Das Drama der Vaterentbehrung - Horst Petri - E-Book

Das Drama der Vaterentbehrung E-Book

Horst Petri

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Beschreibung

Kinder brauchen beide Eltern - oft fehlt jedoch der Vater als Identifikationsfigur und Vorbild. Welche besondere Rolle spielt der Vater in der Familie? Welche psychischen Probleme können Kinder und Jugendliche entwickeln, wenn sie ohne Vater aufwachsen? Und: Wie kann man diese Probleme selbst im Erwachsenenalter noch kompensieren und bewältigen? An zahlreichen Fallbeispielen und Erkenntnissen aus der psychologischen Forschung zeigt Horst Petri, wie wichtig der Vater für die Entwicklung des Bindungsverhaltens, der Geschlechtsidentität, der eigenen Rolle in der Gesellschaft und für die Einstellung zur Partnerschaft ist. Aus seiner umfangreichen Praxiserfahrung heraus eröffnet er Wege der Heilung, wenn die Vaterentbehrung zum Trauma wird.

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Seitenzahl: 323

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Prof. Dr. med. Horst Petri ist Nervenarzt, Arzt für Kinder- und Jugendpsychiatrie und Psychoanalytiker mit eigener Praxis in Berlin.

Vom Autor außerdem im Ernst Reinhardt Verlag erschienen: „Psychotherapie mit jungen Erwachsenen“ (ISBN 978-3-497-02118-5).

Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek

Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über <http://dnb.d-nb.de> abrufbar.

ISBN 978-3-497-03042-2 (Print)

ISBN 978-3-497-61443-1 (PDF-E-Book)

ISBN 978-3-497-61444-8 (EPUB)

8. Auflage

© 2021 by Ernst Reinhardt, GmbH & Co KG, Verlag, München

Dieses Werk, einschließlich aller seiner Teile, ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung außerhalb der engen Grenzen des Urheberrechtsgesetzes ist ohne schriftliche Zustimmung der Ernst Reinhardt GmbH & Co KG, München, unzulässig und strafbar. Das gilt insbesondere für Vervielfältigungen, Übersetzungen in andere Sprachen, Mikroverfilmungen und für die Einspeicherung und Verarbeitung in elektronischen Systemen.

Printed in EU

Reihenkonzeption Umschlag: Oliver Linke, Höhenschäftlarn

Covermotiv: © istock.com/martina-braun

Satz: Vollnhals Fotosatz, Neustadt/Donau

Ernst Reinhardt Verlag, Kemnatenstr. 46, D-80639 München

Net: www.reinhardt-verlag.de E-Mail: [email protected]

Inhalt

Vorwort zur fünften Auflage

Einleitung

IDie „Vaterlose Gesellschaft“ – ein Phantom

IIWarum brauchen Kinder einen Vater?

1 Die Macht des inneren Vaterbildes

2 Die Entwicklung der Vater-Kind-Beziehung

Das Dreieck Mutter-Vater-Kind – die Triangulierungsphase

Großer Vater – kleines Kind – die erste ödipale Phase

Das Vatervorbild in der Pubertät – die zweite ödipale Phase

IIIEin Vater kann auf verschiedene Weisen verloren gehen

1 „Ich habe meinen Vater nie gekannt“ – die Vaterlosigkeit

2 Der Vaterverlust zwischen früher Kindheit und Pubertät

Nur noch eine einzige Erinnerung – Vaterverlust in den ersten drei Lebensjahren

Zwischen Unterwerfung und Rebellion – Vaterverlust in der ersten ödipalen Phase

„Wer bin ich?“ – Identitätskrise und Vaterverlust in der Pubertät

3 Warten auf ein Wiedersehen – Formen der Vaterabwesenheit

IVWie die Umwelt die Bewältigung der Vaterentbehrung hemmen oder fördern kann

1 Welche Rolle spielt die Veranlagung?

2 Das schwierige Los der Mütter

3 Geschwister – Bollwerk gegen Einsamkeit und Konkurrenten

4 Stief- und Ersatzväter in der Familie

5 Soziale Väter im außerfamiliären Raum

6 Verwandtschaft – ein Netz mit Löchern

7 Arm oder reich – ein großer Unterschied

8 Ohne Freunde geht es nicht

9 Verwickelte Verhältnisse in Liebesbeziehungen und Partnerschaft

VDie Folgen der Vaterentbehrung

1 Was ist ein Trauma?

2 Seelische und soziale Auswirkungen

Die Entwicklung der Intelligenz

Gewissen und Moral

Das Gefühl für die eigene Weiblichkeit und Männlichkeit

Wie man sich in der Gesellschaft bewegt

3 Vom Trauma zur Kreativität

4 Die Weitergabe des Traumas von Generation zu Generation

VIDie Heilung des Traumas

1 Entwurf eines neuen Geschlechtervertrages

2 Allgemeine Rahmenbedingungen

Die Umstrukturierung der Arbeitswelt

Jedes Kind hat ein Recht auf beide Eltern – das „Neue Kindschaftsrecht“

Mediation, Beratung, Therapie, Selbsthilfe

3 Erziehung, Bildung, Arbeit – wohin geht der Weg?

Persönlicher Abschluss

Anmerkungen

Literatur

Vorwort zur fünften Auflage

Die überarbeitete und aktualisierte Fassung des Buches trägt der vermehrten Aufmerksamkeit Rechnung, die das Thema der Vaterentbehrung in den letzten Jahren in vielen Bereichen der Gesellschaft gefunden hat. Die wichtigste Voraussetzung dafür war die Neubewertung der Vaterrolle, die lange Zeit vernachlässigt wurde. Der unverminderte Anstieg der Scheidungen und die stetige Zunahme nichtehelich geborener Kinder bei einem gleichzeitig dramatischen Rückgang der Geburten belegen nicht nur die wachsende Instabilität der Familie. Sie sind auch entscheidende Indikatoren für einen demographischen Wandel, der die Gesellschaft inzwischen in eine bedenkliche Schieflage bringt.

Das daraus abzuleitende neue Interesse an den Vätern hat zwangsläufig auch die Wahrnehmung für das kollektive Phänomen der Vaterentbehrung geschärft. Deswegen war es notwendig, die jüngsten Erkenntnisse und die Bemühungen um eine Eingrenzung des Problems in die Neuauflage aufzunehmen.

Aus Raumgründen konnte ich leider nicht die zahllosen Zuschriften und die Berge von Gerichtsakten und Gutachten auswerten, die mir in den Jahren nach Erscheinen des Buches von betroffenen Frauen und Männern zugesandt wurden. Am bewegendsten waren für mich die Briefe von den Personen, die nach seiner Lektüre zum ersten Mal die zentrale Ursache für viele Schwierigkeiten in ihrem Leben erkannten, ein Erkennen, das sie mit großer Befreiung erlebten. Viele von ihnen hatten oft jahrelange Therapien gemacht, in denen der Vaterverlust nie thematisiert wurde.

Möge das Buch weiter zur Aufhebung solcher Verleugnungen beitragen.

Berlin, im Frühjahr 2006Horst Petri

Einleitung

In dem mehrfach preisgekrönten Film „Little Criminals“ des Kanadiers Stephen Surjik von 1995 hat die Welt für Des, den Helden der Geschichte, ihre Konturen verloren. Er macht das Beste daraus. Dank seiner Schlauheit, Vitalität und unerschöpflichen Erfindungsgabe wird er zum Regisseur seiner Umwelt, indem er zu einem Teufel in Kindsgestalt mutiert. Er stiehlt sich die Tasche voll, verhökert das Diebesgut an einen Hehler, donnert mit geklauten Autos und Motorrädern durch die Gegend, befördert sie kurzerhand in einen Kanal, wenn der Sprit verbraucht ist, und lacht auch noch zu seinen Späßen, wenn er ein Holzhaus abfackelt. Ein kleiner Wilder, elf Jahre alt. Hinter der Koboldsmaske die Seele eines „eiskalten Engels“. Abends zieht er sich in eine Dachkammer zurück und malt bei Kerzenschein die Wände mit Fratzen voll, den kreativ gestalteten Dämonen seiner Innenwelt, von denen er sich durch ihre Projektion auf eine Bildfläche zu befreien versucht. Vergeblich. Durch ein zufällig belauschtes Gespräch zwischen seiner Mutter und der Polizei erfährt er zum ersten Mal, wer sein Vater ist: einer von vielen Erziehern oder der Pfarrer des Erziehungsheims, in dem die Mutter als junges Mädchen untergebracht war. Wer weiß das schon so genau? Jetzt ist der Durchbruch von verdrängter Einsamkeit, Verzweiflung und Wut nicht mehr aufzuhalten. Aus nichtigem Anlass erschießt Des den verhassten Stiefvater seines einzigen Freundes – ein symbolischer Akt der Vatertötung.

Der Film durchbricht das Klischee von der Vaterlosigkeit erwachsener Straftäter, indem er die subtile psychologische Studie auf ein Kinderschicksal lenkt. So früh kann, das ist seine Botschaft, die Vaterentbehrung eine Kinderseele zerstören. Wie ernst sie zu nehmen ist, belegen die täglichen Presseberichte und Kriminal statistiken über Kinder unterhalb der Strafmündigkeitsgrenze, die in wachsendem Ausmaß mit dem Gesetz in Konflikt geraten. Sie stellen Jugendbehörden, Gerichte und die Öffentlichkeit vor ein neues gesellschaftliches Phänomen, das eine allgemeine Ratlosigkeit verbreitet. Nur langsam setzt sich die Erkenntnis durch, dass ein großer Teil dieser Kinder vaterlos aufwächst. Dieser Umstand erklärt die Gefühlskälte und das Fehlen von Schuld- und Scham gefühl bei ihren Taten. Im Gegenteil. „Bevor ich vierzehn Jahre alt bin, kann ich tun und lassen, was ich will.“ Diesen Trumpf, den Des in dem Film mit zynischer Ironie immer wieder gegen die Gesellschaft ausspielt, wird zum Credo von Teilen einer jungen Generation, die auf den Mangel an vorgelebter Autorität mit der Entfesselung ihrer Triebwelt reagiert.

Wir leben mit einem gespaltenen Bewusstsein. Während das skizzierte Szenario trotz aller Aufgeregtheit als soziales Randphänomen entsorgt wird, feiert die Gesellschaft unbekümmert die Fortschritte von individu eller Freiheit, Emanzipation und Selbstverwirklichung. Wenn sie das Szenario als einen, wenn auch extremen Spiegel der eigenen Situation sehen könnte, würde sie spüren, wie heiß der Vulkan inzwischen geworden ist, auf dem sie tanzt. Im Zentrum der Befreiungsideologie steht seit langem die Aufkündigung des patriarchal definierten Geschlechtervertrages. So überfällig sie war und der Frauenbewegung als unzweifelhaftes Verdienst anzurechnen ist, so sichtbar werden allmählich die verheerenden Folgen für die nachwachsenden Generationen. Jede revolutionäre Erneuerung schafft zunächst eine chaotische Übergangsperiode und hat ihren Preis. Viele Anzeichen deuten darauf hin, dass sie seit einiger Zeit in ihre kritische Phase eingetreten ist. In der Krankheitslehre bezeichnet Krise den Punkt, an dem sich der Weg in die Heilung oder in den Tod entscheidet. Auch eine gesellschaftliche Krise enthält die Chance zu einer strukturierenden Ordnung des Chaos, aber auch die Gefahr einer weiteren Destabilisierung.

Der Geschlechterkampf bewegt sich heute noch auf einer Spirale wechselseitiger Entfremdung. Damit schlägt die ursprünglich konstruktive Kritik in kontraproduktive Destruktion um. Anzeichen für eine kreative Neuordnung des Chaos sind bisher nur in vereinzelten Gesetzesinitiativen und im Engagement weniger Einzelpersonen und Gruppen zu erkennen. Das ernsthafteste Problem, das die Geschlechtertrennung produziert hat, die Vaterentbehrung, lässt sich jedoch nur als gesamtgesellschaftliche Aufgabe lösen. Die wichtigste Voraussetzung dafür ist ein neuer Geschlechter vertrag. Mit ihm ist nur zu rechnen, wenn das Massenphänomen in seiner ganzen Tragweite durchdacht, und das dabei auftretende Erschrecken zum Motiv und zur Bereitschaft für einen Wandel der Anschauungen und Verhaltensstrukturen wird.

In diesem Sinne verfolgt dieses Buch das Ziel, bestehende Verleugnungen aufzulösen, die eine angemessene Wahrnehmung des Problems der Vaterentbehrung blockieren. Es ist eine schlichte Tatsache, dass im Rahmen der Befreiungsbewegung von Frauen und Männern in den letzten Jahrzehnten die Konsequenzen für die Kinder entweder nahezu ausgeblendet oder durch ideologisch gefärbte Argumente gerechtfertigt wurden, die sich inzwischen als grobe Täuschungen erweisen. Die Transformationen der Familienformen und die Etablierung alternativer Lebensgemeinschaften bekamen unter dem Druck der allgemeinen Umbrüche den Charakter von Modernitätsstandards. Das Gefühl für die Kinder ging dabei um so leichter verloren, als der Vater im Rahmen des emanzipatorischen Umbaus nicht nur an Bedeutung verlor, sondern in seiner Rolle für die Kinder zusätzlich eine radikale Entwertung erfuhr. Durch diese Entwicklung wächst seit mehr als dreißig Jahren eine zunehmende Zahl von Kindern ohne ihre Väter auf, ein Trend, der sich weiter beschleunigt. Wenn man diese Tatsache nicht nur rational begreift, sondern auch emotional als Drama realisiert, kann einen das Gefühl eines Albtraums befallen. Wie konnte es so weit kommen, dass in Zeiten des Friedens und des allgemeinen Wohlstands Väter reihenweise die Verantwortung für ihre Kinder aufkündigen oder von Müttern systematisch ausgegrenzt werden? Viel zu wenige erwachen langsam aus dieser zum Albtraum gewordenen Realität.

Aus allen genannten Gründen erscheint es an der Zeit, das Drama der Vaterentbehrung neu zu gewichten. Das ist das Hauptanliegen des Buches. Um dabei Missverständnissen vorzubeugen: Die Darstellung handelt nicht von Zeiten der Vaterabwesenheit, die berufsbedingt ist, und auch nicht von Trennungs- und Scheidungsvätern, die durch einen lebendig gelebten Kontakt zu ihren Kindern die Kontinuität der Beziehung bewahren. Im Zentrum steht die definitive Vaterlosigkeit, die durch unbekannte Erzeuger schon ab der Geburt besteht, oder die durch Trennung, Scheidung und Tod des Vaters zwischen früher Kindheit und Jugend eintritt. Dabei beschränkt sich die Darstellung nicht auf das Kindes- und Jugendalter, eine Begrenzung, die in der Scheidungsliteratur die Regel ist; vielmehr wird hier eine lebensübergreifende Perspektive gewählt. Denn die Vaterentbehrung ist ein Prozess, der die gesamte Persönlichkeitsentwicklung über alle Lebensphasen umspannt.

Das Buch ist in sechs Kapitel gegliedert. Das erste setzt sich kritisch mit dem Mythos der „Vaterlosen Gesellschaft“ auseinander. Der Begriff erlebt heute eine neue Konjunktur, heizt aber unnötig Ressentiments und Vorurteile an, statt zur Versachlichung beizutragen. Das zweite Kapitel fasst die wichtigsten entwicklungspsychologischen Erkenntnisse über die Bedeutung des Vaters zusammen. Im dritten Kapitel werden an einigen psychotherapeutischen und literarischen Beispielen die verschiedenen Formen der Vaterentbehrung dargestellt, um zu einer einheitlichen Definition des Begriffs zu gelangen. Kapitel vier befasst sich ausführlich mit den fördernden und hemmenden Umwelteinflüssen, die bei der Verarbeitung eines vaterlosen Schicksals eine entscheidende Rolle spielen. Im fünften Kapitel sollen das Chaos der Gefühle und seine seelischen und sozialen Folgen genauer dargestellt werden, wobei besonders der Traumabegriff als theoretisches Konzept zum Verständnis der Vaterentbehrung eingeführt wird. In seinem Zusammenhang ist die Rolle der Kreativität bei der Bewältigung des Traumas besonders wichtig. In Kapitel sechs stehen der Entwurf eines neuen Geschlechtervertrages und einige gesellschaftliche Rahmenbedingungen, wie die Umstrukturierung der Arbeitswelt, das „Neue Kindschaftsrecht“ und Fragen von Beratung und Therapie als wichtige Kräfte zur Heilung des Traumas im Vordergrund.

Das Buch wird von der Hoffnung geleitet, dass ein neues Emanzipationsbündnis von Frauen und Männern und ein neuer Generationenvertrag, der das Recht des Kindes auf beide Eltern sichert, das Drama der Vaterentbehrung umzuschreiben vermögen. Nur dadurch können seine schlimmsten Folgen für die Betroffenen und das Gemeinwesen abgemildert, im besten Fall vermieden werden.

I Die „Vaterlose Gesellschaft“ – ein Phantom

Zeiten wandeln sich und mit ihnen Ideologien und Begriffe. Ihre Funktion muss ständig neu entschlüsselt und auf ihre Brauchbarkeit überprüft werden. Die „Vaterlose Gesellschaft“ war schon immer ein Reizwort, erregte die Gemüter, spaltete die Parteien.

Der Begriff tauchte zum ersten Mal in der berühmten Schrift Freuds „Totem und Tabu“ aus dem Jahr 1913 auf. Freud legte mit ihr eine höchst spekulative Theorie über die Anfänge der Kultur vor: „Eines Tages taten sich die ausgetriebenen Brüder zusammen, erschlugen und verzehrten den Vater und machten so der Vaterhorde ein Ende.“ Ihr Motiv, so Freud, lag darin, die uneingeschränkte Macht des Vaters und seinen Alleinanspruch auf die Frauen zu brechen. Ihre Schuldgefühle veranlassten sie, den realen Vatermord künftig durch Totemfeiern zu ritualisieren und das Inzesttabu einzuführen. In der Übergangsperiode der „Vaterlosen Gesellschaft“ kehrten das Identifizierungsbedürfnis und die Vatersehnsucht der Söhne als „Einsetzung der Vatergottheiten“ wieder.1

Nach dem Ersten Weltkrieg wurde der Begriff als Kampfparole von jungen Intellektuellen, Schriftstellern und Künstlern aufgegriffen. Ihr Entsetzen über das bis dahin beispiellose Grauen dieses Krieges verdichtete sich in einem Hass auf die verantwortlichen königlich-kaiserlichen Repräsentanten. Die politisch intendierte „Aktion Vatermord“ stand symbolisch für den Aufruhr einer jungen Generation gegen das patriarchale System der Vaterautoritäten. Ernst Federn, ein Schüler Freuds, wurde durch seine Schrift „Zur Psychologie der Revolution: Die vaterlose Gesellschaft“ von 1919 zu einem wichtigen Kronzeugen dieser Bewegung, auch wenn er zu bedenken gab, dass die Abschaffung der Väter die Sehnsucht nach ihnen nicht aufheben könne. Darin stimmte er mit Freud überein.

Immerhin bewirkte der propagandistisch gemeinte Begriff der „Vaterlosen Gesellschaft“ eine radikale Kritik damaliger Vaterbilder. Das war ihr Sinn. Die aus der Enttäuschung geborene Utopie einer Gesellschaft ohne Väter hatte nur die Funktion einer Wunschphantasie, die sich ihrer Realitätsferne bewusst blieb.

Als Alexander Mitscherlich 1963 das Buch „Auf dem Weg zur vaterlosen Gesellschaft“ veröffentlichte, konnte er nicht ahnen, welche Lawinen er damit lostreten würde. Er steigerte die Verwirrung um den Begriff, als er ihm eine umgekehrte Wendung gab. In einem Kapitel über die Veränderungen der Vaterrolle in einer hochtechnisierten Gesellschaft gegenüber vorindustriellen Zeitepochen beklagt er die Auswirkungen der „Vaterlosigkeit“ durch die außerhäusliche Berufstätigkeit auf die psychische Strukturbildung der Kinder. Durch Arbeitsteilung, Abwesenheit und die fortschreitende Anonymisierung der Arbeitswelt verliere der Vater zunehmend an Macht, Ansehen und Autorität vor seinen Kindern, wodurch deren zur Ich- und Über-Ich-Entwicklung notwendige Identifizierungsmöglichkeiten einschneidend behindert würden. Mitscherlich klammerte in seiner Untersuchung reale Formen der Vaterlosigkeit durch nichteheliche Geburt, Scheidung und Trennung der Eltern oder frühen Tod des Vaters bewusst aus.

Festzuhalten bleibt aber, dass Mitscherlichs „Vaterlose Gesellschaft“ als Phantom weiter durch die Lande geistert. Kaum einer weiß, was sie konkret bedeutet, aber als Phantom lässt sie sich beliebig missbrauchen. Deswegen sei hier, auch wenn es für jede vernünftige Einsicht überflüssig erscheint, unmissverständlich betont: Eine vaterlose Gesellschaft hat es, selbst unter den Bedingungen eines Matriarchats, zu keiner Zeit gegeben und wird es nicht geben, solange menschliche Gemeinschaften existieren. Unter welchen gesellschaftlichen Verhältnissen auch immer – Väter werden, auch bei mangelnder Präsenz, für ihre Kinder in den vielfältigsten Begegnungen und Lebenszusammenhängen erfahrbar und von ihnen als gute oder böse Vaterbilder, je nachdem, verinnerlicht. Durch die Summe der gemeinsamen Erfahrungen bilden sie sowohl äußere als auch innere Repräsentanten der Vaterwelt, wirken auf die seelische Entwicklung ihrer Kinder ein und bleiben damit für deren Schicksal verantwortlich.

Diese Feststellungen sind auch angesichts des Bedeutungswandels angezeigt, den Mitscherlichs Begriff der „Vaterlosen Gesellschaft“ in der Folgezeit erfahren hat, und dem die gegenwärtigen Phantome ihr Dasein verdanken. Nur wenige Jahre nach Erscheinen seines Buches brach die „68er Bewegung“ auf. Der Protest der Studenten richtete sich gegen die patriarchalen Strukturen in Hochschule, Politik und Gesellschaft und schloss die Auseinandersetzung mit der Vatergeneration ein, die den Faschismus mitgetragen hatte. Die damaligen Studenten wollten keine „vaterlose“, sondern eine „antiautoritäre“ Gesellschaft, von falscher Autorität befreite männliche und väterliche Leit bilder, das „herrschaftsfreie“ und demokratische Verhältnis zwischen den Generationen. Dieses Ziel war realistischer als frühere Bemühungen zum Abbau männlicher Herrschaft. Damals setzte in der Männerwelt ein fundamentales Umdenken ein, dem wir heute stark veränderte Vaterbilder und ein neues Rollenverständnis des Vaters verdanken. Dieser Prozess wurde wesentlich durch die parallel erstarkende Frauenbewegung beschleunigt.

Ihr Kampf um Gleichberechtigung in Kindererziehung, Partnerschaft, Sexualität, öffentlichen Rechten, politischer Mitentscheidung und Beruf richtete sich zwangsläufig gegen die damals noch verfestigten patriarchalen Ordnungen. Auch wenn ihre Ziele heute noch nicht im gewünschten Ausmaß realisiert sind, kam es in einem ungewöhnlich kurzen Zeitraum zu Veränderung in den meisten Bereichen der Gesellschaft, mit denen nach historischen Erfahrungen kaum ernsthaft zu rechnen war.

Um ihre Ziele durchsetzen zu können, war es folgerichtig, dass der Kampf der Frauenbewegung gegen die Männerwelt gerichtet war. Aber auch hier gilt: Wenn sich nicht durch viele andere Einflüsse die Kultur männlicher Herrschaft aufzulösen begonnen hätte, um weniger autoritären Männer- und Vaterbildern Platz zu machen, wäre es der Frauenbewegung wohl kaum gelungen, innerhalb von nur drei Jahrzehnten die Veränderungen zu bewirken, die heute unsere Gesellschaft auszeichnen. Allerdings vollzog sich dieser Prozess keineswegs in eitler Harmonie.

Am Begriff der „Vaterlosen Gesellschaft“ lässt sich der Zusammenprall der Geschlechter exemplarisch aufzeigen. Hatte Mitscherlich den Begriff noch im Zusammenhang einer kulturkritischen Analyse spätkapitalistischer Gesellschaften angesiedelt, schmiedete die Frauenbewegung aus ihm eine Waffe im personifizierten Kampf gegen das Vaterkollektiv. Dabei gerieten die gesellschaftlichen Verhältnisse, die bei Mitscherlich zur „Unsichtbarkeit“ der Väter führen, gänzlich aus dem Blickfeld. Jetzt waren es die persönliche Schuld und das Versagen der Väter, die am Pranger standen. Die Wortführerinnen der Emanzipation wurden nicht müde, einer ganzen Frauengeneration die Unzulänglichkeiten von Vätern einzuimpfen. Die „Vaterlose Gesellschaft“ wurde zur griffigen Münze, mit der sich jedes Vorurteil auszahlte. Aus der Sensation des Begriffs ließ sich propagandistisches Kapital schlagen, das inflationär in Umlauf gesetzt wurde. Es wurde zum Schlag-Wort. Sein Paradox bestand darin, dass es Väter bis zur Lächerlichkeit verunglimpfte und gleichzeitig um ihre größere Verfügbarkeit in der Familie warb. Das Verfolgungsklima solcher Doppelbotschaften flaute an Schärfe auch nicht ab, als empirische Untersuchungen längst belegten, wie grundlegend sich väterliches Verhalten im Laufe der letzten drei Jahrzehnte verändert hatte.

Die Frauenbewegung muss sich heute mit der traurigen Erkenntnis auseinander setzen, dass sie in Bezug auf das Vaterthema ihren ursprünglich produktiven Befreiungsprozess überreizt hat. Die Kluft zwischen den Geschlechtern vertieft sich weiter, und das Gift, das inzwischen mehreren Kindergenerationen über ihre angeblich vaterlose Kindheit eingeträufelt wurde, wirkt bei diesen als gnadenlose Entwertung der Väter fort.

Es erscheint daher fast folgerichtig, wenn in jüngster Zeit der Begriff „Vaterlose Gesellschaft“ abermals einen Bedeutungswandel erfährt. Diesmal wird er nicht von der Frauen-, sondern von der Männerbewegung instrumentalisiert. Den Anstoß dazu gab die Zeitschrift „Der Spiegel“ Ende 1997 mit der Titelgeschichte „Die vaterlose Gesellschaft. Geschlechterkampf um Kinder und Geld“2. Ausgelöst wurde der Artikel durch zahlreiche Demonstrationen, Sitzblockaden, Hungerstreiks und die Übergabe symbolischer Geschenke vor deutschen Gerichten im Herbst 1997 von Vätern, die ihre Kinder nach Trennung oder Scheidung nicht mehr sehen dürfen. Sie haben sich inzwischen in einigen Männergruppen organisiert und protestieren gegen die Folgen der Scheidungsreform von 1977, die einer Ausgrenzung von Vätern und einem zunehmenden Umgangsboykott durch Mütter Vorschub leistet. Der Zeitpunkt war gut gewählt. Im September 1997 wurde vom Deutschen Bundestag das „Neue Kindschaftsrecht“ verabschiedet, das am 1. Juli 1998 in Kraft trat. In ihm wird nach den negativen Erfahrungen der letzten zwanzig Jahre das Sorge- und Umgangsrecht grundlegend neu geregelt. Der Spiegel-Artikel zog eine deprimierende Bilanz über die gegenwärtige Situation vieler Scheidungsväter und vor allem über ihre psychische Verfassung, nachdem sie in einem jahrelangen Scheidungskampf aufgerieben und das Umgangsrecht mit ihren Kindern verloren hatten.

Einer der Autoren, Matthias Matussek, veröffentlichte kurze Zeit später das Buch „Die vaterlose Gesellschaft. Überfällige Bemerkungen zum Geschlechterkampf“. Seine scharfe Polemik richtet sich gegen sorgeberechtigte Mütter, denen unter dem Diktat feministischer Väterverachtung selbst die krudesten Mittel recht seien, die getrennten Kinder von ihren Vätern fernzuhalten – eine Entwicklung zum Schaden der Kinder, der Väter und schließlich der Mütter selbst, die inzwischen bedenkliche Formen angenommen hat. Der erneute Bedeutungswandel des Begriffs der „Vaterlosen Gesellschaft“ ist hierbei unverkennbar. War es zunächst das Ziel der Frauenbewegung, die „Vaterlosigkeit“ zu überwinden und mehr väterliche Präsenz einzufordern, scheint sich jetzt das Blatt umzukehren, wobei der von einigen Frauen militant und propagandistisch recht wirkungsvoll geführte Kampf in der gewollten Abschaffung der Väter kulminiert. Wenn man bedenkt, dass es hierbei nicht mehr um symbolische Gesten, sondern um konkrete Lebensplanungen geht, stehen wir vor einer Ungeheuerlichkeit in der Auseinandersetzung der Geschlechter, deren Folgen bisher kaum angedacht sind. Matussek zitiert zahlreiche Quellen, die belegen, dass besonders Scheidungs- und unverheiratete Väter immer öfter in die Gefahr geraten, als überflüssiges Beiwerk ausgegrenzt und nur noch als Unterhaltszahler in Anspruch genommen zu werden. Die Negierung seiner Vaterfunktionen und die Ausbeutung seiner finanziellen Ressourcen stelle, so Matussek, eine gesamtgesellschaftliche Katastrophe dar. „Die vaterlose Gesellschaft – eine radikal feministische Utopie, wird leise und allmählich Wirklichkeit“.3

Trotz der in mancher Hinsicht beklemmenden Entwicklung und zutreffender Argumente des Autors schießt er mit dieser Beschreibung weit über sein Ziel hinaus und erweist seinem eigentlichen Anliegen, der Geschlechterdemokratie zwischen Müttern und Vätern, einen Bärendienst. Die Verwendung des Begriffs „Vaterlose Gesellschaft“ wird, wie bei den Frauen, auch bei ihm und seinen Mitstreitern zu einem Phantom, das zu einer lustvoll-sensationellen Inszenierung eingesetzt wird, um antifeministische Ressentiments zu schüren. Schließlich betrifft seine Kritik nur einen Teil bereich der Gesellschaft, der, leidvoll genug, von Trennung und Scheidung betroffen ist, und innerhalb dieses Bereichs nur solche Mütter und Väter, die zu keiner angemessenen Lösung ihrer Probleme gefunden haben. Dass Väter ohne eigenes Verschulden aus Mutwillen, Kränkung, Rachsucht oder Männerhass von ihren Frauen auf einem Nebengleis abgestellt werden, ist schlimm genug. Aber auch viele Väter, und besonders Scheidungsväter, sind wahrhaftig keine Engel.

Statistiken gehen von rund einer Million Scheidungsvätern aus, von denen knapp sechzig Prozent nach der Trennung ihre Kinder nach mehr oder weniger kurzer Zeit nicht mehr wiedersehen. Die Statistik sagt nichts darüber aus, wie viele von den rund 600 000 Vätern aus Verantwortungslosigkeit den Kontakt zu den Kindern abbrechen, wie viele ihre Ausstoßung durch Verweigerung der Unterhaltszahlungen, aus Desinteresse oder aus Gefühlsrohheit selbst verschulden, wie viele durch weite Ortswechsel die Beziehung zu den Kindern nicht aufrechterhalten können, wie viele aufgeben, um die Kinder im Scheidungskampf zu schonen, oder schließlich, wie groß der Anteil der Väter ist, der vor den Besuchsschikanen der Mütter oder vor menschlich ungerechten Gerichtsentscheidungen resigniert. Trotz dieser Unsicherheiten scheint das beschriebene Phänomen der Blockierung des Kontaktes zwischen Vätern und Kindern durch Mütter und deren ungerechtfertigte Vergraulung der Väter leider keine Seltenheit zu sein. Aber von diesen Fällen auf eine „Vaterlose Gesellschaft“ zu schließen, zeugt von geringem Realitätssinn.

Wenn jetzt die angeblich von Frauen verschuldete „Vaterlose Gesellschaft“ von der Männerbewegung zu einem Phantom stilisiert wird, muss sich der Geschlechterkampf zwangsläufig verschärfen. Die bewusste Verfremdung des Begriffes zu propagandistischen Zwecken ist in einer Zeit um so verheerender, in der der Gesetzgeber durch das „Neue Kindschaftsrecht“ einen ersten ernsthaften Versuch unternimmt, den Machtzugriff des Staates auf Familienangelegenheiten zu lockern und den Partnern mehr Mündigkeit und Selbstverantwortung bei der Regelung eigener Schwierigkeiten zu übertragen. Wer heute angesichts der zerstörerischen Folgen des Scheidungsdilemmas den dringend notwendigen Dialog zwischen den Geschlechtern im Sinne einer dualen Partnerschaft und eines neuen Geschlechtervertrages leichtfertig untergräbt, handelt fahrlässig gegen alle, die er angeblich schützen möchte – Kinder, Mütter und Väter. Die „Vaterlose Gesellschaft“ ist mehr denn je zu einem Phantom geworden, das der aggressiven Vorurteilsbildung dient und die Atmosphäre vergiftet. Deswegen sollte der Begriff umgehend aus dem Wörterbuch der Geschlechterbeziehungen gestrichen werden. Was wirkliche Vaterlosigkeit für die seelische und psychosoziale Entwicklung der betroffenen Kinder und späteren Erwachsenen bedeutet, welches existenzielle Defizit sie erzeugt, ist das eigentlich wichtige Thema. Zum Verständnis dieser Schicksale leistet der Begriff „Vaterlose Gesellschaft“ keinen Beitrag.4

II Warum brauchen Kinder einen Vater?

1 Die Macht des inneren Vaterbildes

„Ein Mann, am Festmahl überfüllt von Trunkenheit,

Rief aus, dem Vater sei ich nicht ein echter Sohn.

Ich aber, schwer betroffen, mochte jenen Tag

Es kaum ertragen; doch am nächsten fordert ich

Auskunft von beiden Eltern; aber aufgebracht

Erzürnten die dem Schmäher, dem die Red entfiel.

Und solches war mir zwar erfreuenswert, jedoch

Nagt’ immer dieses; denn es drang zu mächtig ein.“5

Die schwere Betroffenheit, die kaum erträgliche Ungewissheit, der nagende Zweifel: Sie dringen übermächtig in alle ein, die ihrer Herkunft unsicher und damit in ihrer Identität bedroht sind. Die Frage „Wer bin ich?“ steht am Anfang aller existenziellen Suche nach Sinn und Orientierung. Sie beginnt bei den Wurzeln, denen man entstammt.

Die zitierten Verszeilen bilden fast exakt die Mitte von Sophokles Tragödie „König Ödipus“. Das scheint kein Zufall. Sie sind die Achse, um die sich der Prozess der Bewusstwerdung über Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft dreht. Sophokles hat die Ahnung über das dunkle Geheimnis von Ödipus’ Abstammung vermutlich deswegen ins Zentrum seines Stückes gestellt, weil er damit ein anthropologisches Grundgesetz formulieren wollte: Der Mensch ist das Produkt seiner Herkunft und wird sich seiner selbst nur gewiss, wenn er sich als Teil einer Traditionslinie begreifen kann. Erst in seinen Gegenbildern, in den tragischen Brüchen der Tradition, wird das Gesetz in seiner ganzen Tragweite deutlich.

Ödipus ist nur eine von zahllosen Gestalten aus Mythologie, Märchen und Literatur, die in solche Traditionsbrüche verstrickt werden. Ihr unterschiedliches Schicksal spiegelt lediglich deren Variationsbreite und die verschiedenen Formen ihrer Bewältigung wider. In der Regel sind es Väter, die, unbeabsichtigt oder schuldhaft, die Kontinuität familiärer Bande zerreissen und die Kinder der Vaterentbehrung überantworten. Vaterlose Kindheit und die Suche nach dem Vater wurden daher zu Urmotiven der Kultur geschichte.6 Die in ihnen entworfenen Gegenbilder unterstreichen um so eindringlicher die fundamentale Bedeutung des Vaters für den einzelnen und das Kollektiv. Zumindest seit der Mensch das Urhordendasein überwunden und sich als epochales Großereignis der Frühgeschichte in der Familie eine überlebensfähige Organisationsstruktur geschaffen hat, bildet der Vater mit der Mutter gemeinsam eine die Kinder umgreifende Einheit.

Ödipus gilt, anders als die Psychoanalyse ihn für sich reklamiert und berühmt gemacht hat, in der abendländischen Überlieferung als typischer Repräsentant des ausgestoßenen vater- und mutter losen Kindes, das sich an seinen Eltern wegen des Verlassenwerdens grausam rächt. In die Gegenwart übertragen lässt sich die symbolische Bedeutung des berühmten Mythos etwa folgendermaßen beschreiben. Ein Ehepaar, im Mythos Laios und Jokaste, führt seit Jahren eine unglückliche Ehe. Der Vater begeht Ehebruch. Als die Mutter schwanger wird, ist die Ehe bereits so zerrüttet, dass beide Eltern das Neugeborene ablehnen und vernachlässigen. Auf Anraten des Jugendamtes entschließen sie sich, den Sohn zur Adoption freizugeben. Ein kinderloses Paar, im Mythos Polybos und Merope, ist glücklich über den Kleinen und zieht ihn mit aller Liebe als eigenes Kind auf. Aber wie bei allen Adoptivkindern und denen, die auch über ihre Herkunft getäuscht wurden, schlägt eines Tages die Stunde des Zweifels. Meist sind es Zufälle, die dem Kind oder Jugendlichen die Botschaft zuspielen, ob ein Mann „überfüllt von Trunkenheit“, das Auffinden eines Dokumentes, der Verrat durch einen Verwandten oder das Auftauchen der Mutter oder des Vaters selbst in Gestalt „fremder Personen“, die sich „so merkwürdig“ verhalten. Es scheint wie ein Gesetz, dass kein Mensch über seine Herkunft betrogen werden kann. Ungewissheit und eine tiefe Ahnung nagen solange an ihm, bis er sich auf die Suche begibt. Erst die Gewissheit schafft den inneren Frieden.

Nicht nur Adoptivkinder werden häufig über ihre Herkunft getäuscht. Es betrifft auch viele Kinder aus Stief- oder Pflegefamilien und aus Heimen. Drei spezielle Bevölkerungsgruppen mit einem vaterlosen Schicksal haben in den letzten Jahren die Vaterdeprivationsforschung und das Interesse der Öffentlichkeit belebt: die nichtehelichen Kinder deutscher und ausländischer Frauen, die von deutschen SS-Soldaten schwanger wurden und in in- und ausländischen „Lebensbornhäusern“ lebten; die nichtehelichen Kinder von katho lischen Priestern, die erst neuerdings auch in der Kirche selbst eine kontroverse Debatte über das Zölibat in Gang gebracht hat, und die Kinder der im Zweiten Weltkrieg gefallenen und vermissten Väter.7 So verschieden die Einzelschicksale auch verlaufen, so gemeinsam sind den meisten die brennende Ungewissheit, die Verstörung, die Ahnung und die Suche nach dem Vater – und das Geheimnis, das ihn umgibt. Die zahllosen und erschütternden Berichte, die von den inzwischen Erwachsenen aller drei Gruppen vorliegen, können nicht eindringlicher die Seelenqual vermitteln, die mit dem zu einem unheimlichen Mythos gewordenen inneren Vaterbild bei gleichzeitigem Fehlen einer realen Vaterfigur verbunden sind. Das verzweifelte Ringen von Ödipus um die Gewissheit seiner Herkunft endet in der Tragödie, weil er sowohl von seinen leiblichen als auch von seinen Adoptiveltern um die Wahrheit betrogen wurde.

Der Vater ist, wie die Mutter auch, seit den Anfängen der Geschichte ein Archetyp, ein in den untersten Seelenschichten verankertes Prinzip. Ungezählte Epen, Entwicklungsromane, Dramen und Trauerspiele haben die Gewalt und das Chaos beschrieben, die verlorene Väter hinterlassen. Sie können getötet werden oder auf andere Weise sterben, sie können nie da gewesen sein oder sich trennen, aber die inneren Bilder von einem Vater lassen sich nicht auslöschen. Um so erstaunlicher ist, einen wie geringen Niederschlag dieses kulturelle Erbe in den anthropologischen Wissenschaften, insbesondere in der Psychologie und Psychoanalyse bis noch vor wenigen Jahrzehnten gefunden hat. Weder Sigmund Freud noch Erich Fromm oder Alexander Mitscherlich, die drei großen Sozialpsychologen der Psychoanalyse, haben sich in ihrem umfangreichen Werk mit den Auswirkungen des realen Vaterverlustes auseinander gesetzt. Freud hat den Ersten Weltkrieg, Fromm und Mitscherlich haben beide Weltkriege miterlebt. Somit wurden alle Zeugen der millionenfachen Tötung junger Väter und verfügten über breite Erfahrungen, wie sich diese Verheerungen auf die nachfolgenden Kindergenerationen und ihre Patienten auswirkten. In ihren Schriften taucht darüber nichts auf. Bei Freud ist dieser Befund aus folgenden Grund auffällig. Bereits im Jahre 1900, im Alter von vierundvierzig Jahren, schrieb er im Vorwort zu dem Werk, das als Beginn der Psychoanalyse gilt:

„Die Beendigung der ‚Traumdeutung‘ erwies sich mir als ein Stück der Selbstanalyse, als meine Reaktion auf den Tod meines Vaters, also auf das bedeutsamste Ereignis, den entscheidenden Verlust im Leben eines Mannes.“8

Obwohl er den Vater erst relativ spät, im Alter von vierzig Jahren, verlor, hat diese Erfahrung seine ab 1910 entwickelte Theorie vom Ödipuskomplex maßgeblich beeinflusst. Sie enthält keinerlei Hinweis auf einen Vater, der seinen Sohn verlässt, indem er ihn ausstößt, und der erst dadurch dessen Tragödie heraufbeschwört; im Gegenteil wird der Sohn zum Bösewicht, der seinem Vater nach dem Leben trachtet, um die Mutter zur eigenen Geliebten zu machen.

Was mag den blinden Fleck um den verlorenen Vater bei Freud, Fromm und Mitscherlich bedingen? Vordergründig bietet sich die Erklärung an, dass mit dem Fortschreiten tiefenpsychologischer Erkenntnisse die Erforschung der frühen Kindheit, und mit ihr die frühe Mutter-Kind-Beziehung ins Zentrum geriet. Das gezielte Interesse an der Bedeutung der Mutter führte schon bald zu der Frage, wie sich ihre Entbehrung auf die kindliche Entwicklung auswirkt. In diesem Rahmen entstand die so genannte „Hospitalismusforschung“, die besonders mit den Namen René Spitz, Anna Freud, Dorothy Burlingham und John Bowlby verbunden ist. Durch Direktbeobachtungen von Säuglingen und Kleinkindern konnte der erschreckende seelische und körperliche Verfall dieser Kinder nachgewiesen werden, wenn sie für längere Zeit oder für immer von der Mutter getrennt wurden.9

Und der Vater? Bis vor nicht langer Zeit ging man davon aus, dass dessen Verlust weniger schwer wiegt, solange eine ausreichende Bemutterung garantiert ist. Das Hauptinteresse an der Mutter und besonders an ihrer Entbehrung erklärt aber nicht hinreichend, warum der Vater und speziell der Vaterverlust so lange und nachhaltig aus dem Blickfeld geraten konnten. Ein Grund könnte darin liegen, dass in einer noch überwiegend patriarchal dominierten Wissenschaft das männliche Selbstverständnis die Omnipräsenz des Vaters als gegeben voraussetzt und sein Verlust verleugnet wird. Einen anderen Grund deutet Freud selbst an. Wenn es zutrifft, dass der Tod des Vaters „das bedeutsamste Ereignis, den entscheidenden Verlust im Leben eines Mannes“ darstellt, wäre verständlich, dass eine eingehende Beschäftigung mit dem Thema vermieden wird, weil sie zu schmerzlich an eine tiefe Kränkung rührt. Ein dritter Grund bietet sich an, wenn man dem Vaterbild Mitscherlichs einen gewissen Allgemeinheitsgrad zubilligt. In seinem autobiographischen Buch „Ein Leben für die Psychoanalyse“ spielt in den Berichten über Kindheit und Jugend der Vater eine dominierende Rolle. Bereits in den ersten Sätzen des Einleitungskapitels wird das Grundmuster der Beziehung deutlich:

„So übte etwa mein von mir später so heftig abgelehnter Vater in meiner Pubertät in seiner einsichtslos konservativen Art und antidemokratischen Gesinnung dazumal eine starke Anziehungskraft auf mich aus … Ich empfand ihn und seine Einschätzung meiner Person als brutal und erniedrigend. Sein Einfluß überschattete alle anderen Beziehungen. In der Retrospektive erscheint er vor meinem inneren Auge als die große Angstquelle meiner Kindheit, trotz der zeitweiligen Bewunderung, die ich für ihn hegte.“

Mitscherlich zeichnet seinen Vater im weiteren Verlauf als „Reaktionär“, „völlig unbelehrbar“, Gehorsam fordernd, die Familie dominierend und dann plötzlich wieder als „verständnisvollen Menschen“, der dem Sohn „den Weg freigab“. Bei einem Fluchtversuch als Jugendlicher reagiert der Vater nicht mit Prügel und Brüllen, sondern mit Einfühlung und Verständnis.

„Diese Erinnerung ist gewiß nicht zufällig erhalten geblieben, sie steht als Deckerinnerung für die tiefe Zwiespältigkeit der Gefühle, die sich hier zwischen Sohn und Vater und Vater und Sohn entwickelt hatte.“

Nachdem aus der Schilderung dieser „Zwiespältigkeit“ die Ambivalenz als charakteristisch für die Beziehung deutlich geworden ist, rehabilitiert Mitscherlich völlig konträr zu den Demütigungen, die er durch den Vater erleiden musste, den Ödipuskomplex.

„Man muß sich doch darüber klar sein, daß der in letzter Zeit oft totgesagte Ödipus-Komplex, also die Vergeltungsfurcht für all das, was man dem Vater in der Phantasie und manchmal in der Wirklichkeit angetan hat, die Angst vor der Kastration zu keiner weitgehend mythischen Leerformel abgestorben ist. Die Rache des Vaters an den Söhnen, die ihn zu überwältigen trachten, ist auch in der Hochkultur noch psychische Realität.“10

Nicht die Väter verüben Unrecht an den Kindern, sondern diese wollen sie „überwältigen“, und der Vater reagiert nur aus „Vergeltung“. Auch die „Vaterlose Gesellschaft“, die er im weiteren Text aufgreift, widerspricht auf scheinbar unerklärliche Weise seiner persönlichen Erfahrung mit dem Vater, der keineswegs „unsichtbar“, sondern das ganze Leben des Sohnes beherrschend war. Während Mitscherlich in dem Buch gleichen Titels die noch immer gegenwärtige Macht des Vaters verleugnet und in ihr Gegenteil verkehrt, bezeugt er durch sein Festhalten am Ödipuskomplex den archaischen Topos „Vater“. Übrigens setzte er bei seinen sieben Kindern aus drei Ehen die patriarchale Traditionslinie seines Vaters fast ungebrochen fort, wie sein Sohn, der Filmemacher Thomas Mitscherlich resümiert.11

Der Widerspruch in Mitscherlichs Werk weist auf den dritten Grund für die Vernachlässigung der realen Vaterentbehrung in der psychoanalytischen Theorie hin: Der intrapsychische Konflikt mit der Vater-Imago wird als so beherrschend erlebt, dass es unerheblich erscheint, ob der Vater anwesend ist oder fehlt. Sollte diese Deutung zutreffen, so macht sie gleichzeitig eine gravierende Realitätsblindheit deutlich, wie sie manchen psychoanalytischen Theorien anhaftet. Denn warum sollte es bei Vätern anders sein als bei Müttern? Die nachgewiesenen Folgen der Mutterentbehrung beweisen den wesentlichen Unterschied zwischen anwesender und abwesender Mutter, auch wenn letztere als unbewusste Figur, als Mutter-Imago, gespeichert ist und wirksam bleibt. Dies trifft ebenso für Väter zu.

Die Vorstellung, der Vater sei ein Archetypus, ein, wie es die Lehre C. G. Jungs ausdrückt, seit unzähligen Generationen ins Unbewusste abgewandertes und dort gespeichertes Bild, das auch unabhängig von einem real verfügbaren Vater existiert, könnte als Mythologie abgetan werden, wenn uns die Erfahrungen der Psychoanalyse nicht immer wieder von ihrer Richtigkeit überzeugten. Bekanntlich beschäftigt sich diese Wissenschaft vornehmlich mit dem Material im Seelenleben, das dem Bewusstsein nicht oder nicht mehr zugänglich ist. Der „dunkle Kontinent“, wie ihn Freud nannte, ist das eigene Fremde in uns. Nur in einer aufdeckenden Therapie können diese fernen, abgespaltenen und verdrängten Anteile wenigstens teilweise wieder ins Bewusstsein zurückgeholt und als das Eigene erfahrbar werden. Neben Erinnerungen, Emotionen, Phantasien und Triebwünschen stellen vor allem die Träume die „via regia“ (Freud), den Königsweg ins Unbewusste dar.

Ein vierzigjähriger, nichtehelich geborener Patient berichtete im Vorgespräch zur Therapie, er wisse absolut nichts über seinen Vater. Er habe sich an diesen Zustand schon früh gewöhnt, das Thema interessiere ihn nicht mehr. Auf meine Frage: „Und Ihre Mutter hat Ihnen nie erzählt, wie es zu der Schwangerschaft kam?“ lachte er ironisch: „Nein; wahrscheinlich war es eine unbefleckte Empfängnis.“ Ob er schon einmal von seinem Vater geträumt habe, wollte ich wissen. Er war erstaunt: „Wie kann man von einem Vater träumen, der nie existiert hat?“ „Wir werden sehen“, sagte ich und ließ das Thema damit zunächst ruhen.

Bereits zur zweiten Behandlungsstunde betrat der Patient aufgeregt das Zimmer. „Es ist unglaublich, ich kann es nicht fassen, ich hatte letzte Nacht einen Traum von meinem Vater!“ Der Traum lautete: „Ich gehe durch eine dunkle Gasse. Plötzlich taucht ein Schatten auf. Ich bekomme Angst. Je näher er kommt, um so deutlicher schält sich das Gesicht eines Mannes heraus. Als er bei mir ist, bleibt er stehen. Ich will weglaufen. Zuerst dachte ich, Sie seien es. Aber dann nennt er mich bei meinem Namen und fragt: ,Erkennst du mich nicht, mein Sohn?‘ Ich erstarrte. Aber er legte mir freundlich die Hand auf die Schulter, strich mir über das Haar, als wolle er mich segnen. Plötzlich war er verschwunden.“

Für einen Analytiker sind solche Erfahrungen nicht überraschend. Die Art, wie ich im Vorgespräch das Vaterthema eingeführt hatte, löste die Verdrängungsabwehr, so dass das Unbewusste anfangen konnte zu „arbeiten“. Beschleunigt wurde der Prozess durch die Übertragung, bei der ich in die Rolle des offensichtlich lang ersehnten Vaters geriet. Die dunkle Gasse symbolisiert den angsterzeugenden Beginn der Analyse: Man weiß noch nicht, welches Schattenreich man dabei durchschreiten wird. Die fast biblisch anmutende Trostgebärde des Vaters imaginiert ein verinnerlichtes Gottesbild als Teil des Vater-Archetyps. So hat die Übertragung auf mich ein archaisches Vaterbild aus dem Unbewussten auf die Traumebene gehoben, dessen Güte auf die verdrängte Wunschwelt des Patienten schließen ließ. Der Traum wurde zum Beginn einer intensiven Vaterauseinander setzung, die am Schluss der Therapie zu einer realen Begegnung zwischen Vater und Sohn führte. Sie trug nicht unwesentlich zur Heilung und Versöhnung des Patienten mit sich und seinem Schicksal bei.

Auch wenn also in jedem Menschen der Archetypus „Vater“ existiert, entscheidet nicht er über die Entwicklung des Kindes, sondern die gelebte oder nicht gelebte Beziehung zu einem realen Vater.12

Die Entwicklungspsychologie unterscheidet heute drei für die Vater-Kind-Beziehung entscheidende Zeiträume. Der erste liegt zwischen dem ersten und dem Ende des dritten Lebensjahres und wird als „Triangulierungsphase“ bezeichnet. Der zweite Zeitraum schließt sich relativ eng an den ersten an und umfasst die Zeit etwa von Beginn des vierten bis zum Ende des sechsten Jahres. Er stellt die „erste ödipale Phase“ dar. Der dritte Zeitraum umgreift die Jahre der Pubertät etwa zwischen dem zwölften und sechzehnten Jahr. Er wird hier als „zweite ödipale Phase“ gekennzeichnet.

2 Die Entwicklung der Vater-Kind-Beziehung

Das Dreieck Mutter-Vater-Kind – die Triangulierungsphase

Solange sich die Humanwissenschaften auf die Erforschung der frühen Mutter-Kind-Beziehung konzentrierten, blieb der Vater eine zu vernachlässigende Größe. Dieses Defizit wurde erst in den letzten drei Jahrzehnten ausgeglichen. Den Anstoß dazu gaben die Ergebnisse der Forschergruppe um Margaret Mahler seit Anfang der sechziger Jahre.13 Ihren langjährigen Direktbeobachtungen von Müttern mit ihren Kindern ab der Geburt lag die aufregende Frage zugrunde, wie es dem Kind in langsamen Schritten gelingt, sich aus der symbiotischen Bindung an die Mutter zu befreien. Vom Gelingen dieses langsamen Ablösungsprozesses hängt die lebensnotwendige Individuation zu einer eigenständigen Persönlichkeit ab. Die eindrucksvollen Beschreibungen des Wissenschaftsteams zeigten, wie angstbesetzt und schmerzhaft die Abnabelung für das Kind ist, und wie es immer wieder hin und her schwankt zwischen dem Wunsch nach Wiederherstellung der paradiesischen Einheit mit der Mutter und dem unbedingten Willen zur Abgrenzung und Autonomie. Dabei gerät es in einen heftigen Zustand der Ambivalenz. In ihm projiziert es die eigenen widersprüchlichen Gefühle auf die Mutter und erlebt diese dann einerseits als festhaltend und andererseits als ausstoßend. Dieses existenzielle Dilemma am Beginn der individuellen Menschwerdung kann die Mutter allein kaum jemals befriedigend lösen, so weit ihre Fähigkeit zur Einfühlung und guten Bemutterung auch ausgebildet sein mag.