vorgefallen ist«, hättest du vielleicht gesagt.

Plötzlich verschwanden all diese Möglichkeiten, als risse jemand das Tischtuch samt Tellern und Besteck vom Tisch.

»Jacobo!«, hörte ich dich schreien.

»Wer ist da?«, fragte ich.

Die Stimmen der Männer klangen nach drohendem Unheil. »Dachtest du, du kannst einfach so abhauen?« Das schrille Geräusch, mit dem ein Stuhl über die Keramikfliesen geschoben wurde. Wie ein zerbrochenes Stück Kreide auf der Tafel. »Schrei ruhig, du Schlampe. Schrei, solange du willst.«

Dann das Mündungsfeuer des Schusses, ein greller Blitz, in dem sich für einen Augenblick ihre schwarzen Silhouetten abzeichneten. Tiefschwarz, und doch, warum glaubte ich, ihre marmorweißen Zähne aufblitzen gesehen zu haben?

Einer von ihnen kam auf mich zu, die Flinte geschultert wie eine Hacke. Ich konnte die Blutspritzer an seinem Hosenbein sehen. Was sagte ich? Was machte ich? Rief ich nach dir, Irene, oder drehte ich mich einfach um und versuchte zu fliehen?

Der Schuss durchschlug meinen rechten Lungenflügel. Vielleicht hatte ich tatsächlich den Mut, mich wie von Sinnen auf den Angreifer zu stürzen und »Irene!« zu schreien. Als könnte ich durch diese Männer hindurchlaufen, nicht nur durch den Kerl, der auf mich geschossen hatte, sondern durch alle, und dich an der Hand nehmen, Irene. Mit übernatürlichen Kräften ausgestattet, mit einem Satz aus dem Fenster springen wie ein Dieb aus Tausendundeiner Nacht, der über die Dächer tänzelt, um sich dann wie von Zauberhand in die Lüfte zu erheben. Irene verliebt und federleicht an meiner Hand, ihr wehendes Haar wie eine Fahne hinter sich.

Aber du warst tot. Lagst reglos auf dem Küchenboden. Warst das überhaupt du? Ich konnte dein Gesicht unter dieser Masse aus Haar, Blut und Fleisch nicht erkennen. Hatten sie dir in den Kopf geschossen? Ich bin nicht sicher.

Warst du nackt? Trugst du den Baumwollbademantel?

Jemand lehnte im Türrahmen zum Hof und sah nach draußen in die Landschaft. Als hätte das, was sich in diesen alten Wänden abspielte, die Schreie und der Schmerz, nichts mit ihm zu tun.

Der Klumpen, in den sich dein Gesicht verwandelt hatte, Irene, war alles, was ich sah. Eine formlose Masse, in die ich gern meine Hände vergraben hätte, um alles wieder an seinen Platz zu bringen.

Eine braune Wildlederjacke mit Lammfellkragen. Etwas in der Art trug der Mann, der jetzt aus dem Wohnzimmer zurückkam. Oder kam er die Treppe herunter?

Sie sagten: »Schrei nur, du Schlampe, schrei ruhig.« Sie sagten: »Dachtest du, du kannst einfach so abhauen?« Sie sagten: »Ich hab Hunger.«

Es war immer noch dunkel, als sie an mir vorbeigingen, um die Patronenhülsen vom Boden aufzusammeln.

Ich drehte den Kopf zur Seite. Von dort, wo ich lag, konnte ich deinen Fuß sehen, Irene. Nackt und steif. Er zeigte mit der Fußsohle zu mir, starr und braun und auch rot. Das Blut.

Ich hörte, wie sie Schubladen auskippten und Sachen auf den Boden warfen. Mir war nach Lachen zumute. Was sucht ihr, ihr Vollidioten? Was haben wir schon außer einem riesigen Nichts, so groß und tot wie die Wüste da draußen, ein Nichts, das uns blind verschlang, Irene, Miriam und mich.

Sucht nur, sucht.

Stattdessen weinte ich.

Warum wir? Wir haben doch nichts. Wir sind nichts. Warum, Irene?

Die Wüste

– Ein Fest –

Der Mann, der ihm unter dem Vordach der Tankstelle zulächelte, zeigte sein lückenhaftes Gebiss wie eine alte Frau, die kokett den Rock hebt. Der Alte tat nichts weiter, als zu lächeln und zu nicken. Er saß im Schatten, denn die Sonne brannte gnadenlos auf die Erde rings um die Tankstelle, den Asphalt und das Dach ihres Wagens, der an der Zapfsäule parkte. Jacobo erwiderte sein Lächeln und sein Kopfnicken, während er dachte, dass ein außenstehender Betrachter sie für zwei Idioten halten musste, die lächelten und nickten, lächelten und nickten.

Als Irene zurückkam, stieß sie eine Rauchwolke aus. Sie war hinter die Tankstelle gegangen, um eine Zigarette zu rauchen.

»Hast du bezahlt?«, fragte Jacobo.

»Für zwanzig Euro, das reicht«, sagte sie. »Wie weit ist es noch?«

»Sechzig Kilometer vielleicht.«

Irene sah zum Auto und ging dann zum Tankstellenshop.

»Wir besorgen noch was für Miriam.«

Jacobo folgte ihr nach drinnen. Durch die Glasscheibe sah er, dass der alte Mann aufgestanden war und jetzt am Rückfenster ihres Autos lehnte. Sprach er mit Miriam?

Was machte der Kerl da, fragte er sich, während Irene das Regal mit den Schokoriegeln ansteuerte. Er wollte gerade rausgehen, um dem Alten zu sagen, dass er ihre Tochter in Ruhe lassen sollte, als der Mann davonschlurfte. Irene bemerkte Jacobos besorgtes Gesicht. Um sie zu beruhigen, scherzte er: »Deine Tochter scheint ihn in die Flucht geschlagen zu haben.«

Irenes Handy summte.

»Sie sitzen auf dem Dorfplatz vor dem Diamond«, sagte sie, nachdem sie die Nachricht gelesen hatte. »Mein Bruder hat die Schlüssel.«

»Diamond, die hochkarätige unter den Kneipen«, versuchte Jacobo zu scherzen, aber er wurde das beunruhigende Gefühl nicht los, das dieser Alte in ihm auslöste. Mit müden Schritten schlurfte der Mann durch die sengende Sonne am Straßenrand entlang, ohne Ziel.

»Reiß dich zusammen, wenn wir da sind«, bat ihn Irene, während sie sich für ein Twix entschied. »Keine Scherze über das Dorf.«

Miriam hob nicht mal den Blick vom Handy, als ihre Mutter ihr den Schokoriegel zuwarf. Das Twix fiel in ihren Schoß.

»Wie wär’s mit einem Danke?«, sagte Irene vorwurfsvoll, während sie sich anschnallte.

»Ein Twix, Mama … wow, der Wahnsinn. Wovon hast du das überhaupt gekauft? Ich trau mich ja kaum, es aufzuessen.«

Jacobo startete den Wagen in der Hoffnung, dass Miriams sarkastische Bemerkung im Motorengeräusch unterging.

»Mäuschen, wir sind seit Stunden unterwegs. Willst du wirklich, dass wir uns streiten?« Irene lehnte sich in ihrem Sitz zurück und stellte das Radio an. Jacobo war dankbar, dass seine Frau dem Streit aus dem Weg ging.

Er rollte vom Parkplatz der Tankstelle und fuhr die Ausfahrt entlang. Als er auf Höhe des alten Mannes war, ging er vom Gas. Der Alte hob den Kopf und grüßte, wobei er wieder seine lückenhaften Zähne bleckte. Dabei beschirmte er die Augen mit den Händen, um nicht von der Sonne geblendet zu werden.

»Was hat der Mann zu dir gesagt?«, fragte Jacobo seine Tochter.

»Nichts«, erwiderte Miriam. »Er hat sich an die Scheibe gestellt und geschaut … Habt ihr die Kindersicherung reingemacht?«

Jacobo beschleunigte und bog auf die Straße ein, die sich in den kahlen, zerklüfteten Bergen verlor. Der Alte wurde im Rückspiegel kleiner, bis er schließlich nicht mehr zu sehen war.

Jacobo versuchte den alten Mann zu vergessen und sich vorzustellen, dass sie einfach eine Familie waren, die auf einer Landstraße in Richtung Süden fuhr. Er wusste, dass er sich etwas vormachte. In Wirklichkeit stürzten sie in einen Abgrund. Er betrachtete seine beiden Frauen – vor ein paar Jahren hatte er begonnen, sie so zu nennen –, und ihre ausdruckslosen Gesichter erinnerten ihn an einen verwahrlosten Garten, in dem die Blumen verwelkten.

Der Asphalt zog sich durch die Einöde wie eine Feuerschneise. Tabernas lag weiter im Süden, aber sie machten einen Umweg über Portocarrero. Mauersegler zogen ihre Kreise am Himmel.

Irene klappte die Sichtblende runter, das Schminktäschchen auf den Oberschenkeln. Sie tupfte sich den Schweiß ab und band die Haare zum Pferdeschwanz, bevor sie Puder auflegte. Ihre grauen Augen musterten aufmerksam jeden Zentimeter ihres Gesichts, während sie versuchte, die Erschöpfung der Reise zu überschminken. Die Erschöpfung dieses letzten Jahres.

Sie waren früh losgefahren. Miriam hatte während der sieben Stunden Fahrt kaum ein Wort gesagt. Sie kauerte auf der Rückbank, die nackten Füße auf dem Sitz, den Kopf übers Handy gesenkt, Kopfhörer auf den Ohren. Nur das gelegentliche Wummern der Musik, die sie hörte, erinnerte daran, dass sie überhaupt da war. Jacobo tat seine Tochter leid, wenn er an die Chats mit ihren Schulfreundinnen dachte, die ihr mit der Zeit immer fremder werden würden. »Miriam hat die Gruppe verlassen«, würde da eines Tages stehen.

 

»Sie haben mich gefeuert«, hatte Jacobo beim Nachhausekommen gesagt, nachdem man ihm die Kündigung ausgesprochen hatte.

Irene hatte ihn beruhigt und sich dann erkundigt, wie hoch die Abfindung war. Miriam hatte im Wohnzimmer mit ihren Puppen gespielt. Sie konnte sich stundenlang mit ihnen beschäftigen, sie zog sie an und aus, wechselte die Köpfe und sprach mit verstellter Stimme, aber nur ein paar Tage später lagen die Puppen vergessen in einer Ecke. Halb nackt, wie kleine Monster, die blonden Haare völlig zerzaust. Als Jacobo eines Morgens in Miriams Zimmer ging, um ihr zu sagen, dass sie das Bett machen sollte, stellte er fest, dass die Puppen nicht mehr da waren. Sie waren verschwunden.

Unbezahlte Rechnungen, Arbeitslosengeld, das früher gestrichen wurde als erwartet, das Haus im Grünen, das sie nicht mehr lange würden halten können. Wie schnell ging alles den Bach runter, was er für ewig gehalten hatte! Als Miriam geboren worden war, hatte Irene aufgehört zu arbeiten, obwohl er nie einen unbefristeten Arbeitsvertrag gehabt hatte. Wo sollte er in seinem Alter jetzt einen Job finden? Er schrieb Bewerbungen, kramte das alte Diplom hervor, die Berufserfahrung bei der Europäischen Eisenbahnagentur. Rief Leute an, die er für Freunde hielt.

Es war nicht einfach, zu erkennen, wie leicht die Welt auf ihn verzichten konnte. Die Kinder gingen weiter zur Schule, die Menschen saßen beim Kaffee zusammen und plauderten, jemand leerte abends die Mülltonnen. Die Welt drehte sich weiter, aber er war nicht mehr dabei.

Miriam weinte, als sie ihr mitteilten, dass sie umziehen würden. Sie versuchten es ihr so zu vermitteln, als ob es ihre Entscheidung wäre, aber in Wirklichkeit hatten sie keine andere Wahl. Vor drei Jahren war Irenes Mutter gestorben, ihr Haus auf dem Dorf stand leer. Sie hatten überlegt, es zu verkaufen, aber der Immobilienmarkt war zusammengebrochen. Kein Käufer interessierte sich für ein heruntergekommenes Landhaus. Eines Abends schloss sich Irene im Schlafzimmer ein und telefonierte über eine Stunde mit ihrem Bruder. Dann teilte sie Jacobo mit rotgeweinten Augen mit, dass Alberto einverstanden war. Sie konnten in ihr Elternhaus ziehen, bis sie eine andere Lösung gefunden hatten.

Aber es fand sich keine Lösung. Ihr Leben lag in Trümmern, und alles, was sie tun konnten, war, einen Schlussstrich zu ziehen und alles Gewesene zu vergessen. Jacobo verhandelte mit den Banken, um den Hauskredit abzulösen. Sie versuchten alles zu verkaufen, was irgendetwas wert war: die Waschmaschine, den Tiefkühlschrank, den Fernseher …

Und dann hatten sie sich auf den Weg in diese Wüste gemacht, in der Hoffnung, dass sie dort von vorn anfangen konnten. Das hatten sie sich immer wieder gesagt, während sich das Haus leerte und alles in Koffern und Kisten verschwand. Irene war dreiundvierzig, er ein Jahr älter. War wirklich noch Zeit für einen Neuanfang?

 

Als jemand an die Scheibe klopfte, schrak Miriam zusammen. Sie hatte nicht einmal bemerkt, dass sie das Dorf erreicht hatten. Auf der anderen Seite der Fensterscheibe stand ihr Onkel Alberto und gab ihr mit Zeichen zu verstehen, dass sie aussteigen sollte. Sie nahm den Kopfhörer ab.

»Kind, was bist du groß geworden!« Albertos Stimme wehte ins Auto, zusammen mit einer Brise Landluft, an deren Geruch sie sich nur schwer gewöhnen würde.

Miriams einzige Antwort bestand in einem Schulterzucken. Ihre Eltern stiegen aus, und Miriam hoffte, dass sich die Aufmerksamkeit auf sie richten würde. Wenn sie nicht hinschaute, würde dieser Ort, an dem sie angehalten hatten, auch nicht existieren. »Es stinkt nach Schwein«, hatte sie im Chat mit ihren Freundinnen geschrieben, als sie an den frisch gedüngten Feldern entlangfuhren. Es war das letzte Wort, das sie über diese Gegend verlor. Sprich nicht drüber, sieh nicht hin, dann wird sie verschwinden, sagte sie sich immer wieder. Miriam griff nach dem Twix, aber als sie die Verpackung öffnete, stellte sie fest, dass der Riegel in der Hitze geschmolzen war. Ihre Finger waren voller Schokolade. Sie leckte sie ab und versuchte unbeteiligt zu bleiben, aber das war unmöglich. Die Stimmen drangen bis ins Auto.

 

Der Platz, wie Irene ihn an der Tankstelle genannt hatte, war eigentlich gar kein Platz, sondern eine Straßenkreuzung. Ein erweiterter Bürgersteig und in der Mitte ein verdorrter Olivenbaum, ein Fossil eher. The Hanging Tree, dachte Jacobo, verkniff sich aber einen Kommentar. »Keine Scherze über das Dorf«, hatte Irene gesagt. Rings um den Olivenbaum standen ein paar Plastiktische und Plastikstühle. Dort saß eine Gruppe festlich gekleideter Männer und Frauen, die aufstanden, als sie die Neuankömmlinge sahen. Die Männer trugen Anzüge, die Frauen enge, tiefdekolletierte Kleider. Begrüßungen und Gläserklirren. Jacobo schwitzte.

»Trinkt einen mit.« Alberto klopfte Jacobo freundschaftlich auf die Schulter und umarmte dann seine Schwester.

»Wir würden uns gern einrichten, es war eine lange Fahrt«, versuchte sich Jacobo herauszureden.

Irenes Bruder ließ seine Entschuldigung nicht gelten und ging zu den Tischen, um ein Glas für seinen Schwager zu holen. Er roch nach Alkohol und Aftershave. Das Jackett hatte er abgelegt, sein Hemd klebte schweißnass am Körper. Man konnte die Haare auf seinem Rücken erkennen. Die Gruppe nahm Albertos Vorschlag begeistert auf, jemand holte ein Bier aus einer Kühlbox, und die Flasche wanderte von Hand zu Hand zu Jacobo. Andere aßen Schinken von fettig glänzenden Tellern. Alle hatten sich in Schale geworfen, wofür auch immer.

»Du siehst toll aus!«, hörte er Irenes Stimme.

Jacobo hielt in dem allgemeinen Trubel Ausschau nach seiner Frau und entdeckte sie, wie sie die Arme ausbreitete, um die Frau ihres Bruders zu begrüßen. Rosa trug ein fuchsiafarbenes Kleid. Als sie auf Irene zuging, schwankte sie, entweder, weil sie zu viel getrunken hatte oder weil sie nicht an die hohen Absätze gewöhnt war. Sie zupfte an ihrem Ausschnitt herum, damit die Brüste nicht herausfielen.

»Ein bisschen früher, und wir wären noch in der Kirche gewesen. Zwei Stunden hat die Hochzeit gedauert. Wir haben wie auf glühenden Kohlen gesessen«, sagte Rosa und küsste Irene rechts und links.

Die Flasche war mittlerweile bei Jacobo angekommen. Er war dankbar für einen Schluck kühles Bier. Es war heiß. Ein nervöses Klappern mischte sich unter das Stimmengewirr. Als trommle jemand mit den Fingern auf einen Tisch.

Es fiel ihm schwer, die Gesichter der Menschen wiederzuerkennen, die früher mal Irenes Freunde gewesen waren. In diesem Durcheinander aus Anzügen, weißen Hemden und Kleidern kamen sie ihm verändert und doch alle gleich vor. Fremd. Alberto und Rosa waren die Einzigen, die sie mal in der Stadt besucht hatten. Die einzigen Verwandten. Er selbst hatte nur das eine oder andere Weihnachten in Portocarrero verbracht oder mal bei einem Paar aus dem Dorf zu Abend gegessen. Als käme sie direkt aus dieser Erinnerung, hörte er jetzt die Stimme der Fuertes.

»Ich fass es ja nicht, Irene. Wir donnern uns hier stundenlang auf, und du siehst aus wie ein Model.«

Jacobo versuchte sich an ihren richtigen Namen zu erinnern. Berta? Er war sich nicht sicher, und es war eigentlich auch egal. Alle nannten sie nur die Fuertes. In einem geblümten Kostüm und einem Hütchen mit kleinem Schleier, der an der schweißnassen Stirn festklebte, zwängte sich die Fuertes mit ihren knapp ein Meter fünfzig zwischen Irene und Rosa, um die soeben Angekommene zu küssen. Sie hielt eine Zigarette zwischen den Fingern, und ihre Stimme klang gebrochen und rau, seit Schulzeiten schon, hatte Irene ihm erzählt. Man mochte kaum glauben, dass aus diesem kleinen, zierlichen Körper eine solche Stimme kam.

»Ich sollte dir keinen Kuss geben, sondern eins hinter die Löffel«, scherzte die Fuertes.

»Wer hat denn geheiratet?«, erkundigte sich Irene.

»Der Dicke und Isabelita aus der Bäckerei«, erklärte Rosa. »Aber du kennst sie ja eh nicht.«

»Den Dicken kenne ich«, verteidigte sich Irene.

»Wir müssen gleich weiter ins Asador, da ist die Feier. Aber sie hätten uns schon einen Bus stellen können. Hier kann doch keiner mehr Auto fahren.« Die Fuertes lachte schallend über ihre eigene Bemerkung.

Das Geräusch wurde lauter. Ein unregelmäßiges Flappen, das immer schneller wurde. Von den Tischen kam es nicht. Jacobo drehte sich um. Miriam saß nach wie vor im Auto und versank immer tiefer in die Rückbank; man sah nur noch ihre dunklen Locken, die schon die goldenen Reflexe der Kindheit verloren hatten. Wenn Miriam einen Fuß aus dem Auto gesetzt hätte, wäre sie reihum geherzt und geküsst worden, man hätte sie in die Wangen gekniffen und ihre knospenden Brüste bewundert. Unter dem Vorwand, die Feier nicht länger stören zu wollen, bat Jacobo Alberto um die Schlüssel für das Landhaus. Der wühlte in seinen Taschen, in denen ein paar Münzen klimperten.

»Warte. Ich glaube, ich hab sie in der Jackentasche.«

Woher kam dieses verdammte Geräusch? An der Ecke war die Diamond-Bar. Eine ausgeblichene Markise, die vielleicht einmal rot gewesen war, hing nutzlos unter der Mittagssonne. An den Tischen rings um den verdorrten Olivenbaum standen die Gäste, aßen und tranken und redeten laut durcheinander. Die umliegenden Straßen waren menschenleer.

Jacobo fragte sich, wo die Kinder waren.

Dann entdeckte er den Mauersegler. Er hockte an der nächsten Straßenecke auf dem Asphalt und flatterte ängstlich mit den Flügeln. Vielleicht war der Vogel verletzt; jedenfalls konnte er nicht fliegen.

Als die Tür des Diamond mit einem Krachen aufschlug, fuhr Jacobo herum. Ein Schmerzensschrei und dann: »Hau ab, geh nach Hause!«

Ein Mann wurde mit Schwung aus der Kneipe gestoßen, taumelte und stürzte auf die Straße. Das Lärmen auf dem Platz verstummte, als wäre mitten in der Vorstellung das Licht angegangen und als hätte es keinen Sinn, das Stück weiterzuspielen. Die Stille, die nun entstand, passte auf einmal zu den leeren Straßen, dem verdorrten Baum und den fehlenden Kindern. Der Mann rappelte sich mühsam auf. Er war schon älter, und Jacobo wunderte sich, dass er wieder auf die Beine kam. Obwohl er ihn noch nie zuvor gesehen hatte, wusste er sofort, wer er war. Irene hatte von ihm erzählt. Lange graue Haare, die zum Pferdeschwanz gebunden waren, Jeans und eine Lederjacke, unter der die sonnengegerbte Brust zu sehen war. Alte Haut. Sie nannten ihn nur den Indio. Er bückte sich, um seinen Hut aufzuheben, eine Melone mit einer Feder an der Seite, als er erneut einen Stoß bekam. Diesmal konnte der Mann sich auf den Beinen halten. Jacobo wollte eingreifen, aber da begegnete ihm Irenes Blick. Halt dich da raus, schien er zu sagen.

Nicht einmal die plötzliche Stille, die sich über den Platz gelegt hatte, schaffte es, Miriams Neugier zu wecken. Seine Tochter verschanzte sich nach wie vor auf der Rückbank des Autos und versuchte, sich unsichtbar zu machen. Was war mit dem Mauersegler passiert? War er weggeflogen? Jacobo konnte ihn nicht mehr sehen.

»Und dann besitzt du auch noch die Frechheit, hier aufzutauchen!«, schimpfte der Mann, der den Indio aus der Kneipe geworfen hatte. Es war Gines, der Mann der Fuertes. Dann änderte sich sein Ton, langmütig sagte er: »Los, nimm den verdammten Hut.« Er hob den Hut auf und setzte ihn dem Indio auf den Kopf.

Gines war immer noch genauso, wie Jacobo ihn in Erinnerung hatte: schwarzes, krauses Haar, pfannkuchenrundes Gesicht. Das Hemd, heute mit Krawatte, war bis zum obersten Knopf geschlossen, so dass es seinen kurzen Hals einschnürte. Er zog sich die Hose zurecht, während er wie ein Kreisel auf seinen zu kleinen Füßen hin und her schwankte.

»Ihr dürft ihnen nicht alles durchgehen lassen«, schimpfte der Indio, während er ein paar Schritte zurückwich.

»Lass gut sein.«

Ein weiterer Mann war aus der Kneipe gekommen. Jacobo beugte sich ein wenig vor, um zu sehen, wer da versuchte, den Streit zu schlichten: Es war Miguel, den alle nur Rubio nannten, der Blonde.

»Hör auf zu nerven. War doch nicht so schlimm. Verschwinde und lass uns in Frieden. Versau uns nicht die Hochzeit.« Damit schien das Problem für Rubio gelöst zu sein.

»Diese Bälger sind kleine Teufel«, murmelte der Indio und ließ seinen Blick vorwurfsvoll über die Anwesenden schweifen, die zu Zuschauern geworden waren. Gines und die anderen Gäste im Schatten des verdorrten Baumes: Alberto und seine Frau Rosa. Die Fuertes, die Rauchwölkchen ausstieß. Und auch Irene und Jacobo, die wie Fremdkörper in dieser Festgesellschaft wirkten. Jacobo fühlte sich unwohl. Er wich den Blicken des Indios aus und sah die leere Straße hinunter, während er sich erneut fragte, wo die Kinder waren.

Der Indio schlurfte durch ein Gässchen davon, das ins Unterdorf hinabführte. Nach einem kurzen Moment der Stille setzte das Lärmen wieder ein, Unterhaltungen, Gelächter und »gib mir noch einen Schluck«. Irene hatte sich an einen Plastiktisch gesetzt. Die Sonne schien auf ihre weiße Bluse, die im Gegenlicht ein wenig durchscheinend war. Gines stürzte auf Jacobo zu, um ihn zu begrüßen, doch er konnte den Blick nicht von seiner Frau wenden. Ein leichter Wind trug die Gluthitze der Wüste, die gleich hinter Portocarrero begann, durch das Labyrinth der Gässchen bis zum Dorfplatz und hob die Papiertischdecken, die Volants der Kleider und Irenes Haar, das ihr ins Gesicht wehte. Sie strich es beiseite, bevor sie Rubio begrüßte.

»Alberto hat mir erzählt, dass ihr ins Landhaus zieht.« Gines’ Gequatsche hinderte ihn daran, zu verstehen, was Irene zu Rubio sagte. Warum sie so glücklich aussah. »Du wirst ein bisschen was richten müssen. Soweit ich gesehen habe, ist das Dach in einem schlechten Zustand.«

Jacobo hatte nicht übel Lust, Gines eine reinzuhauen. Vielleicht spürte der Mann der Fuertes seinen Unmut, denn er setzte rasch hinzu: »Ich komme jeden Tag an dem Haus vorbei, wenn ich nach Tabernas zur Arbeit fahre.«

Irene und Rubio beugten sich zueinander. Rubio hatte das Jackett geöffnet, die schmale schwarze Krawatte schaukelte vor seiner Brust wie ein Pendel. Und dieser überlegene Gesichtsausdruck. Oder war es Mitleid? Jacobo wusste, dass die beiden ungefähr gleichaltrig waren, aber irgendwie schien die Zeit spurlos an Rubio vorübergegangen zu sein.

»Warum springt ihr so mit dem armen Mann um?«, sagte Jacobo statt einer Begrüßung zu Rubio.

»Der Indio tickt nicht ganz richtig. Ihr habt ihn länger nicht mehr gesehen. Das macht keinen Spaß mehr mit ihm …«

Rubio reichte ihm die Hand. Als Irene nach einer Zigarette fragte, kramte Jacobo das Päckchen hervor, aber noch bevor er Gelegenheit hatte, sein Feuerzeug zu suchen, hatte Rubio ihr schon Feuer gegeben. Alberto kam mit den Hausschlüsseln.

»Irene hat meine Telefonnummer«, sagte Rubio. »Wenn ihr was braucht …«

Der Satz blieb unvollendet in der Luft hängen. Jacobo bedankte sich und ging dann zum Auto, die Hausschlüssel in der Hand.

Irene warf die Zigarette weg, bevor sie einstieg, und trat sie mit der Schuhspitze aus.

 

Die Sonne brannte vom Himmel. Als Jacobo losfuhr, merkte er, dass er nassgeschwitzt war.

»Ich weiß nicht, was der Indio verbrochen hat, dass sie ihn so behandeln. Wie alt ist er? Siebzig?«

Irene gab keine Antwort.

Die Nationalstraße trennte das Dorf von der Wüste. Um zum Landhaus zu gelangen, musste man sie kreuzen und nach ein paar Kilometern auf eine Nebenstrecke abbiegen, die schon bald in einen Feldweg überging. Das Haus stand auf einem ausgetrockneten Stück Land. Verdorrtes Gestrüpp und Schotter, über den das Auto nun holperte. Jacobo dachte, dass er zuerst mal räumen musste, wenn er sich nicht die Reifen ruinieren wollte.

Das Gebäude sah aus, als wäre es schon viel länger verlassen, als es tatsächlich der Fall war. Der Putz war von den Wänden geplatzt und gab den Blick auf das darunterliegende Mauerwerk frei, braun wie die Berge, die es umgaben. Irene kämpfte mit der schweren Metalltür und versuchte, sie irgendwie zu öffnen. Miriam war ausgestiegen und betrachtete lustlos das Nichts, das sie umgab. Totes Land. Das ferne Rauschen der Schnellstraße verschwamm mit dem Wind und dem Zirpen der Zikaden. Steine, ausgebleicht wie Knochen, und rings ums Haus ein paar Feigenkakteen, die krank aussahen. Tage später würde Gines ihnen erzählen, dass eine Läuseplage daran schuld war. Die Läuse hatten sich in der ganzen Region um Almería ausgebreitet; sie saugten den Saft aus den Feigenkakteen, bis die Pflanzen schließlich eingingen. Man konnte nichts dagegen tun, außer sie zu verbrennen.

Ein ausgehungerter Kater kam aus dem Haus gerannt, als Irene schließlich das Schloss aufbekam. Die Tür kreischte schrill in den Angeln, weil die Scharniere eingerostet waren.

Es war, als beträten sie ein dahintreibendes Schiff. Staub und Sand lagen auf den wenigen Möbeln im Wohnraum: ein alter Sessel, ein offenes Regal. Miriam rief, da liege Kacke am Fuß der Treppe, die in den ersten Stock hinaufführte, wo sich zwei Schlafzimmer befanden. Bestimmt die Katze. Jacobo dachte, dass es ein Wunder wäre, wenn es hier fließendes Wasser und Strom gab und die Leitungen noch funktionierten. Alberto hatte sich theoretisch darum gekümmert, alles instand zu halten. »Gibt es da Internet?«, hatte Miriam vor dem Umzug gefragt. Es war einer der wenigen Momente gewesen, in denen sie nicht die Augen vor der Zukunft verschlossen hatte, die vor ihnen lag. »Ich glaube nicht, Mäuschen«, hatte Irene geantwortet.

In der Wohnzimmerdecke war ein langer Riss, der aussah wie die Silhouette einer Bergkette.

»Da kämpfe ich eine halbe Stunde mit der Haustür, und die Küchentür steht offen«, hörte er Irene aus der Küche schimpfen.

»Was für eine Tür?«, fragte Jacobo. Er versuchte energisch zu klingen, als ob der ruinöse Zustand, in dem das Haus war, ihm nichts ausmachte.

»In der Küche gibt es noch eine Tür. Sie führt in den Hinterhof, und sie ist offensichtlich kaputt. Sie geht nicht mehr zu«, erklärte Irene, als sie zurückkam. Sie klopfte sich den Staub von den Händen, der durch alle Ritzen drang, sosehr sie sich auch bemühten, ihn fernzuhalten.

Die Küchentür. Und in einer Ecke des Wohnraums ein Heizofen, der Jacobo völlig fehl am Platz erschien. Wie sollte man bei dieser Gluthitze irgendwann frieren?

»Sobald wir die Koffer ausgepackt haben, kümmere ich mich darum. Vielleicht lässt sie sich reparieren.«

Jacobo ging vors Haus und öffnete den Kofferraum. Darin befand sich alles, was ihnen von ihrem Leben geblieben war. Ringsum die Wüste. Das ferne Zirpen der Zikaden. Ein Stück weiter weg zeichneten sich auf einem Hügel die Umrisse eines Autos vor dem Himmel ab. Jemand stieg ein und fuhr los, bis der Wagen wie flüssiges Öl am Horizont verschwamm.

Das Krankenhaus

– Wach auf, Tiger –

»Jacobo?« Der Arzt wartete auf irgendeine Reaktion. Als keine kam, bedeutete er seinen Kollegen, den Beatmungsschlauch zu entfernen. »Halten Sie sich bereit für den Fall, dass er nicht selbständig atmet.«

Der Schlauch wurde aus seinem Mund gezogen; er war mit Blut und Schleim überzogen. Jacobo durchzuckte eine schwache, ferne Hitze, wie die Erinnerung an eine Wunde. Er hatte das Gefühl, in einem schwarzen, öligen Meer unterzugehen, und begann panisch nach Luft zu schnappen. Er hatte Angst, in der Schwärze, die ihn umgab, zu versinken.

Als die Ärzte das Beatmungsgerät abstellten, erhöhte sich sein Puls, allerdings im üblichen Rahmen. Einer der Ärzte drückte rhythmisch auf seinen Brustkorb.

»Wach auf, Tiger!«

Die Dunkelheit lichtete sich, und Jacobo konnte Umrisse erkennen. Stimmen, männliche und weibliche. Die Gestalten auf der anderen Seite seiner Augenlider flatterten herum wie Insekten.

Er erinnerte sich an den Schuss. Nicht an den Schuss selbst, sondern an den Knall danach, der von den Wänden des Landhauses zurückgeworfen wurde und immer noch in seinem Schädel widerhallte.

Eine der Gestalten beugte sich über ihn, und er spürte, wie sich eine kühle Hand auf seine Wange legte und eines seiner Augenlider hob. Dann blendete ihn ein weißer Lichtstrahl, der gleich darauf wieder erlosch.

Er atmete mühsam, aber er atmete selbständig.

 

Als er die Augen öffnete, war das Zimmer leer. Wie viel Zeit war vergangen? Wo waren diese Gestalten geblieben? Er war nicht in der Lage, einzuordnen, was er sah. Über ihm summte eine weiße Leuchtstoffröhre.

»Jacobo, können Sie mich hören?«

Woher kam diese Stimme?

»Sie brauchen nur zu zwinkern, wenn Sie mich hören. Zwinkern Sie einfach, wenn Sie mich verstehen.«

Und Jacobo zwinkerte. Er wollte den Kopf drehen, aber seine Muskeln gehorchten ihm nicht. Er stellte sich vor, wie seine Pupillen aufgeregt von einer Seite zur anderen flatterten, wie ein Vogel mit gebrochenen Flügeln.

»Sehr gut, Jacobo. Sie machen das sehr gut.«

Er ballte die rechte Hand zur Faust, zumindest kam es ihm so vor, auch wenn er nicht wusste, ob all diese Impulse tatsächlich eine äußere Reaktion zur Folge hatten oder lediglich in seinem Körper stattfanden.

»Ich heiße Manuel, aber hier nennen mich alle Lagarto, die Eidechse. Idioten sind das. Haben Sie Kraft genug, Ihren Astralkörper zu bewegen?«

Der kühle, herbe Geruch der Creme, die glitschige Haut und dieser Lagarto, sein Geplauder, bei dem sich lange Monologe über das Krankenhauspersonal mit nicht identifizierbaren Melodien abwechselten, einem leisen Summen, das die Stille ausfüllte. Und währenddessen Übungen, die seine Beweglichkeit wiederherstellen oder zumindest verbessern sollten. In dem Licht, das durchs Fenster fiel, traten die Narben in Lagartos Gesicht noch stärker hervor. Eine heftige Pubertätsakne, vielleicht auch Pocken. Wenn er ausnahmsweise mal schwieg, sah Jacobo, wenn er sich über ihn beugte, seine vorstehenden Augen und sein spitzes Gesicht, reglos wie eine Eidechse an der Mauer.

Als Lagarto seine Gliedmaßen bewegte, entfuhr Jacobo ein schmerzliches Stöhnen. Es war der erste Laut, den Jacobo von sich gab.

»Sehr gut, Jacobo«, lobte ihn Lagarto. »Mal sehen, ob Sie mich beim nächsten Mal schon richtig verfluchen können.«

Immer neue Stimmen, immer neue Menschen, die ihn in diesem Zimmer besuchten. »Wie geht es Ihnen, Jacobo?« Er stellte sich vor, wie sich sein abwesender, suchender Blick auf diese unbekannten Gesichter heftete, die ihn anlächelten und sich Mühe gaben, vertraut zu klingen. Aber wer waren sie? Manchmal roch die Luft ein bisschen nach Thymian. Nach Natur und Wind.

»Wissen Sie, weshalb Sie hier sind?«, fragte ihn einer.

Lagarto führte ihn in zu einem Sessel in der Zimmerecke. Es fiel ihm schwer, sich aufrecht zu halten.

»Ich bin Doktor Mendizabal, der Chirurg, der Sie operiert hat. Sie erholen sich sehr gut, Jacobo.«

Er strengte sich an, mit seinem Blick den Mann im weißen Kittel zu fixieren, der sich ihm gegenübergesetzt hatte. Aber in seiner Phantasie wurde der Mann zur Frau, der weiße Kittel zu nackter Haut. Das Krankenzimmer wurde zu einem nächtlichen Strand.

»Wissen Sie, weshalb Sie hier sind?«, hatte man ihn gefragt. Die Frage ergriff Besitz von ihm, wanderte durch seinen Körper wie durch ein riesiges Haus, in dem er Türen öffnete und wieder schloss und durch endlose Gänge wanderte, auf der Suche nach dem Kater, der irgendwo miaute.

»Ich habe Durst«, sagte er zu einer Krankenschwester.

In einer dieser Stunden, die ihm nun endlos erschienen, versuchte er sein Leben zu rekonstruieren. Er erinnerte sich an Zeugenaussagen von Menschen, die ein Zugunglück miterlebt hatten und nicht schildern konnten, was eigentlich passiert war. Aber ihm war nicht nur dieser eine Moment entfallen, in dem alles aus den Fugen geraten war. Sein ganzes Leben, seine ganze Geschichte waren nicht mehr als eine vage Ahnung, die er nicht näher bestimmen konnte. Nur zwei Dinge waren gewiss: seine Liebe zu Irene. Seine Liebe zu Miriam.

»Das ist Veronica, die Krankenhauspsychologin«, sagte der Chirurg.

Eine Frau im Blazer setzte sich neben Jacobo und legte ihre Hand auf seine. Er hatte Lagarto und die Krankenschwestern mit Fragen gelöchert, aber alle hatten nur gesagt, bald kämen die Ärzte und würden ihm alles erklären. Jetzt, das spürte er, tat sich ein Abgrund vor ihm auf, und er war dankbar für Veronicas Hand, die ihm Halt gab.

»Haben Sie keine Angst. In Ihrem Zustand ist es normal, dass es Ihnen schwerfällt, das Geschehene zu begreifen. Wahrscheinlich wissen Sie nicht mal, wie lange Sie schon hier sind. Zwei Monate sind es.«

Jacobo nickte. Er wusste, dass dies nur die Einleitung für eine Nachricht war, die schon durchs Zimmer flatterte wie ein gefangener Rabe.

»Die Einzelheiten kann Ihnen der Arzt später erklären. Vielleicht wissen Sie es nicht mehr, aber als Sie eingeliefert wurden, waren Sie noch bei Bewusstsein. Sie hatten eine Schussverletzung. Doktor Mendizabal hat Sie operiert. Der Schuss hat die Lunge durchschlagen, deshalb hat man Sie in ein künstliches Koma versetzt.«

Veronica machte eine Pause, damit Jacobo die Informationen verarbeiten konnte. Die Stille nach dem ersten Bissen nach einer langen Hungerzeit. Sein Körper musste diesen Brocken verdauen. Die Wörter, die dem allen einen Sinn gaben.

»Sie sind ein Kämpfer. Lagarto hat uns erzählt, wie sehr Sie sich anstrengen. Sie werden sehen, alles wird gut«, fuhr die Psychologin fort.

»Und Irene?«, brachte Jacobo mühsam heraus. Seit er wieder bei Bewusstsein war, hatte er ihren Namen nicht mehr ausgesprochen. Zumindest erinnerte er sich nicht daran.

»Ich weiß, das sind furchtbare Nachrichten, aber wir konnten nichts mehr für sie tun.« Veronica hielt Jacobos Hand noch fester. In diesem Moment wusste er, dass die Psychologin auf die Frage gewartet hatte. Die darauffolgende Erklärung klang nicht ganz aufrichtig, so als hätte sie vor dem Spiegel geübt. »Als die Rettungskräfte eintrafen, war sie schon tot. Haben Sie irgendeine Erinnerung an das, was passiert ist?«

Schlagartig sah er die blutbefleckten Hosenbeine dieses Mannes wieder vor sich.

Irenes Blut.

Er erinnerte sich, wie sie sich an ihn geschmiegt hatte, als sie sich liebten. Erhitzt, und so lebendig.

Es schnürte ihm die Kehle zu, und er befürchtete, wieder in diesem Meer aus Dunkelheit zu versinken, dem er gerade entkommen war. Aber er wollte durchhalten. Noch ein kleines bisschen durchhalten.

»Und meine Tochter?«

Veronicas Hand löste sich von seiner.

»Ihrer Tochter geht es gut. Sie ist in guten Händen.«

 

Irgendwann hörte Lagarto auf zu reden. Das Schweigen füllte der Physiotherapeut wie immer mit dem Summen von Liedern, die Jacobo nicht erkannte, aber seine Monologe hörten auf. Im Physioraum legte er ihn auf eine Liege und mobilisierte seine Beine. Inzwischen konnte Jacobo wieder stehen und sogar ein paar Schritte gehen. Er musste essen, Muskelmasse aufbauen. Er hatte fast zwanzig Kilo Gewicht verloren.

Er aß und ging in den Kraftraum. Er gab sich alle Mühe, wieder unabhängig zu werden. Nach wie vor hatte er kein Zeitgefühl.

»Die Polizei ermittelt. Sobald sie Genaueres wissen, werden sie mit Ihnen sprechen«, hielt ihn die Psychologin hin.

Auch Lagarto wich seinen Fragen aus.

»Mein Job ist es, Sie aus dem Krankenhaus rauszukriegen.« Der Physiotherapeut versuchte, launig zu klingen, aber in Wirklichkeit schnitt er das Gespräch ab.

Alberto kam ihn im Krankenhaus besuchen. Irenes Bruder erkundigte sich nach seinem Heilungsprozess und beglückwünschte ihn zu den Fortschritten, die er gemacht hatte. Am Anfang, so erzählte er ihm, hätten die Ärzte nicht geglaubt, dass er jemals wieder gehen könnte. Jacobo erkundigte sich nach Miriam und fragte, warum sie ihn nicht besuchen kam. Er wollte seine Tochter sehen. Wie hatte sie das alles überstanden? Aber sobald er diesem »das alles« einen Namen gab, erschien es ihm wie eine übergroße Last, ein tonnenschwerer Sisyphusstein, der sie alle überrollen würde: die Ermordung ihrer Mutter.

»Es geht ihr gut«, antwortete Alberto. »Sag den Ärzten, dass du sie sehen willst. Mich wollten sie auch nicht zu dir lassen. Sie wollen dich schonen. Ganz normal nach dem, was passiert ist.«

Irene war seit fast drei Monaten tot. Die Erinnerungen an jene Nacht im Landhaus überwältigten ihn immer wieder und brachen wie eine Sturmflut über ihn herein, wenn er am wenigsten damit rechnete. Er konnte keine Ordnung hineinbringen und flüchtete sich in einen einzigen Gedanken: Miriam war nicht zu Hause gewesen. Sie hatte bei Carol übernachtet, der Tochter der Fuertes. Ihr Zimmer war leer gewesen, die Männer hatten ihr nichts anhaben können, keiner von ihnen, nicht der mit der braunen Hose, keiner. Seine Tochter war in Sicherheit, und an diesen Gedanken klammerte er sich wie ein Schiffbrüchiger.

Später sah er Alberto mit Veronica den Flur entlanggehen, den Blick auf den Boden gerichtet. Nach einem kurzen Wortwechsel, den Jacobo nicht verstehen konnte, schüttelte Alberto energisch den Kopf und ging wortlos davon.

Die Tage vergingen, aber Alberto kam nicht mehr ins Krankenhaus.

 

»Die Polizei ist hier. Sie wollen mit Ihnen sprechen«, sagte Veronica eines Tages, als sie ins Zimmer kam. Sie setzte sich auf die Bettkante, Jacobo stand am Fenster. Er wusste, dass sie keine guten Nachrichten bringen würden. »Ich bin bei Ihnen«, versicherte die Psychologin.

Seine Erinnerung blieb bruchstückhaft. Körperlich wieder auf die Beine zu kommen erschien ihm mittlerweile einfacher, als Stück für Stück zu rekonstruieren, was einmal sein Leben gewesen war. Seine Vergangenheit war ein Déjà-vu. Das vage Gefühl, etwas schon einmal erlebt zu haben, Momente, Namen, Orte. Irene, ein Strand. Die kleine Miriam und die verdorrte Landschaft. Die Gestalten, die in das Haus eindrangen, die Schüsse. Der Schmerz, als die Kugel seine Brust durchschlug. Aber warum? Wer waren diese Männer, was wollten sie von ihnen? Weshalb wollten sie sie töten?

Kommissar Almela reichte ihm die Hand und bat ihn, Platz zu nehmen. Veronica hatte ihn zu einem Büro gebracht, in dem er noch nie gewesen war. Der Schreibtisch aus edlem Holz und die Aktenordner in den Regalen ließen vermuten, dass der Besitzer dieses Büros eine leitende Funktion innehatte. Ein zweiter Polizeibeamter, er war in Uniform, schloss die Tür hinter Jacobo und blieb daneben stehen. Befürchteten sie, er könnte fliehen? Kommissar Almela musste bereits am Ende seiner beruflichen Laufbahn sein. Mit seinen sechzig Jahren hatte er die Rente schon im Blick. Mit düsterer Miene sprach er ihm sein Beileid wegen Irene aus. Jacobo bedankte sich, und während er sich setzte, dachte er, dass Almela einer dieser Menschen war, die immer wussten, was auf einer Beerdigung zu tun war.

Ihm wurde bewusst, dass er nicht bei Irenes Beerdigung gewesen war.

»Wir wissen, Sie haben viele Fragen, aber wir wollten abwarten, bis es Ihnen besser geht, bevor wir mit Ihnen sprechen«, sagte Almela und setzte dann hinzu: »Die Ärzte haben uns gesagt, dass Ihre Erinnerungen noch ein wenig wirr sind.« Er beendete den Satz mit einem Schnalzen, das wie ein Punkt klang.

»Es fällt mir schwer, alles zu ordnen«, räumte Jacobo ein und blickte hilfesuchend zu Veronica.

»Keine Sorge, Jacobo. Die Polizei macht ihre Arbeit gut«, sagte die Psychologin, aber es klang nicht beruhigend. War es eine Warnung?

»Was jetzt kommt, wird hart für Sie sein«, fuhr der Kommissar fort. »Ich würde das lieber nicht sagen müssen, glauben Sie mir. Es ist schon zu viel passiert.«

Jacobo sah sich um, und ihm wurde klar, dass niemand in diesem Büro sein wollte.

»Ihre Frau hatte keine Chance. Sie wurde von zwei Schüssen getroffen. Einer ging in den Bauchraum, der andere, tödliche, in die Brust.«

Zwei Schüsse, dachte Jacobo. Zu wissen, dass keiner davon den Kopf getroffen hatte, war tröstlich. Seine Erinnerungen, stellte er fest, waren nicht nur lückenhaft, sondern auch trügerisch. »Gines Salvador hat die Rettungskräfte alarmiert. Er ist frühmorgens bei Ihnen vorbeigekommen, um ein paar Sachen zu holen, die Ihre Tochter für die Schule brauchte. Bücher. Ihm haben Sie es zu verdanken, dass Sie noch am Leben sind.«

Er dachte an Gines, den Mann der Fuertes. Er musste zu ihm gehen und sich bedanken. Der Kommissar erläuterte, dass die Angreifer weitere Schüsse abgegeben hatten. Einer davon hatte seine Lunge durchschlagen.

»Die Täter sind durch die Küchentür ins Haus eingedrungen«, fuhr er fort. Daran erinnerte sich Jacobo noch. »Wir konnten sie anhand der Spuren identifizieren, die sie hinterlassen haben. Beide sind wegen Drogenhandels vorbestraft. Haschisch, Kokain … Außerdem waren sie an einem weiteren Überfall im Dorf vor ein paar Monaten beteiligt. Es handelt sich um zwei Serben, Zoran Bukovij und Sinisa Petric, 42 und 23 Jahre alt. Aber wir konnten sie nicht festnehmen. Unseren Erkenntnissen zufolge haben sie am nächsten Tag ein Flugzeug von Madrid nach Zagreb genommen.«

Jacobo versuchte die gerade gehörten Informationen zu verarbeiteten. Bruchstückhaft, wie ein Lied, das so leise ist, dass man die Melodie nicht erkennen kann, kamen ihm Gespräche im Dorf über Einbrüche in verlassene Häuser in den Sinn, über Geister, die nachts ihr Unwesen trieben. Das Haus von Gines und der Fuertes. Er musste laut geredet haben, denn der Kommissar antwortete: »Es waren dieselben Männer, die in das Haus von Gines Salvador eingebrochen sind, aber diesmal glauben wir nicht, dass es ein Einbruch war, Jacobo.«

Diese Anrede und eine braune Mappe, die plötzlich auf dem Schreibtisch lag und auf der der Kommissar mit seinen dicken Fingern nervös herumtrommelte, gaben Jacobo das Gefühl, direkt auf den Abgrund zuzugehen. Diese klaffende Leere, die er schon beim Krankenhauspersonal wahrgenommen hatte, bei Alberto, der es nicht erwarten konnte, wieder gehen zu können, bevor das Gespräch einen Punkt berührte, an den er nicht tasten wollte.

»Die Täter haben nichts Wertvolles mitgenommen, und auch die Brutalität, mit der sie vorgegangen sind, passt nicht ins Bild. Es gibt Spuren, die darauf hindeuten, dass es einzig und allein darum ging …« Wieder das Trommeln auf der Mappe. Veronica räusperte sich. »Nun, dass es nur darum ging, Sie zu töten«, schloss Almela.

»Aber warum? Wir haben ihnen doch nichts getan …«, stammelte Jacobo. Er sprach von einer Gegenwart, die nicht mehr existierte, zumindest nicht für Irene.

»Die Tatsache, dass Bukovij und Petric am nächsten Morgen einen Flug genommen haben, den sie schon vier Tage vorher gebucht hatten, hat uns zu dieser Annahme gebracht. Wir glauben, dass sie im Auftrag gehandelt haben.«

Anderthalb Jahre in der Wüste, dachte Jacobo. Nichts anderes war ihr Leben im Landhaus gewesen. Was war in dieser Zeit vorgefallen, dass ihnen jemand nach dem Leben trachtete? Die Schuldgefühle schnürten ihm die Kehle zu. Er dachte an Rubio, Gines und die Fuertes, an Alberto und die Vorträge seiner Schwägerin Rosa über die Gepflogenheiten in Portocarrero. An all die Fehler, die er gemacht hatte.

Daran, wie falsch seine Liebe zu Irene gewesen war.

»Demnächst werden Sie entlassen, und dann müssen Sie sich dem Gerede stellen. Leider konnten wir Presse und Fernsehen nicht außen vor halten …«

»Wir sind immer für Sie da«, versicherte Veronica.

Dieses »Wir«, diese Armee, die versprach, ihn zu schützen – wer waren sie und wozu waren sie nötig?

»Wir haben diese Chats auf dem Handy Ihrer Tochter gefunden.« Der Kommissar schob sachte die Mappe über den Tisch. »Darin finden Sie einen Teil der Protokolle. Wir können Ihnen nicht alle zeigen, und Sie dürfen sie auch nicht behalten. Sie sind Bestandteil der Ermittlungen und damit vertraulich, und außerdem sind noch andere Minderjährige involviert. Deshalb wurden die Namen geschwärzt. Der Richter hat eine Ausnahme gemacht, weil ich ihm klarmachen konnte, dass meine Schilderung nicht ausreichen würde …«

Die Mappe in den Händen, sah Jacobo zwischen dem Kommissar und der Psychologin hin und her, auf der Suche nach einer Antwort.

»Jacobo, es deutet alles darauf hin, dass Ihre Tochter Miriam die beiden Killer beauftragt hat. Die Chatprotokolle lassen keinen Zweifel daran. Es tut mir aufrichtig leid, Ihnen das sagen zu müssen.«

»Wo ist meine Tochter?«, brach es aus Jacobo heraus. »Was haben Sie mit ihr gemacht?«

»Fürs Erste ist sie in einer geschlossenen Jugendeinrichtung untergebracht«, antwortete Almela.

»Jacobo, regen Sie sich nicht auf. Niemand tut Ihrer Tochter etwas«, versuchte ihn die Psychologin zu beruhigen.

Jacobo war aufgesprungen und hatte eine Schreibtischlampe vom Tisch gefegt, die nun am Kabel seitlich vom Tisch baumelte. Der Polizist, der neben der Tür gestanden hatte, war mit einem Satz bei ihm und hielt ihn fest. Jetzt verstand Jacobo, warum er dort war. Die braune Mappe lag auf dem Boden, ein paar Blätter waren herausgerutscht. Es sah aus, als streckte sie ihm die Zunge heraus.

»Das ist doch Irrsinn«, brachte er schließlich heraus. »Sie ist erst vierzehn … sie ist noch ein Kind.«

Nichts als Schweigen. Falls es eine Frage gewesen war, hatte niemand in diesem Raum eine Antwort darauf.

Chat

– Themawechsel –

Miriam: Ihr versteht das nicht.

 

XXX: Erklär’s mir. Ich bin ja nicht blöd. Jeder hat mal die Schnauze voll von seinen Eltern.

 

Miriam: Du kannst das nicht mit dir vergleichen. Das hier ist was ganz anderes. Oder kommt dein Vater nachts zu dir?

 

XXX: Tritt ihm in die Eier.

 

XXX: Geh zur Polizei.

 

Miriam: So dumm ist er nicht. Sie würden mich auslachen. Mein Vater würde behaupten, dass ich mir das nur ausdenke. Dass ich eine Psychopathin bin und nur deshalb nicht in Behandlung bin, weil wir arm wie Kirchenmäuse sind.

 

XXX: Du bist völlig fertig. Schlaf erst mal, morgen sieht alles schon ganz anders aus, du wirst sehen.

 

Miriam: Ich wüsste nicht, warum. Ist der Suffkopp morgen nicht mehr im Haus?

 

XXX: Du musst es jemandem erzählen.

 

Miriam: Ich erzähle es euch doch gerade. Ich will nicht, dass sonst jemand davon erfährt, klar?

 

XXX: Aber was sollen wir machen?

 

Miriam: Nichts. Da kann man nichts machen.

 

XXX: Sprich mit deiner Mutter!

 

Miriam: Die interessiert das einen Dreck.

 

XXX: Hast du noch Gras? Dann bau dir ’ne Tüte. Das entspannt.

 

 

XXX: Miriam?

 

Miriam: Er ist raufgekommen.

 

XXX: Nimm’s mit dem Handy auf.

 

Miriam: Er ist wieder weg. Hat durch die Tür geschaut und ich hab so getan, als würde ich schlafen. Ich rauch jetzt was, vielleicht penn ich ein und werde erst in zwanzig Jahren wieder wach …

 

XXX: Wenn sie alte Tattergreise sind, die sich in die Hose pinkeln, haha!!

 

Miriam: Dann mach ich’s wie die Pflegerinnen, die man immer im Fernsehen sieht. Ich lasse sie in ihrer vollgeschissenen Windel sitzen, und wenn sie jammern, setzt es was, haha!!

 

XXX: Du bist echt ein Biest!

 

Miriam: Wäre gut, wenn sie sich gegenseitig um die Ecke bringen, Beziehungstat, ihr wisst schon …

 

XXX: Vorsicht! Die Typen bringen immer zuerst die Kinder um und dann erst die Frau.

 

Miriam: Scheißkerle.

 

XXX: Und wenn sie einen Autounfall hätten?

 

Miriam: Bei meinem Glück wird das nie passieren … Aber es wäre toll. Stell dir vor, ich allein, ohne die beiden … Vielleicht haben sie ja eine Lebensversicherung und ich hab ausgesorgt.

 

XXX: Meine Eltern sagen, es wäre besser, wenn die beiden sich trennen.

 

Miriam: Und dein Onkel, XXX, was sagt der?

 

XXX: Zu mir nichts.

 

Miriam: Es ist wie bei alten Gäulen. Denen gibt man auch den Gnadenschuss.

 

XXX: Wenn du zur Killerin wirst, geb ich dir meine Adresse.

 

Miriam: Nix da, jeder bringt seine eigenen Eltern um. Das hier ist kein Call a Killer, hahaha!!!

 

XXX: Ihr geht zu weit. Ich lösche jetzt diesen Chat.

 

XXX: Wir machen doch nur Witze

 

Miriam: Außerdem bin ich erst dreizehn, da kann man nicht bestraft werden. Ich kann das halbe Dorf umbringen und laufe weiter frei rum.

 

XXX: Ich hätte da noch ein paar Namen für deine Liste.

 

Miriam: Ich könnte mir ein Messer holen, in ihr Schlafzimmer schleichen und ihnen die Kehlen durchschneiden.

 

XXX: Und während du den einen umbringst, wacht der andere auf. Das geht nicht gut.

 

Miriam: Stimmt. Und jeder weiß, dass ich es war. Ich komme nicht ins Gefängnis, aber ich will auch nicht als Irre dastehen.

 

XXX: Sieh die gute Seite. Du wärst berühmt. Die Killerin von Portocarrero, hahaha!!! Du wirst interviewt, der Fall wird verfilmt …

 

XXX: Und wenn du sie vergiftest?

 

Miriam: Ich bräuchte ein Gift, das sich nicht nachweisen lässt. Die Polizei braucht nur ein Haar, um rauszufinden, was du geraucht hast.

 

XXX: Reicht es nicht, wenn du deinen Vater umbringst?

 

Miriam: Es müssen beide sein.

Miriam hat den Gruppennamen in »Wie man seine Eltern umbringt« geändert

XXX: LOL

 

Miriam: Die Küchentür geht nicht zu. Eines Nachts kommt ein Einbrecher und erschießt sie. Nur mal angenommen …

 

XXX: Und wo bist du dann?

 

Miriam: Bei dir. Zum Fernsehen. Hahaha!!!

Die Kurve

– ein bisschen sonderbar –

Nora hielt in einer Kurve am Straßenrand. Mit Angelschnur befestigte sie einen Strauß weißer Rosen an der Leitplanke und lehnte sich dann an die Kühlerhaube, den Blick auf Portocarrero gerichtet. Sie kam sich wie eine dieser einsamen Frauen aus einem Hopper-Gemälde vor, umgeben von öden Landschaften, in denen sie wie Fremdkörper wirkten. Das Rot der Erde und die weißen Häuser des Dorfs vor der Wüste. Sie neigte leicht den Kopf zur Seite bei dem Gedanken, wie die Sonnenstrahlen darauf fallen würden. Ihr rundlicher Schatten fiel auf den Ford Fiesta.

Ein Auto hielt neben ihr und riss sie aus ihren Gedanken. Der Fahrer ließ das Seitenfenster herunter. Technomusik drang aus dem Wageninneren. Nora löste sich von der Kühlerhaube und sah ihr Lächeln in der getönten Scheibe, die langsam im Türrahmen verschwand. Der Warnblinker ging mit einem leisen Klacken an und aus. Es störte sie, dass er nicht im Takt der Musik blinkte, die aus dem Auto kam.

»Alles in Ordnung?«, hörte sie eine Stimme fragen, bevor sie das Gesicht des Fahrers sah.

Nora hielt schützend die Hand vor die Augen und nickte. Der Typ konnte nicht viel älter als achtzehn sein. Wie er da lässig in seinem beigen Ledersitz saß, eine Hand aufs Lenkrad gelegt, kam er ihr vor wie ein Dieb, der ein Paar Schuhe gestohlen hatte, die ihm zu groß waren. Jetzt drehte er die Musik leiser und wiederholte seine Frage.

»Alles in Ordnung?«

»Ach so, ja klar. Prima.«

Der Typ sah zu dem Blumenstrauß, den Nora an die Leitplanke gebunden hatte. Der Wind hatte ein paar Blütenblätter davongeweht. Ich muss aufhören, diese Dinge zu tun, dachte sie. Aber sie wusste genau, dass sie es nicht tun würde.

»Wie heißt du?«, fragte Nora.

»Entschuldigen Sie?«, sagte der Typ unbehaglich. Vielleicht überlegte er gerade, ob es angebracht war, ihr sein Beileid auszusprechen.

»Wie du heißt. Damit ich es meinem Therapeuten erzählen kann.« Sie verstellte ein bisschen die Stimme. »›Heute hat an der Landstraße ein sehr netter junger Mann angehalten und mich gefragt, ob alles in Ordnung ist.‹ Das macht nämlich nicht jeder, weißt du? ›Der junge Mann hieß …‹« Nora gab ihm mit einer auffordernden Geste zu verstehen, dass er den Satz vollenden sollte.

»Nestor«, antwortete er, als sei es eine Preisfrage.

»Nestor«, wiederholte Nora. Sie kramte ein Notizheft aus dem Handschuhfach. »Ich schreib’s mir auf.«

»Wenn alles in Ordnung ist, würde ich dann …«

»Klar, Nestor, fahr ruhig weiter. Mir geht’s wirklich prima.«

Nora nahm an, dass Nestor einen letzten Blick auf den Blumenstrauß warf, bevor er die Fensterscheibe hochfuhr, die Musik wieder lauter drehte und in seinem 3er BMW 330d in Richtung Portocarrero davonfuhr. Sie hatte Zeit, das Kennzeichen zu notieren, während sie über die ganzen absurden Daten nachdachte, die sie in ihrem Kopf abgespeichert hatte. Automarken, Fabrikationsdaten. Dieser schwarze BMW war wahrscheinlich von 2002. Eine seiner Lehren, die sich fest in ihr Gedächtnis eingebrannt hatten, und gleichzeitig eine der weniger schmerzlichen: seine Begeisterung für Autos.

Während der Wagen auf der Landstraße immer kleiner wurde, überlegte sie, dass der BMW vielleicht ein Geschenk des Onkels war, damit der Junge lernte, damit umzugehen. Nicht jeder lernte in so einem Wagen das Autofahren. Sie selbst hatte natürlich keinen BMW bekommen. Wie lange Nestor wohl schon den Führerschein hatte? Auf der Rückscheibe war kein »A« für »Anfänger«.

Nora ging zu ihrem Auto und fuhr weiter. Zurück blieben die Blumen.

 

Auf der Suche nach einem Parkplatz kurvte Nora durch die Straßen. In dem engen, verwinkelten Dorf war kaum Platz für Autos. An einer Steigung würgte sie ein paarmal den Motor ab und fürchtete, dass sie die Aufmerksamkeit der gesamten Nachbarschaft auf sich zog. Schließlich parkte sie am Ortsrand, dort, wo die Häuser endeten und die Straßen sich in der Landschaft verloren. Im Schatten der meist zweigeschossigen Häuser ging sie eine Straße entlang, bei der es sich um die Hauptstraße des Dorfes zu handeln schien. Calle Joaquín Gómez. Auf den Türstufen dösten Katzen. Abgemagerte Hunde schlichen mit gesenkten Köpfen über die Straße, während unbarmherzig die Sonne vom Himmel brannte. Wenn sie nicht bald irgendwo eine Klimaanlage fand, würde sie ohnmächtig zusammenbrechen. Auf ein leerstehendes Haus war mit schwarzer Farbe die Aufschrift »Supermarkt« gepinselt. Ein Pfeil zeigte die Richtung an.

Nachdem sie eine Weile durch diese seltsame Kulisse gewandert war, stellte sie fest, dass ihre Angst, die Anwohner könnten auf sie aufmerksam werden, als sie den Motor abwürgte, völlig unbegründet gewesen war. Portocarrero war wie ausgestorben.

Über den Dächern erhob sich ein Kirchturm, der im oberen Teil des Dorfes stand. Sie überlegte, ob sie dorthin gehen sollte. Spielte sich das Dorfleben nicht immer rund um die Kirche ab? Aber dann kam sie an eine Straßenkreuzung, wo der Bürgersteig ein wenig breiter wurde. Dort stand ein völlig kahler Baum, dessen Wurzeln die Pflastersteine angehoben hatten. Und an der Ecke eine Kneipe. Diamond, las sie auf der Markise.

Als sie den Plastikvorhang beiseiteschob, schlug ihr kühle Luft entgegen. Eine Klimaanlage. Die Haare klebten ihr schweißnass an den Schläfen. Sie strich sie zurück und kramte ein Zopfgummi aus der Tasche, aber als sie vor der Theke stand, überlegte sie es sich anders. Hinter den Flaschen war ein Spiegel, und als sie ihr rotes Gesicht sah, erinnerte sie sich wieder daran, dass ein Pferdeschwanz ihren gedrungenen Hals und die breiten Schultern betonte und ihren Kopf wie eine Olive wirken ließ, die auf einem birnenförmigen Körper steckte. Sie bestellte ein Bier und fuhr sich mit den Händen durch die Haare.

»Danke«, sagte sie zu dem Kellner, als er ihr das Glas hinstellte. An einem Tisch spielten vier alte Männer schweigend eine Partie Domino, als ob das ihre tägliche Strafe wäre. Am anderen Ende der Theke entdeckte sie Gines Salvador: klein – er überragte sie nur um wenige Zentimeter –, das zurückgegelte, gekringelte Haar, das bis oben zugeknöpfte Hemd. Aber es war vor allem das leichte Hinken, mit dem er das linke Bein nachzog, als er eine Zeitung auf die Theke legte, das ihr bestätigte, dass er es war.

»Darf ich?«, fragte Nora und griff nach der Zeitung.