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Lars Kleidenau geht es doppelt schlecht: Seine Nahrungsmittelallergie löst immer schwerwiegendere Schockzustände aus, und seine Firma steht am Abgrund. Sein langjähriger Freund Carl beschließt, Lars zu helfen und in ein Geheimnis einzuweihen. So erfährt Lars von einer Parallelwelt, die unserer Welt abgesehen von zwei Ausnahmen exakt gleicht: Man ist unserer Zeit um mehrere Stunden voraus, und die Charaktereigenschaften der Personen sind gegensätzlich. Anfangs sind die Besuche in dieser anderen Realität harmlos, doch nach und nach gerät Lars in Verstrickungen, erfährt erschreckende Details über seine Frau und bringt sich und andere Menschen in Lebensgefahr.
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Seitenzahl: 265
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akms Verlag
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akms Verlag, Hochkamp 35, 22113 Oststeinbek, www.akms.info
Cover & Umschlaggestaltung: Mark Freier, www.freierstein.de
Lektorat: Sabine Fuhlenhagen Korrektorat: Veronika Moosbuchner
Druck und Distribution:
tredition GmbH, Heinz-Beusen-Stieg 5, 22926 Ahrensburg
ISBN: 978-3-384-30215-1
Copyright Gesamtausgabe © 2024 akms Verlag
Alle Rechte vorbehalten. Das Werk darf – auch teilweise – nur mit Genehmigung des Verlages wiedergegeben werden.
Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek:
Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische
Daten sind im Internet über http://dnb.dnb.de abrufbar.
Carl spürte den Luftzug, als das Messer mit voller Wucht neben seinem Ohr hinuntersauste und im orangefarbenen Lehnsessel stecken blieb. Noch ehe seine Frau Gelegenheit fand zu reagieren, griff er um ihre Taille und stieß sie zur Seite. Laut fluchend verlor Beatrice die Balance und fiel auf die Knie. Carl warf die Wärmflasche weg, die wegen heftiger Magenschmerzen auf seinem Bauch lag, und sprang auf. Jetzt war also wirklich passiert, was er sich bisher stets verboten hatte zu denken. Seine geliebte Ehefrau trachtete ihm nach dem Leben.
Die ersten Schritte kamen ihm vor wie die Hölle. Sein Unterleib zog sich zusammen, als hätte er einen Tritt in die empfindlichsten Stellen bekommen. Doch er durfte keine Zeit verlieren, Beatrice konnte wieselflink sein. Während seine Flucht ihn durch den breiten Flur zur großen Wendeltreppe führte, hörte Carl bereits ihr schweres Atmen hinter sich. Sie hatte sich erstaunlich schnell wieder aufgerichtet. War es ihr in dem kurzen Augenblick etwa auch gelungen, das Messer aus dem Sessel zu ziehen?
Carl widerstand der Versuchung, sich umzudrehen. Für sein Alter war er topfit, aber heute schien sich sein Körper eine konditionelle Auszeit nehmen zu wollen. Und ausgerechnet diesen Tag suchte sich Bea aus, um ihn zu töten.
Die erste Stufe der Treppe kam gerade in Reichweite, als seine Schulter plötzlich zu brennen anfing.
»Hab dich!«, hallte die triumphierende Stimme seiner Frau durch den Flur.
Voller Panik wirbelte Carl herum. Das Messer fiel scheppernd auf die feingeschliffenen Holzdielen. Die Spitze war dunkelrot eingefärbt und kleine rote Spritzer verteilten sich über die glänzende Klinge. Es dauerte einen Moment, bis ihm klar wurde, dass es sich um sein Blut handelte. Die Verrückte hatte ihm tatsächlich in die Schulter gestochen. Ihre Blicke trafen sich. Beatrice verzog den Mund zu einem hässlichen Grinsen, das jedoch kurz darauf verschwand, als Carl keine Anstalten machte, aus den Latschen zu kippen.
»Nicht tief genug«, stellte sie enttäuscht fest. »Der nächste Hieb trifft deinen verdammten Hals.«
Wie in Zeitlupe ging sie vor ihm in die Hocke, um nach dem Messer zu langen. Carl war so perplex, dass er diese Gelegenheit beinahe ungenutzt hätte verstreichen lassen. Erst als sich Beatrice’ rechte Hand bereits um den schwarzen Holzgriff des Küchenmessers schloss, erwachte er aus seiner Starre. Sein Fuß schnellte hervor und traf Bea irgendwo im Gesicht. Sie stieß einen gellenden Schrei aus und knallte wie ein schweres Möbelstück nach hinten. Für den Bruchteil einer Sekunde überfiel Carl das Verlangen, ihr zu Hilfe zu eilen. Er hatte es noch nie ertragen können, seine einzige große Liebe leiden zu sehen. Doch bevor sein Körper sich reflexartig auf sie zubewegen konnte, riss er sich vom Anblick seiner wimmernden Frau los und stürmte die Treppe hinauf.
Doch es war fast zu spät.
Beatrice war so schnell wieder auf den Beinen, dass sie ihn bereits eingeholt hatte, ehe er die Galerie des ersten Stockes erreichte. Im Grunde genommen handelte es sich dabei nur um einen großen Flur. Auf der linken Seite befanden sich Türen, die in unterschiedlichste Zimmer führten, rechts zog sich ein Geländer über die gesamte Länge des Weges, von dem der Blick mehrere Meter herab in den großzügigen Eingangsbereich der Villa ging.
»Du entwischst mir nicht«, keuchte seine Frau, und es kam ihm vor, als würde sie ihm diese Drohung beinahe ins Ohr flüstern.
»Nein!«, schrie Carl, bremste unvermittelt ab und hielt sich an der Brüstung fest. Wieder hatte ihn sein Instinkt richtig geleitet.
Beatrice wollte gerade zustoßen, doch sein plötzlicher Positionswechsel irritierte sie anscheinend. Das Messer in ihrer Hand beschrieb einen lang gezogenen Bogen nach unten, die Spitze bohrte sich in ihre eigene kakifarbene, weite Hose und sie kreischte überrascht auf.
»Das geschieht dir recht«, schnaufte Carl, und einen schrecklichen Augenblick lang befürchtete er, ohnmächtig zu werden. Seine Beine, plötzlich weich und kraftlos, fingen zu zittern an. Hätte er sich nicht an der Geländerstange festgekrallt, wäre sein Körper zweifelsohne ungebremst auf den Boden gestürzt.
Sein Blick verschwamm. Kurz sah es so aus, als würde Bea vor seinen Augen einfach zerfließen. Der undeutliche Schatten schräg neben ihm gab ein gequältes Geräusch von sich, blieb jedoch stehen. Anscheinend hatte die Klinge nicht allzu viel Schaden angerichtet. Carl blinzelte mehrmals angestrengt und spürte, wie Tränenflüssigkeit seine Pupillen buchstäblich unter Wasser setzte, aber das Gefühl der Orientierungslosigkeit verschwand. Die Kraft kehrte zurück in seine Oberschenkel.
Mit dem Ärmel seines blau-weiß gestreiften, maßgeschneiderten Hemdes wischte er sich übers Gesicht. Sein Sichtfeld klarte genau im richtigen Moment auf. Plötzlich wurde die Furie, die mit einem irren Lachen und hoch erhobenem Messer auf ihn zustürmte, deutlich wie ein Scherenschnitt. Carl dachte nicht nach, als er in die Hocke ging und eine halbe Drehung zum Geländer hin vollführte. Sein Instinkt sagte ihm, die Überlebenschancen wären größer, wenn die Klinge den Rücken durchbohrte, anstatt sich durch Brust oder Bauch zu schneiden. Tatsächlich verspürte er nur Sekunden später ein schmerzhaftes Brennen in der Nähe der Schulter, beinahe genau dort, wo sie ihn eben schon einmal getroffen hatte. Fast gleichzeitig begann Beatrice, hysterisch zu kreischen. Ihm war nicht klar, was ihn mehr erschreckte, der glühende Stich unterhalb des Schulterblattes oder die unnatürlichen Geräusche seiner Frau, doch plötzlich gehorchte sein Körper wieder. Der Schreck hatte ihn aus seiner Lethargie befreit, alle Kraft kehrte schlagartig zurück. Carl stemmte sich in die Höhe und merkte sofort, dass Beatrice ihm auf die Schultern gesprungen war, während er am Geländer gekauert hatte. Sie keuchte, als ihre Füße den Halt verloren. Eigentlich wollte Carl sich nach hinten fallen lassen und seine Frau auf diese Weise unsanft zu Boden befördern, aber seine Beine gerieten ins Stolpern und er stieß mit der Brust gegen das Geländer. Kurzzeitig fiel es ihm schwer, zu atmen. Und dann realisierte er, dass sich sein Körper immer weiter nach vorn beugte. Plötzlich gab es einen gellenden Schrei und ein Schatten flog an ihm vorbei. Beatrice stürzte kopfüber in die Tiefe.
»Nein!«, schrie Carl panisch.
Obwohl der Sturz nur Sekunden gedauert haben dürfte, kam es ihm vor wie eine Ewigkeit. Das Bild seiner wild mit den Armen rudernden Frau brannte sich tief in sein Gedächtnis ein, und sogar Einzelheiten wie der Blutfleck an ihrem Bein und der Schmutz unter ihrer rechten Schuhsohle konnte er in diesem Moment klar erkennen. Es gab ein fürchterliches Knacken, als Beas Kopf auf das Parkett schlug und ihr Körper wie ein schweres Stück Holz kurz danach den Boden erreichte.
Es hätte nicht viel gefehlt und Carl wäre einfach hinterhergesprungen. Das Verlangen, seiner geliebten Ehefrau beizustehen, war beinahe übermächtig. Er begann den Flur entlang zu rennen, behäbig erst, dann immer schneller. Die Schmerzen im Rücken waren verschwunden, alle Empfindungen konzentrierten sich ausschließlich auf Beatrice. Auf der Treppe wäre er fast gefallen, aber schließlich kam er in den weitläufigen Eingangsbereich.
Beatrice lag genau in der Mitte der Halle. Ein großflächiger, dunkelroter Fleck breitete sich neben ihren Haaren aus, ihr Hals wirkte seltsam verdreht. Dennoch hegte Carl die Hoffnung, dass sie den Sturz vielleicht überleben würde. Er kniete sich vor sie und drehte ihr Gesicht in seine Richtung. Erst als er den schreckgeweiteten Blick ihrer toten Augen sah, wurde ihm vollends bewusst, dass seine einzige große Liebe endgültig von ihm gegangen war.
Lars bekam keine Luft mehr.
Es fühlte sich an, als steckte etwas in der Größe einer Walnuss in seinem Hals. Dabei wusste er genau, dass es sein Kehlkopf war, der infolge einer allergischen Reaktion die Atemnot verursachte. Instinktiv krallte er sich an der aufwendig bestickten, cremefarbigen Tischdecke fest, doch es nützte nichts. Ihm wurde schwindelig, und einen Moment schien sein Körper vollkommen schwerelos zu sein.
Es gab ein dumpfes Geräusch, als sein Kopf auf dem Parkettfußboden aufschlug. Lars hatte keine Kraft mehr, den Sturz abzufangen. Seine Arme hingen schlaff an ihm herunter wie zwei Schläuche, die nicht zu ihm gehörten. Er spürte, wie die Haut an seiner Schläfe aufplatzte und eine warme Flüssigkeit über die Wangen lief. Sein Herz raste und seine blonden Haare klebten an der Stirn.
Das ausgeprägte Gefühl, sich übergeben zu müssen, rettete ihm das Leben. Ein Teil des Abendessens bahnte sich einen Weg zurück und Lars erbrach laut keuchend neben dem Stuhl.
Der Würgereflex war angenehm, stark genug, um den Kehlkopf vibrieren zu lassen. Es gelang ihm, ein paar schwere Atemzüge zu machen.
Dann setzte das Zittern ein. Die Beinmuskulatur spannte sich an und das dröhnende Klacken, das die Sohlen seiner Schuhe von sich gaben, als sie wieder und wieder auf das Parkett schlugen, drang wie Pistolenschüsse tief in seinen Kopf.
So fühlte es sich also an, wenn die Allergie schließlich gewann und die Lebensenergie aus dem Körper warf. Dabei hatte der Abend so harmonisch angefangen. Sogar Sophie machte einen entspannteren Eindruck als sonst. Ihre schlechte Laune hielt sich erfreulicherweise in Grenzen.
Während Lars merkte, wie die Sinne langsam schwanden, lief die vergangene Stunde noch einmal in seinem Gedächtnis ab.
Ein anstrengender Arbeitstag lag hinter ihm. Eigentlich wollte Lars früher als üblich nach Hause kommen, aber wie so oft kam etwas dazwischen. Einer seiner Angestellten hatte fehlerhafte Auskünfte verschiedener Versicherungen eingeholt. Auf Grundlage dieser falschen, viel zu niedrigen Preise wurden Angebote erstellt, die bereits am nächsten Tag mit der Post an alle gut situierten Kunden herausgeschickt werden sollten. Eine Katastrophe, wenn diese Werbeschreiben tatsächlich das Büro verlassen hätten. Das durfte einer seriösen Anlageberatung nicht passieren. In dieser Branche konnte man schnell seinen Ruf verlieren. Und seine Firma besaß einen exzellenten Ruf. Also kam er erst kurz vor 21:00 Uhr nach Hause. Sophie hatte wie üblich mit dem Essen auf ihn gewartet. Als sie ihn im Flur rascheln hörte, streckte sie den Kopf aus der Küche.
»Wolltest du heute nicht früher kommen, Lars?«
Er brummte zustimmend. Wenn Sophie ihn mit Vornamen ansprach, anstatt Schatz zu sagen, war sie stets ärgerlich auf ihn. Das versprach, ein eisiges Abendessen zu werden.
Zu seiner Überraschung jedoch verflog ihre Wut, sobald er sich an den gedeckten Tisch setzte. Fröhlich pfeifend brachte sie das Essen. Es gab Rinderfilet mit Reis. Wie immer hatte sie die Speisen nur mit einer Prise Salz gewürzt, andere Gewürze und Kräuter konnten ihm gefährlich werden. Als Sophie den Wein entkorkte, fielen ihr die langen roten Haare über die Stirn.
Obwohl Sophie ausgeglichen wirkte, zeigten ihre Mundwinkel auch jetzt streng nach unten. Das verlieh ihrem Gesicht einen harten Ausdruck, so als ob sie niemals lächeln würde. Nun, genau genommen tat sie das auch nicht sehr oft. Ihre Haut sah heute besonders gebräunt aus. Musste das Solarium Sonderschichten fahren?
Lars griff nach dem Weinglas, deutete damit in ihre Richtung und trank einen kleinen Schluck.
»Wie war dein Tag?«, fragte er.
»Prima. Und deiner?«
Lars nickte und nahm einen weiteren Schluck. Er wusste, dass Sophie sich nicht sonderlich für seine Arbeit interessierte.
»Iss, sonst wird es kalt«, sagte sie freundlich, aber bestimmt.
Gehorsam führte Lars die Gabel zum Mund. Es schmeckte ausgezeichnet. Sophies Kochkünste begeisterten ihn schon seit Anbeginn ihrer gemeinsamen Jahre. Er konnte sich während ihrer Ehe nicht an ein einziges Mal erinnern, an dem es ihm nicht geschmeckt hatte.
»Ich habe mich heute wieder an der zu tief liegenden Herdplatte verbrannt«, stellte Sophie fest und wedelte mit der Hand. »Es wird Zeit, dass wir uns eine neue Küche zulegen. Ich möchte eine andere Aufteilung. Die Kochfelder sollen höher und an der gegenüberliegenden Seite angebracht werden. Außerdem brauchen wir einen Herd mit sechs Feldern, lieber Infrarot als Ceran. Auch Gasherde sind gerade wieder angesagt.«
Lars schnaufte überrascht. »Aber die Küche ist doch erst fünf Jahre alt.«
»Ja, schon. Aber wir haben uns bei so manchen Dingen eben verplant. Die Hängeschränke beispielsweise sind viel zu hoch. An die oberen Fächer komme ich nur mit Hocker heran. Das ist doch sehr unpraktisch.« Sie füllte sich Reis auf und schaute ihn durchdringend an. »Oder können wir uns keine neue Küche leisten?«
Lars seufzte. Wenn seine Frau sich auch kaum für seine Arbeit interessierte, sie wusste ganz genau, was sein Job Monat für Monat abwarf. Sophie hatte das gemeinsame Konto stets im Blick.
»Doch, natürlich«, sagte er.
»Na also. Dann ist ja wohl auch eine neue Küche drin.«
»Wir können uns am Wochenende ja mal umsehen.«
Lars schüttelte resignierend den Kopf und schnitt ein weiteres Stück Fleisch ab. Seine Hand juckte. Er kratzte sich mit den Fingern über den Handballen und dachte an die kaum verschlissene, fünf Jahre alte Küche. Plötzlich bemerkte er ein Kribbeln auf den Lippen. Zuerst glaubte er, sich gebissen zu haben, aber das Gefühl breitete sich schnell aus. Es fühlte sich an, als hätte es vom Zahnarzt eine Betäubungsspritze gegeben. Auch sein Gaumen begann zu kratzen und schien anzuschwellen.
Lars lebte schon lange genug mit der Allergie, um zu wissen, was das bedeutete. Gleich würde seine Nase zu tropfen beginnen und höchstwahrscheinlich müsste er sich nach dem Essen erbrechen.
»Schatz? Ich befürchte, das Fleisch war gewürzt«, stellte er ruhig fest.
Sein Mund fühlte sich beim Sprechen seltsam trocken an. Sophie schaute ihn mit einem zweifelnden Blick an.
»Wieso? Was ist denn? Bekommst du schon wieder Magenkrämpfe?«
»Ich hoffe nicht, dass es diesmal so schlimm wird. Aber etwas an dem Essen scheint nicht in Ordnung zu sein.«
Mit dem Messer schob Lars das Fleisch an den Rand des Tellers. Da ihm der Appetit noch nicht vergangen war, wollte er wenigstens den Reis zu sich nehmen. Irritiert wurde ihm bewusst, dass er überhaupt nichts mehr schmecken konnte, das Kribbeln zog sich inzwischen bis zu den Ohren hoch. Es fiel ihm schwer, zu kauen.
Der Schweißausbruch kam vollkommen überraschend. Von einer Sekunde auf die nächste kam es ihm vor, als hätte er sich kurz unter eine voll aufgedrehte Dusche gestellt. Sein Hemd blieb an der Brust und den Schultern kleben, Schweißtropfen liefen ihm die Wangen hinab. Als sein Herz zu rasen begann, wurde ihm zum ersten Mal schwarz vor Augen.
Lars wankte hin und her und hielt sich an der Tischplatte fest. Konzentriert fixierte sein Blick das dunkle Nussbaumholz. Dann setzte die Atemnot ein. Plötzlich fiel es ihm schwer, genügend Sauerstoff in die Lunge zu pumpen. Die nächste Schwindelattacke ging einher mit dem Gefühl, überhaupt keine Luft mehr zu bekommen. Das war der Moment, in dem er endgültig vom Stuhl kippte.
Jetzt spürte Lars den harten Holzfußboden an seinen Wangen. Sein Körper zuckte und krümmte sich noch immer, als würde er unter Hochspannung stehen. Ihm fehlten die Mittel, etwas dagegen zu tun.
So schlimm war es bisher nie gewesen.
Als Lars merkte, wie eine bedrohliche Schwärze versuchte, ihn einzuhüllen, gab es keine Möglichkeit mehr, sich zu wehren. Seine Augen schlossen sich, und sein Geist tauchte ein in die Finsternis.
Es fühlte sich an, als wäre man bei einer nächtlichen Achterbahnfahrt während des Loopings aus der Gondel gefallen. Alles drehte sich, obwohl überall nur tiefes Schwarz herrschte. Vorsichtig versuchte er, die Lider zu öffnen. Die grelle Deckenbeleuchtung verursachte ihm Schmerzen. Ein großer dunkler Fleck beugte sich dicht über ihn. Nur ganz allmählich wurden die Konturen schärfer. Der Schatten erwies sich als ein Gesicht.
Lars schaute auf einen glänzenden Kopf ohne jegliche Haare. Zwei kleine Augen fixierten ihn hinter einer sechseckigen Brille aus Stahl. Er kannte das Gesicht irgendwoher. Die Lippen des Mannes bewegten sich. Lars konzentrierte sich darauf, zu verstehen, was der Mann sagte.
»Der Kämpfer kommt zu sich«, freute sich Doktor Meinhardt. »Gott sei Dank, das war knapp.«
»Wie gut, dass du so schnell kommen konntest«, sagte Sophie.
»Natürlich.«
Meinhardt betrachtete Lars aufmerksam und gab ihm erneut zwei Klapse auf die Wangen.
»Hörst du mich? Bist du wieder da?«
Lars stöhnte und versuchte, vorsichtig zu nicken.
»Prima!«, rief der Arzt und hielt ihm ein Glas an die Lippen. »Trink das bitte. Du brauchst viel Flüssigkeit.«
Lars spürte, wie sich das kalte Wasser im Mund ausbreitete. Erleichtert stellte er fest, dass es ihm gelang, ohne größere Beschwerden zu schlucken. Sein Kehlkopf fühlte sich noch immer geschwollen an, verursachte aber keine Atemnot mehr.
Er lag nicht mehr auf dem Boden. Fritz Meinhardt und Sophie hatten ihn auf das Sofa gehoben.
»Tut gut, dich zu sehen, Fritz«, sagte Lars schwach.
»Das glaube ich dir.« Der Arzt hantierte an einer braunen Ledertasche herum. »Du hast einen anaphylaktischen Schock erlitten. Ich habe dir eine Dosis Adrenalin gespritzt, damit sich dein Kreislauf stabilisiert. Außerdem habe ich dir ein Mittel verabreicht, welches die Atemwege erweitert.« Meinhardt zog ein kleines Gefäß hervor und stach mit der Nadel einer Spritze hinein. »Und jetzt bekommst du noch ein Antihistaminikum. Dein Körper setzte infolge der allergischen Reaktion Unmengen von Histaminen frei. Daher kam es zu dem Schock. Nun wollen wir die Verhältnisse in deinem Inneren wieder geraderücken.«
Lars spürte den Einstich im Unterarm. Einige Minuten verstrichen, in denen Meinhardt die Mailbox seines Handys abhörte und anschließend ein Telefonat führte. Sophie saß wie festgefroren und mit unbeweglicher Miene auf dem Sofa. Irgendwann konnte Lars sich aufsetzen. Er blickte in den Essbereich und sah den elegant geschwungenen Esstisch. Neben dem umgekippten Stuhl leuchteten rote Flecken auf dem Parkett. Instinktiv berührte er seine Stirn und traf auf ein breites Pflaster, welches von seiner rechten Schläfe bis über die Augenbraue reichte. Doktor Meinhardt brachte ihm ein weiteres Glas Wasser und setzte sich an den Rand des Sofas.
»Wie konnte das passieren?«, fragte er ernst und schaute abwechselnd Lars und Sophie an.
Sophie nippte an dem Sherry, den sie sich kurz zuvor eingeschenkt hatte.
»Ich wollte einen neuen Schlachter ausprobieren«, erzählte sie. »Die Filetstücke lagen direkt neben einer Schale mariniertem Grillfleisch. Ich habe extra gefragt, ob auch gewiss keine Kräuter oder Gewürze der Marinade an das Filet gekommen sind. Die Verkäuferin hat verneint.« Sophie setzte ihr Glas an und kippte die Hälfte des Sherrys hinunter. »Nun, das entsprach wohl nicht der Wahrheit.«
Der Arzt knurrte leise. »Wenn du dir unsicher bist, kaufe lieber etwas anderes. Ein anaphylaktischer Schock ist die schwerste Form einer allergischen Reaktion. Lebenswichtige Organe können angegriffen werden. Wenn der Kreislauf versagt, kann der Spaß tödlich enden.«
Meinhardt drehte den Kopf und schaute suchend über den Tisch. Er fand die Sherryflasche und schenkte sich ebenfalls ein.
»Du hast viel Glück gehabt. Wenn ich nur Minuten später eingetroffen wäre, hättest du es vermutlich nicht mehr geschafft. Oder du hättest bleibende Schäden davongetragen.«
Lars schnaufte benommen. »Ich habe so etwas noch nie erlebt. Ich hätte nicht gedacht, dass mich ein leicht gewürztes Stück Fleisch so umhauen könnte. Ich hatte bisher niemals solche massiven Kreislaufprobleme, von dem geschwollenen Kehlkopf mal ganz zu schweigen. Unfassbar, dass mein Körper so heftig reagiert hat.«
Meinhardt stand auf und packte seine Tasche. »Ja, das ist in der Tat ungewöhnlich. Es deutet darauf hin, dass du nicht zum ersten Mal mit Lebensmitteln in Kontakt gekommen bist, die du nicht verträgst. Mir scheint, als wäre dein Körper in der vergangenen Zeit kontinuierlich Stoffen ausgesetzt gewesen, die ihm zusetzten. Irgendwann musste das zwangsläufig zu einem Anfall führen.«
»Das glaube ich nicht. Ich achte genau auf meine Ernährung. Ich esse Stullen im Büro, die Sophie mir macht. Ich bin kein großer Frühstücker, und mein Abendessen nehme ich ausschließlich zu Hause ein.«
Meinhardt nickte, während sein Blick über das Display seines Handys huschte. »Wie hast du dich in den letzten Wochen gefühlt?«
Lars dachte nach. Es war schon so, dass er sich seit längerer Zeit kraftlos und ausgelaugt fühlte. Es kam ihm vor, als hätte ihn ein Infekt heimgesucht, der aber nicht ausbrach, sondern nur lauernd in seinen Gliedmaßen steckte.
»Ein bisschen schlapp«, antwortete er. »Ich kam schnell außer Atem und glaubte, jeden Moment eine ungewöhnlich starke Erkältung zu bekommen.«
Der Doktor nickte schweigend und ging zu der breiten Flügeltür, die den Wohn- und Essbereich von der großzügigen Diele trennte.
»Sophie, vielleicht sollten wir noch einmal die Nahrungsmittel in deiner Küche durchgehen. Manchmal denkt man nicht an die einfachsten Dinge. Da kann man als Köchin rasch betriebsblind werden, wenn du verstehst, was ich meine.«
Sophie zuckte mit den Achseln und folgte ihm mit federnden Schritten. Meinhardt stellte seine Tasche auf einen kleinen Vitrinenschrank neben der Tür und faltete die Hände vor dem Bauch.
»Es gibt da ein Ehepaar, welches schon seit Ewigkeiten zu mir in die Praxis kommt«, begann er zu erzählen. »Die beiden dürfen kein Obst essen, weil sich die Medikamente, die sie nehmen, nicht mit den Säuren der meisten Obstsorten vertragen. Neulich klagten die Armen über Beschwerden, die sie bereits viele Wochen mit sich herumschleppten. Ich machte verschiedene Untersuchungen, konnte aber nichts finden. Letzten Dienstag war ich bei ihnen zu Hause. In der Küche sah ich eine asiatische Würzmischung stehen. Die beiden erzählten mir, dass sie neuerdings Geschmack an indonesischen Speisen gefunden hätten, aber natürlich stets darauf achteten, keinerlei Obst zu verarbeiten. Ich schaute mir die Inhaltsstoffe der Mischung an und sah, dass sie Bananen-, Pfirsich- und Mangoextrakte enthielt. Das Pärchen fiel aus allen Wolken. Normalerweise kontrollierten sie gewissenhaft die Zutatenliste, nur diesmal kam es ihnen eben nicht in den Sinn. Seit sie die Würzmischung nicht mehr benutzen, geht es ihnen wieder gut.«
Sophie wippte ungeduldig mit dem rechten Fuß. Lars wusste, dass seine Frau das immer tat, wenn ein Gespräch sie langweilte.
»Ich habe nichts Neues bei mir in der Küche verwendet«, betonte sie. »Aber wirf ruhig einen Blick in die Schränke.« Sophie lächelte dem Doktor etwas säuerlich zu und öffnete die Tür.
»Nur um sicherzugehen«, sagte Meinhardt und zwinkerte ihr zu. Dann schaute er um einiges ernster zu Lars. »Und du schonst dich bitte die nächsten Tage. Dein Körper wird einige Zeit für die Regeneration brauchen. Das bedeutet für dich absolute Bettruhe.«
Lars nickte und hob fahrig die Hand. Plötzlich übermannte ihn eine ungeheure Müdigkeit. Er hörte noch, wie in der Küche ein Schrank geöffnet wurde, dann fiel er in einen finsteren, traumlosen Schlaf.
Den nächsten Tag verbrachte Lars, wie vom Doktor angeordnet, im Bett. Sophie hatte den Wecker ausgestellt, und so erwachte er erst, als das Licht der Sonne in den Spiegel fiel und ihn blendete. Ihr Schlafzimmer verfügte über eine riesige Fensterfront. Das Bett stand mit der Kopfseite vor dem Fenster. Insofern blickte man auf die gegenüberliegende Wand, an der ein ausladender, neuntüriger Kleiderschrank aus Pinienholz thronte. Zwei der verspiegelten Türen reflektierten und verstärkten das Sonnenlicht. Davon wachte Lars stets auf, wenn er mal etwas länger schlafen wollte und das Wetter wolkenlos blieb.
Er setzte sich brummend auf, schaute zu den Korbstühlen mit den weißen Polstern, die sich ein Stück abseits neben dem Bett befanden, und versuchte, den Zustand seines Körpers zu analysieren. Das Atmen verursachte keine Probleme mehr. Das war das Wichtigste. Ein leichter Juckreiz an den Händen und im Gesicht zeugte von einem Ausschlag infolge der allergischen Reaktion, was aber kein ernst zu nehmendes Problem darstellte.
Doch als Lars sich aufrichtete und seine Füße die kühlen dunkelgrauen Fliesen berührten, merkte er, wie sehr ihn der Anfall geschwächt hatte. Für einen Moment bezweifelte er sogar, dass ihn seine Beine überhaupt tragen würden. Mit äußerster Anstrengung erreichte Lars den kleinen Tisch im Ankleidebereich, auf dem sein Handy lag. Er überlegte kurz, das Gespräch im Stehen zu führen, entschied sich aber dagegen. Sein Körper schrie bereits danach, sich wieder hinsetzen zu können. Lars griff nach dem Mobiltelefon und balancierte zurück ins Bett.
Tina hörte sich ehrlich erschrocken an, als er von seinem Missgeschick erzählte.
»Lars, pass besser auf dich auf«, sagte seine Sekretärin streng. »Oder wolltest du dir nur einige erholsame Tage gönnen?«
Lars lachte. »Nein, das hatte ich nicht vor. Du weißt doch, wie schwer es mir fällt, untätig herumzusitzen.« Er stockte und zupfte an der Bettdecke. »Ich werde meine Termine für nächste Woche nicht wahrnehmen können. Heute bin ich mit Herrn Yıldız verabredet. Seine Dönerfabrik hat wieder unendlich viel Gewinn gemacht und er sucht nach weiteren Anlagemöglichkeiten.«
Am anderen Ende der Leitung schien Tina in ihren Tischkalender zu blättern. »Ja, ist um 16:00 Uhr eingetragen. Soll ich ihn verschieben? Ich kann auch Hans bitten, das Gespräch zu übernehmen.«
Lars lächelte. Hans Klausner war einer seiner erfahrensten Mitarbeiter. Dennoch wollte er lieber persönlich mit dem Dönerkönig sprechen. Yıldız schätzte es, wenn sich der Chef selbst Zeit für ihn nahm.
»Nein, Tina. Ich werde mich um ihn kümmern. Mache bitte einen neuen Termin für Anfang nächster Woche.«
Nachdem auch drei andere Kundengespräche delegiert wurden, wünschte Tina ihm eine gute Besserung und beendete das Gespräch.
Lars streckte die Beine aus und gähnte herzhaft. Manchmal fiel es ihm noch immer schwer, zu glauben, dass mittlerweile fünfzehn Mitarbeiter für ihn arbeiteten. Als freier Anlageberater hatte er sich damals selbständig gemacht und beriet Kunden in allen Fragen des Geldmarktes. Er bot Finanzprodukte für die private Vorsorge und Vermögensbildung an, hatte unzählige Versicherungen im Programm und legte die Gelder seiner Mandanten gewinnbringend in Wertpapieren, Fonds und Aktien an. Dabei gab es eine eiserne Regel: keine Kryptowährungen, nur ETFs von großen Instituten, nur seriöse und eher konservative Anlagen. Schon nach einem halben Jahr stellte er die ersten beiden Mitarbeiter ein. Kunden aus der gesamten Region vertrauten ihm ihre Geldgeschäfte an. Und seine Provisionen wuchsen von Quartal zu Quartal.
Inzwischen bewohnten Sophie und er ein riesiges Haus mit jeglichem Luxus in einem kleinen Hamburger Vorort. Es besaß eine Freitreppe im Flur, die von ihren Ausmaßen her auch in jedes Schloss gepasst hätte. Als seine Lebensmittelallergie vor einigen Jahren schlimmer wurde, wollte er beruflich kürzertreten, seine freie Zeit intensiver genießen und nicht mehr so lange in der Firma herumhängen. Schnell wurde ihm jedoch klar, dass etwas fehlte. Er wusste nichts mit sich anzufangen, wenn er bereits nachmittags nach Hause kam. Er hatte probiert, sich Hobbys zu suchen und machte den Sportbootführerschein, um ein eigenes Boot zu kaufen. Aber es war sterbenslangweilig auf dem Wasser hin- und herzutuckern. Schnell hatte er das Boot wieder verkauft. Danach versuchte er es mit Golf. Eigentlich sehr praktisch, da viele seiner Kunden ebenfalls Golf spielten. Doch die kurzen, durchaus anregenden Gespräche mit den Mitspielern wogen die ellenlangen Wanderungen auf diesem unnatürlichen grünen Rasen nicht auf. Jedes Mal hatte er das Gefühl, dass die Natur vergewaltigt wurde, während er über das Green schlich. Nichts brachte ihm wirklich Spaß. Die Arbeit war sein Hobby. So einfach lagen die Dinge manchmal.
Außerdem machte es ihm überhaupt nichts aus, bis spät am Abend im Büro zu sitzen. Oft war es unerlässlich, da viele berufstätige Kunden erst nach Feierabend mit ihm über interessante Anlagemöglichkeiten sprechen konnten.
*
Es wurde Mittag. Lars blickte gedankenverloren in den Spiegel und beobachtete die vorbeiziehenden Wolken. Ihm war langweilig. Die Tageszeitung und die aktuellen Wirtschaftsnachrichten im Netz hatte er sich bereits durchgelesen. Er würde die verordnete Bettruhe von Fritz Meinhardt großzügiger auslegen und zur Hausruhe umgestalten. Vielleicht konnte er auf diese Weise Arbeiten erledigen, für die sonst keine Zeit blieb.
Mühsam trugen ihn seine Füße ins Badezimmer. Während er den Wasserhahn aufdrehte, kreisten seine Gedanken um Sophie. Seine Frau hatte das Haus bereits vor über zwei Stunden verlassen. Er erinnerte sich, im Halbschlaf ihre Verabschiedung gehört zu haben. Zu welcher Freundin wollte sie doch gleich? Oder gab es einen neuen Kurs im Fitnessstudio?
Lars musste zugeben, dass er sehr wenig darüber wusste, wie sie die Tage verbrachte. Sie hatten sich im Laufe der Zeit wohl etwas auseinandergelebt. Vielleicht ein vollkommen normaler Vorgang, wenn die Ehe seit fünfzehn Jahren funktionierte. Trotzdem liebte Lars seine Frau, schätzte sie als zuverlässige, liebenswerte Gefährtin. Aus diesem Grunde war er auch nicht unzufrieden mit ihrer Beziehung.
Er wusste, dass er sich einen nicht unerheblichen Anteil am Verlauf ihrer Ehe zuschreiben musste. Immerhin war er es, den man während der Woche kaum zu Hause antraf. Und an den meisten Wochenenden standen ebenfalls berufliche Verpflichtungen im Vordergrund.
Seine Schritte hallten auf der Treppe. Die Treppenkonstruktion passte zum modernen Stil der Villa. Die schweren, fast drei Meter breiten Stufen bestanden aus massivem Ahornholz, das Geländer glänzte matt in gebürsteter Edelstahloptik.
Sein knurrender Bauch führte ihn geradewegs in die Küche. Missmutig wanderte sein Blick über die weiß glänzenden Lackschränke. Sie hatten ein Vermögen gekostet. Ein Jammer, dass seine Frau plötzlich unzufrieden damit war.
Unvermittelt wurde ihm schwindelig. Eilig füllte Lars sich ein spezielles, allergikerfreundliches Müsli ein, goss Milch dazu und machte sich auf den Rückweg ins Schlafzimmer. Seine Pläne hatten sich kurzerhand geändert. Den Rest des Tages würde er doch lieber im Bett verbringen. Alles andere konnte warten.
Das Telefon riss ihn aus den Gedanken. Tinas Stimme klang ernster als sonst.
»Hier ist jemand ganz außerordentlich aufgebracht«, verkündete sie ruhig. »Herr Mard möchte Auskunft, warum seine Aktiengewinne deutlich geringer ausgefallen sind als prognostiziert.«
Lars seufzte und rückte den Stuhl zurecht. Während Tina ihm die Daten des Kunden auf den Bildschirm übermittelte, stellte sie das Gespräch durch. Es wurde eine unangenehme Unterhaltung. Mard, Professor an der Universität und Herausgeber zahlreicher Fachbücher zum Thema Kindererziehung, schimpfte in einem fort und überhäufte Lars mit Kraftausdrücken. Er tobte, da er sich von dem im Voraus kalkulierten Gewinn bereits einen teuren Wagen gekauft hatte. Jetzt schütteten seine Wertpapiere deutlich weniger Geld aus als erwartet. Nur mit Mühe schaffte es Lars, ihn zu beruhigen. Er rief ihm ins Gedächtnis, dass die am Anfang berechneten Ausschüttungen Durchschnittswerte seien, die in den nächsten Jahren durchaus noch erreicht werden könnten.
Nach dem Telefonat verschränkte er die Hände hinter dem Kopf und schaute ärgerlich auf das Telefon. Früher hatte er solche Situationen wesentlich besser gemeistert. Es kam immer mal vor, dass Kunden mit der von seiner Firma übernommenen Vermögensverwaltung unzufrieden waren. Insbesondere wenn sich die Aktien schwach entwickelten und am Ende eines Geschäftsjahres nicht die Zahlen für die Kunden heraussprangen, die sie sich erhofft hatten. Lars hatte es in all den Jahren sehr gut verstanden, aufgebrachte Gemüter wieder zu beruhigen. Einer seiner großen Stärken war es, charmant und freundlich, aber auch unmissverständlich darzulegen, warum sich die Werte so entwickelten, wie sie es eben taten und warum daher die Gelder nicht so flossen, wie anfänglich kalkuliert. Meist gaben sich die Kunden mit seinen Erklärungen zufrieden und sahen anschließend ein, dass nicht er oder seine Firma schuld an den niedrigeren Erträgen waren, sondern die allgemeine wirtschaftliche Situation.
Mard jedoch hatte kein Einsehen. Der Professor beschimpfte ihn als Dilettanten und drohte, sein Portfolio künftig jemand anderem anzuvertrauen. Lars dachte an ein weiteres Gespräch in der letzten Woche, welches ganz ähnlich verlaufen war. Was geschah nur mit seinem überzeugenden und kompetenten Auftreten? Warum erreichte er seine Mandanten nicht mehr? Lag es daran, dass es ihm nach wie vor schwerfiel, sich über einen längeren Zeitraum zu konzentrieren? Seit zwei Wochen arbeitete er wieder. Die Erinnerung an den Allergieschock verblasste langsam, trotzdem fühlte er sich nicht gesund. Er war schlecht gelaunt, antriebslos und ließ sich viel zu schnell ablenken. Er kam leicht außer Atem und tendierte zu Schweißausbrüchen und Herzrasen. Und das, obwohl Sophie seit dem Vorfall penibel darauf achtete, ihre Lebensmittel nur noch bei einer Handvoll Geschäfte ihres Vertrauens zu kaufen. Was stimmte bloß nicht mit ihm?
Tina unterbrach seine Gedanken, indem sie mit einer dampfenden Tasse Kaffee ins Büro kam und aufmunternd lächelte.
»Hier kommt Kaffee und die Post.«
Lars streckte die Hände aus und nahm ihr die Tasse ab. Einige Tropfen des heißen Kaffees liefen ihm über die Finger.
»Hans hat in einer halben Stunde ein Meeting angesetzt und hätte dich auch gern dabei.«
»Ja, natürlich. Das wird mich ablenken. Ich bin heute mit meinen Gedanken sowieso nicht ganz bei der Sache.«
Der Besprechungsraum war gut gefüllt. Alle leitenden Angestellten hatten sich eingefunden. Lars ging auf den Platz am Kopfende des ovalen Glastisches zu und lächelte in die Runde. Hans Klausner saß neben ihm und hob entschuldigend die Schultern.