Das Elch-Paradoxon - Antti Tuomainen - E-Book
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Das Elch-Paradoxon E-Book

Antti Tuomainen

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Beschreibung

Tuomainens Romane sind wie die Filme von Aki Kaurismäki: spannend, tragisch, humorvoll und schräg. Versicherungsmathematiker Henri Koskinen hat gerade sein Leben und den ererbten Abenteuerpark wieder in Ordnung gebracht, als ein Mann aus seiner Vergangenheit auftaucht und alles wieder auf den Kopf stellt. Weitere Probleme entstehen, als der Ausrüstungslieferant des Parks von einem zwielichtigen Trio übernommen wird: Warum will die Firma «Finnische Spiele AG» die neue Elchschanze nicht an Henri verkaufen, obwohl er sie für die Hauptattraktion des Parks braucht? Und als wäre das nicht genug, steht Henris Beziehung zu der Künstlerin Laura Helanto auf der Kippe. Um diese zahlreichen Klippen zu umschiffen, muss Henri Koskinen präziser denn je rechnen.

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Seitenzahl: 323

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Antti Tuomainen

Das Elch-Paradoxon

Roman

 

 

Aus dem Finnischen von Niina Katariina Wagner und Jan Costin Wagner

 

Über dieses Buch

Verbrechen, Liebe und Finnlands größter Elch

 

Versicherungsmathematiker Henri Koskinen hat gerade sein Leben und den ererbten Abenteuerpark wieder in Ordnung gebracht, als ein Mann aus seiner Vergangenheit auftaucht und alles auf den Kopf stellt. Und das ist nur eins von Henris Problemen. Warum will ihm die Finnische Spiele AG die versprochene Elchschanze nicht liefern, obwohl er dringend eine neue Attraktion für den Park braucht? Und da auch in seiner Beziehung mit Laura alles immer komplizierter wird, steht Henri vor einer Rechnung mit allzu vielen Unbekannten.

Vita

Antti Tuomainen, Jahrgang 1971, ist einer der angesehensten und erfolgreichsten finnischen Schriftsteller. Er wurde u. a. mit dem Clue Award, dem finnischen Krimipreis, ausgezeichnet, für seinen Roman «Klein-Sibirien» erhielt er 2020 als erster finnischer Autor den Petrona Award für den besten skandinavischen Kriminalroman des Jahres. Tuomainens Romane erscheinen in über 25 Ländern und werden verfilmt, den «Kaninchen-Faktor» mit Steve Carell in der Hauptrolle bringt eine Hollywood-Produktionsfirma in die Kinos.

 

Jan Costin Wagner, Jahrgang 1972, lebt als Schriftsteller und Musiker bei Frankfurt am Main. Seine Romane um den finnischen Ermittler Kimmo Joentaa wurden von der Presse gefeiert und vielfach ausgezeichnet.

 

Niina Katariina Wagner wurde 1975 im Südwesten Finnlands geboren. Sie studierte Soziologie, Psychologie und Kulturgeschichte und lebt seit 2000 als freie Künstlerin in der Nähe von Frankfurt.

Impressum

Die Originalausgabe erschien 2021 unter dem Titel «Hirvikaava» bei Otava, Helsinki

 

Veröffentlicht im Rowohlt Verlag, Hamburg, Oktober 2022

Copyright © 2022 by Rowohlt Verlag GmbH, Hamburg

Copyright © 2021 by Antti Tuomainen

Dieses Werk ist urheberrechtlich geschützt, jede Verwertung bedarf der Genehmigung des Verlages.

Covergestaltung bürosüd, München,

nach einem Entwurf von Orenda Books; Design kid-ethic

Coverabbildung Shutterstock

Schrift Droid Serif Copyright © 2007 by Google Corporation

Schrift Open Sans Copyright © by Steve Matteson, Ascender Corp

Abhängig vom eingesetzten Lesegerät kann es zu unterschiedlichen Darstellungen des vom Verlag freigegebenen Textes kommen.

ISBN 978-3-644-01108-3

www.rowohlt.de

 

Alle angegebenen Seitenzahlen beziehen sich auf die Printausgabe.

Für Anu

JETZT

Um 23 Uhr bin ich durch mit der neuen Budgetkalkulation. Unter den gegebenen Umständen müssen wir die Ausgaben weiter senken und einige der bereits angedachten Investitionen wieder einkassieren. Aber ich habe mich bemüht, allen Mitarbeitern gerecht zu werden und alle Abteilungen unseres Unternehmens gleich zu behandeln.

Mein eigenes Gehalt habe ich erst mal ausgesetzt und einen Krisenplan ausgearbeitet, der uns in der aktuellen Lage helfen wird und der vor allem auch dazu beitragen sollte, dass wir in Zukunft nicht mehr den Bankrott fürchten müssen – der uns kürzlich fast ereilt hätte.

Der Aufbau eines solchen Krisenpuffers erfordert Geduld und wird uns über Jahre hinweg einiges zumuten, aber am Ende wird es sich aller Wahrscheinlichkeit nach lohnen. Das ist das Ergebnis meiner Berechnungen, und die Mathematik ist unbestechlich. Wenn wir klug voranschreiten und uns an die Fakten halten, werden wir es schaffen. Ich habe Erfahrung in diesen Dingen.

Die Mathematik hat mir das Leben gerettet, im Wortsinn. Das ist, was sie macht, sie hilft. Sie stellt ein Gleichgewicht her, schafft Klarheit und Ruhe, lässt uns die Dinge so sehen, wie sie wirklich sind. Sie sagt uns, was wir tun müssen, um unsere Ziele zu erreichen. Auch wenn unsere Lage im Abenteuerpark DeinMeinFun zurzeit alles andere als einfach ist, sehe ich unserer Zukunft voller Zuversicht entgegen, denn ich habe mich heute Abend ganz der Rechenkunst widmen können und ermutigende Resultate erzielt.

Die letzten Besucher des Tages haben unseren Park längst verlassen, laut Wochenplan hat heute Kristian unsere Tore geschlossen. Ich bin allein. Tagsüber ist die Geräuschkulisse im DeinMeinFun wie Meeresrauschen. Jetzt haben sich die Wogen geglättet, still ruht die See. Es herrscht tatsächlich vollkommene Ruhe.

Ich gehe noch mal die Excel-Tabelle durch. Eine Zeile fügt sich in die andere, alles fließt ineinander, ist schlüssig und stimmig. Die Arbeit bereitet mir Vergnügen, es ist genau das, was ich gebraucht habe, nach all den Überraschungen und Wendungen, nach all den Aufregungen der vergangenen Zeit. Endlich wieder rechnen, auf vertrautem Terrain, solide, verlässlich. Zusammenhänge kristallisieren sich heraus.

Dann streifen meine Gedanken meinen Kater, Schopenhauer, der vermutlich Hunger hat und sich auf abendliche Unterhaltung und Gesellschaft freut (statistisch geht es ihm vielleicht mehr ums Fressen, aber wer weiß). Ich schließe das Excel-Dokument. Als ich aufstehe, fühlen sich meine Augen trocken an, ich bin fast sicher, dass sie gerötet sind.

Die Tür meines Büros steht offen. Nach wie vor herrscht Stille auf den Fluren, in der Halle. Auch Minttu K., unsere Marketingchefin, scheint nicht mehr da zu sein. Ich höre weder ihre raue, heisere Stimme noch das Radio noch ihr tiefes, von Longdrinks und Zigaretten eingefärbtes Schnarchen.

Mein Rücken ist steif. Ich sollte vermutlich mehr Sport machen, weiß aber nicht, woher ich die Zeit dafür nehmen könnte. Der Inhaber eines Abenteuerparks ist immer im Dienst. So scheint es in der Tat zu sein.

Ich sehe durchs Fenster auf den leeren Parkplatz. November. Etwas am linken Rand meines Blickfelds lässt mich aufmerken. Ich brauche einige Sekunden, bis sich mir ein Gesamtbild erschließt. Das Ding liegt genau zwischen zwei Laternenmasten, beide Lichtkegel versanden, berühren den Gegenstand nur ganz flüchtig, aber die Formen schälen sich heraus.

Ein Fahrrad.

Es wurde abgestellt und sieht alles in allem so aus, wie man sich ein Fahrrad vorstellt. Seltsam ist jedoch der Standort. Der ergibt keinen Sinn. Sowohl die Straße als auch der Haupteingang unseres Abenteuerparks sind recht weit entfernt. Ich starre das Rad an und weiß nicht, was ich davon halten soll. Ein Fahrrad im Halbdunkel. Irgendjemand hat es dort abgestellt und stehen lassen.

Ich fahre den PC runter, ziehe mir meinen Mantel an und streife den Schal über. Dann lösche ich das Licht und laufe durch die dunkle Halle zum Hinterausgang. Den Haupteingang müsste ich mehrfach noch mal abschließen und kontrollieren, deshalb ist der Hintereingang praktischer. Ich gehe über die Stahltreppe hinunter in den Hinterhof und um das Gebäude herum. Der Straßenverkehr rauscht in der Ferne, meine eigenen Schritte höre ich merkwürdig laut, überdeutlich.

Die Nacht riecht scharf und herb nach Spätherbst, der Boden ist feucht, obwohl es nicht geregnet hat. Ich bleibe stehen, kann jetzt den Park und einen Teil des Parkplatzes überblicken. Hier ist das Grundstück besonders schmal, nur etwa fünf Meter trennen die Seitenwand des Parks von einem steil abfallenden Graben. Hinter dem Graben tut sich das zerklüftete Waldstück auf, an das unser Gelände grenzt. Ich laufe auf diesem schmalen Streifen am Gebäude entlang. Der Korridor scheint sich zusehends zu verengen, es ist, als würde sich der Wald kaum merklich annähern, bedrohlich, als wolle er unsere Parkhalle in Besitz nehmen. Das ist natürlich Unsinn. Wahr ist hingegen, auch wenn ich zunächst meinen Augen nicht trauen will, dass das Fahrrad verschwunden ist.

Vielleicht hatte irgendjemand noch etwas zu erledigen, im Wald, bei Nacht. Menschen sind verschieden, das weiß ich längst. Falls jemand etwas Unaufschiebbares in diesem Tannenwäldchen bei Helsinki-Vantaa, in der Nähe des Flughafens, zu erledigen hatte, etwas, das er oder sie nur hier tun konnte, ist das in Ordnung. Dann hat dieser Unbekannte also ein wenig Zeit in der Düsternis und im Gestrüpp verbracht und ist anschließend seiner Wege gegangen, um eine Erfahrung reicher. Aber diese Gedanken sind wie Streichhölzer. Kaum entzündet, erlöschen sie wieder. Es ist Wunschdenken, nichts weiter.

Und dann sehe ich es. Oder besser: ihn.

Ein Mann. Er kommt mir entgegen. Läuft direkt auf mich zu. Rennt.

Wie eine Bowlingkugel auf Beinen.

Das passt, denn wir sind auf einer Art Bowlingbahn. Der schmale Streifen Asphalt, zwischen der Wand und dem Wald, und darauf eine Bowlingkugel, die in irrem Tempo auf mich zurollt. Sehr mittig, sehr akkurat. Sie beschleunigt sogar noch mal, und ich drehe mich um und nehme die Beine in die Hand, nachdem ich endlich begriffen habe, was hier gerade passiert. Leider ist der Hinterhof deutlich weiter weg, als ich gehofft habe. Die Stunden im Büro haben mich starr und mürbe gemacht, und das Tempo der Bowlingkugel kann ich nicht halten, so viel ist klar. Egal. Einfach rennen. Ich werfe einen Blick über die Schulter. Der Mann trägt eine blaue Jogginghose und eine schwarze oder dunkelblaue Trainingsjacke. Die schwarze Mütze hat er tief ins Gesicht gezogen. Er scheint mit Raketenantrieb unterwegs zu sein, wie in einem Cartoon, in dem statt der kurzen Beine des Mannes der Staub zu sehen ist, den er aufwirbelt. Seine Arme sind wie Zylinder, die auf Hochtouren laufen. Wäre die Situation nicht so bedrohlich, würde ich mir das genauer ansehen, aus reinem Interesse. Ich renne wie ein Irrer, dennoch kommt der Mann, die Kugel, diese rätselhafte Maschine … immer näher.

Endlich erreiche ich das Ende der Hauswand, scharf rechts ist der Hinterhof mit der Laderampe und der Leiter aufs Dach. Eine andere Idee habe ich nicht. Wenn es mir gelingt, über die Leiter aufs Dach zu klettern, kann ich dem Angreifer von oben auf die Finger treten. Eine Notlösung, kein Zweifel. Aber mir fehlt die Muße, weitere Szenarien auszuloten, die Kugel rollt, und ich bin der Kegel.

Noch fünfzehn Meter. Zehn, fünf. Ich vollziehe eine scharfe Wendung, renne zur Laderampe, erreiche die Stahltreppe, erklimme die klappernden Stufen. Eine nach der anderen, erreiche die Ladebrücke, eine Art Zwischenplateau. Weiter. Schritt für Schritt, ich werde es schaffen …

Dann schlägt in meinem Rücken die Bowlingkugel ein.

Die Wucht des Aufpralls ist heftig, ich verliere den Halt, werde in die Luft geschleudert, schlage am Boden auf, versuche aufzustehen, schaffe es nicht. Auf meinem Rücken hockt ein Pferd. So fühlt es sich an. Als hätten Reiter und Pferd die Rollen getauscht.

Bowlingkugel, so nenne ich ihn jetzt, wiegt schwer, und er packt mit beiden Händen meinen Kopf. Kurze, kräftige Finger üben Druck auf meine Schläfen aus, mein Kopf wird ruckartig angehoben, dann kollidiert meine Stirn mit dem harten Stahlgitter. Einmal, zweimal, dreimal. Der Aufprall hallt durchdringend nach, lässt meinen Körper erzittern. Ich versuche, die Handgelenke des Mannes zu fassen zu bekommen, aber sie sind stabil und dick und fest mit dem Untergrund verbunden, wie Rohre eines Rohrverlegers, der ganze Arbeit geleistet hat. Es gelingt mir einfach nicht, den Mann zu stoppen. Er hämmert weiterhin meine Stirn gegen das Gitter. Immer wenn er mich an den Haaren zieht, um zum Schlag auszuholen, sehe ich für Momente links von mir lose Bretter, die ich vor einiger Zeit für Wartungsarbeiten im Erdbeer-Labyrinth verwendet hatte.

Ich strecke meinen rechten Arm aus, finde endlich Halt an einem der wie ein L geformten Holzbretter. Ich ziehe es heran, Zentimeter für Zentimeter, endlich kann ich es mit den Fingern umschließen. Bowlingkugel lässt meinen Kopf unverdrossen einen ungleichen Kampf mit dem Stahlgitter austragen. Ich kann mir kaum vorstellen, dass Metall irgendwann nachgeben wird. Die Zeit wird knapp. Ich konzentriere alle meine Sinne darauf, das Brett zu umschließen, versuche, mir ein halbwegs akkurates Bild davon zu machen, wo der Kopf und der Rücken des Mannes sein könnten, dann führe ich ruckartig den Schlag aus, so gut es eben, vollkommen entkräftet, noch geht.

Im Moment des Aufschlags ist ein merkwürdiges, überraschendes Geräusch zu hören. Weich. Feucht. Die Finger, die sich in meine Haut eingegraben hatten, erschlaffen. Das Pferd auf meinem Rücken lässt locker, schüttelt sich, und ich stütze mich auf beiden Händen ab und richte mich auf. Ich kann meine Beine bewegen, möchte rennen, aber unmöglich. Mir ist schwindlig. Ich taste mich voran, behutsam, vorsichtig. Ich werfe einen Blick zurück. Bowlingkugel starrt irgendetwas an, das in seiner Hand liegt. Dann sucht er meinen Blick. Jetzt weiß ich, wo ich ihn getroffen habe.

Auf den Mund. In seiner Hand liegt ein Zahn.

Bowlingkugel wirft den Zahn weg. Im hohen Bogen, ins Dunkel. Dann gilt seine Aufmerksamkeit wieder ganz mir. Er wischt sich mit dem Jackenärmel über die blutigen Lippen, kommt auf mich zu.

Ich drehe mich um und laufe, auf unsicheren Beinen. Das nächste ungleiche Duell werde ich nicht gewinnen. Nicht mal überleben. Bis zur Treppe sind es noch zehn Meter. Jeder Schritt erfordert Konzentration und Überwindung. Vielleicht ist mir deshalb entgangen, dass sich auf dem Treppenabsatz inzwischen eine dritte Person dazugesellt hat. Der Unbekannte trägt eine Sturmhaube, nähert sich aus dem Dunkel. Er stürzt auf mich zu, aber dann ändert er plötzlich die Richtung, lässt mich links liegen.

In den folgenden zwei Sekunden passiert Folgendes:

Bowlingkugel ist eine Handlänge von mir entfernt. Sturmhaube ist neben mir, aus der Dunkelheit kommend, vermutlich hat Bowlingkugel ihn noch gar nicht gesehen.

Sturmhaube läuft gebeugt, wie ein Rugbyspieler, schnappt sich die Erdbeere … Die Erdbeere war Teil des Erdbeer-Labyrinths, ein dekoratives Element, ich habe sie selbst hier abgelegt, um sie demnächst in Teile zu zerlegen und zu recyceln, Kunststoff in den einen Eimer, Metall in den anderen. Die Beere misst etwa 60 Zentimeter im Durchmesser und ist defekt. Mit ihren spitzen Rändern stellt sie eine Gefahr für die Kinder dar.

Ich schwanke und nehme das Geschehen eher beiläufig wahr. Sturmhaube und Bowlingkugel erreichen Höchstgeschwindigkeit und kollidieren. Prallen zusammen. Konkret ist es so, dass der Mann mit der Sturmhaube seinem Kontrahenten die Erdbeere gegen den Kopf rammt. Oder ist es eher Bowlingkugel selbst, der sich in die Erdbeere hineinwirft? Jedenfalls höre ich ein brachiales Krachen, und dann ist der Kopf der Bowlingkugel fast gänzlich mit der Erdbeere verschmolzen. Die Beere baumelt an den Schultern des Mannes, als sei sie tatsächlich sein Kopf. Die grünen Büschel links und rechts sind die Haare. Jetzt reißt eine der Stahlfedern, die die Frucht zusammenhalten, und trifft seinen Hals, seine Halsschlagader … was dazu führt, dass, nun ja …

Der Mann schwankt, stolpert, eine wandelnde Erdbeere, aus deren Hals Blut spritzt.

Mir ist schwindlig, mir brummt der Schädel, ich muss mich auf den Knien abstützen, um nicht umzufallen. Das Summen in meinen Ohren hat sicher diverse Ursachen. Sauerstoffmangel, harte Schläge gegen die Stirn und nicht zuletzt der Anblick, der sich mir bietet. Das Ganze mutet wie die Endphase eines missglückenden Zaubertricks an. Oder wie ein mehr als skurriler Rekordversuch.

Der Mann ist sicher verwirrt. Wer wäre das nicht, unter den gegebenen Umständen? Er handelt nicht vernünftig, nicht logisch. Er wedelt mit den Armen, hüpft auf der Stelle auf und ab. Obwohl er doch eigentlich besser beraten wäre, wenn er … Sturmhaube macht ein paar Schritte auf ihn zu. Er sagt etwas, das ich nicht verstehen kann, nähert sich dem anderen mit erhobenen Händen. Ich vermute, er will ihm helfen. Aber der mit dem Erdbeer-Kopf scheint das misszuverstehen, er reagiert panisch, dreht sich um, rennt los, Blut spritzt, seine kurzen, stämmigen Beine arbeiten wie Propeller. Der mit der Sturmhaube folgt ihm, ruft ihm etwas zu, was den mit der Erdbeere aber nur veranlasst, schneller zu laufen. Die Beere baumelt hin und her, Sturmhaube hat ihn fast eingeholt, aber dann erweisen sich Hilfeleistungen als hinfällig. Der mit der Erdbeere springt von der Verladebrücke in die Nacht.

Einige Sekunden lang verharrt er in der Luft, scheint zu fliegen, angestrahlt von Lichtkegeln, die Blutfontäne formt sich zu einem Bogen, er tritt ins Leere.

Dann geht die Formel nicht mehr auf.

Die Schwerkraft ist es, die am Ende den Sieg davonträgt.

ACHT TAGE DAVOR

1

Der Abenteuerpark war schon aus der Ferne zu sehen. Eine grelle gelbe, rote, orange Kiste, etwa so groß wie eine Ebene im Warenhaus Stockmann oder ein Flughafenterminal in Helsinki-Vantaa. Die Kiste war zweihundert Meter lang, fünfzehn Meter hoch, und am flachen Dach prangte in großen Lettern der Name: DeinMeinFun.

Die Novembersonne beschien das Schild mit einer gewissen Wehmut. Sie tauchte auch den Parkplatz, eine riesige Asphaltfläche mit den Ausmaßen von etwa drei Fußballfeldern, in goldenes Licht und polierte die kastenförmigen, aus Stahl und Blech gefertigten Wände.

Ich blieb an der Ampel stehen, betrachtete das Areal, den Park, und dachte einmal mehr, dass sich in meinem Leben wirklich einiges verändert hatte. Nachhaltig, einschneidend. Denn dieser Park gehörte tatsächlich mir. Der Gedanke war schön, er gab mir Kraft. Ich war wegen dieses Parks fast zu Tode gekommen, ich hatte einen gigantischen Schuldenberg abtragen müssen, ich hatte aus diesem Park eine wenn nicht gewinnträchtige, so doch immerhin überlebensfähige Unternehmung gemacht. Aller Wahrscheinlichkeit nach.

Noch vor einem halben Jahr hatte ich als Versicherungsmathematiker gearbeitet. Die Stelle war mir gekündigt worden oder eher hatte ich selbst gekündigt, nachdem man mich vor die Wahl gestellt hatte, entweder in einem Büro im Keller zu versauern oder teilzuhaben an Teambuilding und Yogakursen, was bei meinem Arbeitgeber plötzlich hoch im Kurs gestanden hatte. Unmittelbar nach der Kündigung hatte mich ein Anwalt davon in Kenntnis gesetzt, dass mein Bruder verstorben war und dass er mir diesen Abenteuerpark hinterlassen hatte. Wenig später war mir klar geworden, dass ich mit dem Park auch seine Schulden geerbt hatte. Schulden, die aus einer zweifelhaften Zusammenarbeit mit Schwerkriminellen resultierten.

So war eines zum anderen gekommen. Um den Park, die Arbeitsplätze und nicht zuletzt mein eigenes Leben zu retten, hatte ich sogar einen der Gangster mithilfe eines Ohres unseres Riesenhasen um die Ecke bringen müssen. Ich hatte, um die Schulden begleichen zu können, eine Art Kreditinstitut gegründet und dasselbe dann wieder abgewickelt. Ich hatte eine Malerin kennengelernt, die ungeahnte Potenziale in mir wachgerufen hatte. Ich hatte Schurken und Polizisten gleichermaßen in die Schranken weisen müssen. Und ich war Zeuge von Ereignissen geworden, die mich noch heute veranlassen, nach meinem Hals zu tasten, sobald sich die Erinnerung einstellt.

Unsere wirtschaftliche Lage war nach wie vor angespannt. Hätte ich etwas anderes behauptet, hätte ich lügen müssen.

Ich hatte Einsparungen auf allen erdenklichen Feldern vorgenommen, aber ich fürchtete, dass es immer noch nicht reichen würde. Ich hatte versucht, mit gutem Beispiel voranzugehen, hatte mein eigenes Gehalt gekürzt, und meine Mittagessen und Snacks in unserem Bistro, dem Krummen Kuchen, zahlte ich immer aus eigener Tasche. Die Gehälter der anderen wollte ich nicht antasten, aber die Budgets der Abteilungen mussten gekürzt werden. Ich war auf Widerstand gestoßen, hatte mir aber alle Mühe gegeben, gut und schlüssig zu argumentieren, und darauf hingewiesen, dass wir die Dinge perspektivisch betrachten sollten. Auf einen Zeitraum von fünf bis zehn Jahren. Dagegen hatte niemand etwas einzuwenden gehabt, was mir die Möglichkeit eröffnet hatte, die Sparmaßnahmen, eine nach der anderen, umzusetzen. In unserer Halle war es inzwischen 1,5 Grad kühler als noch vor einem Monat, das war bislang die effektivste Einsparung. Die Kinder bemerkten es gar nicht, und für die Mitarbeiter hatte ich neue, wohlig warme Sweatshirts anfertigen lassen, mit dem Logo unseres Abenteuerparks. Geld gespart hatte ich auch, indem ich die neue Leiter unseres Trickschlosses selbst farbenfroh bemalt hatte.

Ich überquerte die Straße und erreichte den großen Parkplatz. Meine Laune wurde Schritt für Schritt besser, mir ging durch den Kopf, dass alle Teilchen, wie in einem Mosaik, ihren Platz fanden. Die Gleichung stand mir immer deutlicher vor Augen, und ich war ganz sicher, dass sie aufgehen würde. Ich war voller Zuversicht, sowohl wenn ich die Zeitspanne seit meiner unverhofften Erbschaft in den Blick nahm als auch bezüglich der tagesaktuellen Entwicklungen.

Das hier, dieser Abenteuerpark, war mein Leben. Und vor allem, dieses Leben war wieder in Ordnung.

Ich lief zügig zum Haupteingang, die Türen glitten zur Seite, um mich in der bunten, hell beleuchteten Eingangshalle willkommen zu heißen. Spätestens hier hatte man das Gefühl, eine neue, andere Welt zu betreten. So empfand ich es auch jetzt. Und noch etwas nahm ich wahr. Es fühlte sich so an, als sei ich nach Hause gekommen. War dieser Ort, dieser Abenteuerpark, jetzt also meine Heimat, mein Zuhause?

Kristian stand schon hinter dem Ticketschalter. Er reichte gerade einem ziemlich ermattet wirkenden Mann, der mit drei deutlich dynamischeren kleinen Parkbesuchern gekommen war, die Eintrittskarten. Die Kinder liefen bereits in alle Richtungen, voller Vorfreude. Der Mann nahm die Karten entgegen, wendete sich widerwillig seinem Anhang zu und verschwand mit den dreien in der großen Halle.

Ich wünschte Kristian einen guten Morgen und erwartete eigentlich im Gegenzug ein breites Lächeln und eine ebenso enthusiastische Erwiderung.

«Morgen», sagte er, ohne den Blick von seinem Bildschirm zu nehmen.

Kristian war ein ausgezeichneter Verkäufer. Er war sehr engagiert, sehr eifrig. Oft rief er mich auch außerhalb der Arbeitszeiten an oder schrieb Nachrichten. Zum Beispiel: «Hei, Boss, hier wartet eine großartige Überraschung!» Und dann berichtete er mir bei meiner Ankunft von einer tollen neuen Eis-Sorte in unserem Café, dem Krummen Kuchen.

Kristian fand eigentlich jeden Morgen fantastisch und machte auch keinen Hehl daraus. Jetzt aber bediente er fast wütend seine Tastatur und würdigte mich keines Blickes. Ich sah mich um. Hinter mir hatte sich keine Schlange gebildet. Schon auf dem Parkplatz war mir durch den Kopf gegangen, dass heute nicht viel los war, was an einem frühen Morgen im November aber auch nicht verwunderte.

«Was für ein fantastischer Vormittag.» Das sagte ich einfach deshalb, weil ich es von Kristian noch nicht gehört hatte.

«Ja?», sagte er. Jetzt sah er mich endlich an. Er sah mir in die Augen, aber irgendwie auch daran vorbei. Als folgte er einem Impuls, mir auszuweichen. Ich wollte ihn fragen, ob es irgendein Problem gab, aber dann streifte mein Blick die große Wanduhr in der Eingangshalle. Um elf musste ich am Start sein, an der Krokodilbahn. Das war eine unserer ältesten und beliebtesten Attraktionen. Ein Dauerbrenner, ein Liebling unserer kleinen Besucher. Die Krokodilbahn war auch besonders sicher, sogar die Kleinsten, die noch gar nicht mit Worten sagen können, dass sie damit fahren möchten, durften gerne mitfahren.

Um die Sicherheitsstandards weiter hochzuhalten, hatten wir die kleinen Waggons ausgepolstert. Ich fand das übertrieben, aber Esa, der Security-Chef des Parks, wollte gegen alle Eventualitäten gewappnet sein. Und wenn Esa «alle» sagte, dann meinte er das auch. Das war mir schon vor einiger Zeit klar geworden.

Esa lag neben einem der Waggons auf dem Bauch und bearbeitete mit einem Hammer die Unterseite der Bahn, als ich ankam. Die Luft um ihn herum war stickig und schwefelhaltig, wie immer. Obwohl er am Boden lag, vermittelte er den Eindruck, jederzeit aufspringen zu können. Vermutlich hatte ich diesen Eindruck, weil er früher Sweatshirts der US-Marines getragen und betont hatte, selbst dort gedient zu haben. Diese Shirts hatte er inzwischen gegen Wollpullover mit Tiermotiven ausgetauscht, aber der Eindruck militärischer Ausbildung und soldatischer Bereitschaft wirkte noch nach.

«Wollten wir diese Sicherheitspolster nicht in den Waggons anbringen?», fragte ich.

Esa erstarrte, den Hammer in die Luft haltend. Er drehte sich nicht zu mir um, löste auch seinen Blick nicht von den Gleisen der Krokodilbahn.

«Wenn die Zeit reif dafür ist», sagte er.

«Wenn die Zeit reif dafür ist?»

«Ich muss erst die Voraussetzungen schaffen.»

Ich hatte keine Ahnung, was Esa damit meinte, aber diese Art der Kommunikation war durchaus typisch für ihn.

«Und wie lange … wirst du damit beschäftigt sein?»

«Das kann ich noch nicht sagen. Wir operieren hier unterbesetzt und haben eine schlechte Datenlage, aber das Feuer brennt ja weiter, also, du verstehst …»

«Okay», entgegnete ich. «Ich muss nur schnell um zwölf telefonieren, dann …»

«Das hier dauert länger», sagte Esa. Er sprach schneller als sonst, deutlich schneller.

Ich sah mich um. Die Krokodilbahn wieder in die Spur und fahrtüchtig zu bekommen, war nicht sonderlich schwierig. Es waren auch noch nicht allzu viele Besucher in der Halle. Die meisten waren auch eher zu alt für die Krokodilbahn. Es schien alles in allem ein ruhiger Tag zu werden. In diesem Moment ließ Esa einen fahren, kein Zweifel. Ich spürte Wärme in meinem Gesicht und hörte unwillkürlich auf zu atmen, um dem Brechreiz zuvorzukommen. Ich öffnete den Mund, spürte ein Brennen im Kehlkopf.

«Ich schaue dann nachher noch mal vorbei», sagte ich.

Esa hantierte wieder mit seinem Hammer, schwieg.

Ich wendete mich ab, lief weiter zum Rutschberg. Als ich etwa fünfzehn Meter zwischen uns gelegt hatte, wagte ich wieder, freier zu atmen.

Aus dem Krummen Kuchen kam der Duft von süßen Backwaren und Lachssuppe. Unsere kleinen Besucher machten Lärm, wie immer. Das gehörte dazu. Obwohl die Klimaanlage arbeitete, war es im Café sehr warm. Der Geruch der Süßspeisen und deftigen Suppen, die hohen Stimmen, das schallende Lachen erschöpften mich ein wenig. Wenn ich das Café verließ, verspürte ich in letzter Zeit eine merkwürdige Mischung aus Ermattung und Panik. Ich lief zur Theke, entdeckte Johanna in der Küche. Ich nahm mir aus der Vitrine ein Buttergebäck und wedelte mit meinem Teller herum, bis Johanna mich bemerkte. Sie tauchte die Pommes in kochendes Öl und kam zur Theke. Ich wollte gerade mein Gebäck bezahlen und gehen, aber Johanna kam mir zuvor.

«Ich lade dich ein», sagte sie. «Nimm dir noch ein zweites.»

Ich betrachtete den Teller in meiner Hand, das Gebäck, das darauf ruhte. Dann suchte ich wieder Johannas Augen. Schon vor Monaten, als wir uns zum ersten Mal begegnet waren, hatte ich sie unmittelbar für eine Triathletin gehalten, und ihre verhärteten Gesichtszüge hatten mich eigenartigerweise an einen Strafgefangenen denken lassen. Ich hatte sogar recht behalten.

Das Café war Johannas ein und alles. Nichts passierte hier ohne ihre Erlaubnis. Sie machte die Regeln, die geschriebenen und die ungeschriebenen Gesetze. Und sie gab niemals irgendjemandem etwas gratis. Unter keinen Umständen.

«Mir reicht dieses eine Stück», sagte ich.

«Ich dachte nur … falls du Appetit auf ein zweites hast.»

«Nach einer ersten Schätzung wird dieses hier schon ausreichen, um meinen Blutzuckerspiegel anzuheben», sagte ich. Ich fühlte mich tatsächlich sehr erschöpft, wie eine Schildkröte in Rückenlage. Unfähig voranzuschreiten, und hätte ich es gekonnt, hätte es zu lange gedauert. Das Buttergebäck würde helfen.

«Wie wäre es später mit Mittagessen?», fragte Johanna.

«Mittagessen?»

«Piraten-Fischsuppe. Das tobende Huhn oder alternativ die vegane Variante mit dem Tofu des wütenden Seeräubers. Zum Nachtisch servieren wir heute den Pudding des brachialen Barden oder die Karamellkanone. Die geht besonders gut. Ich zahle.»

«Also … ich denke, wenn ich das hier gegessen habe …»

«Wie gesagt, später», sagte Johanna.

Ich wollte etwas entgegnen, aber mir fiel nichts mehr ein, und hinter uns hatte sich schon eine kleine Schlange gebildet. Johanna bemerkte das ebenfalls. Sie nickte mir kurz zu. Ich deutete das als Hinweis darauf, dass ich mich entfernen durfte. Nachdem meine Beine gehorchten, setzte ich mich in Bewegung.

Ich steuerte mein Büro an, passierte das Erdbeer-Labyrinth, aus dem Geschrei und pochendes Getrampel nach außen drangen. Auf Höhe des Trickschlosses bog ich rechts ab, machte einen Bogen um die Schildkröten-Rennwagen, bei denen gerade unter lautem Gejubel eine neue Runde eingeläutet wurde, und dann lief ich schon über den Flur, an dessen Ende mein Büro war. Ich war schon fast am Büro von Minttu K., unserer Marketing- und Vertriebschefin, vorbei, als sie mir in den Weg trat.

«Hallo», flüsterte sie mir zu. Es war ein raues, herausforderndes Flüstern. Als wolle Minttu K. eine großzackige Säge an einen Baumstamm anlegen. Nur war ihre Stimme deutlich tiefer als der Klang der Säge. Der Vormittag war noch nicht vorüber, dennoch verströmte sie eine dichte, dunkle Duftmischung, Longdrinks und Zigaretten. Sie winkte mich mit ihrer rechten Hand heran. «Lass uns über Geld reden», sagte sie.

«Wir haben doch am Donnerstag unser Meeting, da wird es primär ums Marketingbudget gehen», entgegnete ich. «Sicher ist es sinnvoll, dann alles in Ruhe …»

Sie schüttelte energisch den Kopf, hob ihren tief gebräunten Arm. Silberringe klimperten und glitzerten. «Honey, dieser Tesla wartet nicht. Er macht Karate. Ist ein Meister darin. 35000 Follower auf Instagram.»

Sie nahm einen ausgiebigen Schluck aus ihrem schwarzen Kaffeebecher. Irgendwie fiel es mir schwer zu glauben, dass nur Kaffee darin war. Der Becher war ebenso pechschwarz wie ihr Kostüm, das zumindest eine Nummer zu klein für sie war.

«Und was wollen wir machen?», fragte ich. «Mit diesem Karatemeister?»

«Karate Kids», sagte sie. «Hier werdet ihr die Größten. Das ist der Slogan.»

Minttu K. fuhr sich durch die kurzen blonden Haare. Sie schien sich ihrer Sache vollkommen sicher zu sein. Was mich nicht überraschte.

«Also … erstens klingt das ein wenig riskant, und zweitens sind wir ja hier keine Schule für Selbstverteidigung.» Mir war schwindlig, ich schwächelte. Ich wollte in mein Büro. «Und wir haben zurzeit kein Geld für neue Projekte. Das weißt du ja.»

Minttu K. rollte eine Zigarette zwischen ihren Fingern. Ich fragte mich, woher sie die plötzlich genommen hatte. «Du lässt also diese Möglichkeit aus», flüsterte sie heiser. Ich wollte etwas entgegnen, aber sie kam mir zuvor. «Wir bleiben die ewige Nummer zwei.»

Ich war aufrichtig überrascht. Minttu K. pflegte eigentlich bis zum letzten Tropfen zu kämpfen. Sozusagen. Jetzt nippte sie recht gelassen an ihrem Becher, betrachtete die Zigarette, wendete sich von mir ab, ging zu ihrem Schreibtisch und begann, auf die Tastatur einzuhämmern, wie sie das immer tat. Als sei die Tastatur ein boshaftes Wesen, das gemaßregelt werden musste.

Ich lief weiter, mein Büro war nur noch eine Kurve entfernt. Die kurzen Begegnungen des Vormittags spukten mir im Kopf herum. Mir wurde auch klar, dass diese Begegnungen meine Ermattung verstärkt hatten. Jetzt, in der Rückschau, wurde alles plötzlich greifbarer, lebendiger, ich sah das Ganze mit neuen Augen.

Kristian hatte mir nicht begeistert einen guten Morgen gewünscht, hatte keine Verbesserungsvorschläge gehabt, keine grundlegende Reform angeregt. Esa hatte es nicht eilig gehabt, sich um die Polster für die Krokodilbahnwaggons zu kümmern. Stattdessen hatte er in aller Ruhe irgendwelche Reparaturen erledigt. Minttu K. hatte ein Vorhaben aufgegeben, noch bevor ich richtig Gelegenheit gehabt hatte, gegenzureden. Johanna hatte mir ein zweites Gebäck angeboten. Während ich darüber nachdachte und die Worte, die Johanna gesprochen hatte, nachhallten, wurde mir bewusst, dass meine Hand, die immer noch diesen Teller mit Gebäck hielt, zitterte.

Ich bog ein letztes Mal ab und erreichte endlich mein Büro. Wie angewurzelt blieb ich stehen.

Das Hefegebäck mit der kleinen Insel aus Butter machte einen Sprung.

Der Teller fiel mir aus der Hand und zerbrach in tausend Scherben.

Ein Toter war am Leben.

2

Aufgeweckte, sehr lebendige, grundehrlich dreinblickende blaue Augen. Das blonde Haar auf rechts zum Seitenscheitel gekämmt, was den Kopf darunter noch rundlicher wirken ließ. Das kleine tiefe Grübchen am Kinn.

Die Geräuschkulisse aus der Halle kam wie in Wellen. Laut brausend, dann dumpf und flach, dann wieder laut brausend, eine Welle, die mich gleich unter sich begraben würde. Die Kinder rannten und schrien und polterten, auch hier lag noch die wuchtige Süße der Backwaren und Speisen aus dem Krummen Kuchen in der Luft.

Der Mann, der mir gegenüberstand, breitete seine kurzen Arme aus, als wolle er mich begrüßen und sich vorstellen. Aber das war nicht nötig. Er war mir durchaus vertraut, ich kannte ihn. Vermutlich schoss mir ein Mischmasch aus tausend Bildern und Erinnerungen durch den Kopf, wobei die jüngsten von ihnen besonders präsent waren. Vor mir stand ein Mensch, der mir mehrere hunderttausend Euro Schulden vererbt und mich darüber hinaus fast das Leben gekostet hätte. Und nun war er offenbar, um dem Ganzen die Krone aufzusetzen, von den Toten auferstanden.

Mein Bruder Juhani.

In Fleisch und Blut. Hier, in meinem Büro.

Er machte zwei, drei Schritte auf mich zu, sagte meinen Namen, umarmte mich, drückte mich an sich. Ich war einen Kopf größer als er. Der Duft seines allzu vertrauten Aftershaves stieg mir in die Nase. Es roch nach Rauch, nach Lagerfeuer. Die Umarmung machte die Sache noch realer, haptischer, vielleicht war Juhani das bewusst. Es war unmöglich, aber unbestreitbar. Es fühlte sich an, als würde ich aus einem langen Schlaf erwachen.

Juhani löste sich aus meinen Armen, trat einen Schritt zurück und lächelte so sonnig, wie er das immer getan hatte.

«Großartig», sagte er. «Wir haben es geschafft.»

Die Lichtgeschwindigkeit beträgt dreihunderttausend Kilometer in der Sekunde. Irgendetwas in mir oder in diesem Raum hatte genau dieses Tempo. Vielleicht war es die Entscheidung, die ich traf, vielleicht war es meine Reaktion auf das Ungeheuerliche, was hier passierte. Ich war tief berührt. Wie in Trance lief ich um meinen Schreibtisch herum und setzte mich auf meinen Bürostuhl.

«Sicher fragst du dich, wo ich gewesen bin», sagte Juhani, beharrlich gut gelaunt.

«Offen gestanden, hatte ich noch nicht die Zeit, mir diese Frage zu stellen», entgegnete ich aufrichtig. Das waren meine ersten Worte. Meine Stimme kam aus der Ferne, als sei sie abgespalten von mir selbst. «Ich ging davon aus, dass du in Malmi auf dem Friedhof ruhst. Ich habe dich selbst dort beigesetzt. Ein Urnengrab, bedeckt von Sand und Erde.»

«Danke dir dafür», sagte Juhani. Er machte ein paar Schritte, stand jetzt mitten im Raum. «Aber nein, da war ich nie. Aber eins nach dem anderen. Weil du noch nicht da warst, habe ich hier schon eine kleine Runde gedreht, habe mich mit den Leuten unterhalten und ein wenig die Stimmung unter den Mitarbeitern sondiert …»

Ich starrte ihn an. Juhani schien allen Ernstes zu glauben, dass dies hier ein ganz gewöhnlicher Vormittag sei und dass wir ganz normale Geschwister wären. Irgendwie war es wohl tatsächlich so, andererseits … nein. Ich war erwacht. Genauso fühlte es sich an.

«Du hast mich hintergangen.»

Juhani hielt inne. «Das ist ein hartes Urteil», sagte er. «Aber ich gebe zu, dass die Sache einer Erklärung bedarf. Ich brauchte deine Hilfe. Wie du weißt, war die Sache hier, die Lage in unserem Park, ein wenig außer Kontrolle geraten. Diese Intervention, sozusagen eine Notbremse, war nötig. Ich brauchte meinen brillanten Bruder Henri, um diesen Schlamassel hier zum Guten zu wenden. Ich selbst hingegen musste die Biege machen. Wenn du verstehst, was ich meine. Wir taten beide, was unbedingt nötig war. Du hier im Abenteuerpark, ich auf dem Campingplatz. In Ostfinnland. Regen, Mücken. Warten. Vor allem natürlich auf das Geld aus meiner Lebensversicherung. Vergeblich, wie sich herausstellte. Lass uns das später vertiefen. In jedem Fall liegt auf der Hand, dass das Endergebnis ganz wunderbar ist.»

Juhani hatte so schnell gesprochen, dass eine Weile lang Stille herrschte, bevor ich endlich begriff, was er mir gerade mitgeteilt hatte.

«Ich hätte sterben können», sagte ich.

«Absolut, ja. Das war nicht Teil meines Plans», sagte Juhani. Er zog einen Stuhl vom Konferenztisch heran, setzte sich und klang fast beleidigt, als er fortfuhr: «Das hatte ich keinesfalls vorausgesehen … das war nicht meine Absicht …»

«Du hattest Schulden bei Kriminellen», erwiderte ich. «Gefährliche Kriminelle. Und ich war bei deiner Beerdigung.»

«Mein Anwalt meinte, es sei gut, diese Beerdigung stattfinden zu lassen.»

«Aha. Gut … obwohl du gar nicht tot bist?!»

«Nun, ich war kurz davor. Es war wirklich knapp.»

«Nein, war es nicht. Du warst lediglich auf einem Campingplatz in Ostfinnland.»

«Wenn du diese Gegend besser kennen würdest, wüsstest du, dass man sich dort durchaus den Tod holen kann.»

«Ich habe dein Chaos in Ordnung gebracht.»

Juhani schwieg. Dann lächelte er wieder.

«Wir haben es geschafft», sagte er und faltete die Hände, als wolle er sich bei irgendeiner höheren Instanz bedanken. «Hier stehen wir, als Sieger. Und ich habe jede Menge neuer Ideen.»

«Bitte was?»

«Ideen. Für unseren Park. Ich bin bereit. Sofort.»

Das ging alles zu schnell. Jemand hatte auf Vorspulen gedrückt, und ich konnte es nicht mehr stoppen.

«Ich begreife nicht, wovon du redest», sagte ich aufrichtig.

«Henri, ich bin gekommen, um dir deine Freiheit zurückzugeben», sagte Juhani. Er lächelte unermüdlich. «Ich nehme dir die Last von den Schultern. Wie man so sagt. Ich mache ab jetzt hier weiter. Ich übernehme. Mit voller Kraft. Dankbar.»

War das nur der November oder eine noch kühlere Brise? In jedem Fall war die Wahrnehmung sehr konkret, und sie weckte meine Lebensgeister und richtete meine Sinne neu aus. Ich war nicht mehr verwirrt, hatte meine Überraschung überwunden. Ich war ruhig. Wie ein Sprengstoffexperte vor dem Entschärfen einer Bombe. So hatte ich mich früher häufig gefühlt, in Anwesenheit meines Bruders. Ich sah ihm in die Augen. Erinnerte mich an alles. An unsere seltsame Kindheit, das ewige Chaos, das unsere Eltern angerichtet hatten mit ihrer Rastlosigkeit und ihren idiotischen Geschäftsideen. An den Kontrollverlust, an diese unruhige Jugend, in der wir von einem Ort an den nächsten gezogen waren. Dann hatte Juhani eine unsinnige Unternehmung an die andere gereiht, und auch ich selbst hatte, bevor ich diesen Park übernommen hatte, eine Durststrecke gehabt.

Mir war vollkommen klar, was ich zu tun hatte. Was diese Situation erforderte, was sie mir abverlangte: Mathematik, Logik, Vernunft. Das waren die Zutaten, die den Abenteuerpark ins Gleichgewicht gebracht hatten. In eine Phase der Klarheit, der Verlässlichkeit. Wir waren nicht aller Sorgen ledig, aber wir hatten eine Zukunft.

«Unsere finanzielle Lage ist nach wie vor prekär», sagte ich. «Wir haben eingespart, wo es möglich war. Vermutlich werden wir diesen Weg weiter beschreiten müssen. Investitionen können wir, wenn überhaupt, nur nach sorgfältiger Abwägung tätigen. Wir müssen erst mal in die Lage kommen, unsere Schulden begleichen zu können. Die Konkurrenz schläft nicht und wird in den kommenden Jahren zunehmen. Die gute Nachricht ist, dass wir auf absehbare Zeit nicht fürchten müssen, in den Fokus von Kriminellen zu geraten. Wenn wir unseren Kurs halten und unsere Budgets exakt kalkulieren, haben wir eine echte Chance, die Arbeitsplätze zu sichern und den Park in die Gewinnzone zu führen. Vielleicht werden wir irgendwann sogar den Weihnachtsbonus auszahlen können, den du der Mitarbeiterschaft in Aussicht gestellt hast.»

Juhani sah mich offen an, seine blauen Augen waren klar, die Wangen rosig. «Das klingt genau, wie ich erhofft hatte. Ich hatte nichts anderes von dir erwartet. Gute Arbeit, Mann.»

Er legte eine Pause ein. Dann fuhr er fort: «Ich werde all das natürlich im Blick behalten, wenn ich mich wieder in die Arbeit stürze und hier die Fäden in die Hand nehme. Ich garniere das Ganze nur mit meinen eigenen Gewürzen, wenn du verstehst, was ich meine. Ideen, Innovationen, Freude.»

Ich wich seinem Blick nicht aus.

«Nein», sagte ich.

«Nein?»

«Nein.»

«Was soll das bedeuten? Nein? In welcher Hinsicht?»

«In jeder Hinsicht. Dieser Park muss langfristig …»

«Henri, dieser Park gehört mir.» Jetzt klang er ein wenig beleidigt.

«Du hast ihn mir hinterlassen. Reif für die Insolvenz. Mit einem Schuldenberg, der mordlustige Gangster auf den Plan gerufen hat. Du selbst hast die Flucht ergriffen.»

Juhani neigte den Kopf. Ich kannte niemanden, der das auf eine ähnliche Weise machte. Er machte das immer, wenn er sich, auf die eine oder andere Art, ertappt fühlte. Auch wenn diese Neigung des Kopfes kaum merklich war, ließ sie mich noch klarer sehen. Vergleichbar mit der Klarheit, die sich nach einem heftigen Regenschauer einstellt. Ich wusste, dass ich recht hatte, es war, als hätte mir Juhani es gerade mit Brief und Siegel bestätigt. Mein Bruder war nicht nur zurückgekehrt. Er war auch ganz der Alte.

«Du hast deinen Blickwinkel», sagte Juhani. «Ich respektiere das. Lass uns in Ruhe reden. Du brauchst Zeit, oder? Eine Woche? Zwei? Einen Monat?»

Ich dachte darüber nach. Stellte schnelle Berechnungen an.

«Spontan würde ich sagen, dass wir von einigen Jahren ausgehen sollten. Und auch dann müssen wir in Ruhe darüber nachdenken, wie wir dich hier beteiligen können.»

Juhani schüttelte den Kopf. «Ich habe keine Jahre», sagte er. «Und der Park hat sie auch nicht.»

«Was meinst du damit?»

«Henri, siehst du nicht, was hier los ist?», fragte er. Er war ziemlich in Aufregung. Ich konnte geradezu sehen, dass er einen Gang hochschaltete. «Wie schon gesagt, habe ich hier eine kleine Runde gedreht und mit den