Monteperdido – Das Dorf der verschwundenen Mädchen - Agustín Martínez - E-Book
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Monteperdido – Das Dorf der verschwundenen Mädchen E-Book

Agustín Martínez

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Beschreibung

Ein verschworenes Dorf. Zwei verschwundene Mädchen. Und die düsteren Gipfel, die nur eines von ihnen wieder zurückbringen. »Erstklassig.« WDR 2 Lesen Hoch oben in den Pyrenäen liegt Monteperdido. Vor fünf Jahren sind die elfjährige Ana und ihre Freundin Lucía spurlos von hier verschwunden. Kaum jemand glaubt, dass sie noch am Leben sind. Da taucht völlig unerwartet die inzwischen sechzehnjährige Ana wieder auf, bewusstlos in einer Schlucht. Kommissarin Sara Campos von der Bundespolizei lässt sofort die Straßen absperren; eine verzweifelte Suche beginnt. Wo ist Lucía? Ist sie noch am Leben? Doch die Berge um Monteperdido schweigen, trügerisch rauschen die Pappelwälder, gefährlich schwillt der reißende Fluss Esera an. Unter den Bewohnern von Monteperdido greifen die Verdächtigungen um sich: War es ein Fremder oder einer von ihnen?

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Agustín Martínez

Monteperdido – Das Dorf der verschwundenen Mädchen

Kriminalroman

Aus dem Spanischen von Lisa Grüneisen

FISCHER E-Books

Inhalt

[Widmung]Der Hirsch[Zeitungsartikel]Monteperdido1/Tauwetter2/Das Hochwasser3/Der Tanz der Männer4/Die Schlucht5/Der See6/Die Treibjagd7/Die weiße HirschkuhDank

Für Laura, weil sie allem Sinn verleiht.

 

 

In Gedenken an Gonzalo Martínez Montiel.

Obwohl ich weiß (zu wissen glaube), was er zu diesem

Roman gesagt hätte, hätte ich es so gern gehört.

Der Hirsch

»Lass die Mädchen doch spielen«, sagte Raquel.

Ihre Tochter war eine Anhöhe hinaufgeklettert und vergrub die Hände im Schnee. Ihre Füße hatten kleine schwarze Löcher im makellosen Weiß hinterlassen. Oben angekommen, richtete sie sich auf und breitete unsicher die Arme aus. Es sah aus, als würde sie jeden Moment das Gleichgewicht verlieren und in den Schnee kullern. Sie lachte, als ob sie heftig gekitzelt würde.

Dann bückte sie sich, um einen Schneeball zu formen. Sie war aufgeregt wie am Weihnachtsmorgen, sie juchzte und quietschte vor Freude. Vor lauter Begeisterung glitt ihr der Schnee immer wieder durch die Finger. Ana war elf.

»Sie werden sich noch weh tun, du wirst sehen«, unkte Montserrat, während sie sich neben Raquel auf eine Bank setzte.

Montserrats Tochter Lucía stand am Fuß der Anhöhe. Sie duckte sich, um dem Schneeball auszuweichen, den Ana gerade zu formen versuchte. Die beiden waren Nachbarsmädchen. Sie waren gleichaltrig, und sie waren unzertrennlich.

»Sie tun sich nicht weh, wenn sie in den Schnee fallen«, widersprach Raquel. »Und außerdem machen sie sowieso, was sie wollen.«

Als Ana am Morgen gesehen hatte, dass es geschneit hatte, war sie in die Küche gestürmt, wo Raquel gerade den Frühstückstisch abräumte, und hatte ihre Mutter angebettelt, mit ihr zum Spielen nach draußen zu gehen. Raquel versprach es ihr, obwohl sie lieber im warmen Haus geblieben wäre. Vor dem Mittagessen gingen sie nach nebenan zu Montserrat. Als die Tür geöffnet wurde, stürmte Ana sofort hinein. »Schneeballschlacht!«, rief sie.

Kurz darauf gingen Raquel und Montserrat mit ihren Töchtern spazieren. Ana und Lucía liefen ein paar Meter voraus, dick eingepackt in ihre Mützen, Handschuhe und Daunenjacken. Die von Ana war pink, die von Lucía dunkelblau. Zwei bunte, kreischende, hüpfende Kugeln, die kreuz und quer durch den Schnee rannten und erst stehen blieben, als sie den Park erreichten.

Die Anhöhe, die Ana hinaufgeklettert war, war eigentlich die Rutsche, die unter dem Schnee verschwunden war. Ana bewarf Lucía von oben mit Schneebällen und versuchte, so tief zu sprechen, wie sie nur konnte. Sie wollte ein Oger sein, ein böses Monster. Lucía ging hinter der Schaukel in Deckung, die sich in einen weiß überzuckerten Schutzwall verwandelt hatte.

Es war ein wolkenloser Tag, die Sonne brachte den Schnee zum Glitzern und schien warm auf Raquels Haut. Sie schloss die Augen und atmete tief die Luft aus den Bergen ein, klar und kalt wie ein Gebirgsbach. Neben ihr vergrub sich Montserrat in ihrem Mantel.

Der Wind rauschte leise in den Bäumen. Das Rauschen war wie ein weiches Bett, über dem die Schreie und das Lachen der Mädchen tanzten. Raquel saß still da und erinnerte sich an die Wärme und den Geruch ihres Mannes, der sie beim Aufwachen unter der Bettdecke umarmt hatte.

Der Fluss floss lautlos dahin, unter einer dünnen Eisschicht verborgen.

Das Dorf lag ruhig und reglos unterm Schnee.

Ein Hirsch trat aus dem Wäldchen, das den Park umgab. Als hätte sie seine Gegenwart gespürt, öffnete Raquel die Augen. Auf seinem Geweih und auf seinem Rücken lag Schnee. Er kam genau auf sie zu, ohne Angst und ohne auf die Kinder zu achten.

»Das gibt’s doch nicht«, murmelte Montserrat.

Raquel bedeutete ihr, still zu sein und nicht nach den Mädchen zu rufen. Der Hirsch kam ganz nah an die Bank heran, auf der sie saßen. Seine Hufe versanken im Schnee. Die Sonne verlieh seinem Fell einen rötlichen Schimmer. Er erschien Raquel größer als jeder andere Hirsch, den sie je gesehen hatte. Als er nur noch ein paar Schritte entfernt war, schloss Raquel erneut die Augen. Sie stellte sich vor, wie er ganz nahe kam und kurz innehielt, um sie anzusehen und an ihr zu schnuppern. Sie konnte seinen Atem spüren. Als wäre es der Atem dieses Dorfes, dieser Berge.

Als sie die Augen wieder öffnete, war der Hirsch verschwunden.

Die Mädchen bewarfen sich lachend mit Schneebällen.

Raquel wusste, dass sich dieses Bild in ihr Gedächtnis einbrennen würde. Dass sie es irgendwann wieder hervorholen würde, wie jemand, der Schutz an einem vertrauten Ort sucht.

Monteperdido erschüttert über das Verschwinden zweier elfjähriger Mädchen

Ana M. M. und Lucía C. G. (beide 11), verließen am vergangenen Donnerstag gegen 17 Uhr die Schule Colegio Valle de Esera und machten sich wie jeden Tag auf den Heimweg nach Los Corzos, einer Siedlung etwas außerhalb von Monteperdido, Provinz Huesca. Doch dort kamen sie nie an.

»Uns ist bewusst, dass die ersten Stunden entscheidend sind. Wir haben nicht so viel erreicht, wie wir erhofft hatten, aber wir werden nicht aufgeben, bis Ana und Lucía wieder zu Hause sind«, sagte ein Polizeisprecher. Er verneinte außerdem, dass es an der Stelle, wo sich die Spur der Mädchen verliert, Anzeichen von Gewalt gegeben habe, die auf einen dramatischen Ausgang schließen ließen.

Die Eltern der Mädchen wollten keine öffentliche Stellungnahme abgeben, ließen jedoch durch einen Sprecher der Familien mitteilen, dass sie zutiefst erschüttert und fassungslos seien. Ihren Töchtern sei der Nachhauseweg bestens vertraut, so dass auszuschließen sei, dass sie sich verlaufen haben könnten. Sie fragten sich, wer die beiden entführt haben könnte, und hofften darauf, dass die Mädchen diese Frage schon bald selbst beantworten würden.

Ein Dorf im Schock

Monteperdido, in einer spektakulären Gebirgskulisse inmitten zweier Nationalparks in den Hochpyrenäen gelegen, ist ein beliebter Urlaubsort. Ana und Lucía waren im Dorf bekannt und beliebt. Sie waren gute Schülerinnen und, da sie Tür an Tür wohnten, unzertrennlich.

Die Einwohner beteiligen sich mit großem Einsatz an der Suche, doch angesichts des ausbleibenden Erfolgs macht sich allmählich Besorgnis im Ort breit. Niemand hat etwas gesehen oder gehört; es ist, als hätten sich die Mädchen in Luft aufgelöst. Die Polizei hat eine Sonderkommission gebildet.

»Wir wissen, dass es schwierig ist, aber wir bitten um Geduld und darum, die Privatsphäre der Familien zu achten«, so ein mit dem Fall betrauter Ermittler. »Die Situation ist traumatisch, aber wir hoffen, den Fall so schnell wie möglich lösen zu können. Dafür brauchen wir jede Unterstützung, sowohl der Nachbarn als auch der Medien.«

»Wir wollen einfach glauben, dass es den Mädchen gutgeht. An diese Hoffnung klammern wir uns«, sagte ein enger Angehöriger der Mädchen. Ein Hoffnung, die ganz Monteperdido eint.

Monteperdido

Fünf Jahre später

1/Tauwetter

Mit Beginn des Sommers schmolz der Gletscher. Die Eisplatten zersprangen mit einem leisen Krachen, und ein dünnes Wasserrinnsal floss die Hänge des Berges hinab, der dem Dorf gegenüberlag und ihm seinen Namen gab: Monteperdido, der verlorene Berg.

Wenige Kilometer talabwärts lag ein Auto auf dem Grund einer Schlucht. In eine Wolke aus Staub und Rauch gehüllt, lag es mit zersplitterter Windschutzscheibe auf dem Dach, die Vorderräder drehten sich in der Luft. Hundert Meter darüber führte der Schotterweg den Berg entlang, von dem aus es in die Tiefe gestürzt war. Bei seinem Sturz hatte es eine Schneise aus zerfetzten Bäumen und aufgewühlter Erde hinterlassen.

Der Wind wehte den Rauch davon und gab die Sicht ins Innere des Wagens frei. Ein dünnes Rinnsal quoll unter der Tür hervor und bildete eine immer größer werdende Blutlache. Das Blut kam von der Stirn des Fahrers, der kopfüber im Sicherheitsgurt hing. Der Aufprall hatte ihm den Schädel gespalten.

Nur der Wind war zu hören, dann ein leises Stöhnen. Ein Mädchen kroch durch die geborstene Heckscheibe aus dem Auto, Glassplitter gruben sich tief in ihre Oberschenkel. Ihre Arme waren von feinen Schnitten übersät, die Kleidung war zerfetzt, die Haare hingen ihr wirr ins Gesicht. Sie war nicht älter als sechzehn. Sie biss die Zähne zusammen und gelangte mit letzter Kraft ins Freie. Dann ließ sie sich erschöpft fallen. Ihr Atem ging stoßweise, und bei jedem Atemzug durchlief ein Zittern ihren Körper.

Der Abgrund, in dem das Auto zerschellt war, war praktisch unzugänglich. Eine tiefe Schlucht, umgeben von Bergen, auf deren Gipfeln noch Schnee lag.

An der Schlucht entlang schlängelte sich die Straße durchs Tal. Ein Geländewagen hatte am Straßenrand angehalten. Daneben stand ein etwa dreißigjähriger Mann und blickte in die Tiefe. Er nahm die Sonnenbrille ab, um sich zu vergewissern, dass er richtig sah. Dann nahm er sein Handy aus dem Handschuhfach und wählte eine Nummer.

 

Auf dem Platz vor der Kirche Santa María de Laude in Monteperdido fanden seit fast fünf Jahren Mahnwachen für die verschwundenen Mädchen statt. Vom ersten Tag an hatten sich hier die Familien und Dorfbewohner versammelt, aber auch Fremde und Journalisten. Vor dem Kirchenportal standen Gedenktafeln mit Blumen und Spielzeug, kleinen Botschaften … Alle wollten ihren Schmerz und ihre Wut zum Ausdruck bringen.

Víctor Gamero, der Leiter der örtlichen Polizeiwache, erinnerte sich, dass als Erstes die Journalisten weggeblieben waren. Davor hatte er, damals noch als einfacher Streifenpolizist, gegen die Belagerung der Familie vorgehen müssen, gegen die Menschenmassen, die aus anderen Dörfern herbeiströmten, um sich an der Suche zu beteiligen.

Joaquín Castán, Lucías Vater, würde enttäuscht sein. Mittlerweile kamen nur noch Einheimische zu den Mahnwachen, und auch längst nicht mehr alle. Es war zu viel Zeit vergangen, und das Dorf konnte nicht jedes Mal stillstehen, wenn Joaquín beschloss, eine Mahnwache zu organisieren, um an den Fall zu erinnern.

Auf beiden Seiten des Tisches, an dem die Eltern saßen, lächelten Lucía und Ana von großen Fotos in die Kamera. Lucía mit zusammengekniffenen Augen und einem schelmischen Lächeln, als hätte man sie beim Spielen überrascht. Anas leichtgeöffneter Mund ließ einige Zahnlücken erkennen. Ihre Haut war von der Sommersonne gebräunt, und ihr blondes Haar kontrastierte mit ihren großen dunklen Augen. Die Mädchen waren glücklich gewesen, als diese Aufnahmen gemacht wurden, und doch wirkten die Fotografien traurig an diesem Tag, an dem sich Lucías Vater darüber beschwerte, dass die Polizei so wenig in die Suche investierte.

Víctor Gamero spürte, wie sein Handy vibrierte, und ging ein wenig beiseite, um den Anruf entgegenzunehmen. Es war einer seiner Beamten, Burgos, der nur zögerlich berichtete, was geschehen war. Er wusste, dass die Sache seinem Vorgesetzten ganz und gar nicht gefallen würde.

»Warum hat mir keiner Bescheid gesagt? Wer hat das angeordnet?«, schimpfte Gamero.

Man hätte ihn informieren müssen. Er war der Leiter der örtlichen Polizeiwache, und man hatte die einzige Zufahrtsstraße zum Dorf ohne seine Erlaubnis gesperrt.

 

Kriminalkommissarin Sara Campos erklärte dem Streifenpolizisten, was er zu tun hatte. Er sollte sämtliche Autos anhalten, die nach Monteperdido wollten oder von dort kamen, und die Kofferräume und die Ladeflächen der Lkws kontrollieren. Niemand dürfe passieren, auch keine Bekannten. Burgos regte sich auf, dass die Ermittlerin diese Möglichkeit überhaupt in Betracht zog: »Wenn ich in Uniform bin, mache ich nicht mal für meine Mutter eine Ausnahme«, sagte er.

»Haben Sie Ihren Vorgesetzten schon informiert?«, fragte Sara Campos, ohne weiter auf die angeknackste Ehre des Polizisten einzugehen.

»Gerade eben. Er wartet an der Tankstelle am Ortseingang auf Sie«, antwortete Burgos, immer noch mit verärgertem Gesicht.

Sara kehrte Burgos den Rücken und ging zum Wagen, wo Santiago Baín auf sie wartete. Der Wind aus den Bergen war kalt. Sie zog den Reißverschluss ihres schwarzen Sweaters hoch und vergrub die Hände in den Taschen. Ihr braunes Haar wehte im Wind. Als ihr Vorgesetzter sie aus dem Auto heraus fragend ansah, rollte Sara genervt die Augen.

Inspektor Santiago Baín wartete mit laufendem Motor darauf, dass die örtliche Polizei die Absperrungen auf der Straße beiseiteräumte, damit sie nach Monteperdido weiterfahren konnten. Er hätte auch einfach anrufen oder die Familie ins Krankenhaus in Barbastro bestellen können, aber er wollte ihre Reaktion vor Ort sehen. Sie in ihrer vertrauten Umgebung beobachten. Er wusste, dass das, was er ihnen mitzuteilen hatte, nicht das Ende war, sondern erst der Anfang einer Geschichte, die noch längst nicht aufgeklärt war.

Sara räumte Papiere und Aktenmappen vom Beifahrersitz aufs Armaturenbrett und stieg ein.

»Mal sehen, ob er sich dran hält und die Autos kontrolliert«, sagte sie ohne große Hoffnung. »Ich denke mal, es passt ihm nicht besonders, seinen Nachbarn hinterherzuschnüffeln.«

Burgos öffnete die Absperrung und ließ den Wagen passieren. Inspektor Baín steuerte über die schmale Straße, die talaufwärts nach Monteperdido führte. Obwohl es noch nicht spät war, ging die Sonne bereits unter. Die Straße, die dem Flusslauf des Esera folgte, lag zwischen zwei gewaltigen Gebirgsmassiven. Zu beiden Seiten erhoben sich die Zentralpyrenäen und tauchten das Tal in Schatten. Die Straße schraubte sich in Serpentinen die Berge hinauf und wurde an einigen Stellen sehr steil und schmal, aber die Gipfel, die ringsum in den Himmel ragten, waren immer noch weit entfernt. Hin und wieder drangen die Strahlen der untergehenden Sonne durch den Wald und tauchten das dunkelgrüne Blattwerk in rötliches Licht. Sara Campos ließ ihren Blick über die Landschaft schweifen, die sich an diesem 12. Juli in ihrer ganzen Fülle präsentierte. Auf einem Felsvorsprung stand ein Hirsch und schien das vorüberfahrende Auto zu beobachten, um dann in einer raschen Bewegung den Kopf abzuwenden und mit einem Sprung zwischen den Bäumen zu verschwinden.

Sara lächelte und nahm die Akten zur Hand.

»Die Eltern von Lucía heißen Joaquín Castán und Montserrat Grau. Siebenundvierzig und dreiundvierzig Jahre alt. Außer Lucía haben sie noch einen Sohn, Quim. Er müsste jetzt neunzehn sein. Joaquín Castán hat damals die Stiftung ins Leben gerufen …«

»Ich hab ihn mal im Fernsehen gesehen«, sagte Santiago, ohne den Blick von der Straße zu wenden.

»Die Mutter von Ana heißt Raquel Mur. Sie ist gerade vierzig geworden.«

»Und der Vater?«

»In den Akten steht nichts über seinen derzeitigen Aufenthaltsort.« Sara suchte angestrengt nach entsprechenden Informationen. »Das hier ist eine einzige Katastrophe. Kein Wunder, dass sie die Mädchen nie gefunden haben. Erst nach zweiundsiebzig Stunden wurden Straßenkontrollen errichtet. Die Stelle, an der die Entführung stattfand, wurde viel zu spät untersucht; als die Kriminaltechnik eintraf, hatte der Regen schon alle Spuren vernichtet …«

»Sind Anas Eltern getrennt?«

»Offiziell nicht. Aber de facto schon. Der Vater, Álvaro Montrell, war der Einzige, der damals im Lauf der Ermittlungen festgenommen wurde. Aber nach ein paar Tagen haben sie ihn wieder freigelassen. Im Grunde hatten sie nichts gegen ihn in der Hand. Vermutlich ist die Ehe damals den Bach runtergegangen.«

Sara blickte auf und stellte fest, dass Santiago zum Autofahren die Brille aufgesetzt hatte.

»Die Brille steht dir richtig gut«, scherzte sie.

»Im Dunkeln sehe ich nicht mehr gut … Was soll man machen. Macht sie mich sehr alt?«

»Nicht älter, als du bist.«

»Pass auf, irgendwann wirst du auch mal alt, und dann wirst du dich nicht freuen, wenn sich so ein junges Ding über deine Sehfähigkeit lustig macht«, entgegnete Santiago Baín lächelnd.

Sara betrachtete ihren Chef. Sein Gesicht war von Falten zerfurcht, aber das lag nicht am Alter. Oder zumindest nicht nur. Die Falten waren schon da gewesen, als Sara ihn kennengelernt hatte.

 

Die Straße verschwand förmlich zwischen zwei riesigen Bergmassiven. In dieser Region der Pyrenäen gab es die meisten Dreitausender, ein Umstand, der die Ermittlungen damals sehr erschwert hatte. Als Sara von den Akten aufblickte, kam es ihr vor, als würde die asphaltierte Straße am Fuß der Berge einfach aufhören und sie das Dorf, das sich auf der anderen Seite verbarg, niemals erreichen. Der Monte Albádes und der Collado Paderna ragten wie stumme Riesen in den Himmel, die darüber wachten, wer passieren durfte und wer nicht. Hinter einer letzten Kurve verschwand die Straße in einem schmalen Tunnel durch den Monte Albádes, und dann öffnete sich vor ihnen das verborgene Tal, wie es in den Reiseführern hieß.

Am Horizont war der Ortskern von Monteperdido zu erkennen. Schwarze, stumme Häuser, in denen nun, da die Sonne untergegangen war, gelbe Lichter aufleuchteten. Auf Sara wirkten sie nicht wie von Menschenhand erbaut, sondern als seien sie Teil der Natur, wie die Berge, die sie umgaben.

Auf einem Schild am Straßenrand stand der Name der Schlucht, die sie soeben durchquert hatten: Congosto de Fall.

Während der Fahrt war Sara auf zahlreiche Ermittlungsfehler gestoßen: unvollständige Zeugenaussagen, träge arbeitende Behörden, dilettantische Verhöre … Santiago Baín war nicht überrascht; er wusste schon von früheren Fällen, wie die Polizei in solchen Dörfern arbeitete. Baín war schon lange bei der Kriminalpolizei, seit fast fünfunddreißig Jahren in dieser Abteilung.

Jetzt aber betrachteten sie überwältigt die Landschaft.

»Ich weiß nicht, was ich immer falsch mache«, beschwerte sich Santiago im Scherz. »Normalerweise muss der Jüngere fahren.«

»Tja, da hast du dir die falsche Partnerin ausgesucht. An dem Tag, als ich den Führerschein in der Tasche hatte, hab ich mir geschworen, nie mehr Auto zu fahren.«

»Und was machst du, wenn ich nicht mehr da bin?«

»Zu Fuß gehen.«

Rechts der Straße kam die Tankstelle in Sicht. In Wirklichkeit handelte es sich um eine einzige Zapfsäule. Dort parkte mit eingeschalteten Scheinwerfern ein Jeep der Regionalpolizei. Davor stand eine Gestalt. Mittlerweile war es stockdunkel. Sara wollte aus dem Wagen steigen, aber Santiago hielt sie zurück.

»Die Befragungen überlässt du diesmal mir.« Es sollte beiläufig klingen, aber in Wirklichkeit hatte er lange auf den richtigen Moment gewartet, um ihr das mitzuteilen.

»Warum?«, fragte sie. »Hab ich was falsch gemacht?«

»Deine Aufgabe ist es, denen hier klarzumachen, wer die Ermittlungen ab jetzt leitet.«

»Sonst übernimmst du das doch immer«, protestierte sie.

»Ich bin nicht mehr lange dabei. Lass sie doch einmal glauben, dass ich ein netter älterer Herr bin«, versuchte Santiago zu scherzen.

Als Santiago ausstieg, wartete Sara einen Moment, bevor sie ihm folgte. Sie sah ihn auf das Scheinwerferlicht zugehen. Normalerweise machte er ihr keine Vorschriften. Santiago interessierte es auch nicht, ob ihn jemand sympathisch fand oder nicht. Sie war der Grund. Er wollte nicht, dass der Fall ihr zu naheging.

»Mann«, murmelte Sara, bevor sie aus dem Wagen stieg.

 

Víctor Gamero sah die beiden Ermittler vom Landeskriminalamt aus dem Wagen steigen. Vor fünf Jahren hatte die örtliche Polizei die Ermittlungen geleitet. Er verstand nicht, was diese Ermittler aus Madrid hier wollten und warum sie die Straße gesperrt hatten. Zuerst kam ein älterer Mann im Anzug auf ihn zu. Er steckte seine Brille in die Innentasche seines Jacketts und reichte ihm mit einem liebenswürdigen Lächeln die Hand.

»Inspektor Santiago Baín von der Kriminalpolizei.«

»Víctor Gamero, Leiter der Polizeidienststelle Monteperdido. Was soll das Ganze? Sie hätten mich informieren müssen, bevor Sie die Straße sperren.«

»Wir haben sie nicht gesperrt. Nur eine Kontrollstelle eingerichtet.«

»Wozu?«

Santiago antwortete nicht, sondern sah sich nach seiner Kollegin um. Die kam mit entschlossenen Schritten auf sie zu, während sie die Haare zu einem Pferdeschwanz band. Sie war nicht besonders groß und hatte weiche Gesichtszüge. Sie trug Jeans und einen schwarzen Sweater, unter dem sich die Pistole abzeichnete, die sie am Gürtel trug.

»Das ist meine Kollegin Sara Campos«, erklärte er dem Polizisten.

Víctor reichte ihr die Hand. Sara zögerte einen Moment zu lange, bevor sie sie ergriff.

»Wir möchten mit den Familien der Mädchen sprechen«, sagte sie knapp.

»Ist was passiert?«

»Wenn wir hier sind, dann weil was passiert ist, oder was glauben Sie?«, antwortete sie barsch und sagte, ohne ihm Zeit zum Antworten zu lassen: »Wir fahren Ihnen hinterher.« Sara drehte sich um und ging zum Auto zurück.

Víctor musste sich beherrschen, als er sah, wie Inspektor Baín vor sich hin grinste. Die Arroganz seiner Kollegin schien ihn zu amüsieren.

In Wirklichkeit grinste Santiago Baín, weil er Sara in eine Rolle gedrängt hatte, die sie überhaupt nicht mochte.

Víctor Gamero fuhr durch Monteperdido. Im Rückspiegel konnte er sehen, wie ihm der Wagen der Kriminalermittler folgte. An der Kreuzung, wo es weiter bergauf zum Hotel La Guardia ging, bog er in die Siedlung Los Corzos ein und passierte die neue Brücke über den Esera. Er hatte vorhin bei Joaquín Castán, Lucías Vater, angerufen. Die Mahnwache war zu Ende, sie waren zu Hause. Danach hatte er Kontakt zur Leitstelle in Barbastro aufgenommen. Offenbar kam die Entscheidung, den Fall ans Landeskriminalamt zu übergeben, von ganz oben. Man hatte ihm geraten, mit den Ermittlern zusammenzuarbeiten. Víctor Gamero parkte vor den letzten beiden Häusern in der Siedlung. Die Doppelhaushälfte von Anas Familie grenzte direkt an den Wald. Lucías Haus befand sich gleich nebenan.

 

Sara Campos stieg aus und betrachtete die Häuser der beiden Familien. Der Architekt hatte sich bemüht, den traditionellen Stil der Natursteinhäuser mit den Schieferdächern nachzuahmen, wie man sie in der Region fand, aber es war eben doch nur ein Abklatsch. Vor der linken Haushälfte stand gleich neben dem Gartentor eine Art Schrein. Darauf ein Foto von Lucía, frische Schnittblumen, drei alte Kuscheltiere und eine Tafel mit der Aufschrift 1745 Tage ohne Lucía. An dem rechten Haus verriet nichts, dass dies der Ort war, an dem Ana gelebt hatte.

Víctor Gamero wandte sich an Sara. »Soll ich die beiden Familien zusammenrufen?«, fragte er.

Die Tür des linken Hauses öffnete sich, und Lucías Vater Joaquín Castán erschien in der Tür. Sara erkannte ihn von den Fotos aus den Akten.

»Haben Sie ihnen gesagt, dass wir kommen?« Es war eher ein Vorwurf als eine Frage.

»Sie haben mich doch gebeten, sie zu kontaktieren«, antwortete Víctor.

Sara warf ihm einen genervten Blick zu, und dem Polizisten wurde bewusst, dass sie ihn zum ersten Mal wirklich ansah.

»Wir sprechen zuerst mit Anas Mutter«, sagte Sara.

Dann fiel ihr Blick auf Víctors Jeep, der am Straßenrand parkte. Auf der Rückbank saß ein Hund.

»Das ist mein Hund«, bemerkte der Polizist bissig. »Darf er auch von nichts wissen? Er hat uns nämlich an der Tankstelle zugehört.«

Ein Lächeln huschte über Saras Gesicht, erstarb aber sofort wieder, als sie Santiagos Blick bemerkte, der sie wieder an die Rolle erinnerte, die sie spielen sollte. Diesmal war sie der Bad Cop. Sara drehte sich um und ging zum Haus von Raquel Mur. Víctor Gamero sollte ihre Unsicherheit nicht bemerken. Auf der Fahrt hierher hatte Santiago ihr die Erlaubnis gegeben, den Eltern die Nachricht mitzuteilen. Vor solchen Situationen wollte er sie offensichtlich nicht bewahren.

»Von jetzt an werden Sie jede Entscheidung, die Sie treffen, mit uns abstimmen. Wir müssen exakt arbeiten. Das verstehen Sie doch, oder?« Santiago Baín legte Víctor versöhnlich die Hand auf die Schulter. Der Leiter der Polizeiwache war noch sehr jung. Santiago hoffte, dass es nicht allzu schwer sein würde, ihn auf ihre Seite zu ziehen.

 

Raquel Mur öffnete die Haustür. Als sie Sara vor der Tür stehen sah, raffte sie unangenehm berührt das Hemd am Halsausschnitt zusammen, das sie trug. Es war ein blaukariertes Männerhemd, das ihr bis zu den Oberschenkeln reichte und den Blick auf ihre nackten Beine freigab. Offensichtlich hatte sie nicht damit gerechnet, Fremde zu empfangen.

»Kriminalkommissarin Sara Campos, Abteilung für Kapitalverbrechen. Dürfen wir reinkommen?«, fragte sie und zeigte ihren Dienstausweis vor.

Sie betrachtete die nackten Füße von Anas Mutter, die fast ängstlich über den Dielenboden zum Wohnzimmer huschten. Hinter Sara folgten Santiago Baín und Víctor Gamero. Raquel war verunsichert und schaute Víctor aus großen braunen Augen fragend an. Ihre Beine zitterten, als sie sich aufs Sofa setzte. Was mochte im Kopf dieser Frau vorgehen, die seit fünf Jahren ihre Tochter vermisste? Sara wollte sie nicht länger im Ungewissen lassen. Sie setzte sich auf den Couchtisch und nahm ihre Hände. Dann sah sie Raquel mit einem Lächeln an.

»Wir haben nicht oft das Glück, eine solche Nachricht zu überbringen«, begann sie. »Wir haben Ana gefunden.«

Raquel schien zu erstarren. Es war, als würde sich plötzlich ihr ganzer Körper verkrampfen. Sie klammerte sich an die Polizistin.

»Es geht ihr gut«, setzte Sara hinzu.

Heiße Tränen schossen Raquel in die Augen. Gleichzeitig huschte ein Lächeln über ihr Gesicht. Stumm schlug sie die Hände vor den Mund und begann zu weinen.

 

Víctor Gamero begleitete Raquel zum Auto. Sie hatte sich angezogen, dieselbe Jeans und die Bluse, die sie vor ein paar Stunden bei der Mahnwache getragen hatte. Sie zögerte, als hätte sie etwas vergessen, um dann entschlossen weiterzugehen. Dann blieb sie erneut stehen, als sei ihr plötzlich eingefallen, was sie vergessen hatte. Sie sah zu Montserrats Haus hinüber und sagte leise:

»Ich muss Montserrat Bescheid sagen.«

»Die Ermittler von der Kriminalpolizei werden das übernehmen«, sagte Víctor Gamero, während er sie sanft vor sich herschob.

Hinter dem großen Fenster zum Vorgarten sah sie Montserrat stehen. Lucías Mutter musste schon ahnen, dass sie keine guten Nachrichten erwarteten. Ihr Mann Joaquín Castán stand immer noch in der Haustür.

Santiago Baín und Sara Campos gingen schweigend ins Haus, gefolgt von Joaquín. Montserrat stand im Wohnzimmer und trocknete sich die Hände an einem Geschirrtuch ab. Sie klammerte sich förmlich daran fest und ließ es erst los, als Joaquín sie aufforderte, sich zu ihm aufs Sofa zu setzen. Die Wände waren ein Schrein der Erinnerung an ihre verschwundene Tochter; Lucía lächelte von Dutzenden Fotos herunter, die ihre Entwicklung vom Baby bis zur Elfjährigen dokumentierten.

»Heute Morgen wurde an der Straße nach Barbastro, etwa sechzig Kilometer von hier, ein verunglückter Wagen gefunden. Er ist in die Schlucht gestürzt«, erklärte Inspektor Baín. »Ein Zeuge hat die Rettungskräfte alarmiert, und die haben einen Hubschrauber aus Barbastro geschickt. Die Stelle, an der das Auto liegt, ist zu Fuß nicht zu erreichen. Als die Rettungsmannschaft eintraf, war der Fahrer des Wagens, ein etwa fünfzigjähriger Mann, bereits tot. Er ist wahrscheinlich unmittelbar durch den Sturz gestorben, aber wir warten noch auf die Obduktionsergebnisse. In dem Wagen befand sich außerdem ein Mädchen. Es war bewusstlos, hatte aber keine schwereren Verletzungen. Sie wurde ins Krankenhaus von Barbastro gebracht, und dort hat man ihre Identität festgestellt. Sie hatte keine Papiere dabei, aber ihre Fingerabdrücke waren registriert. Es ist Ana Montrell. Daraufhin sind meine Kollegin und ich zum Krankenhaus gefahren.«

»Und meine Tochter?«, flüsterte Montserrat.

»In dem Auto war sonst niemand.«

»Und wenn sie von der Unfallstelle weggelaufen ist? Wenn sie hilflos durch die Gegend irrt?«

»Der Hubschrauber hat das Gebiet mehrmals überflogen, um diese Möglichkeit auszuschließen«, erklärte Sara.

»Also ist sie tot«, brach es aus Montserrat heraus. Sie konnte keine andere Erklärung für Anas Auftauchen finden.

»Wir haben nichts in der Hand, was eine solche Vermutung bestätigen würde«, sagte Santiago beruhigend und drückte fest ihre Hand. »Ich weiß, es ist schwer, aber Sie dürfen die Hoffnung nicht aufgeben. Sie suchen schon so lange nach ihrer Tochter, und in diesen fünf Jahren waren wir noch nie so nah dran.«

»Wer war der Mann?«, fragte Lucías Vater Joaquín knapp. Er saß kerzengerade und völlig reglos auf dem Sofa und hörte sich aufmerksam jedes Wort der Polizisten an. Er erinnerte Sara an den Hirsch, den sie vorhin auf dem Felsvorsprung gesehen hatte.

»Wir haben ihn noch nicht identifiziert. Die Einsatzkräfte haben der Rettung des Mädchens den Vorrang gegeben. Morgen früh kehren sie zum Unglücksort zurück, um den Leichnam des Mannes zu bergen und zu versuchen, das Auto aus der Schlucht zu ziehen …«

Joaquín Castán schwieg. Montserrat saß neben ihm und weinte; Santiago hielt immer noch ihre Hände. Sara sah, wie Joaquín auf die Hände des Polizisten starrte, bevor er seine Frage stellte.

»Dieser Mann … hat er meine Tochter entführt?«

Das war der Verdacht der Ermittler. Aber es war unmöglich gewesen, zu der Leiche des Mannes vorzudringen, die in dem zerstörten Auto eingeklemmt war. Gleich morgen früh würden sie sich wieder an die Arbeit machen. Das Auto hatte keine Nummernschilder. Um nach dem Wagen zu fahnden, brauchte Sara die Fahrgestellnummer. Und das ging erst, wenn er aus der Schlucht geborgen wurde.

»Ich begleite Anas Mutter zum Krankenhaus«, sagte Santiago zu Sara, als sie Lucías Elternhaus verließen. »Du fährst mit Gamero zur Polizeiwache; vielleicht haben sie ein Büro für uns. Und sieh dich nach einer Übernachtungsmöglichkeit um. Wir müssen morgen hundertprozentig fit sein.«

 

Am Ende der Durchgangsstraße, wo die Häuser von Monteperdido endeten und die Straße in die Berge hinaufführte, befand sich die Pension La Renclusa. Víctor hatte ihr gesagt, dort gebe es die besten Zimmer im Ort. Die Vier- oder Fünfsternehotels waren in Posets oder noch weiter oben, dort, wo die Straße endete. Ein Mädchen mit fahrigem Auftreten und dem Gesicht eines Vögelchens führte sie in den zweiten Stock. Sie ratterte die Serviceleistungen der Pension und die Essenszeiten herunter, aber Sara hörte nicht zu. Sie betrachtete das Mädchen, das noch sehr jung war, nicht viel älter als zwanzig. Es wirkte zerbrechlich, wie eine Porzellanpuppe, die jeden Moment kaputtgehen konnte. Elisa, so hieß das Mädchen, öffnete das Zimmerfenster, das nach Nordosten wies, und schwärmte von den herrlichen Sonnenaufgängen, die man von diesem Fenster aus beobachten konnte, wenn die Sonne hinter dem Monte Ármos aufging. Elisa war hübsch, obwohl sie ihre weiblichen Formen unter weiter Kleidung versteckte. Eine Schönheit, die ihre Besitzerin zu verbergen versuchte.

»Soll ich Ihnen was zu essen machen?«, fragte sie.

»Nein, danke«, antwortete Sara. »Ich brauche nur die Schlüssel für die beiden Zimmer.« Dann wanderte ihr Blick über Elisas langärmlige Bluse und die Strickjacke, die an den Schultern zu weit war. Mit einem Lächeln fragte sie: »Ist es so kalt hier?«

»Nachts wird es ein bisschen kühl. Aber jetzt im Juli sinken die Temperaturen selten unter zwanzig Grad«, sagte das Mädchen ein bisschen verwirrt. Als sie bemerkte, wie die Polizistin ihre Kleidung musterte, setzte sie unsicher hinzu: »Ich friere leicht.«

»Weite Kleider sind auch nicht wärmer«, scherzte Sara.

 

Inspektor Santiago Baín fuhr schweigend durch die Nacht, die Straße hinunter nach Barbastro. Neben ihm saß Raquel und schaute aus dem Fenster. Sie hatte nichts gesagt, seit sie ins Auto gestiegen waren. Sie hätte auch nicht gewusst, was sie sagen sollte. Hunderte von Erinnerungen stürmten auf sie ein, wie eine Horde Kinder, die versuchten, sich durch eine zu schmale Tür zu quetschen.

War es wirklich erst zwei, drei Stunden her, seit sie die Tafel mit dem Foto ihrer Tochter von den Kirchenstufen geräumt hatte? Raquel erinnerte sich, dass sie gedacht hatte, wie leid sie diese Mahnwachen war, während sie die Tafel in Joaquíns Lieferwagen verstaut hatte. Dass sie es leid war, immer und immer wieder den Schmerz des Verlusts zu durchleiden. Am liebsten hätte sie laut herausgeschrien, dass sie endlich wieder nach vorn schauen wollte, um dieses Unglück, das sich seit fast fünf Jahren wie ein Ölfleck in ihrem Leben ausbreitete, zu akzeptieren und zu verarbeiten.

Aber sie hätte sich niemals erlaubt, diesen Gedanken laut auszusprechen. Nicht einmal Ismael gegenüber, obwohl er schon gemerkt hatte, dass sie eigentlich nicht länger bei der Stiftung mitmachen wollte. Ihr stand ein Gespräch mit Lucías Eltern bevor, und sie ging davon aus, dass Joaquín es nicht gut aufnehmen würde.

Sie hatte davon geträumt, die Leiche ihrer Tochter zu finden, dachte Raquel jetzt auf der Fahrt nach Barbastro. Auf dem Weg zu Ana. Warum hatte sie nicht die Stärke und Zuversicht von Lucías Eltern gehabt? Ihnen war es zu verdanken, dass die Mädchen nicht in Vergessenheit geraten waren. Was wäre gewesen, wenn sie die beiden nicht gehabt hätte? Vor allem am Anfang, als der Verdacht auf ihren Mann gefallen war.

Noch mehr Erinnerungen, kurze Schlaglichter, verschwommene, unscharfe Bilder, Fragmente eines sinnlosen Films. Anas Verschwinden. Die Angst. Dann Álvaros Verhaftung. Die Fassungslosigkeit, ihren Mann anzusehen, als ob er ein Fremder wäre. Der Verdacht, er könnte seiner eigenen Tochter etwas angetan haben. Dann waren die Anschuldigungen gegen Álvaro im Sande verlaufen. Aber danach war zwischen ihnen nichts mehr gewesen, wie es vorher war.

Und jetzt Ana. Ana, die im Krankenhaus von Barbastro auf sie wartete. Nach fünf Jahren.

Eine Zeit, in der Raquel versucht hatte, wieder ein Ganzes zu werden. Wie ein Puzzle, das man mühsam wieder zusammensetzen musste. Ismael Casella hatte daran einen wichtigen Anteil gehabt. Er war kurz nach dem Verschwinden der Mädchen nach Monteperdido gekommen. Álvaro war gegangen, und sie hatte nicht die Kraft gehabt, sich allein um die Renovierungsfirma zu kümmern, die sie ein paar Monate, bevor ihr Leben aus den Fugen geraten war, mit so viel Begeisterung gegründet hatten. Ismael bot sich an, als Schreiner für sie zu arbeiten. Er war acht Jahre jünger als sie, und er hatte die Energie, die ihr fehlte. Er sorgte dafür, dass neue Aufträge reinkamen und mit ihnen das Gefühl von Alltag, das sie so sehr brauchte.

Als sie sich nach der Mahnwache auf dem Platz vor der Kirche von ihm verabschiedet hatte, hatte er ihr ins Ohr geflüstert: »Warte zu Hause auf mich.« Erst vor ein paar Wochen hatten sie zum ersten Mal miteinander geschlafen. Manchmal kam es ihr so offensichtlich vor, dass sie in Ismael genau das Gegenteil von ihrem Mann suchte, dass sie sich dafür schämte. Warum nannte sie Álvaro immer noch »ihren Mann«?

Als die Polizei an der Tür geklingelt hatte, hatte sie eigentlich Ismael erwartet. Nackt unter seinem alten Hemd, zwei Weingläser in der Küche, eine brennende Zigarette im Aschenbecher, an die sie sich erst jetzt erinnerte.

Sie hatte die Tür geöffnet, und Ana war zurückgekommen.

Und jetzt fuhr sie die Straße hinunter, zu ihr.

 

Víctor fuhr schweigend zur Polizeiwache. Auf dem Rücksitz lag sein Hund, ein sieben Jahre alter Husky, und hechelte nervös. Auf dem Beifahrersitz saß Sara und versuchte, ein wenig Ordnung in die Akten zu bringen. Hin und wieder schrieb sie etwas an den Rand. Víctor beobachtete sie unauffällig. An der Tankstelle war sie ihm arrogant vorgekommen, aber dann war er überrascht gewesen, wie einfühlsam sie mit Raquel und vor allem mit Elisa umgegangen war. Ein paar Sekunden hatten ihr genügt, um Elisas wahre Persönlichkeit zu erkennen und ihr Vertrauen zu gewinnen. Vielleicht hatte sie auch in den Akten von ihr gelesen, auch wenn seither viele Jahre vergangen waren und Elisa nicht mehr das Kind von damals war.

»Ich bin sicher, dass Sie die Straßen hier wie Ihre Westentasche kennen, aber ich wäre beruhigter, wenn sie ab und zu nach vorne sehen würden«, bemerkte Sara, ohne von den Unterlagen aufzublicken.

Víctor schaute wieder nach vorn und hoffte, dass Sara nicht bemerkte, wie er rot wurde.

Die Polizeiwache an der Straße zur Schule war neu. Erst vor zwei Jahren war sie eingeweiht worden.

»Darf ich den Namen erfahren?«, fragte Sara, als sie anhielten.

»Víctor«, antwortete der Polizist unbehaglich.

»Nicht Ihrer. Ich meine den Hund.«

»Nieve. Mögen Sie Hunde?«

»Ehrlich gesagt, nicht besonders«, sagte Sara und stieg aus dem Wagen. Sie hatte sich ihre Angst nicht anmerken lassen. Zuerst auf der Fahrt zur Pension und dann zur Polizeistation. Der Atem des Tiers in ihrem Nacken. Sie hörte, wie Víctor tief durchatmete, bevor er ausstieg. Nachdem er Nieve auf den Parkplatz gelassen hatte, folgte er ihr zum Gebäude.

»Kommt er mit rein?«, fragte Sara, ohne den Hund aus den Augen zu lassen, der frei herumlief.

»Keine Angst. Der bleibt draußen.«

 

Raquel ging nervös den Klinikflur entlang. Sie hörte das Getuschel der Krankenschwestern hinter sich. Ein Arzt öffnete eine Tür und zeigte ihr den Weg. Inspektor Santiago Baín begleitete sie zur Intensivstation, wo Ana lag. Als sie den Raum mit der Glaswand sah, spürte Raquel, wie ihre Knie weich wurden. Inspektor Baín stützte sie.

»Wir haben sie ins künstliche Koma versetzt«, teilte der Arzt ihnen mit. »Sie hat eine Gehirnerschütterung, aber wir hoffen, dass es nichts Ernsteres ist. Wir werden sie auf jeden Fall noch ein paar Tage beobachten, falls Komplikationen auftreten sollten …«

Raquel wandte sich nervös an Santiago Baín. »Darf ich sie berühren …?«

Der Kommissar sah den zustimmenden Blick des Arztes, während er die Tür zu dem Raum aufschob. Raquel ging hinein und näherte sich unsicher dem Bett. War sie es wirklich? Sie hatte diesen Moment für unmöglich gehalten, hatte ihn aus all ihren Träumen verdrängt, deswegen kam ihr das alles jetzt so unwirklich vor. Konnte sie es sein? Konnte das Ana sein?

Sie betrachtete sie eine Weile, wagte aber nicht, sie zu berühren. Sie hatte Angst, jede Bewegung könnte den Zauber brechen und ihre Tochter würde wieder verschwinden, mitsamt dem Krankenhausbett, dem Zimmer und dem Polizisten. Raquel würde schweißgebadet in ihrem Bett aufwachen und feststellen, dass alles nur ein Traum gewesen war. Eine Lüge.

Aber Ana verschwand nicht, als ihre Mutter ihre Hand nahm. Raquel hielt sie ganz fest, als wolle sie verhindern, dass ihre Tochter wieder verschwand. Sie spürte ihre Wärme. Dann ließ sie ihre Hände über Anas Körper gleiten, betastete ihre mit Schnittwunden übersäten Arme, ihre Schultern, ihr Gesicht. Fünf Jahre waren vergangen. Ana war nicht mehr das kleine Mädchen, das damals verschwunden war. Sie war jetzt sechzehn, ihr Gesicht hatte sich verändert. Schmaler, die Lippen voller, weiße Haut. Sie war fast eine Frau.

Mit Tränen in den Augen drehte sich Raquel zu Santia-go Baín um.

»Hat schon jemand mit ihr gesprochen? Hat sie was erzählt?«, fragte sie.

»Noch nicht«, antwortete der Inspektor.

 

Víctor Gamero räumte ein Regal für Sara leer. Eigentlich war der Raum als zusätzliches Büro gedacht gewesen, aber weil die versprochene Verstärkung nie in Monteperdido angekommen war, nutzten sie ihn nun als Abstellraum. Víctor erzählte Sara, dass es in der Dienststelle neun Polizeibeamte gab, außerdem vier Männer von der Bergwacht, die Offizier Sanmartín unterstanden. Aber Sara bezweifelte, dass sie mit dieser Sondereinheit rechnen konnte. Die Bergrettung hatte wahrscheinlich mehr als genug mit den Touristen zu tun, die unvorbereitet ins Gebirge gingen.

»Die werden erst mal ihre eigene Arbeit machen müssen«, sagte Sara.

»Sie haben hier das Kommando«, erklärte Víctor, obwohl er nicht vorhatte, Anweisungen von Sara Campos und Inspektor Baín entgegenzunehmen, die nicht unmittelbar mit dem Fall der entführten Mädchen zu tun hatten.

In dem Raum gab es zwei Schreibtische und ein großes Fenster. Es war Nacht, und so konnte man den Kiefernwald nicht sehen, der unmittelbar an die Straße grenzte. Dort waren die Mädchen verschwunden. Sara ließ die Akten auf einen der Schreibtische fallen.

»Brauchen Sie noch was?«, fragte Víctor.

»Die Schlüssel zum Gebäude und einen Computer.«

»Morgen lasse ich Ihnen einen aufstellen«, versprach er, während er ihr einen Schlüssel für die Dienststelle überreichte.

»Dann bis morgen früh um halb sieben vor der Pension. Ich möchte, dass Sie mich zu der Stelle fahren, wo das Mädchen gefunden wurde.«

»Ich kann Ihnen einen Wagen zur Verfügung stellen.«

»Mir ist es lieber, wenn Sie mich abholen kommen«, sagte Sara bestimmt. »Wenn wir unsere Arbeit gut machen, werden wir Lucía finden.«

»Wir machen unsere Arbeit immer gut«, erwiderte Víctor bissig. »Kann ich gehen, oder soll ich Sie noch zur Pension bringen?«

»Ich gehe zu Fuß. Es gibt höchstens vier Straßen im Dorf. Ich glaube nicht, dass ich mich verlaufe.«

Víctor lächelte, dann verließ er das Büro. Seine ruhige, besonnene Art gefiel Sara. Er erinnerte sie an einen Sheriff aus einem Western, der vor seinem Büro saß, das Gewehr im Arm, eine Zigarre zwischen den Lippen, während die Sonne über der Prärie unterging. Sie lebte in einem anderen Tempo, das durch die Hektik der Ermittlungen vorgegeben wurde, er hingegen schien ganz eins mit sich und der Natur. Vielleicht musste das an einem Ort wie Monteperdido so sein.

Sara lächelte noch immer, als Víctor mit einem Teller zurückkam und ihn auf den Schreibtisch stellte. Es war ein Stück zimtbrauner Kuchen auf einem Spiegel aus gelber Soße.

»Candimus«, erklärte er. »Die Freundin von einem unserer Polizisten ist Konditorin. Es ist ein typisches Dessert hier aus der Gegend. Ich habe einen bei ihr bestellt, als ich erfahren habe, dass Ana gefunden wurde. Ich wollte ihn ihr mitbringen«, setzte er hinzu. »Aber da sie ja vorerst im Krankenhaus bleiben muss, sollten wir ihn aufessen, bevor er schlecht wird. Wir bringen ihr einen neuen, wenn sie nach Hause kommt.«

»Danke«, sagte Sara ein wenig überrascht.

»Er schmeckt nach Karamell und Zitrone, wirklich lecker, Sie werden sehen.«

Als Víctor gegangen war, betrachtete Sara das Stück Candimus. Darauf waren ein paar Buchstaben aus Zucker, vermutlich ein Teil der Aufschrift, mit der der Kuchen verziert gewesen war: »illko«. »Willkommen«, nahm sie an.

Sara seufzte. Sie benahm sich wie ein Ekel, und Gamero brachte ihr ein Stück Kuchen. Sie tunkte den Finger in die Soße und leckte ihn ab. Es schmeckte köstlich.

 

Santiago Baín wartete, dass der Kaffeeautomat im Wartebereich den Espresso ausspuckte, um den Raquel ihn gebeten hatte. Sie hatte bei ihrer Tochter bleiben wollen, aber der Arzt hatte darauf bestanden, dass Ana ihre Ruhe brauche. Auf dem Weg zum Wartebereich hatte Santiago dem Arzt ein Zeichen gegeben, und der hatte ihn in ein leeres Zimmer geführt. Er wolle so schnell wie möglich mit Ana sprechen, er müsse wissen, was passiert war, sagte ihm der Kommissar. Aber der Arzt hatte sich geweigert, den Aufwachprozess zu beschleunigen.

»Das Leben eines weiteren Mädchens hängt von Ihrer Entscheidung ab«, hatte Santiago ihn unter Druck gesetzt.

»Jetzt muss ich mich zuallererst um Anas Leben kümmern. Und ich werde kein Risiko eingehen.«

Es wäre ein grausames Spiel des Schicksals, wenn Raquel ihre Tochter zurückbekam, nur um sie wieder zu verlieren. Santiago wusste, dass er sich gedulden musste. Ana würde schon noch aussagen.

»Wer hat eigentlich das Auto gefunden?«, fragte Raquel, als Santiago ihr den Kaffee brachte.

»Ein Mann aus Posets. Er war auf dem Rückweg aus Barbastro, als er den Rauch bemerkte. Zuerst dachte er, es würde brennen, aber dann entdeckte er das Auto.«

»Ich würde mich gern bei ihm bedanken. Wenn er das Auto nicht gesehen hätte …«

»Sie sollten nicht darüber nachdenken, was hätte passieren können. Ana ist hier, das ist alles, was zählt«, sagte Santiago beruhigend.

Plötzlich hallten Schritte durch die stillen Krankenhausflure. Jemand kam eilig näher, bog beinahe im Laufschritt um die Ecke und blieb im Wartebereich stehen, um zu Atem zu kommen. Raquel fuhr überrascht auf, als sie ihn sah.

»Álvaro, was machst du denn hier?«

Es war fast vier Jahre her, seit sie ihren Mann zuletzt gesehen hatte.

 

Sara streckte sich. Ihr Rücken schmerzte. Sie waren am Vormittag in Madrid losgefahren, und seither hatte sie keine Minute Ruhe gehabt. Die Uhr zeigte vier Uhr nachts, und auf dem Schreibtisch herrschte nach wie vor Chaos. Blätter voller Notizen und Unterstreichungen. Sie stand auf, nahm die Schlüssel, die Víctor Gamero ihr gegeben hatte, legte das Pistolenhalfter um, das sie über die Stuhllehne gehängt hatte, und ging hinaus.

Von den Bergen wehte ein kühler Wind. Sie hätte gern etwas Wärmeres angehabt als den Sweater. Bevor sie sich auf den Weg zur Pension machte, betrachtete sie den Wald auf der anderen Straßenseite. Sie überquerte die Straße, und für einen Moment war sie versucht, sich den Wald genauer anzusehen, obwohl sie wusste, dass es Unsinn war. Es war stockdunkel, und in diesem Wald war nichts, was ihr etwas über Lucía verriet.

Diesem Mädchen galt ihre erste Sorge. Wenn der Mann, der den Wagen gefahren hatte, der Entführer der Mädchen war, konnte es sein, dass Lucía immer noch irgendwo eingesperrt war. Niemand wusste, in welchem Zustand sie sich befand und wie lange sie allein überleben konnte.

Monteperdido lag still da. Das Rauschen des Flusses, der Wind in den Bäumen und ihre eigenen Schritte auf dem Asphalt waren alles, was zu hören war. Sie wusste, dass sie heute Nacht kein Auge zutun würde, aber eine Dusche und ein paar Stunden Ruhe würden ihr guttun.

Die Straße führte bergauf zur Brücke, die über den Fluss führte; die meisten Häuser des Dorfs lagen auf der anderen Seite. Sie ging am Waldrand entlang, als sie plötzlich ein Geräusch hörte. Sie spähte zwischen die Bäume. Die Dunkelheit war mit Händen zu greifen. Etwas bewegte sich, Blätter raschelten. Sie griff nach der Pistole und entsicherte sie. Gleichzeitig kam sie sich dumm vor, weil sie ihre Angst nicht im Griff hatte. Das ist die Müdigkeit, sagte sie sich. Es ist dieser Ort. Die Gedanken, was mit Lucía passiert sein könnte. Das war es, was ihr zu schaffen machte. Und das war es, was Santiago ihr ersparen wollte, indem er sie aus den Vernehmungen heraushielt.

Plötzlich kam ein dunkler Schatten aus dem Wald gestürzt und machte einen Satz auf sie zu. Als Sara sich umdrehte, war das Tier schon bei ihr. Im Reflex hob sie die Pistole und schoss. Das Blut war wie ein roter Pinselstrich in der Nacht. Der Hund brach mit einem Jaulen zusammen. Die Pistole noch in der Hand, betrachtete Sara den wimmernden Hund. Der Schuss hatte ihn an der Flanke getroffen. Sara ging näher an das Tier heran. Es war Nieve, Víctors Hund.

»O Gott«, entfuhr es ihr.

 

Die Polizisten, die den Eingang des Krankenhauses bewachten, hatten Befehl, niemanden durchzulassen. Nicht mal ihn, Joaquín Castán. Lucías Vater. Als die Ermittler gegangen waren, hatte er sich wie ein wildes Tier im Käfig gefühlt. Seit Jahren hatten sie auf ein Wunder gewartet. Aber nicht auf dieses Wunder. Obwohl niemand es aussprach, wusste er, was Montserrat dachte: Warum Ana? Warum nicht Lucía? Gott hatte sich nicht nur geweigert, ihre Wunde zu heilen. Nein, er legte den Finger noch tiefer hinein und wühlte darin herum.

»Ich fahre ins Krankenhaus«, sagte Joaquín schließlich. »Kommst du mit?«

Montserrat schüttelte fast unmerklich den Kopf.

»Soll ich deinen Bruder anrufen, damit er vorbeikommt?«, fragte Joaquín, aber sie schüttelte erneut den Kopf. Sie wollte allein sein. »Alles in Ordnung? Geht es dir gut?«, erkundigte er sich.

»Wie sollte es mir gutgehen?«, flüsterte Montserrat.

Joaquín hatte mit Víctor gesprochen, aber der konnte ihm auch nicht weiterhelfen. Die Kriminalbeamten aus Madrid hatten den Fall übernommen. Was wollte er hier? Er beschloss, nach Monteperdido zurückzufahren und den nächsten Morgen abzuwarten. Er wusste, dass Montserrat schlaflos im Bett lag, weil sie Angst davor hatte, dass das Nächste, was sie von Lucía zu Gesicht bekamen, ihre Leiche sein würde.

Joaquín sah Raquel aus dem Krankenhaus kommen. Sie setzte sich auf eine Bank neben dem Eingang und nahm ein Päckchen Zigaretten heraus, aber es war leer. Dann entdeckte er den Kommissar, der bei ihm zu Hause gewesen war, und dahinter Álvaro. Seine schlanke Gestalt, das glatte, frühzeitig ergraute Haar, das er sich mit einer Geste aus dem Gesicht strich, die er so oft an ihm gesehen hatte.

Joaquín schlug die Autotür fest zu. Er wollte, dass sie ihn bemerkten. Inspektor Baín sah ihn näher kommen und merkte, wie Álvaro nervös wurde. Anas Vater war unsicher, ob er den Rückzug antreten oder auf Joaquín warten sollte, der mit großen Schritten heranstürmte. Lucías Vater war groß und kräftig. Trotz seines Alters war unter der Kleidung ein Körper zu erahnen, der sich die Spannkraft der Jugend bewahrt hatte.

»Wer hat dir Bescheid gesagt?«, schrie Joaquín Castán schon von weitem.

»Joaquín, bitte …«, versuchte Raquel zu vermitteln.

Santiago hielt sich raus. Wie Sara hatte er auf der Fahrt die Akten studiert. Man musste nicht zwischen den Zeilen lesen, um die Abneigung zwischen den Vätern der verschwundenen Mädchen zu bemerken. Joaquín hatte Álvaro immer wieder beschuldigt und seine Festnahme gefordert.

»Gaizka hat mich angerufen. Er hat das Auto entdeckt«, antwortete Álvaro mit fester Stimme. Er hatte beschlossen, keinen Schritt zurückzuweichen und Joaquín zu zeigen, dass er keine Angst vor ihm hatte.

»Hieß es nicht, du hättest das Dorf verlassen?«

Álvaro antwortete nicht. Sein Schweigen machte deutlich, dass er sich nicht in die Enge treiben lassen würde. Lucías Vater wandte sich nervös an Santiago Baín.

»Was hat das Mädchen gesagt?« Es klang wie ein Vorwurf.

»Sie ist noch nicht bei Bewusstsein. Wenn es etwas Neues gibt, sind Sie der Erste, der davon erfährt«, beruhigte ihn der Inspektor.

»Aber dann ist es vielleicht zu spät!« Allmählich verrauchte Joaquíns Wut, und der Schmerz blitzte durch.

»Joaquín, wenn Ana zurückgekommen ist, dann kann Lucía das auch«, sagte Álvaro und machte einen Schritt auf ihn zu. Jeder konnte sehen, dass Joaquín kurz davor war, zusammenzubrechen.

Bei diesem inneren Kampf, der sich schon tausendmal in Joaquín abgespielt hatte, gab es einen klaren Sieger. Als ob ein kleines Tier den Herrn der Berge bezwingen könnte. Álvaro legte Joaquín die Hand auf die Schulter. Es sah eher aus, als wolle er ihm verzeihen, statt ihm Mut zu machen. Joaquín fuhr herum und packte Álvaro am Kragen.

»Fass mich nicht an!«, drohte Anas Vater und hob die Faust.

Santiago Baín ging dazwischen, aber er musste nicht eingreifen. Joaquín ließ Álvaro los und stieß ihn von sich. Dann atmete er tief durch und sah den Inspektor an.

»Ich hoffe, Sie halten ihn von dem Mädchen fern.«

»Gibt es Ihrer Meinung nach Gründe dafür?«, wollte Santiago Baín wissen.

»Ana muss die Wahrheit sagen. Wir wissen noch nicht, was mit meiner Tochter ist.«

»Das wird sie tun«, versicherte Santiago. »Sie wird alles erzählen, was sie weiß.«

Joaquín Castán wandte sich ab, stieg in sein Auto und raste davon. Bei Nacht konnte die Rückfahrt nach Monteperdido über zwei Stunden dauern. Zwei Stunden, in denen er die Zähne zusammenbeißen musste. Er würde nicht zusammenbrechen. Nicht jetzt.

 

Ein Pfleger hatte Raquel eine Zigarette gegeben. Der Tabakrauch vermischte sich mit ihrem Atem. Es war kalt geworden. Santiago setzte sich neben Álvaro auf eine Bank, ein paar Meter von seiner Frau entfernt. Der Mann hatte den Blick auf den Boden gerichtet; Santiago hatte ihn noch nicht einmal lächeln sehen. Scharfgeschnittene Gesichtszüge, schneeweiße Haut, stahlblaue Augen.

»Sind Sie in Ordnung?«, erkundigte er sich.

»Ich weiß nicht …«, sagte Álvaro leise. »Doch, natürlich … Nach all den Jahren fällt es schwer zu glauben, dass der Albtraum vorbei ist.«

Álvaro versuchte zu lächeln, aber es blieb bei einer kläglichen Grimasse. Santiago tätschelte ihm beruhigend den Oberschenkel und lehnte sich dann mit einem Seufzen zurück. Er verstand die widersprüchlichen Gefühle von Anas Eltern; sie konnten sich noch nicht richtig freuen, solange ihre Tochter nicht bei Bewusstsein war. Was erwartete sie, wenn sie zu sich kam? Welche Geschichten würde sie ihnen erzählen?

Die Nacht hatte in einem Krankenhaus immer etwas von einer Totenwache, dachte er.

 

Die Türklingel riss Víctor aus dem Schlaf. Orientierungslos stand er auf und sah aus dem Fenster. Draußen war es noch dunkel. Er schaltete das Licht im Flur an und wartete, bis sich seine Augen an die Helligkeit gewöhnt hatten. Es klingelte erneut. Als Víctor öffnete, stand Sara vor ihm. Sie trug Nieve auf dem Arm.

»Es tut mir leid«, sagte sie.

»Was ist passiert?«

»Sie hat mich angesprungen, als ich zur Pension gehen wollte …«

Erst jetzt sah Víctor das Blut an Saras Händen. Er nahm ihr Nieve ab, die vor Erschöpfung und Schmerz wimmerte.

»Was haben Sie getan?«, brüllte er.

»Ich schwöre Ihnen, sie hat mich angegriffen … Ich wusste nicht, dass sie es war … Ich hätte nicht geschossen, wenn ich gesehen hätte, dass es Ihr Hund ist.«

»Sie haben auf Nieve geschossen?«

»Vielleicht kann man noch was machen«, sagte Sara kleinlaut.

Víctor nahm die Wunde in Augenschein, dann fluchte er leise und suchte sein Handy. Er wählte eine Nummer. Sara stand noch immer in der Tür und wusste nicht, ob sie reinkommen sollte oder nicht. Víctor hielt den Hund gegen das weiße T-Shirt gedrückt, das er zum Schlafen trug und das sich mittlerweile rot gefärbt hatte.

»Es tut mir wirklich leid.«

»Nicolás, entschuldige, dass ich dich wecke. Ich bin’s, Víctor. Du musst zu mir nach Hause kommen. Nieve ist angeschossen worden … Ich versuche, die Blutung zu stoppen, aber beeil dich.«

Víctor legte auf und sah, dass Sara immer noch in der Tür stand.

»Hauen Sie ab!«, rief er und schlug die Haustür zu.

 

Wie sollte sie schlafen? Als sie in der Pension ankam, blieb Sara vor dem Kaffeeautomaten an der Rezeption stehen. Sie warf eine Münze ein und wartete auf ihr Getränk. Rechts neben dem Rezeptionsschalter war die Tür zum Treppenhaus, das zu den Zimmern führte. Links befanden sich der Speisesaal und ein kleiner Aufenthaltsraum. Sie ging in den Aufenthaltsraum, während der frisch gebrühte Kaffee ihr die Finger verbrannte. Ein paar Sofas und Sessel mit kleinen Tischchen, zwei Tische mit Kohlebecken und den passenden Stühlen vor den Fenstern. Die Polizistin ging zu einem Sessel in einer Ecke des Raums. Es war dunkel im Zimmer, nur der Nachthimmel über Monteperdido spendete ein schwaches bläuliches Licht. Sie betrachtete ihren Kaffee. Er war heiß, beinahe kochend heiß. Sie merkte, wie sich ihr Magen verkrampfte. Sie stellte den Kaffee ab. Sogar der Geruch war ihr unangenehm. Ihr war zum Heulen zumute.

Als sie ein Geräusch hörte, sah sie sich suchend um. Leder knarzte. In der Dunkelheit konnte sie sehen, dass sich auf einem der Sofas etwas bewegte. Dann war eine raue Stimme zu hören:

»Schlaflos?«

Die dunkle Masse knipste ein kleines Lämpchen mit grünem Lampenschirm an. Als das Licht auf sie fiel, stellte Sara fest, dass es sich um eine Frau handelte. Sie musste um die sechzig sein. Ihr braunes, lockiges Haar war auf einer Seite zerdrückt; die Frau fuhr mit den Fingern hindurch, um es wieder in Form zu bringen. Ihr rundliches Gesicht wirkte wie aus Knete modelliert. Sie hatte vorstehende Augen, ein Eindruck, der durch die Schatten, die das Lämpchen warf, noch verstärkt wurde. In dem grünlichen Licht erinnerte sie an eine Kröte. Eine weise, gütige Kröte, wie im Märchen.

»Darf ich?«, fragte die Frau und bat mit einer Handbewegung um Erlaubnis, sich zu Sara gesellen zu dürfen.

Die Polizistin setzte sich auf und nahm ihren Kaffeebecher, als wolle sie Platz machen. Als die Frau aufstand, war sie kaum größer, als sie im Sitzen gewesen war. Mit schlurfenden Schritten kam sie zu Sara. Ihre Arme und Beine waren extrem kurz, als hätte sie keine Gelenke. Weder Knie noch Ellenbogen. Ihr leicht schwankender Gang unterstützte diesen Eindruck noch. Sie trug eine Art alten Overall. Als sie die Sitzgruppe erreicht hatte, nahm sie mit einem kleinen Hüpfer in einem Sessel Platz. Ihre sicherlich ebenfalls rundlichen Füße in den winzigen Turnschuhen baumelten in der Luft. Sie stellte eine Plastikflasche mit einer roten Flüssigkeit auf den Tisch, bei der Sara nicht erraten konnte, worum es sich handelte. Die Frau stöhnte leise. Scheinbar hatten sie die paar Schritte große Anstrengung gekostet.

»Schlaflosigkeit ist ein großer Mist«, urteilte sie mit ihrer Kettenraucherstimme. »Es ist jede Nacht dasselbe. Ich ziehe das Nachthemd an und trinke ein Glas Milch, dann lege ich mich ins Bett, bis mir irgendwann der Rücken weh tut vom Herumwälzen. Also stehe ich wieder auf, ziehe den Jogginganzug an – vergiss es. Wieder eine schlaflose Nacht. Ich heiße übrigens Caridad.«

Sara lächelte. Sie verstand nur zu gut. Dann fiel ihr auf, dass das, was die Frau trug, ein aus der Mode gekommener Jogginganzug war. Ein Ladenhüter aus den Achtzigern. Mit seinem altrosa und grauen Muster und völlig formlos ließ er Caridad noch gedrungener erscheinen.

»Ich wohne gegenüber«, sagte Caridad und deutete mit dem Kopf zum Fenster. »Manchmal gehe ich nachts im Dorf spazieren, bis es hell wird. Andere Male komme ich hierher. Die Sofas sind bequem, und der Rücken tut mir weniger weh. Elisa ist es egal; bevor der erste Gast aufsteht, bin ich wieder weg. Und du? Willst du dich nicht vorstellen? Das ist ja, als würde ich mit einem Gespenst reden.«

»Ja, Verzeihung …«, antwortete Sara, immer noch ein bisschen fassungslos. »Kriminalkommissarin Sara Campos.«

»Ich hab auch einen Nachnamen, weißt du? Caridad ScheißaufdieSchlaflosigkeit.« Und sie brach in ein donnerndes Lachen aus, das in der Stille der Nacht widerhallte. »’tschuldigung«, sagte sie dann. »Vor lauter Schlafentzug rede ich jede Menge Unsinn.«

»Ach, macht nichts«, sagte Sara lächelnd.

»Hast du einen umgebracht? Oder bist du die Tote?«

Caridad musterte Saras Sweater. Die bemerkte erst jetzt, dass sie einen dunklen Fleck aus getrocknetem Blut auf der Brust hatte. Nieves Blut.

»Nein … Also, ich glaube nicht …« Sara hatte Angst, dass der Hund mittlerweile tot sein könnte. »Es gab einen Unfall.«

»Bist du verletzt? Soll ich mal nachschauen? Ich bin Krankenschwester, weißt du. Und Fußpflegerin. Aber an den Füßen hast du nichts, oder?«

»Mir geht’s gut«, beteuerte Sara, während sie das Blut betastete. Es war eine zähe Masse, es ließ sich nicht mal mehr verreiben.

»Ich müsste den anderen sehen, stimmt’s?« Erneut hallte Caridads Lachen in der Stille wider. Sara befürchtete, dass sie jemanden aufwecken könnte.

»Es war ein Hund«, flüsterte Sara in der Hoffnung, dass auch Caridad die Stimme senken würde, wenn sie es tat.

»Ach so, na dann …« Caridad rekelte sich ein wenig in ihrem Sessel. Die Missbilligung in ihrer Stimme war nicht zu überhören. »Ein Hund. Dann ist es ja nicht weiter schlimm. Man sollte hin und wieder einen Köter umlegen. Das entspannt.«

»Ich hab Ihnen doch gesagt, es war ein Unfall«, verteidigte sich Sara. »Und ich weiß auch gar nicht, ob der Hund tot ist.«

»Warum sich Gedanken machen? Das arme Tier wird irgendwo liegen und verbluten … Das ist viel humaner.«

»Ich habe ihn zu seinem Besitzer nach Hause gebracht. Oder warum, glauben Sie, sind meine Kleider so versaut?« Sara konnte ihren Zorn nur mühsam beherrschen.

»Stell dich nicht so an, Sara Campos. Wir unterhalten uns nur ein bisschen. Bis wir müde werden …« Caridad hob beschwichtigend die Ärmchen. »Aber wenn du nicht über den Hund sprechen willst, sprechen wir halt über was anderes. Bist du wegen der verschwundenen Mädchen hier? Furchtbare Sache, oder?«

Sara sah Caridad erstaunt an. Sie war von Angriff auf Herzlichkeit umgeschwenkt.

»Ich darf nicht über den Fall sprechen«, sagte Sara.

»Also, worüber sprechen wir dann? Über die Töle?«, entgegnete Caridad aufgekratzt. Sie beugte sich so weit vor, dass ihre Brüste auf dem Tisch zu liegen kamen, verschränkte die Hände und ließ die Finger umeinander kreisen. Sie wirkte wie ein gelangweiltes Kind.

»Ich glaube, ich habe jetzt die nötige Bettschwere«, leitete Sara den Abschied ein.

»Also echt!«, schimpfte Caridad, und ihre Reibeisenstimme hallte im Raum wider. »Ist nicht böse gemeint«, sagte sie entschuldigend, als sie Saras verdutztes Gesicht sah, »aber du legst dich in die Falle, und ich schlag mir hier die Nacht um die Ohren.«

»Ich muss noch duschen«, rechtfertigte sich Sara, als wäre sie irgendwie verpflichtet, der Frau Gesellschaft zu leisten.

»Na los, geh schon«, forderte Caridad sie auf und fuchtelte mit ihrem kleinen Händchen in der Luft. »Und mach dir nicht so viele Gedanken wegen dem Hund. Mit dem schlechten Gewissen ist es wie mit der Schwiegermutter: Wenn es sich erst mal gemütlich eingerichtet hat, wird man’s nicht wieder los.« Caridad kramte in der Hosentasche ihres Jogginganzugs, förderte ein Päckchen Zigaretten zutage und bot ihr eine an. »Rauchst du?«

»Nein, danke«, antwortete Sara und stand auf.

»Wenn Víctor mich noch nicht angerufen hat, kann es nicht so schlimm sein. Für mich macht es keinen Unterschied, ob ich ein Hühnerauge entferne oder einen Hund behandle. So läuft das hier im Dorf. Aber er scheint zu Nicolás Souto gegangen zu sein.«

Sara hielt im Gehen inne. Caridad hatte ihre Zigarette angezündet und schaute durchs Fenster auf die menschenleeren Straßen von Monteperdido.

»Woher wissen Sie, dass es Víctors Hund war?« Sara wusste nicht, ob sie lachen oder ungehalten werden sollte.

»Kindchen, das hier ist ein kleines Kaff. Wirst du noch merken«, lautete die Antwort.

»Und warum fragen Sie mich dann aus, als ob Sie von nichts wüssten?«

»Um zu reden. Hab ich doch schon gesagt. Ich hab nachts nicht oft Gesellschaft …«

Caridad sah sie kleinlaut an. Oder spielte sie immer noch mit ihr? Sara wünschte ihr eine gute Nacht und ging. Beim Hinausgehen fiel ihr Blick noch einmal auf diese kleine Frau, die gerade den Zigarettenrauch ausstieß und mit den zu kurzen Beinen in der Luft baumelte, beleuchtet vom smaragdgrünen Licht der einzigen Lampe. Es hätte sie nicht gewundert, wenn Caridad plötzlich in der Rauchwolke verschwunden wäre.

 

Nicolás Souto schwitzte so stark, dass ihm ständig die Brille von der Nase rutschte. Er musste immer wieder die Nadel weglegen, um sie hochzuschieben; mittlerweile hatte er schon einen roten Fleck auf der Nasenspitze. Aber Víctor hatte nur Augen für Nieve. Der Hund lag betäubt auf dem Küchentisch, der als improvisierter Operationstisch diente.

»Wirst du sie anzeigen?«, fragte Nicolás, während er die Wunde nähte. »Ich meine, wie zeigt ein Polizist einen anderen an? Geht man einfach hin und macht seine Anzeige, oder muss man da ein internes Verfahren anstrengen?«

Nicolás hatte die Nadel auf Nieves Fell abgelegt, so wie man den Löffel auf dem Teller ablegt, wenn man von etwas anderem abgelenkt ist. Er zwinkerte heftig. Ein nervöser Tick. Die Brille war ihm schon wieder auf die Nasenspitze gerutscht. Er schob sie hoch und beschmierte dabei das Gestell mit Blut.

»Was weiß ich, Nicolás. Findest du, das ist der richtige Moment für solche Fragen?«, sagte Víctor verärgert.

»Nein, natürlich nicht«, antwortete der Tierarzt betreten und machte sich wieder ans Nähen. »Eine Anzeige mitten in den laufenden Ermittlungen wegen der Mädchen, das wäre Irrsinn. Ana liegt im Krankenhaus, Lucía ist nach wie vor verschwunden … Ein Irrsinn. Und dann eine leitende Ermittlerin. Aber dieser Vorfall macht die Zusammenarbeit sicher nicht leichter …«