Das Eden-Alphabet - Nino Filastò - E-Book

Das Eden-Alphabet E-Book

Nino Filastò

2,0

Beschreibung

Ein teuflisch raffinierter Thriller, bei dem das Alte Testament ebenso Pate stand wie Akte X.

Davide Chefa, berühmter Archäologe im Ruhestand, verschwindet spurlos von einer kleinen bretonischen Insel. Um herauszufinden, was geschehen ist, zieht der Journalist Jorge Greck in Chefas abgelegene Villa auf den Klippen über der sturmgepeitschten See. Dort entdeckt er Aufzeichnungen des Verschollenen über fremde Mächte, die die Geschicke der Erde seit undenklichen Zeiten bestimmen, und über einen geheimnisvollen Auftrag, den der Archäologe von ihnen bekommen haben will. Stets um eine nüchterne Sicht der Dinge bemüht, kann Greck sich dem Sog des Geheimnisvollen, das den Vermissten umgibt, doch bald nicht mehr entziehen: Spielt seine Wahrnehmung ihm Streiche, oder mehren sich die unerklärlichen Erscheinungen rund um die Villa? Und was hat das ganze mit den Enkianern zu tun, den Anhängern dieser eigenartigen neuen Sekte, die die Insel überfallen wie ein Schwarm Heuschrecken?

In einer Zeit, die zu neuen Kreuzzügen rüstet, verpackt der Altmeister Filastò scharfsinnige Kritik an der ewigen menschlichen Sehnsucht nach Gott und dem Teufel in einen packenden Plot von unvergleichlicher atmosphärischer Dichte und nicht abreißender, unterschwelliger Spannung.

"Filastò ist ein überdurchschnittlicher Erzähler mit sicheren Instinkten für die Erwartungen des Lesers." FAZ.

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Über Nino Filastò

Nino Filastò, geb. 1938, lebt in Florenz als Rechtsanwalt. In der literarischen Tradition von Leonardo Sciascia schreibt er Romane um die Figur des Anwalts Corrado Scalzi, in denen eine kriminalistische Fabel immer auch zum Instrument der Gesellschaftskritik wird. Über den mit Donna Leon und Andrea Camilleri bekanntesten Autor italienischer Kriminalromane schreibt die FAZ: »Filastò führt eine leichte, zeitweise elegante Feder; er ist ein überdurchschnittlicher Erzähler mit sicherem Instinkt für die Erwartungen des Lesers.«

In der Aufbau Verlagsgruppe sind von ihm bisher erschienen: »Der Irrtum des Dottore Gambassi«(OF 1995), »Alptraum mit Signora«(OF 1990), »Die Nacht der schwarzen Rosen«(OF 1997), »Swifts Vorschlag«(OF 1991) und »Forza Maggiore«(OF 2000).

Esther Hansen, diplomierte Übersetzerin, übertrug unter anderen Daria Bignardi, Nino Filastò, Marcello Fois, Diana Lama, Goliarda Sapienza, Susanna Tamaro und Carmine Abate ins Deutsche. 2008 wurde sie mit dem Förderpreis des Deutsch-Italienischen Übersetzerpreises ausgezeichnet.

Informationen zum Buch

Ein teuflisch raffinierter Thriller, bei dem das Alte Testament ebenso Pate stand wie Akte X.

Davide Chefa, berühmter Archäologe im Ruhestand, verschwindet spurlos von einer kleinen bretonischen Insel. Um herauszufinden, was geschehen ist, zieht der Journalist Jorge Greck in Chefas abgelegene Villa auf den Klippen über der sturmgepeitschten See. Dort entdeckt er Aufzeichnungen des Verschollenen über fremde Mächte, die die Geschicke der Erde seit undenklichen Zeiten bestimmen, und über einen geheimnisvollen Auftrag, den der Archäologe von ihnen bekommen haben will. Stets um eine nüchterne Sicht der Dinge bemüht, kann Greck sich dem Sog des Geheimnisvollen, das den Vermissten umgibt, doch bald nicht mehr entziehen: Spielt seine Wahrnehmung ihm Streiche, oder mehren sich die unerklärlichen Erscheinungen rund um die Villa? Und was hat das ganze mit den Enkianern zu tun, den Anhängern dieser eigenartigen neuen Sekte, die die Insel überfallen wie ein Schwarm Heuschrecken?

In einer Zeit, die zu neuen Kreuzzügen rüstet, verpackt der Altmeister Filastò scharfsinnige Kritik an der ewigen menschlichen Sehnsucht nach Gott und dem Teufel in einen packenden Plot von unvergleichlicher atmosphärischer Dichte und nicht abreißender, unterschwelliger Spannung.

»Filastò ist ein überdurchschnittlicher Erzähler mit sicheren Instinkten für die Erwartungen des Lesers.« FAZ

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Nino Filastò

Das Eden-Alphabet

Roman

Aus dem Italienischen von Esther Hansen

Inhaltsübersicht

Über Nino Filastò

Informationen zum Buch

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Erster Teil  Chefa

Kapitel 1 Insel. März 2001

Kapitel 2 Dokument Nr. 1 Auszug aus dem »Buch der Dämonen«

Kapitel 3 Davide Chefas Haus auf der Insel. März 2001

Kapitel 4 Dokument Nr. 2 Chefas Tagebuch. Montpellier. Ohne Datum

Kapitel 5 Dokument Nr. 3 Tagebuch von Davide Chefa. Juli–August 1975

Kapitel 6 Dokument Nr. 4 Anmerkung von Davide Chefa. Ohne Datum

Kapitel 7 Dokument Nr. 5 Tagebuch von Davide Chefa. August 1975

Kapitel 8 Insel. April 2001

Kapitel 9 Dokument Nr. 6 Tagebuch von Davide Chefa. Montreuil, 12. Dezember 1979. Erzählung ohne Titel von Jacques Flècher

Kapitel 10 Haus von Davide Chefa. April 2001

Kapitel 11 Dokument Nr. 7 Tagebuch von Davide Chefa. »Der Amseljunge«

Kapitel 12 Haus von Jorge Greck in Bourg. April 2001

Zweiter Teil  Habiela

Kapitel 13 Dokument Nr. 8 Tagebuch von Davide Chefa. Insel. Januar 1983

Kapitel 14 Dokument Nr. 9 Tagebuch von Davide Chefa. Insel. April 1983

Dritter Teil  Greck

Kapitel 15 7. Juli 2001

Kapitel 16 8.–10. Juli 2001

Kapitel 17 10. Juli 2001

Kapitel 18 11. Juli 2001

Kapitel 19 1. August 2001

Kapitel 20 7. August 2001

Kapitel 21 7. August 2001

Kapitel 22 7.–8. August 2001

Kapitel 23 8. August 2001

Kapitel 24 18. August 2001

Kapitel 25 21. August 2001

Schluß

Impressum

Ich widme dieses Buch dem Gedenken an die Schriftstellerin Luce D’Eramo, der ich freundschaftlich verbunden war. Ihrem Roman »Partiranno« (»Sie werden aufbrechen«) liegt dieselbe Idee zugrunde wie dem »Eden-Alphabet«.

Außerdem widme ich es dem Schriftsteller und Drehbuchautor Piero Tellini, dessen Werke die italienische Filmgeschichte geprägt haben. Stellvertretend sei hier nur an »Die Lüge einer Sommernacht« unter der Regie von Alessandro Blasetti erinnert, mit dem er die fruchtbare Zeit des italienischen Neorealismus einleitete. Tellini war der erste Forscher und Deuter jener Steine, von denen in dem vorliegenden Roman die Rede sein wird. Er schied unter bis heute ungeklärten Umständen aus dem Leben. Die Fernsehnachrichten meldeten sein Ableben bereits einen Tag vor dem jähen Tod des Drehbuchautors. Gleichzeitig verschwanden zwei Koffer, gefüllt mit Steinen, die Tellini auf der ganzen Welt gesammelt hatte.

N. F.

»Und auch den Mann, mit dem er, Gott wußte, wie, unversehens in ein Ringen auf Leben und Tod geraten war, sah er in dem plötzlich grell aus Wolken tretenden Monde von damals wieder so nahe, wie Brust an Brust: seine weit auseinanderstehenden Rindsaugen, die nicht nickten, sein Gesicht, das, wie auch die Schultern, poliertem Steine glich; und etwas von der grausamen Lust trat wieder in sein Herz, die er damals verspürt, als er ihm mit ächzendem Flüstern den Namen abgefordert … Wie stark er gewesen war! Verzweifelt traumstark und ausdauernd aus unvermuteten Kraftvorräten der Seele. Die ganze Nacht hatte er ausgehalten, bis ins Morgenrot, bis er sah, daß es dem Manne zu spät wurde, bis der verlegen gebeten hatte: ›Laß mich gehen!‹«

Thomas Mann, »Joseph und seine Brüder«

Erster Teil Chefa

1 InselMärz 2001

Ich erwache durch das Geräusch der Brandung, das mit steigender Flut anschwillt.

An dem fehlenden Duft nach frischen Croissants merke ich, daß ich nicht zu Hause bin. Um diese Uhrzeit holt der Bäcker dort, der seinen Laden ganz in der Nähe meiner kleinen Wohnung hat, normalerweise seine Brötchen aus dem Ofen.

Diese Villa hingegen erfüllt einzig der kalte Salzhauch des Meeres.

Ich gehe hinunter in die Küche, öffne die Terrassentür und schaue hinaus. Obwohl schon März ist, kommt es mir vor, als entwickle sich das Wetter wieder in Richtung Winter. Es ist kalt, die Luft ist klar und blau wie frisch geputztes Glas. An dem Baum rascheln die jungen Triebe, als folge jedes Blatt seinem eigenen Rhythmus.

Ich bereite mir einen Kaffee und trinke ihn mit Blick nach draußen. Um die Lorbeerhecke hüpft eine junge Amsel. Sie muß im Herbst geschlüpft sein, ihr gelber Schnabel glänzt frisch in der Sonne. Mit geschwellter Brust stolziert sie umher wie ein Gernegroß aus der Vorstadt. Dann sieht sie mich aus ihrem kreisrunden Auge an, läßt ein Zwitschern erklingen und verschwindet wieder im Dickicht der Hecke.

Von der See weht ein intensiver Jodgeruch herüber. Die Wellen stürmen gegen die Felsen an und überziehen sie mit weißen Streifen. Ich mag die ungebrochene Herrschaft von Wind und Meer an diesem äußersten Punkt der Insel, dennoch fehlt mir der murmelnde Widerhall der Stimmen in den engen Gäßchen von Bourg, der Duft nach frischen Croissants. Von denen übrigens keines mehr übrig ist, ich habe es gestern versäumt, neue zu besorgen. Zu Hause genügten wenige Schritte über die Straße, und schon wäre die Vorratskammer wieder gefüllt. Hier hingegen müßte ich zehn Kilometer durch die Hügel radeln, immer bergauf und bergab. Ich frage mich, was in aller Welt mich hierher verschlagen hat, in diese abgelegene, alte Villa, düster wie aus einem Horrorfilm.

Ich bin erst seit wenigen Jahren hier. Mein Name ist Jorge Greck. Aus einem merkwürdigen Zufall heraus klingt mein Nachname wie eine hiesige Wortschöpfung. Bis Anfang des letzten Jahrhunderts benutzten die Frauen der Insel zum Kaffeekochen riesige, in Griechenland gefertigte Kaffeemaschinen; und da die Einwohner hier einem übermäßigen Kaffeekonsum frönten, nannte man sie grecs, die Griechen. Die Insel liegt vor der bretonischen Küste; ihren Namen möchte ich lieber nicht nennen, da die Leute in letzter Zeit selbst gegenüber Romanen überempfindlich geworden sind und ich verhindern möchte, daß sich jemand wiederzuerkennen glaubt, allein weil er hier lebt.

Auch meine Herkunft und Nationalität möchte ich verschweigen. Je weniger ich von meiner Heimat rede, desto besser. Man stelle sich einfach ein Land Lateinamerikas oder des Balkans oder des südlichen Mittelmeerraums vor. Eines dieser politisch und gesellschaftlich instabilen Länder, wo Typen wie ich, deren größte Schwäche die Geltungssucht ist, in jungen Jahren einige Zeit verbringen und unter dem Vorwand, Blinde sehend machen zu wollen, allerlei Gesetzeswidrigkeiten begehen.

Als mir schließlich wegen meiner ständigen Mißachtung der Regeln und der Anmaßung, einem höheren Ziel dienen zu wollen, der Boden unter den Füßen zu heiß wurde, ging ich nach Frankreich, wo Menschen meines Schlags halbwegs freundlich aufgenommen werden, solange sie sich in der neuen Heimat ruhig verhalten. Was ich dann auch tat. Im übrigen war ich der Abenteuer, die mich zu dem Ortswechsel zwangen, sowieso überdrüssig, sie widerten mich geradezu an. Endlich war mir klargeworden, wenn auch mit einiger Verspätung, daß der Staat sich – glücklicherweise – nicht um alles kümmern kann. Jeder muß auf sich selbst aufpassen. Ich hatte begriffen, daß nicht alles, was zählt, auch »politisch« ist, wie man damals sagte. Daß das, was wirklich zählt, gar nichts mit Politik zu tun hat. Diese Einsicht befreit von jeglicher Paranoia und schenkt einem ein besseres Leben. Und was die vielbeschworenen Ideale betrifft, ist es einfach verrückt, sein Leben dafür zu opfern. Ideale, die kommen, drei kleine Sprünge machen, ein paar Pirouetten drehen und wieder verschwinden.

Nachdem ich mir das alles hinter die Ohren geschrieben hatte, lebte ich recht zufrieden im schönen Frankreich. Hier auf der Insel fühle ich mich noch wohler. Ich habe genug Geld, um nicht arbeiten zu müssen. An einem Ort wie diesem braucht man nicht viel. Zu essen gibt es Fisch und Kartoffeln, die Makrelen schmecken vorzüglich und sind spottbillig. Alle zwei Monate begebe ich mich für einen größeren Einkauf aufs Festland in die Stadt, die der Insel direkt gegenüberliegt. Meine Ersparnisse muß ich dafür nicht antasten. Ich genieße die Sonne und das Meer. Das Mikroklima beschert der Insel ebenso viele Sonnentage wie der Côte d’Azur, obwohl sie ein ganzes Stück weiter nördlich liegt.

Nun allerdings verfolgt mich ein Gefühl, als hätte ich meinen inneren Frieden verloren. Ich hege den Verdacht, einen Fehler begangen zu haben, indem ich meiner Neugier nachgab. Es hat mir noch nie Glück gebracht, mich in fremder Leute Angelegenheiten zu mischen. Und ich fürchte, daß Davide Chefas Angelegenheiten, mit denen ich mich befassen soll, während ich in diesem Haus wohne, keine Ausnahme bilden.

Davide Chefa ist zur Jahrtausendwende von der Insel verschwunden, allem Anschein nach genau in der Silvesternacht 1999/2000.

Viele Menschen erhofften sich große Dinge von diesem besonderen Jahreswechsel. Doch nach dem zu urteilen, was ich im Fernsehen verfolgen konnte (wenn auch nur am Rande, da ich ungern und selten fernsehe), kam es weder zu prachtvollen Darbietungen im Stile des die Moderne und den Fortschritt bejubelnden Excelsior-Balletts von 1881, noch herrschte eine der damaligen Zeit vergleichbare erwartungsvolle Atmosphäre, als die Welt sich von dem neuen Jahrhundert umwälzende Veränderungen versprach, wie sie ja tatsächlich eintraten, wenn auch leider zum Schlechteren.

Die Stimmung gegen Ende des 20. Jahrhunderts indes war gedämpft, so gar nicht zu großen Feierlichkeiten aufgelegt. Die Menschen wirkten resigniert, als hätten sie sich mit den allerorts aufflammenden Kriegen abgefunden, mit dem Terrorismus, dem Ozonloch, dem Treibhauseffekt und den schmelzenden Polkappen, mit Heuschrecken- und Grillenplagen, Orkanen, Erdbeben, AIDS und allen anderen Übeln, die seit vielen Jahren wie Glut unter der Asche zu schwelen schienen, bereit, jeden Moment stärker denn je wieder aufzulodern.

Hier auf der bretonischen Insel gingen um Mitternacht die üblichen Böller in die Luft, auf den Fischkuttern im Hafen heulten die Sirenen. Die meisten Menschen verließen nicht einmal ihre Häuser, es war eisig kalt, und der Wind fegte mit hundert Stundenkilometern über die Insel.

Um nicht allein zu sein, flüchtete ich mich in das Bistro am Hafen, wo ich mir mit dunklem Bier einen kleinen Rausch antrank.

Hier hatte ich einen Wortwechsel mit einem Trunkenbold, der ohne Anlaß mit jedem zu zetern pflegt, der ihm in die Quere kommt. Ein komischer Vogel mit grauem Vollbart und dem Gebaren eines alten bretonischen Fischers. Den Blick wutentbrannt auf mich gerichtet, verkündete er, daß, selbst wenn die ortsansässigen Ausländer mit ihrem Geld die gesamte Insel kauften, sie doch niemals deren Kultur erwerben könnten, irgendeinen Unfug dieser Art. Ich erwiderte, so viel Geld wolle ich erst einmal haben, um die Insel zu kaufen, und er solle lieber zu Bett gehen. Er gab noch eine dumme Bemerkung zurück, dann trat ein anderer Gast dazwischen, und die Sache war erledigt.

Auf der Straße am Hafen riefen ein paar aufgedrehte Jugendliche: »Bonne année!«

Chefa war nicht im Bistro. Nicht, daß mich sein Fehlen besonders überrascht hätte. Chefa wäre niemals zum Feiern in ein Lokal gegangen, in dem sich Zechbrüder, Tagediebe und Sangesvolk ein Stelldichein gaben. Ich weiß nicht genau, aus welchem Grund so viele Leute davon überzeugt waren, er sei ausgerechnet in der letzten Nacht des alten Jahrhunderts verschwunden. Niemand kannte ihn besonders gut, er hatte alle auf Distanz gehalten und auch mit denen, die ihm ein wenig näherstanden, nur sehr sporadisch Kontakt gepflegt. Niemals ließ er sich zu mehr als einem flüchtigen Gruß hinreißen, wenn er in den Straßen von Bourg einem Bekannten begegnete. Möglicherweise spielte im kollektiven Inselgedächtnis auch die zeitliche Überschneidung des epochalen Datums mit der Tatsache, daß Chefa seitdem nicht mehr gesehen ward, eine Rolle. Fest steht jedenfalls, daß Monsieur Chefa in den Tagen und Monaten nach Silvester nicht mehr angetroffen wurde, weder beim Bäcker noch im Fischladen, noch auf dem Postamt, wo er ein Postfach besaß und beinah jeden Vormittag nach Briefen gefragt hatte, die ihm nie jemand schickte. Ich selbst war ihm häufig am Schalter begegnet und hatte gehört, wie er seine Frage stellte und sich dann enttäuscht zum Gehen wandte. Es war allerdings nicht auszuschließen, daß er bereits ein paar Tage zuvor verschwunden war. Jedenfalls sind seit der Jahrtausendwende ein Jahr und zwei Monate vergangen, und heute zweifelt niemand mehr daran, daß Professor Chefa verschwunden ist.

Wäre er abgereist, hätte sich das herumgesprochen, weil die Besatzung ihn an Bord der Fähre gesehen hätte. Ausgeschlossen war auch, daß er sich eine private Überfahrt zum Kontinent gesucht hatte. Im Winter 1999/2000 folgte ein Sturm dem nächsten, der Atlantik war ständig aufgewühlt. Oft konnte selbst die Fähre nicht auslaufen. Erst recht kein kleines Sportboot mit einem einzelnen Passagier an Bord. Auf jeden Fall wäre dies so außergewöhnlich gewesen, daß jeder auf der Insel davon erfahren hätte.

In den Wochen vor dem Jahreswechsel war Chefa noch von einigen Nachbarn gesehen worden. Auch ihnen gegenüber hatte er nicht erwähnt, verreisen zu wollen. Dabei ist es in solchen Fällen ratsam, den Nachbarn Bescheid zu geben, damit sie in der Zeit der Abwesenheit ein Auge auf das leerstehende Haus haben, und sei es nur, weil die Unwetter manchmal einen Ziegel vom Dach reißen und der Mieter riskiert, das Haus bei seiner Rückkehr überschwemmt vorzufinden.

Berechtigte Zweifel bestehen auch daran, daß Chefa eines natürlichen Todes gestorben ist, da er zwar bereits fortgeschrittenen Alters, aber noch lange nicht alt war und sich bester Gesundheit erfreute. Außerdem hätte man ihn dann im Haus oder anderswo finden müssen, doch von einer Leiche gab es keine Spur.

Möglich war hingegen ein Unfall auf See. Es kommt immer wieder vor, daß ein Angler sich im Zweikampf mit einem Fisch überschätzt und schließlich bis zu den Knien im Wasser steht, am nordöstlich gelegenen Felsufer der Insel, wo die Brandung selbst bei ruhigem Wetter machtvoll ans Ufer schlägt. So kann es passieren, daß jemand von der Flut oder einer Welle überrascht wird. Manch eine Leiche wird erst Monate später an Land gespült, bisweilen Hunderte Kilometer von der Stelle entfernt, häufiger jedoch verschluckt sie einfach das Meer.

Nur daß Chefa ganz besonders vorsichtig war, nicht angeln ging und niemals so nahe am Wasser gesehen worden war, daß er davon hätte überrascht werden können.

Ein Verbrechen mit unbekanntem Hintergrund, begangen von einem Mörder, der eine Leiche spurlos verschwinden lassen konnte, war nicht auszuschließen, aber unwahrscheinlich. Die Insel ist klein, ihre eintausendzweihundert ständigen Bewohner kennen einander, und es wäre sehr ungewöhnlich, wenn sie an ihrer Brust einen Mörder genährt hätten. Natürlich sieht man einem Mörder seine Pläne selten an der Nasenspitze an, doch da die Menschen hier sowieso dazu neigen, sich gegenseitig zu beobachten, und vor allem in den Wintermonaten viel Zeit darauf verwenden, ihre Mitmenschen bis ins Detail zu analysieren, hätte ein Mitbürger mit kriminellen Absichten, gleich, ob alteingesessen oder zugezogen, auf jeden Fall Verdacht erregt.

Dazu muß man sagen, daß Chefa ein Mann voller Geheimnisse war, über den außer seinem hohen Ansehen in Fachkreisen wenig bekannt war. Er ist – oder war – ein verschlossener Mensch, hochmütig, schroff, wodurch er sich schnell Feinde macht – beziehungsweise machte. In den Wintermonaten, wenn der Insel jegliche Zerstreuungen oder Beschäftigungen fehlen, welche die Feriengäste im Sommer mit sich bringen, und größte Langeweile herrscht, rangierte somit die abenteuerliche Theorie von Mord und Verstecken der Leiche auf der Beliebtheitsskala ganz oben und sorgte bei den Billardpartien im Hôtel du Pêcheur für endlosen Gesprächsstoff.

Ich hatte Chefa seinerzeit selten zu Gesicht bekommen, niemals hatten wir gemeinsam zu Mittag gegessen oder uns über irgend etwas unterhalten, obwohl uns manches verband. Wie ich gehörte auch Chefa der kleinen Gruppe von Drückebergern an, die freiwillig im Exil lebten. Der Umstand, daß wir dabei denselben Ort gewählt hatten, konnte auf ähnliche Charakterzüge schließen lassen.

In Frankreich war ich als Journalist tätig gewesen. Als ich in Pension ging, zog ich mich auf diese bretonische Insel zurück mit der Absicht, mich ganz der Literatur zu widmen, doch in Wirklichkeit verbringe ich hier meinen Lebensabend in Form eines langen Urlaubs. Die Insulaner halten mich fälschlicherweise für einen Detektiv im Ruhestand. Bei meiner Zeitung war ich auf den Gesellschaftklatsch der faits divers spezialisiert und hatte mir einen bescheidenen Ruf bei der Aufklärung von Verbrechen erworben, indem ich parallel zu den polizeilichen Untersuchungen eigene Nachforschungen anstellte. In mehr als einem mysteriösen Fall war ich zu anderen Ergebnissen gekommen als die offiziellen Ermittler, und manchmal hatte ich mit meiner Rekonstruktion richtig gelegen. (Wie in dem vergleichsweise bekannten Fall der Tochter eines zu Beginn des Jahrhunderts verstorbenen Malers, die mit Argusaugen über das väterliche Erbe gewacht hatte und allem Anschein nach bei einem banalen Autounfall ums Leben kam. Hier hatte ich aufdecken können, daß sie von einem Berufskiller ermordet worden war, den eine Bande von Kunstfälschern auf sie angesetzt hatte.)

Von den Zugezogenen, die aus der Stadt auf die Insel geflüchtet sind und die ich mit einem etwas aus der Mode gekommenen Begriff als »Intellektuelle« bezeichnen möchte, betrachten einige den kleinen Friedhof auf dem Gipfel des Hügels mit einem zwiespältigen Gefühl, beinahe so etwas wie Sehnsucht. Auch ich gehöre dieser Fin-de-Siècle-Spezies an: Ich bin überzeugt, daß allein die Aussicht, seinen Tod in einem Grab mit Blick auf das Meer zu verbringen, den Sensenmann zwar nicht besiegen, ihm aber doch seinen Schrecken nehmen kann. Ich lebe in der Erwartung, meine Knochen eines Tages, selbstverständlich so spät wie möglich, im luftigsten Teil des Friedhofs niederlegen zu können, wenn nicht direkt neben, so doch in nächster Nähe zu der Frauenstatue in Haube und Kleid der Bretoninnen, die gemeinsam mit dem kleinen Jungen auf Knien um die auf See verschollenen Fischer trauert.

Lediglich im Sommer bevölkert sich die Insel mit Feriengästen aus Paris. Die Ortsansässigen tolerieren sie mit herablassender Höflichkeit wie ein Übel, das auch seine guten Seiten hat. In den Liedern, die sie auf ihren Festen singen und die in Rhythmus und Stil keltischen Weisen ähneln, überschütten sie sie mit Spott. In den Texten verhöhnen sie die Städter und ihre Manie, sich mit gestreiften Hemden und marineblauen Seemannskitteln auszustaffieren. Die bösartigeren Lieder ergehen sich in Andeutungen über homophile Neigungen. Die Zugezogenen hingegen, die bei der Gemeinde auf einer Warteliste stehen, um irgendwann einmal das Recht auf ein Grab mit Seeblick zu erwerben, werden von den Insulanern als Blume im Knopfloch ihrer Gemeinschaft angesehen, vorausgesetzt, sie sind, wie in meinem Fall, nicht gänzlich unbekannt oder, besser noch, geradezu berühmt, wie es auf Chefa zutrifft – beziehungsweise zutraf –, einen auch in nichtakademischen Kreisen renommierten Archäologen, Universitätsprofessor und Verfasser zahlreicher Publikationen.

Der Bürgermeister ist ein echter Bretone alten Schlags. Hartnäckig betont er, nicht Franzose, sondern Bretone zu sein. Ein stattlicher Mann mittleren Alters mit konservativen Ansichten, der bei vielerlei Unternehmungen seine Hände im Spiel hat, sei es beim Fahrradverleih, bei der Immobilienvermittlung oder beim Handel mit besagter Matrosenbekleidung: quergestreiften Hemden, Kitteln, blauen oder gelben Friesennerzen und Gummistiefeln, welche der Städter sich als erstes zulegt, um sich dem Inselvolk anzugleichen.

Vor allem aber teilt der Bürgermeister das auf dieser Insel aufgrund ihrer geographischen und kulturellen Eigenständigkeit besonders ausgeprägte Mißtrauen gegenüber der Zentralgewalt und all ihren Institutionen. So ist er der erklärten Überzeugung, daß Davide Chefa ermordet wurde. Gern würde er die Gendarmerie eines Besseren belehren, die den Vermißten für verschollen erklärt und den Fall zu den Akten gelegt hat. Nach der offiziellen Version wurde Chefa von einer Welle mitgerissen, als er, ganz der romantische Einzelgänger, das Schauspiel der stürmischen See genoß.

Im Februar des Jahres 2001 bekam ich Besuch vom ersten Bürger der Insel. Er hatte gehört, daß ich eine neue Unterkunft suchte, da jene, die ich damals bewohnte, im Zentrum von Bourg liegt und vor allem in den Sommermonaten sehr laut ist; außerdem sieht man von dort nicht das Meer.

Es mag merkwürdig klingen, daß man auf einer so kleinen Insel, die zudem hoch emporragt wie ein aus den Fluten aufgetauchter Vulkan, nicht von jedem Haus aus den Ozean sehen kann. Und doch trifft das auf die meisten alten Häuser in Bourg zu, die sich eines hinter dem anderen dicht an die Dorfstraße drängen und sich gegenseitig die Sicht auf die See verstellen. Die plausibelste Erklärung dafür ist, daß die alten Fischer, die sie erbauten, die Nase gestrichen voll hatten vom Meer nach all den Wochen und Monaten auf See. Verständlich, daß sie während der knapp bemessenen Zeit zu Hause nichts vom Wasser wissen wollten und sich lieber ganz den Freuden der Familie oder häufiger noch denen des Bistros hingaben. Wie es auch keinem Fabrikarbeiter einfallen würde, in Sichtweite der Schlote seines Arbeitsplatzes zu wohnen.

Der Bürgermeister schlug mir vor, Chefas Haus zu beziehen. Es liegt weitab von Bourg auf den Klippen am Rande der Heide, hoch auf einem einsamen Felsen, der steil zum Meer abfällt. Ich kenne es und habe den Glückspilz immer beneidet, der dort wohnte.

Aus der Ferne betrachtet, fällt nicht auf, daß die Szenerie unecht ist wie eine Bühnenkulisse. Das Haus ähnelt einer alten Kirche, seine Strenge wird einzig von den Mansardenfenstern gemildert. Die Architektur im Stile der Neugotik weckt in mir immer das merkwürdige Gefühl eines Déjà-vu, als hätte ich jedes Gebäude dieser Art, auf das ich stoße, schon einmal im Traum gesehen. Die gesamte gotische Kunst schlägt diese Saite in mir an. Ich liebe die präraffaelitischen Maler, und ich entdecke einen geheimnisvollen Zusammenklang zwischen der romantischen Rhetorik jener Architektur und den rothaarigen, hellhäutigen Frauen der Gemälde. Ebenjener Typus Frau, der mich selbst am meisten reizt. Wirklich, ich vergöttere solche Frauen.

An Davide Chefas Haus fasziniert mich außerdem seine geheimnisumwitterte Geschichte. Einer der unzähligen Insellegenden zufolge wurde es auf Wunsch einer wunderschönen Frau erbaut, einer Ausländerin, die sich aus Liebeskummer dort einschloß, um ihr Leben ganz dem Traum und der Meditation zu widmen. Ganz wie ein Jahrhundert später die göttliche Sarah Bernhardt, die sich in eine grandiose Villa auf der nahe gelegenen Belle-Île ins Exil zurückzog. Die großartige Sarah, die schwer erkrankt zum Sterben auf die Insel floh. Jene andere geheimnisvolle Dame hingegen soll lange in dem Haus gelebt haben, bei bester Gesundheit und in vollkommener Isolation bis ins hohe Alter.

Zu Beginn des 19. Jahrhunderts war die Insel alleiniges Territorium hart arbeitender Fischer und Bauern. Die Steinhäuser wurden um die pyramidenförmigen Stümpfe der Kamine hochgezogen und drängten sich zu Ortschaften zusammen wie alte Männer auf dem Dorfplatz. Nur die Manufakturen für die Thunfisch- und Sardellenkonservierung lagen außerhalb und sind heute fast sämtlich verlassen. Im weitläufigen Innern im Südosten der Insel, wo der Wind nicht ganz so steif bläst, findet man noch einige Höfe, die sich schützend wie ein Fort um staubige Tennen schließen, auf denen früher das Korn gedroschen wurde. Doch schon damals gab es wenig Getreide in der Gegend, die Landwirtschaft war ausschließlich Frauensache. Heute sieht man nur noch selten das helle Rechteck eines Kornfeldes, gerade so, als habe man es nur dem ästhetischen Empfinden der Sommergäste zuliebe stehenlassen, damit seine Ähren einen gelben Farbtupfer in das vorherrschende Grün und Braun der Landschaft setzen.

Noch bis vor einem halben Jahrhundert war die Insel kein Ort, an dem man bequem Urlaub machen konnte. Schon die Anreise war strapaziös, da die kleine Einbuchtung des Hafens nur unzureichend Schutz vor dem stürmischen Meer bot. Die Insel ragt wie ein Pilz aus den Meerestiefen hervor, und zu Zeiten der Segelschiffe genossen ihre Klippen einen unheilvollen Ruf.

Die Villa, die Chefa bewohnte, ist so angelegt, daß alle Fenster auf das Meer hinausgehen und der Wind unablässig an ihr rüttelt. Zur Zeit ihrer Erbauung, 1814, wie eine Inschrift am Türsturz über dem Haupteingang bezeugt, muß sie in ihrer Umgebung wie ein weißer Rabe gewirkt haben. An Platz wurde nicht gespart, dennoch ist sie ungemütlich, zugig und einsam wie der Leuchtturm, der etwa einen Kilometer entfernt aufragt, zudem erfüllt vom lärmenden Tosen der Wellen, die an den Klippen zerschellen, und ohne die inselüblichen Hortensien im Garten, die der salzigen Gischt auf dem nordwestlichen Kap nicht standhalten. Genausowenig wie andere Pflanzen, außer einer kümmerlichen, fahlgelben Erika. Kaum knöchelhoch, umgeben ihre zerzausten Büsche das Haus auf der Klippe, indem sie sich mit ihren Wurzeln durch die hauchdünne Erdschicht an den Felsen klammern. Vor dem Wildwuchs der Heide grenzen sie eine Art Garten ab, in dem ein einsamer Baum und ein großer Lorbeerbusch auf unerklärliche Weise den Blitzen und Stürmen widerstehen.

Im Februar also besuchte mich der Bürgermeister in meinem Häuschen in Bourg und unterbreitete mir seinen Vorschlag. Spätestens bei dem Angebot, mir mit der Miete für die Villa entgegenzukommen, wurde mir klar, daß es sich um einen Vorwand handelte, hinter dem etwas anderes steckte. Der Bürgermeister, der meine Fähigkeiten als Privatdetektiv fraglos voraussetzt, möchte, daß ich mit aller gebotenen Diskretion eigene Nachforschungen über den Verbleib Davide Chefas anstelle. Da der Abwesende – seiner Überzeugung nach das Mordopfer – vor seinem Verschwinden alles stehen- und liegengelassen hat, würde mein geübtes Agentenauge in seinen Sachen eventuell eine Spur oder zumindest ein Motiv für das mutmaßliche Verbrechen entdecken.

Anfangs erwiderte ich, der Vorschlag gefiele mir nicht. Ich sah mich nicht in der Rolle des Hobby-Schnüfflers, verspürte auch gar keine Lust, wieder zu arbeiten, und sei es nur zum Vergnügen. Zum Vergnügen des Bürgermeisters, wohlgemerkt. Vor einiger Zeit habe ich mich entschlossen, meiner Natur nicht länger im Wege zu stehen, nachdem ich begriffen hatte, daß mein eigentliches Lebensideal der Müßiggang ist, das reine Nichtstun bis auf die wenigen überlebensnotwendigen Dinge wie einkaufen, Essen kochen und hin und wieder das Bett machen.

Doch irgendwie reizte mich die Vorstellung, in diesem Haus zu wohnen. Zumal der lächerliche Mietbetrag, der im Gespräch war, es mir erlauben würde, meine alte Wohnung zu halten, so daß ich jederzeit nach Bourg zurückkehren konnte, wenn Chefa wieder auftauchen sollte.

So sagte ich schließlich zu, vor allem, weil mich das Haus faszinierte, aber auch, das muß ich zugeben, weil ich neugierig war zu erfahren, was mit Chefa geschehen war. Ohne jede Verpflichtung, versteht sich, was das Ergebnis der Nachforschungen angeht.

Der Bürgermeister vermittelte mich also an den Eigentümer, einen Landschaftsmaler, der sich ebenfalls auf die Insel zurückgezogen hatte.

Ihm habe ich angeboten, die Miete für ein Jahr im voraus zu bezahlen. Der Maler erwiderte, er könne mir keinen Vertrag geben, da Chefa möglicherweise noch am Leben sei. Genau dieser Tage hat der Untersuchungsrichter von Vannes im »Journal de l’Ouest« eine Anzeige geschaltet mit der Aufforderung, Hinweise über den Verbleib Davide Chefas an die Polizei weiterzugeben. Sollte nach Ablauf einer Frist von sechs Monaten niemand vorstellig geworden sein, wird der Vermißte für tot erklärt. Bis dahin läßt mich der Maler erst einmal in der Villa wohnen und deklariert die Mietzahlungen als Instandhaltungsaufwendung für das Haus. Wenn Chefa hingegen, was kaum wahrscheinlich ist, wieder auftaucht, könnte man meine Anwesenheit damit erklären, daß jemand die Villa bewohnbar halten muß. Ich würde also als eine Art Wärter fungieren und nach der offiziellen Todeserklärung Chefas einen regulären Mietvertrag bekommen.

Gestern habe ich mich ein wenig umgeschaut. Im Haus sieht es ordentlich aus, abgesehen von der Staubschicht, die sich im Laufe des letzten Jahres angesammelt hat. Man hat den Eindruck, der Bewohner sei nur für ein paar Tage verreist. Im Erdgeschoß befinden sich die Küche, ein sehr geräumiges Wohnzimmer und ein Bad. Der erste Stock hat vier Zimmer und zwei Bäder. Unter dem Dach gibt es ein weiteres Zimmer und einen Arbeitsraum.

Ich habe das Gefühl, als wohnte ich nicht erst seit einer Woche, sondern seit Jahren in der Villa. Gestern, nach Sonnenuntergang, habe ich mich auf dem Sofa ausgestreckt und durch die Öffnung der Balkontür den Baum im Garten betrachtet. Das Sofa, alt wie alle Möbel im Haus, schien sich mit seinen Unebenheiten bequem meinen Körperformen anzupassen. Ich habe mir vorgestellt, daß es mein Gewicht wiedererkennt, als sei es das von Chefa. Gestern war es windiger, und am Baum tanzten die Blätter, als winkten sie mir zur Begrüßung zu.

Der Eigentümer des Hauses hat seine Bilder abgehängt, so daß die Wände aus porösem Stein, die bei nassem Wetter die Feuchtigkeit aufsaugen und den Geruch des Regens verströmen, fast kahl sind. Auch die wertvolleren Möbelstücke hat der Maler mitgenommen. Die Standuhr hat er zurückgelassen. Mit ihren vom Holzkasten gedämpften Schlägen leistet sie mir Gesellschaft und läßt ihr messingfarbenes Zifferblatt hypnotisch schillern. Außerdem steht im Salon ein verzinkter Bistrotresen, der unverrückbar im Boden verankert ist.

Nach meinem Kaffee ohne Croissants stöbere ich lustlos im Haus herum. Dabei fühle ich mich wie ein Dieb. Mein Ziel ist es, Briefe oder Fotos zu finden. Aber keine Spur davon. Das ist wirklich merkwürdig: im ganzen Haus kein einziger Brief, kein einziges Foto. Ich habe bei der Gendarmerie nachgefragt, ob Chefas persönliche Unterlagen beschlagnahmt wurden. Der Beamte, mit dem ich sprach, verneinte dies mit einem Blick, als hätte ich ihm eine völlig abwegige Frage gestellt. Aus seiner gleichgültigen und gelangweilten Art schloß ich, daß die offiziellen Ermittlungen mit wenig Ehrgeiz durchgeführt worden waren und sich auf ein paar seltene Besuche in der Villa beschränkt hatten. Allmählich glaube ich, der Bürgermeister könnte recht haben. Vielleicht wurde Chefa ermordet, und der Mörder hat, warum auch immer, alle persönlichen Unterlagen entwendet. Allerdings paßt die auffällige Ordnung in der Villa nicht zu dieser Theorie. Oder sollte Chefa das Haus verlassen und alle vertrauten Dinge mitgenommen haben?

Im Arbeitszimmer bleibe ich erstaunt vor einer Zeichnung stehen. Sie stammt nicht von dem Vermieter, obwohl der auch kein schlechter Maler ist. Von seinen Werken hängt nur noch eine recht anschauliche Landschaftsmalerei: neu interpretierter Impressionismus eines tüchtigen Kunsthandwerkers. Diese Zeichnung hingegen ist ganz und gar außergewöhnlich. Die Art, wie sie die Bewegung des Baumes einfängt, den ich heute morgen vom Sofa aus betrachtet habe, ist schlicht überwältigend. Als stellte das Bild keine Pflanze, sondern einen Menschen dar. Dem Künstler gelingt es, in der Zeichnung die Gedanken des Baum-Menschen auszudrücken. Ruhige, ernste Gedanken: Der Baum ist ein alter weiser Mann, der dem Betrachter einen gutgemeinten Rat erteilt.

Die Zeichnung hängt an der Wand hinter dem Schreibtisch, auf dem ein Computer thront.

Der Computer ist ein alter Mac. Auf der Tastatur liegt unberührt und fingerdick der Staub, ein weiteres Indiz dafür, daß die Beamten der Gendarmerie bei ihren Nachforschungen äußerst oberflächlich vorgegangen sind. Seit dem Verschwinden des Eigentümers hat niemand den Computer hochgefahren. Ich schalte ihn ein. Auf dem Desktop öffnet sich ein Fenster und fragt mich nach dem Paßwort.

Keine leichte Aufgabe, das entsprechende Wort oder die richtige Zahlenkombination zu finden, dafür bräuchte ich Chefas Gehirn. Oder müßte ihn zumindest besser kennen.

Aber ich kann es versuchen. Ich beginne mit dem Geburtsdatum, das ich in den Unterlagen der Gendarmerie finde: 19. 1. 1936. Natürlich ohne Erfolg, zu banal. Aber es muß etwas sein, das mit ihm zu tun hat. Direkt, nicht zu kompliziert, damit er sein Sesam-öffne-dich nicht wieder vergißt. Ich versuche es mit dem Namen seiner Geburtsstadt, Florenz, die ich ebenfalls den Angaben der Gendarmerie entnehme. Auch zu banal. Der Name des italienischen Vaters: Giuseppe. Nichts. So hangele ich mich auf gut Glück von einer Assoziation, die mir sein Lebenslauf eingibt, zur nächsten: Alter … Datum des Studienabschlusses … Todestag des Vaters … Doch ich glaube, daß die Zahlen nichts hergeben. Ich weiß nicht, wie ich daraufkomme, daß er es nicht mit Zahlen hatte. Meine Intuition sagt mir, daß er mehr ein Mann der Worte als der Zahlen war, unser Chefa. Ein Experte für Wörter, für uralte Sprachen, deren Klang in Vergessenheit geraten ist, die allein als graphische Zeichen überdauern. Tote Wörter, Leichen, von denen nur kalte Spuren zurückbleiben. In der Antike meißelten die Menschen in Stein, um der Zeit zu trotzen. Versuchen wir es also mit seinem Beruf: Arche. Nichts zu machen. Auf dem Bildschirm erscheint immer wieder die Meldung: »Ungültiges Paßwort, versuchen Sie es noch einmal«. Ich kann Computer nicht ausstehen, solche Fehlermeldungen wirken auf mich immer wie ein Vorwurf. Als sei es meine Schuld. Als läge der Fehler in meiner Fahrlässigkeit oder meinem Unvermögen.

Dennoch könnte sein Beruf die richtige Fährte sein. Mal sehen. Was tun die Archäologen, wenn sie gerade nicht Steine ausgraben und deuten? Die Zeit verwandelt alles in Stein. Wie Fossilien: versteinertes, unsterblich gewordenes Leben. Archäologen sind die Priester der Zeit. Ich versuche es mit Kronos: »Ungültiges Paßwort«. Die Zeit ist also die falsche Fährte. Ihr Abgrund, tief und dunkel, ist der schreckenerregende Gegner dessen, der die Nebel der Vergangenheit zu durchdringen sucht. Die Zeit ist zu unpersönlich, ein stummer und ferner Feind.

Plötzlich begreife ich, daß es sich um ein ganz einfaches Wortspiel handelt: nicht banal, sondern einfach. Es gibt einen Zusammenhang zwischen dem Nachnamen unseres Mannes und seinem Beruf, wie ein Wink des Schicksals. Ist Chefa nicht das hebräische Wort für Petrus? Aber ja, Simon Chefa. Etwas anders geschrieben und ausgesprochen natürlich, Kaiphas. »Du bist Petrus, auf dich will ich meine Kirche bauen.« Ich versuche es mit Simon: »Ungültiges Paßwort«. Simone. Idem. Pietro, dann Petrus. Nichts. Aber ich spüre, daß ich ganz nah dran bin. Ich probiere Lithos. Volltreffer! Das Fenster eines Textdokuments geht auf.

Unter der Überschrift »Steine« erscheinen eine Erzählung in leicht emphatischem Duktus, außerdem Ausschnitte aus einem in Alltagsprosa verfaßten Tagebuch.

In einer Vorbemerkung schreibt Chefa, das erste Dokument des Ordners sei aus dem Sanskrit übersetzt und einem tibetanischen Buch entnommen, welches so alt sei, daß es jede Datierung unmöglich mache. Laut Chefa wurde das Buch von Carmalingpa transkribiert, was soviel heißt wie »Mann aus Carmaling«, mythischer Entdecker und Übersetzer heiliger buddhistischer Texte aus dem Sanskrit ins Hindi. Chefa berichtet, er sei durch eine glückliche Fügung in den Besitz dieses Dokumentes gelangt und habe sich lediglich darauf beschränkt, es zu übersetzen.

Die Geschichte erinnert flüchtig an einen Science-fiction-Roman, Untergattung »Außerirdische Archäologie«. Der Hinweis auf den antiken tibetischen Text ist zu naiv, um glaubhaft zu wirken. Die Sprache ist weitgehend modern, obgleich der Stil streckenweise einer mäßig ambitionierten Bibelimitation gleicht. Ich vermute, daß das vorgebliche Originaldokument – laut Chefa sechstausend Jahre alt – Frucht einer versierten Erfindungsgabe ist: der bewährte Trick des Autors, der sich auf die Autorität eines antiken Manuskriptes beruft. Aufschlußreich ist auch die Überschrift des ersten Dokuments, von der zeitlichen Übereinstimmung einmal ganz abgesehen: »2001, Bedrohung aus dem Weltraum« in fetten Großbuchstaben, 24 Punkt. Zweifelsohne stammt die Überschrift von Chefa. Sie erlaubt tiefe Einblicke in die Vorstellungswelt des Autors, eines Hobbyschreibers, der sich mal der Genreliteratur und mal seinem ernstzunehmenden Beruf als Archäologe widmete.

Als Science-fiction-Autor ist Monsieur Chefa nicht besonders originell. Die Geschichte scheint sich an der Anfangssequenz von Arthur C. Clarkes und Stanley Kubricks »2001: Odyssee im Weltraum« zu inspirieren. Dabei wirkt sie weniger eindimensional und weniger optimistisch als die zwischen Kino und Literatur geborene Filmstory. Die Geschichte, die ich am Computer lese, entwickelt sich im Gegensatz zu Film und Buch dialektischer insofern, als sie von einem Widerspruch ausgeht, einen ständigen inneren Konflikt unterstellt.

Dies ist kurzgefaßt der Eindruck, den ich mir nach der Lektüre des ersten Kapitels und einem raschen Überfliegen der anderen Dokumente desselben Ordners auf Chefas Computer gemacht habe. Im folgenden gebe ich nun wortwörtlich den Text des ersten Dokumentes wieder, mit all seinen Abstrusitäten.

2 Dokument Nr. 1Auszug aus dem »Buch der Dämonen«

»… Als sich die Menschen über die Erde hin zu vermehren begannen und ihnen Töchter geboren wurden, sahen die Gottessöhne, wie schön die Menschentöchter waren, und sie nahmen sich von ihnen Frauen, wie es ihnen gefiel … In jenen Tagen gab es auf der Erde die Riesen, und auch später noch, nachdem sich die Gottessöhne mit den Menschentöchtern eingelassen und diese ihnen Kinder geboren hatten …«

Genesis 6,1–4

»… Und dann kippt das Gleichgewicht zwischen dem Druck des Erdinneren und dem Gewicht des Wassers, an einem beliebigen Punkt des Meeresbodens. Es entsteht eine endlose Folge von Unterwasserbeben, die Meerbeben auslösen. Doch riesige Wassermassen fließen augenblicklich in den Spalt am Meeresboden und füllen die Bresche auf. … Die ständige Berührung mit dem Erdinnern bringt die Ozeane zum Sieden; die freigesetzten Kräfte der Unterwasserbeben bewirken Beben der aufgetauchten Erdoberfläche. In den Stürmen vermischt sich der von den Beben aufgeworfene Staub mit den Dämpfen, die den Ozeanen infolge der Meerbeben entsteigen. Die dicken Wolken, die aufsteigen, sind undurchsichtig und angefüllt mit Staub. Es gibt nicht mehr Tag noch Nacht, nichts als ewiges Dämmerlicht …«

Jean Sendy, »Ces dieux qui firent le ciel et la terre«

Vortrefflich haben die Brüder einen Teil der Arbeit getan. Das Eis geht zurück. Die Bären wurden getötet.

Höchste Ehre sei den Brüdern: El, der Erwählte, im Blick seiner neun Augen der schreckliche Haß. Ishtar, die Schöne, ihr flammender Leib eine Fülle aus Licht. Heruka, der Unerschaffene, die Lider flink wie Blitze, gebleckt die funkelnden Zähne, das abstehende Haar rot wie ein Flammenkranz. Und ewiges Lob sei Ihm, dem Unnennbaren, dem Höchsten.

Dann mußten die Brüder abreisen. Sie hatten die Zeichen gesehen, die Widersacher waren da, die Wächter: auf der Jagd, gerüstet wie nie zuvor, entschlossen, uns auf frischer Tat zu fassen.

Das einzige, was diesen Planeten am Rande der Galaxie von dem übrigen System abhebt, ist seine intensive blaue Farbe, die aufleuchtet, wann immer sich ein Spalt in der ihn umhüllenden dicken Wolkendecke auftut. Das ganze System, kreisend um ein Gestirn mittlerer Größe, ist beherrscht vom Fatum des Todes: die inneren Planeten zu heiß, die äußeren zu kalt. Außer diesem und einem weiteren, etwas kleineren Himmelskörper, der offenkundig vor Urzeiten von allem Leben verlassen wurde.

Dennoch hatte der Rezeptorkristall an Bord während des Anflugs auf den blauen Planeten sehr schwach »Hier kohlenstoffbasiertes Leben« signalisiert. So schwach war das violette Flimmern, daß man es für einen technischen Defekt halten konnte: Das hiesige, erstaunlich weit entwickelte Leben war durch eine weitere der ungezählten Eiszeiten erneut vom Aussterben bedroht. Vor der letzten großen Kälte hatte die biologische Vielfalt ihren im gesamten Kosmos beispiellosen Höhepunkt erreicht. Die Zahl der Tier- und Pflanzenarten im Prozeß unaufhaltsamer Evolution war schier unendlich. Die ideale Umgebung, um den Versuch zu wagen. Eine hochinteressante Aufgabe.

Wir, die ewig Fliehenden, die der Heimat Verwiesenen, die Verfolgten, die Verstoßenen, konnten die Wende herbeiführen und anstelle der Stille und des unaufhaltsamen Niedergangs zum Tode eine neue Vielfalt explodieren lassen. Nur wenige Jahrtausende noch, nach dem Sieg über die Eiszeit, und der blaue Planet würde seine monotone Farbe ändern. Auf der dunklen, von seiner Sonne abgewandten Seite würde der Reisende Städte erstrahlen sehen, würde er das Beben einer hochentwickelten Intelligenz spüren, würde er wissen, daß es am Rand der Unendlichkeit einen Ort gab, wo man Zuflucht fand.

Doch dann kamen sie. Die Brüder mußten fliehen. Ich kehrte allein zurück. Ich habe gelernt, mich zu verbergen. Es bereitet mir keine Schande, mich wie die Schlange unter einem Stein zu verkriechen. Ich bin Enki, der Fähige. Auch deshalb nennt man mich den Fähigen: weil ich mich in einen Stein verwandeln kann oder in einen Busch, in einen Baum oder in eine Wolke. Ich kann verschwinden.

Ich habe die Stelle erreicht, welche die Brüder für ihr erstes Experiment auswählten. Ein grauenhafter Ort. Die Höhle gräbt sich tief ins Erdinnere. Man erreicht sie durch einen großen Canyon, dem Lauf eines Flusses folgend, der einst mächtig und voll reißender Stromschnellen gewesen sein muß. Heute ist nur noch ein schlammiges Rinnsal übrig, das sich hie und da in kleinen Pfützen sammelt. Bald jedoch werden die Eismassen der umliegenden Berge zu schmelzen beginnen und den Fluß mit neuen Fluten füllen.

Die Brüder haben den Höhleneingang auf der Seite zum Canyon hin mit einem schlanken Monolithen in Form eines Sternenschiffes gekennzeichnet. Der Eingang befindet sich in einer rund hundert Meter hohen Steilwand, verborgen hinter Felsblöcken, die über den Abgrund ragen und deren Schatten den Eindruck weiterer Öffnungen vermitteln. Dort oben sind meine Primaten in Sicherheit, wenn sie des Nachts vom Sammeln zurückkehren, meine plumpen, dabei recht intelligenten Schützlinge, die einzigen, die ich auf diesem einst so außergewöhnlich artenreichen Planeten auftreiben konnte, wo der gnadenlose Zufall sie auslöschen wollte.

Die ersten Meter des Ganges bohren sich tief in den Berg. An der Stelle, wo die Höhle scheinbar endet, weitet sich der schmale Durchgang zu einem riesigen Saal, von dem strahlenförmig zahlreiche Tunnel abgehen. In diesem Saal schimmern im schwachen Licht undeutlich die bleichen Schädel der Bären und lassen in ihrer Anordnung Rückschlüsse auf die Schlacht und den Sieg zu. Auf einem der größeren unter ihnen wächst ein Tropfstein, die Schädeldecke ist bereits mit einer Kalkschicht überzogen. An deren Stärke, zart noch und erst an wenigen Stellen verfestigt, messe ich die Zeit. Der Bär wurde vor weniger als vierhundert Jahren getötet, kurz vor der Abreise der Brüder.

Jahrtausende lang hatte zuvor das lästerliche Miteinander gewährt. Die Bärenspuren in den hinteren Teilen der Höhle befinden sich im Stadium fortgeschrittener Fossilisation. Die Abdrücke liegen in unmittelbarer Nähe zu den humanoiden Fußspuren, als hätten die affenartigen Primaten und die Bären friedlich Seite an Seite gelebt.

Ein unterirdischer Fluß, der in das Tal des heutigen Rinnsals mündete, hatte die Höhle in Millionen von Jahren gegraben. Die Wassermassen bahnten sich ihren Weg durch die Felswände und schufen die Durchbrüche, die heute den Zutritt ermöglichen.

Als der Himmel sich auf ewig verdunkelte und nur ein düsterer Schimmer am Horizont den Tag von der Nacht schied, zogen die quasi-intelligenten Primaten und die Bären sich langsam in die Höhle zurück. Die Höhle schützte sie vor der Kälte und der mit Blitz und Donner erfüllten Schwärze, schwer und massiv wie ein Felsblock, der jeden Moment auf ihre Köpfe herabzustürzen drohte.

Bevor die Brüder kamen, hatte alles Fleisch auf dem Planeten seinen Wandel verderbt. Die geschundene Erde gebar nur noch Unkraut. Die Bären schleppten ihre magere Beute in die Höhle. Den befellten Tieren folgten die unbehaarten, jämmerlich nackten Affen. Gegen Ende der Eiszeit ernährten sie sich von dem, was die Bären an verfaulten Resten zurückließen. Man kann sich denken, wohin sie die Ruhe der Wächter, das Höchste Gebot des Nichteingreifens, geführt hätte. Die Wächter der Ruhe beaufsichtigten sie, behielten sie im Auge, wie sie alles im Kosmos überwachen. Sie hatten sie zu einem kläglichen und unrühmlichen Ende verurteilt. Schon gab es auf dem ganzen Planeten nur noch wenige tausend Exemplare, und viele tausend andere Spezies waren ihnen zahlenmäßig überlegen. Sie, die hochmütigen Wächter, die Unvergänglichen, wollten sie unter dem machtvollen Absatz des Schicksals zertreten, obwohl das Gehirn dieser Geschöpfe bereits so weit entwickelt war, daß sie Werkzeuge herstellen und verwenden konnten. Welch unglaubliche Verschwendung!

Eine dünne Schicht aus Erde und Geröll bedeckt den Höhlenboden und die Knochen, in die die Zahnabdrücke zweier verschiedener Tierspezies gegraben sind: deutliche und breitflächige Spuren großer Schneidezähne in jenen Teilen, die einst von Fleisch umgeben waren, in den übrigen feinere Abdrücke wie Nagespuren großer Mäuse. Einige lange Knochen sind geborsten. Die intelligenten Primaten brachen sie mit Hilfe von Faustkeilen, die sie aus in Stücke geschlagenen Felsbrocken herstellten, um das Mark herauszusaugen, und sie zerschlugen die Schädel der Pflanzenfresser, um ihr Gehirn zu verzehren. Die Werkzeuge finde ich zwischen mit Kalk überzogenen Tiergerippen.

Das Zusammenleben der beiden Spezies – die Bären dreimal so groß wie die Affen, zudem behende und wild, so daß selbst der kleinste von ihnen den stärksten der Hominiden mit der bloßen Faust hätte zermalmen können – gestaltete sich lange Zeit als friedliches Miteinander. Die Bären brachten ihre Beute in die Höhle. Von meinen quasi-intelligenten Primaten jagten nur die Männchen kleinere Nagetiere (so man es jagen nennen will). Die Weibchen gaben sich auch mit Insekten zufrieden und sammelten ein paar verkümmerte Pflanzen: Beeren, Blätter, Wurzeln.

Primaten und Bären waren in bezug auf ihre Nahrung wenig wählerisch. Auf der einen Seite rohe Gewalt, auf der anderen der bewußte Einsatz der Hände, die Fähigkeit, Werkzeuge zu bauen und anzuwenden. Dabei ignorierten sie einander: die Bären zurückgezogen in den tieferen Höhlen, jeder für sich allein; die Affenartigen im Rudel, organisiert in einer rudimentären Gesellschaft.

Ihr Gemeinschaftssinn ist einer der Gründe, warum die Brüder eben diese Primatenspezies auswählten.

An den Höhlenwänden entdecke ich ein paar Gravuren, die an ihre bemerkenswerteste Eigenart erinnern. Die Bilder sind nur angedeutet, grobe Ritzungen, fast könnte man sie mit der natürlichen Felsstruktur verwechseln, doch ich bin Enki, der Fähige, und ich dechiffriere auch die wirrsten Zeichen. So stelle ich widerwillig fest, daß die Primaten, furchtsam und vom Hunger eingeschüchtert, als Dank für die kärglichen Überreste, die sie bekamen, pflanzliche Opfergaben vor den Schlupfwinkeln der Bären ablegten, als seien die Bestien göttliche Wesen.

Kurz nach Ankunft der Brüder entfesselten die humanoiden Wesen auf ihre Anweisung einen Krieg und töteten die ehemaligen Gefährten. Sie waren gelehrige Schüler. Auf der größten Wand in der zentralen Höhle – obgleich sehr rudimentär gezeichnet, läßt sie sich doch deutlich erkennen – ist in ihrer ganzen Erhabenheit und Machtfülle die Große Mutter Ishtar abgebildet, die in der Rechten einen Knüppel schwingt und in der Linken den Schädel eines Bären hält, als blutgefüllten Kelch. Es ist nicht schwer, die Lust am frischen Blut zu lehren.

Die schwierigste Aufgabe liegt nun bei mir, und ich werde sie in aller Einsamkeit und Stille durchführen müssen. Die Brüder sind fern, es wäre nicht klug, miteinander zu kommunizieren.

In einem Raum ohne Ausgang im entlegensten Teil der Höhle finden sich noch die Spuren der letzten Schlacht. Die Abdrücke von Primatenpfoten führen in frenetischer Bewegung hierhin und dorthin, darunter mischen sich die Spuren der Sohlengänger. Während des hitzigen Kampfes schlugen die Bären ihre Krallen in die Wände im Versuch, hinaufzuklettern und so dem Angriff zu entgehen. Die Brüder hatten die zukünftigen Menschen den Gebrauch des Feuers gelehrt. Die Kohlespuren sprechen Bände. Sie stammen von den herabfallenden Resten der brennenden Fakkeln, mit denen die Menschenwesen die Bären aus ihren Schlupfwinkeln aufscheuchten, um sie durch die langen Gänge tief in die Höhle hinein- und schließlich an der hintersten Höhlenwand zusammenzutreiben. Mit Keulen und Faustkeilen bewaffnet, griffen sie dann aus sicherer Entfernung an. In dieser Halle ruht der Schädel eines riesenhaften Bären auf dem Sockel eines Felsvorsprungs, geisterhaft mit einer feuchten Kalkschicht überzogen.

Das Massaker an den Bären war nur der Beginn. Nun ist es an mir, Enki, dem Fähigen, das Werk der Brüder fortzusetzen.

Hinter einem Felsen verborgen, beobachte ich sie seit einigen Stunden. Der kleine Platz vor dem Höhleneingang und der Hang davor sind mit ihren Abfällen übersät, den schmutzigen Spuren ihres trostlosen Lebens.

Die vielen hundert Jahre Eiszeit haben die Bäume unter Moos und Flechten erstickt. Beeren und Früchte sind rar, die Vegetation erholt sich nur langsam. Seit meine quasi-intelligenten Affen die Bären getötet haben, haben sie Mühe, an wertvolle Proteine heranzukommen. Sie sind langsam, sie sind geschwächt, zudem werden sie immer unbeweglicher und haben niemals schwimmen gelernt, die Fische flüchten vor ihren plumpen Bewegungen, ihre Steine treffen nur selten einen Vogel. Sie entwickeln sich langsam, aber unaufhaltsam zurück. Schon haben die Grunzlaute der Jüngsten jegliche Bedeutung verloren, sie kommunizieren nicht mehr miteinander, sondern schreien nur ihre Wut, ihren Hunger, ihren Schmerz heraus.

Ein feiner grauer Regen fällt herab, wie flüssiger Nebel. Ein Weibchen wiegt ihr abgemagertes Junges in den Armen. Sie versucht ihm ein wenig von ihrer Körperwärme zu spenden, hält es umschlungen, um ihm Leben einzuhauchen. Doch das Kleine wird sterben, nicht mehr lange, dann wird es mit ihm zu Ende sein.

Ich könnte meine Macht beweisen und es mit einer Handbewegung heilen. Doch das wäre verfrüht, die Brüder würden es nicht gutheißen, ich muß die Zeit abwarten, die es braucht.

Die Männchen machen in der Umgebung Jagd auf Nagetiere. Die Weibchen sammeln rund um die Höhle alles, was irgendwie eßbar erscheint. Zu Beginn werde ich mir ihren Hunger zunutze machen müssen, um sie anzuspornen.

Der Auslöser wird der Hunger sein, dann werden sie lernen müssen, ihre Feinde zu erkennen und zu hassen, und sie werden lernen, aus reiner Mordlust zu töten.

Im Falle der Bären muß es sehr schwer gewesen sein, den Überlebensinstinkt zu überwinden, der die beiden Arten aneinanderkettete. Der wechselseitige Nutzen während der harten Jahrhunderte der Eiszeit hatte sie solidarisch verbunden. Doch die Brüder konnten ihnen das Verlangen nach Macht einpflanzen und den Haß, der ihnen die nötige Kraft gab. Gelobt seien die Brüder: El, der Höchste, Ishtar, die Schöne, Heruka, der Unerschaffene. Und gelobt in alle Ewigkeit sei Er, der Erste, der Unerreichbare.

Doch die härteste Aufgabe liegt nun bei mir: Darum nennen sie mich den Fähigen, ich habe Erfolg, wo andere versagen.

Auf der Wasseroberfläche spiegelt sich ein feiner, lichterfüllter Riß in der Wolkendecke. Die zwei Rudel kommen näher, um diese Zeit versammeln sie sich zu beiden Seiten der Wasserstelle. Seit undenkbaren Zeiten suchen sie gemeinsam die Quelle auf, schöpfen gleichzeitig Wasser, löschen ihren Durst und füllen ihre Gefäße, um dann unter Spritzen und Prusten ihre Leiber zu erfrischen. All dies tun sie gemeinsam. Kämen sie nacheinander, wäre das Wasser für die später eintreffende Herde schlammig und ungenießbar.

Die Verrichtungen zu beiden Seiten der großen Lache erinnern an ein Ritual. Die beiden Rudel ignorieren einander, würdigen sich keines Blickes. Die zweite Gruppe kommt von weiter her, sie bewohnt eine Höhle jenseits des Hügels; diese Tiere ernähren sich auf dieselbe Art, und auch sie verstehen es, Werkzeuge herzustellen und einzusetzen. Und doch sind sie anders, etwas größer, die Stirn niedriger, der Schädel länglich, ihre Zähne breiter, aber nicht so scharf. In ihrem Blick liegt der ruhige Gleichmut der Pflanzenfresser: Sie haben nicht die Bären bezwungen, sie wissen nicht, wie Blut schmeckt.

Ich habe den Stein an den Tümpel gelegt, auf die Seite der Bärenbezwinger. Ich habe ihn auf einer kleinen Erhebung so ausgerichtet, daß er im ersten Tageslicht erstrahlt, das an das Ufer fällt. Ich habe ihn so modifiziert, daß er dem Bärenschädel in der Höhle gleicht. Zumindest ist dies das erste Bild, das erscheint. Doch ich habe lange an ihm gearbeitet. Sobald mehr Licht darauf fällt und ihn von allen Seiten beleuchtet, bevölkert sich seine rauhe Oberfläche mit weiteren Bildern, darunter die eindringliche Mahnung, sich an das Massaker zu erinnern. Der Aufruf zum Haß. Das Gebot, zu herrschen. Die Vorstellung von Mein, das nicht Dein ist, und Dein, das noch nicht Mein ist, der Wille, etwas in den eigenen Besitz zu bringen, der Wille zur Macht. Die Gewalt. Nicht umsonst bin ich Enki, der Fähige.

Die ersten sechs Tage tun die Bärenbezwinger so, als beachteten sie den Stein nicht. Diese Verstellung entspricht ihrem Charakter. Während die Hominiden des auserwählten Stammes auf ihrer Seite des Tümpels trinken und Wasser schöpfen, erhebt sich der Stein einsam an dem breiten Ufer. Die Herde bildet einen Kreis um ihn, alle senken die Köpfe wie Unterjochte. Die Lichtspiele auf dem gekräuselten Wasser bringen Bewegung in die Bilder der facettierten Oberfläche des Steins und verändern sie kaum wahrnehmbar.

Am Morgen des siebten Tages tragen die Männchen, als sie an den Rand des Tümpels treten, Knüppel und Faustkeile. Für die Langhäupter von der anderen Seite des Wassers ist es ein Tag wie jeder andere, der Stein lediglich ein Felsbrocken, den der Widerschein des Lichts auf dem Wasser fast unsichtbar macht.

Der Überfall kommt so unerwartet und stellt einen so außergewöhnlichen Bruch des seit Jahrhunderten währenden Friedens dar, daß die Glupschaugen der Langhäupter reglos in den Himmel stieren, als der erste scharfe Faustkeil über den Tümpel geflogen kommt, einem Alten des Clans die niedrige Stirn zerschmettert und ihn zu Boden wirft. Die Langhäupter scharen sich um den Gefallenen und wenden den Blick nach oben, als erwarteten sie ungläubig einen Steinregen vom Himmel.

Der Hagel kommt. Die erwachsenen Männchen der Rundhäupter folgen dem Beispiel ihres Anführers und schleudern ihre Faustkeile, die Geschosse treiben das Rudel am anderen Ufer auseinander, mindestens zehn von ihnen stürzen blutend zu Boden.

Die Bärenbezwinger, auch ihre Weibchen, werfen sich in den Tümpel, stürmen hindurch und fallen über die Langhäupter her, die Knüppel fest in den Händen haltend. Mit Wucht lassen sie sie niedergehen, ich höre die Knochen der Widersacher splittern.

Sie reagieren ihren in schier endlosen Friedenszeiten angestauten Zorn ab, das flache Wasser des Tümpels färbt sich rot.

Einigen Langhäuptern gelingt die Flucht. Als sie weit genug weg sind, um keine Verfolger mehr fürchten zu müssen, dreht sich ein Langhauptweibchen um, hebt die Arme zum Himmel und schreit: »Tohu-Bohu!« – Verzweiflung, Tod, Chaos.

In der folgenden Nacht kehren die Rundköpfe scheu und verstohlen wie Mäuse auf das Schlachtfeld zurück. Sie reißen den Leichen die Gliedmaßen aus und zerstückeln die Leiber. Sie beugen sich über das Blut. Sie sind so gierig, daß sie noch vor Ort ihr Mahl einnehmen, am Rande des Tümpels. Als sie satt sind, überlassen sie die Leichenreste den Vögeln. Sie haben schnell gelernt, sie sind brave Schüler.

»Tohu-Bohu!« Es irritiert mich, wenn sie diese Laute ausstoßen. Von mir haben sie das nicht gelernt, sie müssen es sich bei den Langhäuptern abgeschaut haben, die die Gegend mittlerweile verlassen haben. So bleibt von den Unterlegenen nur der Schrei zurück, mit dem mich ihre Bezwinger begrüßen, wenn ich mich dazu herablasse, ihnen in all meinem Glanz zu erscheinen. Denn ich habe beschlossen, mich hin und wieder zu zeigen, um ihre Folgsamkeit zu belohnen. Sie begrüßen mich, indem sie gemeinsam die Klage der Besiegten anstimmen.

Sie lernen schnell. Schon bearbeiten sie ihre Faustkeile von beiden Seiten, um ihre Schlagkraft noch zu erhöhen. Den Stein, den ich an den Tümpel gelegt hatte, haben sie in die Höhle getragen.

Ich habe ein junges Weibchen von den anderen isoliert und in eine Grotte in der Steilwand des Canyons gesperrt, auf dessen Grund der mit jedem Tag stärker anschwellende Fluß verläuft. Um sie dorthin zu bringen, habe ich sie in einen todesähnlichen Schlaf versetzt. Sie kann nicht fliehen, die Höhle liegt in schwindelerregender Höhe, die Wände fallen steil ab. Am Anfang versteckte sie sich vor mir, wenn ich ihr erschien, zog sich in die Tiefe der Grotte zurück, das Gesicht in den Händen verborgen und ihre übliche Klage winselnd. Wenn sie mich jedoch heute sieht, tritt sofort ein Glanz in ihre Augen.

Von den Steinen, die ich neben ihr zurücklasse, wenn sie schläft, lernt sie nach dem Aufwachen die Namen der Dinge. Jeden Tag lernt sie eifrig und schnell neue Wörter. Die vielfältigen Bilder, die jeder der Steine in sich trägt, lehren sie die Sprache: An dem konkreten Namen einer Sache oder eines Tieres kann sie im Geiste schon eine abstrakte Idee ableiten, jede Metapher gebiert eine neue. In mir hat sie einen guten Lehrer, denn ich bin Enki, der Fähige.

Ich werde mich mit ihr paaren, nachdem ich ihren Leib modifiziert habe, um sie mir ähnlicher zu machen. Sie ist die kräftigste und gesündeste des Stammes, sie wird den Eingriff gut überstehen. Ich werde sie mit all den Künsten besitzen, die mir zur Verfügung stehen, auch darum nennt man mich den Fähigen.

Ich habe das Opfer gefordert. Sie hielten sich in Verteidigungsstellung, die erwachsenen Männchen scharten sich schützend um die Gruppe der Weibchen und Jungen.

Ich habe meine Aura schillern lassen. Der Sonnenstrahl, der seit einiger Zeit immer häufiger das Schwarzblau der Wolkendecke durchbricht, hat sich in einen Blitz von solcher Intensität verwandelt, daß sie geblendet waren.

Der Alte, ihr Anführer, hat das schönste und gesündeste junge Männchen ergriffen und die geblendeten Augen in meine Richtung gewandt in Erwartung der Befehle.

Ich habe das Zeichen gegeben. Der Alte hat den Jungen in die Höhle geschleppt. Die anderen sind ihm gefolgt. Ich habe sie lange singen hören. Vor dem Ritual singen sie mein Lob. Dann vernahm ich den Schrei. Es war tiefe Nacht, als der Alte wieder vor die Höhle trat. Er reckte mir den hohlen Astknoten einer Korkeiche entgegen, und der Schein meiner Aura ließ das Blut und das Herz darin funkeln wie einen kleinen roten Mond.

Ich bin Enki, der Fähige; und sie sind meine gelehrigen Schüler, sie lernen gut und schnell.

3 Davide Chefas Haus auf der InselMärz 2001

Ich war todmüde, als ich gestern zu Bett ging. Die Versuche, an die Daten im Computer zu gelangen, hatten mich völlig ausgelaugt. Diese Technologie überfordert mich immer noch, obwohl ich längst geübt darin sein müßte. Chefas Erzählung – das Massaker an den Bären, die Hominiden, die sich gegenseitig bekämpfen, das geheimnisvolle, blutrünstige Wesen, das den Primaten seinen Willen aufzwingt, und all das – hinterläßt in mir einen unangenehmen Nachgeschmack, wie eine melodramatische Musik, die einem nicht mehr aus dem Kopf will.

Im Arbeitszimmer – meinem liebsten Aufenthaltsort, da das Fenster auf das Meer hinausgeht und mir das Gefühl gibt, ich sähe von der Brücke eines Bootes direkt auf das Wasser – stieß ich auf eine Luke in der Decke. Als ich sie öffnete, kam mir eine Leiter entgegen. Ich kletterte hinauf und fand mich auf einem aus Brettern gezimmerten Dachboden wieder, von dem mir der Geruch nach Staub und abgestandener Luft entgegenschlug. Da ich keinen Lichtschalter für die Glühbirne finden konnte, die, staubbedeckt und mit Spinnweben umgarnt, einsam von der Decke herabhängt, beschloß ich, die Erforschung des Raumes bei Tageslicht fortzusetzen. Ich klappte die Falltür wieder zu und ging schlafen.

Ich erwache in aller Frühe, auch heute ist es das Tosen der heranbrandenden Flut, das mich weckt.

Der Vormittag verstreicht in der trägen Erwartung, daß mich die Lust überkommt, weiter in den Dokumenten auf dem Computer zu lesen. Die Zeit vergeht rasch, und ohne es zu bemerken, habe ich den ganzen Tag vergeudet, gefangen in wirren Gedanken. Mit der Abenddämmerung legt sich der Wind, und die Luft wird milder, die untergegangene Sonne überzieht das Meer noch kurz mit einem rötlichen Schein, bevor auch er vom dunklen Blau der Wolken verschluckt wird.

Ich gehe in den Garten. In einem Winkel am Rand des fahlgelben Gestrüpps liegt neben einem großen Stein eine Katze mit ihren Jungen. Die Katze hat ein langes weißes Fell mit rötlichen Flecken. Die Jungen scheinen das Ergebnis einer wilden Kreuzung zu sein, eines ist weiß und schwarz, ein anderes rötlich, ein drittes ähnelt, weißrot gescheckt, der Mutter. Alle drei saugen gierig wie Verdurstende am Bauch der Mutter. Doch irgend etwas ist nicht in Ordnung mit dem Tier. Steif streckt es seine Hinterläufe von sich und wird von einem Zittern geschüttelt. Auch der Kopf zuckt manchmal krampfartig hoch. Ich trete näher, um in der einsetzenden Dämmerung mehr zu erkennen. Die trüben Augen der Katze nehmen mich nicht wahr. Sie ist sehr mager, aber auf eine merkwürdige Art. Eher noch als mager wirkt sie schlaff, sie erinnert mich an das abgezogene Fell eines Kaninchens, an jene Hautlappen, die die Bauern meiner Heimat zum Trocknen über die Mauern ihrer Höfe in die Sonne hängen. Ich wage nicht, sie zu berühren, doch sie sieht ganz leicht aus. Die Kätzchen lösen sich von der Mutter, das schwarzweiß gescheckte miaut schwach, das rote tapst schwankend umher, bis es einknickt und mit dem Bauch nach oben auf dem Boden liegenbleibt und dabei weiter mit den Pfötchen rudert, als liefe es im Traum. Ich gehe ins Haus und fülle eine Schüssel mit Milch. Die stelle ich neben den großen Stein. Ich vermute, daß sie alle vier hungrig sind, daß das Säugen die Katze erschöpft und dehydriert hat. Diesen Eindruck macht sie mir zumindest, sie ist wie eine leere Hülle, aus der ein verzweifelter Blick fiebrig glänzend hervorsticht.