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Die Nummer 1 aus Finnland: «The funniest writer in Europe.» The Times Henri Koskinen, der stets an Vernunft und Ordnung glaubt, zieht bei der Malerin Laura Helanto und ihrer Tochter ein. Trotz aller Turbulenzen scheint es für den Versicherungsmathematiker und Abenteuerparkbesitzer endlich aufwärtszugehen. Doch wie lässt sich die unkalkulierbare Realität einer bunt zusammengewürfelten Familie mit den permanenten Betrügereien und kriminellen Machenschaften im Freizeitgeschäft in Einklang bringen? Vor allem wenn es nur einen gemeinsamen Nenner gibt: die geringe Toleranz angesichts einer steigenden Zahl von Leichen. Tuomainens Romane sind wie die Filme von Aki Kaurismäki: spannend, tragisch, humorvoll und schräg.
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Seitenzahl: 293
Antti Tuomainen
Roman
Die Nummer 1 aus Finnland: «The funniest writer in Europe.» The Times
Henri Koskinen, der stets an Vernunft und Ordnung glaubt, zieht bei der Malerin Laura Helanto und ihrer Tochter ein. Trotz aller Turbulenzen scheint es für den Versicherungsmathematiker und Abenteuerparkbesitzer endlich aufwärtszugehen. Doch wie lässt sich die unkalkulierbare Realität einer bunt zusammengewürfelten Familie mit den permanenten Betrügereien und kriminellen Machenschaften im Freizeitgeschäft in Einklang bringen? Vor allem, wenn es nur einen gemeinsamen Nenner gibt: die geringe Toleranz angesichts einer steigenden Zahl von Leichen.
Tuomainens Romane sind wie die Filme von Aki Kaurismäki: spannend, tragisch, humorvoll und schräg.
Antti Tuomainen, Jahrgang 1971, ist einer der angesehensten und erfolgreichsten finnischen Schriftsteller. Er wurde u.a. mit dem Clue Award, dem finnischen Krimipreis, ausgezeichnet, Klein-Sibirien wurde mit dem Petrona Award als bester skandinavischer Kriminalroman 2020 prämiert. Tuomainens Romane erscheinen in über 25 Ländern und werden verfilmt. Die Rechte am Auftakt der Henri-Koskinen-Trilogie, Der Kaninchen-Faktor, sicherte sich eine Hollywood-Produktionsfirma, in der Hauptrolle wird Steve Carell zu sehen sein.
Jan Costin Wagner, Jahrgang 1972, lebt als Schriftsteller und Musiker bei Frankfurt am Main. Seine Romane um den finnischen Ermittler Kimmo Joentaa wurden von der Presse gefeiert und vielfach ausgezeichnet.
Niina Katariina Wagner wurde 1975 im Südwesten Finnlands geboren. Sie studierte Soziologie, Psychologie und Kulturgeschichte und lebt seit 2000 als freie Künstlerin in der Nähe von Frankfurt.
Die Originalausgabe erschien 2022 unter dem Titel «Majavateoria» bei Otava, Helsinki.
Veröffentlicht im Rowohlt Verlag, Hamburg, September 2023
Copyright © 2023 by Rowohlt Verlag GmbH, Hamburg
«Majavateoria» Copyright © 2022 by Antti Tuomainen
Dieses Werk ist urheberrechtlich geschützt, jede Verwertung bedarf der Genehmigung des Verlages.
Covergestaltung und -abbildung bürosüd, München
Schrift Droid Serif Copyright © 2007 by Google Corporation
Schrift Open Sans Copyright © by Steve Matteson, Ascender Corp
Abhängig vom eingesetzten Lesegerät kann es zu unterschiedlichen Darstellungen des vom Verlag freigegebenen Textes kommen.
ISBN 978-3-644-01109-0
www.rowohlt.de
Für meinen Vater Eero, mit herzlichem Dank,
auch für fachkundigen Rat in volkswirtschaftlichen Fragen
Die fremde, dunkle Welt duftet nach meiner eigenen, in der ich mich täglich bewege, nach unserem Abenteuerpark, dem DeinMeinFun.
Nach Plastik und Metall, Reinigungs- und Desinfektionsmittel, nach zarten Aromen aus unserem Café, dem Krummen Kuchen. Die Belüftung surrt und brummt genau wie bei uns, und draußen, außerhalb der weitläufigen Halle, wirbelt der Nordwind Schnee auf und stellt die hohen Blechwände auf die Probe.
Abgesehen davon ist es still.
Ich kann nicht behaupten, dass ich entspannt wäre. Oder gar unbefangen.
Ich bin gelernter Versicherungsmathematiker. Kein Einbrecher.
Trotzdem bin ich in dieser Nacht in den Park der Konkurrenz eingedrungen. Ich habe mir unbefugt Zugang verschafft. Ich brauche Informationen, die ich auf andere Weise nicht beschaffen kann. Gilt das als Diebstahl? Rechtfertigen alle Einbrecher ihre Taten so? Man braucht etwas, also holt man es sich? Und man entwendet ja nur, was man unbedingt benötigt?
Ich atme tief ein. Später kann ich über diese Fragen nachdenken, nicht jetzt. Ich rufe mir in Erinnerung, dass die Eigentümer der Purzelbaumwelt sich in den Monaten ihres rasanten Aufstiegs sehr danebenbenommen haben: Sie haben sowohl mich persönlich bedroht als auch unmissverständlich das Ziel ausgegeben, meinen Park in den Konkurs zu treiben. Je schneller, desto besser, so lauteten die Worte.
Hier und da dringt ein wenig Licht herein. Schatten tanzen an den deckenhohen Fenstern. Grün schimmert ein Schild mit der Aufschrift: Notausgang. An der Hallenwand prangt das Logo des Abenteuerparks, eine große, schummrige Sonne. Es dauert einige Sekunden, dann gewöhnen sich meine Augen an die Dunkelheit. Die Konturen treten hervor, die Gerätschaften und Attraktionen nehmen Formen an, die Szenerie wird tiefer, Details zeichnen sich ab.
Die Topografie der Halle habe ich von meinem letzten Besuch, der bei Tageslicht stattfand, noch ziemlich gut vor Augen. Natürlich erinnere ich mich auch an das Hausverbot, das mir bei dieser Gelegenheit erteilt wurde.
Ich kann den Elefanten-Scooter, den Känguru-Ring und den beachtlich hohen Eiffel-Kletterturm erkennen. Und ich wundere mich einmal mehr darüber, dass die Betreiber der Purzelbaumwelt ihren begeisterten Gästen das Ganze zum Nulltarif anbieten können. Wenn man bei den Fakten bleibt, gibt es nur zwei Erklärungen: Entweder streben diese Leute zügig einen Konkurs an, oder es gibt Hintermänner, denen Geld vollkommen egal ist. Beide Alternativen erscheinen nicht plausibel.
Ich bin immer noch ein Laie, wenn es um unbefugtes Eindringen in Räumlichkeiten geht, aber immerhin habe ich die richtigen Schuhe angezogen. Die bunten, preisgünstigen Sneakers von einer deutschen Supermarktkette sind angenehm weich und haben eine dicke Sohle, die meine Schritte abdämpft. Ich bin nahezu geräuschlos unterwegs.
Meine erste Station heute Abend ist der Büroflügel des Parks, gleich hinter der Kletterwand mit Meerkatzen. Ich erwarte nicht, auf dem Schreibtisch des Geschäftsführers einen Bericht zu finden, der alles erklärt, aber Informationen erhoffe ich mir schon. Informationen darüber, wie den Eigentümern der Purzelbaumwelt die Quadratur des Kreises gelungen ist. Das Unmögliche haben sie offenbar möglich gemacht: Gewinne zu generieren, während man ununterbrochen Verluste einfährt. Ich hoffe, am Ende dieses Rundgangs endlich klarer zu sehen.
Die Meerkatzen schweigen, während ich an ihnen vorüberschleiche. Einerseits weil sie aus Kunststoff sind, andererseits weil ihnen über Nacht der Strom abgestellt wurde. Sie werden erst wieder klettern, sobald sich morgen die ersten Besucher einfinden.
Über eine kleine Treppe gelange ich in den Büroflügel. Der Bereich ist nicht mit Türen gesichert, ich laufe unbehelligt weiter und stoße auf die Fensterwand, hinter der sich der Konferenzraum befindet. Ich trete ein, sehe mich um, im Halbdunkel. Mitten im Raum steht ein langer, grauweißer Tisch, schräg zur Eingangstür positioniert und umgeben von dunkelblauen Plastikstühlen. Das ist alles, ansonsten ist da nur noch ein Flipchart vor der Wand. Das sehe ich mir näher an, schlage die Seiten zurück. Es scheint ums Mittagessen zu gehen, thailändisch hat mit vier Stimmen gewonnen, Burger waren mit drei knapp unterlegen.
Ich blättere weiter, finde nichts, halte inne. Doch, da war was. Ich blättere um, irgendwas an der letzten Seite war wichtig. Da stehen vor allem Zahlen. Zahlen und Monate. Das laufende Jahr. Hinter Januar die Ziffer 100. Hinter dem Februar eine fette Null. So geht das weiter, ins Negative tendierend:
März: minus 100
April: minus 200
Mai: minus 300
Und so weiter, bis zum Dezember mit minus eintausend. Das ist klar und einprägsam, trotzdem habe ich keine Ahnung, was es bedeuten soll.
Ich gehe zurück in die Halle. An einer der Seitenwände hängt ein riesiges Plakat. Sieht nach einem Nationalpark aus, nach Safari. Wenn man die Angestellten dieses Unternehmens kennengelernt hat, wirkt es ein wenig seltsam, denn keiner von denen macht den Eindruck, ein großer Wanderer zu sein. Links von der Plakatwand sind zwei Türen, die erste der beiden ist nicht abgeschlossen. Sie geht einfach auf. Bestens. Der Raum ist eher Lager als Büro und vollgestellt mit Zeug, von noch eingepackten Flachbildfernsehern bis zu Haferkeks-Packungen aus dem Großhandel.
Ich sehe mich um. Diese skrupellosen Typen, die mich bedrohen, die versuchen, unseren Park in den Konkurs zu treiben, scheinen ziemlich alltäglich in allem anderen zu sein, was sie tun. Hinter der nächsten Tür müsste sich eigentlich die Schaltzentrale befinden. Das Nervenzentrum dieses Parks. Ich trete ein.
Auf dem Tisch des Büros liegen Papiere und Werkzeug gestapelt. Eine ölbefleckte Zange auf einem Stapel Papier. Ein verschmutzter Arbeitshandschuh auf einem zweiten Stapel. Nur ein Handschuh, der andere fehlt. Ich sehe auch nicht die Berichte, die ich suche. Jedenfalls nicht auf den ersten Blick. Die Berichte, die in meinem Beisein kürzlich erwähnt wurden und die mich ganz besonders interessieren. Ich trete an den Tisch heran, möchte alles genauer unter die Lupe nehmen. Und dann wird mir zweierlei klar.
Erstens: Mein Herz hat zu laut geschlagen, hat alles andere übertönt. Zweitens: Ich habe meine Taschenlampe nicht ausgeschaltet, obwohl in diesem Büro die Jalousien nicht ganz heruntergelassen sind.
Ich schalte die Lampe aus. Versuche, ruhig zu atmen. Ruhig und regelmäßig. Es fällt mir schwer. Wie gesagt, Industriespionage und Einbrüche zählen nicht zu meinen Stärken.
Endlich beruhigt sich mein Herz, das Rauschen hinter meiner Stirn ebbt ab. Ich bin mir noch nicht ganz im Klaren darüber, warum ich plötzlich so beunruhigt war. Ich gehe zur Tür, lausche. Aus der Halle dringen Geräusche herüber, ein dumpfes Schlagen. Genau. Dieses Schlagen habe ich vor einigen Sekunden schon einmal gehört. Jetzt ist es still. Ich husche über den Flur zurück in die Halle, bleibe an der Wand stehen. Ich warte, lange. Nichts. Ich lasse meinen Blick über das Halbdunkel wandern. Von links nach rechts und zurück. Der Eiffelturm, die ebenso turmhohen Kängurus mit den überdimensionierten Boxerhandschuhen. Und …
Der Biber.
Genauer gesagt, der Biber von 18 Metern Durchmesser, mit integrierten Hüpfburgen und Rutschen. Die Attraktion schlechthin in diesem Park. Das Ding liegt bäuchlings in der Halle, ein gigantischer Nager. Ich sehe nur einen Teil, der Sprungturm und die Elefanten versperren mir die Sicht. Immerhin sehe ich das Maul des Bibers. Die riesigen weißen Schneidezähne leuchten sogar in der Dunkelheit grellweiß. Aber meine Aufmerksamkeit wird von etwas anderem beansprucht.
Am Boden, unter den Zähnen, sozusagen im Maul des Tiers, liegt irgendetwas.
Was immer es ist, es liegt ohne Regung. Und der Biber ist zu weit entfernt, als dass ich erkennen könnte, was er da gerade vertilgen möchte. Es erscheint unwahrscheinlich, dass jemand diesem Biber etwas zum Fressen hingestellt hat, für einen Mitternachtssnack. Aber es sieht danach aus. Ich will gerade meinen Blick abwenden, als im Bibermaul etwas in Bewegung gerät. Kommt mir jemand entgegen, schält sich jemand aus der Dunkelheit heraus? Nein. Jetzt erkenne ich endlich, womit ich es zu tun habe.
Ein Arm fällt schlaff herunter, und neben dem Arm liegt ein Hut. Ein Stetson-Hut. Unverkennbar, auch auf die Entfernung.
Mein Herz hat wieder begonnen, laut zu pochen, das Rauschen in meinen Ohren wäre auch dann nicht lauter, wenn ich direkt an der Autobahn stehen würde. Die Rechnung, die ich anstelle, ist simpel. Da hinten beim Biber liegt ein Verletzter. Jemand braucht Hilfe. Das ist eine Tatsache, unabhängig von der Frage, ob ich als Versicherungsmathematiker oder Einbrecher unterwegs bin (und ich bin nach wie vor unschlüssig, ob ich wirklich berechtigt wäre, mich Einbrecher zu nennen). Hier ist niemand, außer mir. Ich muss dem Verletzten helfen. So einfach ist das, einfache Rechnung, simpel gelöst.
Ich gehe zum Biber.
Ich muss einen weiten Bogen laufen, um andere Attraktionen dieses Abenteuerparks herum. Ich laufe auf leisen Sohlen, nach wie vor. Ich umkurve einen Eckpfeiler des Eiffelturms und finde mich fast im riesigen Maul des Bibers wieder. Kurz bevor ich die Zähne streife, halte ich inne, trete einen Schritt zurück.
Dieser Cowboy kommt mir bekannt vor. Stiefel, Jeans, ein fesches Rodeo-Hemd, eine schmale Krawatte mit Vögeln. Ich kenne den Mann. Ich kenne sogar seinen Namen. Er ist Eigentümer dieses Parks. Ich habe ihn kürzlich getroffen, habe ihm die Meinung gegeigt, habe ihm gesagt, was ich von seinen Geschäftspraktiken halte. Ich habe ihm dringend empfohlen, sein Verhalten zu überdenken. Vor allem habe ich im Beisein von Zeugen betont, dass ich nicht weichen werde und dass ich alles tun werde, um meine Interessen, genauer gesagt die Interessen meines Abenteuerparks, zu schützen.
Jetzt liegt er da. Seine Augen und sein Mund stehen offen. Im Rachen des Mannes steckt die Spitze einer überdimensionierten Eiswaffel. Die Waffel ist aus Kunststoff, aber die Spitze ist aus Stahl. Vage streift mich der unsinnige Gedanke, dass das hier eine Werbung für Eis sein könnte, eine komplett missglückte.
Ich bin unschlüssig, kann keinen Schritt machen, weder vor noch zurück.
«Mörder!»
Der Schrei kommt vom Haupteingang. Schritte. Jemand rennt. Die nächsten Sekundenbruchteile sind angefüllt mit Eindrücken. Der Tote am Boden, das vertraute Gesicht des anderen, der auf mich zurast. Die Sache sieht übel für mich aus. Ich wende mich ab. Nur weg, weg von hier. Und dann ertönt eine zweite Stimme, aus der Gegenrichtung:
«Polizei. Tun Sie nichts. Einfach stehen bleiben.»
Von wegen. Ich laufe, endlich. Zum Hintereingang, durch den ich reingekommen bin. Wäre ich nur draußengeblieben. Aber zwei Aspekte machen Hoffnung. Erstens die Sturmhaube, die mein Gesicht verbirgt. Zweitens die Laderampe, die draußen lose an der Wand angebracht ist. Wie gut, dass ich mich für die Maskerade entschieden habe. Eigentlich wegen der Überwachungskameras, aber hilfreich auch jetzt, wo das Ganze eine unerwartete Wendung nimmt.
Die Laderampe hingegen könnte …
«Schnappt ihn euch!» Ich kenne die Stimme. «Da ist er, der Killer!»
Ich erreiche endlich den Hinterausgang, reiße die schwere Tür auf, zwänge mich durch, bin draußen. Ich verschließe die Tür, löse die Halterung der Rampe von der Wand, schiebe das Geländer der Ladebrücke vor die Tür des Hinterausgangs. Jemand hämmert gegen die Tür. Irres Geschrei. Aber ein wenig abgedämpft, Wortfetzen. Ich muss die Worte nicht verstehen, denn die Situation ist recht einfach. Wenn die mich erwischen oder erkennen, bin ich für die kein Einbrecher.
Sondern ein Mörder.
Die tief liegende, schneeweiße Januarsonne schien mir ins Gesicht, während ich durchs leere Wohnzimmer lief, die Tür zum Balkon öffnete und mich raussetzte.
Kälte umfing mich, der Schnee funkelte blitzsauber, die Bäume trugen graziös ihre Schneepelze. Irgendwo in der Ferne knarzte der Motor eines Schneepflugs. Ich atmete tief ein und aus, ließ meinen Blick über die vertraute Umgebung wandern. In diesen perfekt quadratisch angelegten Häusern kamen die Menschen in den Genuss energieeffizienter Heizungen, funktionaler Grundrisse und eines unschlagbaren Preis-Leistungs-Verhältnisses bei den Quadratmeterpreisen. So war es immer gewesen. Und ich selbst war einer dieser privilegierten Menschen gewesen.
Es war mein letzter Tag im Helsinkier Ortsteil Kannelmäki.
Meine Hände zitterten. Ich versuchte, mir einzureden, dieses Zittern wäre die logische Konsequenz der Schlepperei und Packerei und des zehnfachen Treppensteigens. Ich hatte einiges geleistet. Aber es war nicht die ganze Wahrheit.
Vor gerade mal einem halben Jahr hatte ich meine Anstellung im Risikomanagement eines renommierten Versicherungsunternehmens verloren. Ich war Versicherungsmathematiker gewesen. Beruf und Berufung. Dann war ich in eine Situation hineingeraten, in der ich zwischen Rückstufung oder Kündigung hatte wählen müssen. Ich hatte gekündigt.
Wenig später war ich plötzlich Erbe des Abenteuerparks meines Bruders. Mein Bruder hatte, zumindest für eine Weile, als tot gegolten. Ich hatte auch seine Schulden geerbt. Mein Bruder hatte sich mit Kriminellen eingelassen. Eines hatte zum anderen geführt. Logik. Reine Mathematik. Der Tote in der Kühltruhe, die erwachende Liebe zur Kunst und zur Künstlerin. Und der Kampf um den Park, den ich vor den Intrigen eines Großinvestors und Anfeindungen diverser Klein- und Großgangster hatte schützen müssen. Dann weitere Leichen und die Rückkehr meines Bruders Juhani, der es sich nicht hatte nehmen lassen, von den Toten aufzuerstehen. Was wiederum, folgerichtig, Konsequenzen nach sich gezogen hatte.
Und jetzt war ich dabei umzuziehen und Teil einer Familie zu werden, zum ersten Mal seit meiner chaotischen Kindheit und Jugend.
Das alles war ungeheuer schnell gegangen, wie im Flug. Ich weiß, das ist so ein Satz, den man gerne sagt, wenn alles den Bach runtergeht, wenn man einen bösen Fehler rechtfertigen will. Zum Beispiel, nachdem man sein ganzes Geld irgendeinem E-Auto-Konzern in den Rachen geworfen hat, nur weil kurz mal die Aktien stiegen. Oder wenn man, leicht angetrunken, auf die fragwürdige Idee kam, Slalom auf der Autobahn zu fahren. Man sagt so etwas immer dann, wenn man sich eine Zeitmaschine wünscht, um zurückzureisen und alles wiedergutzumachen.
Hier lag die Sache anders. Ich hatte mich daran gewöhnt, dass in meinem Leben so vieles gleichzeitig passierte. Dass sich die Dinge mit der plötzlichen Wucht von Meteoriteneinschlägen neu wendeten. Dass ich mich andauernd neu entscheiden musste, ob ich vom fahrenden Zug springe oder nicht.
Und Laura Helanto war, um im Bild zu bleiben, mein Meteorit. Sie war auch der Zug, der mich antrieb.
Wir hatten uns im Abenteuerpark kennengelernt, wo Laura als Leiterin fürs operative Geschäft zuständig gewesen war. Dass sie davor im Gefängnis gesessen hatte, in erster Linie wegen Betrügereien ihres Ex-Partners, hatte ich irgendwann auch mitbekommen. Und mir war klar geworden, dass sie bei uns im Park zwar den Lebensunterhalt für sich und ihre kleine Tochter verdiente, in Wirklichkeit aber eine Malerin, eine Künstlerin war. Ihre Bilder hatten mir endlich begreiflich gemacht, was Kunst ist. Mit Mathematik und mit der von mir so gerne gefeierten Logik hatte diese Erfahrung nichts gemein.
Dann hatte sich herausgestellt, dass nicht nur Lauras Kunst, sondern vor allem Laura selbst Wirkung auf mich ausübte und dass meine Gefühle von ihr sogar erwidert wurden.
Und trotz alledem …
Ich atmete wieder tief ein und aus. Die Winterluft war klar und rein, verursachte einen feinen, stechenden Schmerz im Rachen, belebte die Lungen. Das Zittern meiner Hände aber blieb. Verglichen mit meinem früheren Ich war ich inzwischen ein ziemlich waghalsiger Kerl geworden. Ich hatte den Pfad von Pascal (französischer Mathematiker, 1623 bis 1662) und Euklid (griechischer Mathematiker, drittes Jahrhundert vor Christus) verlassen. Obwohl ich früher mal diesen klugen Menschen ewige Treue geschworen hatte.
Wie oft hatte ich mich, gemeinsam mit Schopenhauer – meinem Kater, einem guten Zuhörer – über Menschen ereifert, die haltlos Risiken eingingen, die versäumten, Wahrscheinlichkeiten mitzudenken und Kosten und Nutzen abzuwägen. Und was war jetzt aus mir selbst geworden? Ein Hasardeur.
Der Januar schien gewillt, sich nachhaltig in Erinnerung zu bringen. Klar, die Sonne schien, aber die Kälte durchdrang mühelos die Kleider und die Haut und biss sich an den Knochen fest. Ich betrachtete noch einmal all das, was ich hinter mir lassen würde.
Dann wendete ich mich ab, durchschritt die leere Wohnung und ging. Ich verschloss sorgfältig die Tür, lief zügig durchs Treppenhaus und stieg in den Lkw, der vor dem Haus wartete.
Der Fahrer war ein kräftiger junger Mann mit dicken Armen, einer von diesen Typen, die auch im Winter ein T-Shirt trugen. Seiner Dauerwelle hatte die ganze Möbelpackerei nicht das Geringste anhaben können. Weil er mehrfach zwischendurch im Bad vor dem Spiegel alles wieder sortiert hatte.
Als ich ihn telefonisch mit dem Umzug beauftragt und die Zieladresse benannt hatte, hatte er sich schon als Fan des Stadtteils geoutet, den wir nun ansteuerten. Jetzt kam er wieder darauf zurück.
«Coole Gegend, da in Herttoniemi», sagte er. Er suchte meinen Blick.
Ich erwachte aus Gedanken. Small Talk war nicht gerade mein Ding, aber vielleicht gar nicht schlecht, um mich abzulenken und vor trüber Stimmung zu bewahren.
«Ja, absolut. Es ist schön da», sagte ich. «Erstklassige Verkehrsanbindung, kosteneffiziente, klug konzipierte Bauten, geradlinige Grundrisse, wunderbar funktional. Eine Wertsteigerung der Immobilien, mittel- wie langfristig, durchaus denkbar oder gar wahrscheinlich.»
Ich schwieg, warf dem Fahrer einen Seitenblick zu und fügte hinzu: «Immer vorausgesetzt natürlich, dass wirtschaftlich die Makroebene mindestens im Kontext der Rahmendaten stabil bleibt.»
Der Fahrer schwieg. Er wirkte plötzlich doch ein wenig erschöpft, konzentrierte sich auf die Straße.
«Was halten Sie davon, wenn ich beim Entladen mit den Bücherkisten beginne?», fragte er nach einer Weile.
«Okay», sagte ich.
Wir fuhren vom Ostring in die Siedlung ab, passierten die Altstadt und einen Supermarkt mit großem Parkplatz. Dann führte uns eine steil ansteigende, kurvige, schmale Straße unserem Ziel entgegen. Seit dem Small Talk hatten wir großenteils geschwiegen. Vielleicht war zum Helsinkier Stadtteil Herttoniemi einfach alles gesagt. Wir fuhren fast bis zum höchsten Punkt der Anhöhe, bogen scharf links ab und rollten auf einem Schotterweg ans Ziel. Es war tatsächlich das am höchsten gelegene Haus in Herttoniemi. Wir waren da, angekommen.
Der Fahrer stellte den Motor ab.
Ich stieg aus. Als meine Winterstiefel den schneebedeckten Boden berührten, schwanden endlich alle meine Zweifel. Es war richtig, was ich tat. Es hatte alles einen Sinn.
Und das lag gar nicht daran, dass ich, während mein Blick den dritten Stock abtastete, die vertraute Wärme empfand, die Häuslichkeit hinter den Fenstern, auf denen sich leise funkelnd die einsetzende Dämmerung des Nachmittags spiegelte. Es lag auch nicht daran, dass ich für Laura Helanto kürzlich einen Immobilienkredit mit langfristig niedrigen Zinsen abgeschlossen hatte, der uns eine Zukunft mit moderaten Wohnnebenkosten sichern würde. Auch die Sanierung der Rohre, die bereits in Auftrag gegeben war, war nicht das, was mich beschäftigte.
Nein.
Es war vielmehr das, was mich hierhergeführt hatte. Die Ereignisse der vergangenen Monate.
Laura Helanto trat aus dem Treppenhaus, aus der Haustür des Mehrparteienhauses, sie lief mir entgegen. Je näher sie kam, desto klarer stand mir vor Augen, dass ich nicht nur dabei war, umzuziehen, von einer Wohnung in die andere. Es ging nicht darum, Möbel von einem an den anderen Ort zu bringen. (Auch wenn ich natürlich gleich alles, gemeinsam mit dem Fahrer des Lkw, über die Steintreppen nach oben schleppen würde, in den dritten Stock. Wir beide würden auf das wackelige Metallgeländer achten müssen.)
Es ging um etwas ganz anderes: Ich begann ein neues Leben. Ich war dabei, mein altes gegen ein neues, besseres Leben einzutauschen.
Nicht ich, sondern mein ganzes Leben zog um.
Ich suchte Lauras Blick, fand ihn, spürte die Freude, die ich immer empfand, wenn ich ihr begegnete. Ich mochte alles an ihr, ihren neugierigen, hinter den Brillengläsern immer wachen Blick, das wilde, lockige Haar, ihre kaum merklich asymmetrischen Lippen, das klare kantige Kinn, und vor allem natürlich ihre lebenskluge, pragmatische Haltung. Sie schien mir auf allen Ebenen immer einen Schritt voraus zu sein. Als wäre sie in der Lage, meine Gedanken zu lesen. Als wüsste sie, was ich über die Dinge denke und wie ich in bestimmten Situationen agieren und reagieren würde. Ob sie auch jetzt schon wusste, worüber ich gerade nachgedacht hatte? In jedem Fall wählte sie passende Worte:
«Willkommen zu Hause, Henri.»
In den kommenden knapp zwei Stunden schleppten wir meine Sachen in die Wohnung. Der Fahrer leistete hervorragende Arbeit. Zu meiner Überraschung fand er sogar die Zeit, mit Laura ein Gespräch über die Vorzüge des wunderbaren Stadtteils Herttoniemi zu führen. Er fand nahezu dieselben lobenden Worte, die ich schon gehört hatte. Laura ließ sich gerne auf den Dialog ein, die beiden lobhudelten für eine Weile um die Wette und waren offenbar sehr zufrieden.
Danach schien alles gesagt zu sein, der Fahrer machte sich eilig auf den Weg. So wie seine Schritte im Treppenhaus widerhallten, hätte man denken können, er sei auf der Flucht.
Ich trug das Bild mit der Gaußschen Summenformel, eines meiner Lieblingsstücke, ins Wohnzimmer. Laura hatte schon meine Bücher ins Regal gestellt, das wir uns fortan teilen würden.
Lauras kleine Tochter Tuuli kam ins Zimmer und mit ihr mein Kater Schopenhauer. Sie waren gemeinsam in Tuulis Zimmer gewesen. Auch diesbezüglich hatte ich mir mal wieder zu viele Gedanken gemacht. Es war offensichtlich, dass Tuuli und Schopenhauer sich prächtig verstanden, sie hatten Freundschaft geschlossen, Schopenhauer fühlte sich wohl. Obwohl Tuuli viel mehr redete und sich viel mehr und schneller bewegte als alle anderen, denen er in seinem bisherigen Leben begegnet war.
In der Nacht, als Laura schon schlief, den Kopf an meine Schulter gebettet, lag ich wach. In meinem Kopf waren tausend Bilder. Nicht alle waren angenehm. Auf der Schwelle zwischen Erinnerung und Traum wurde ich verfolgt, ein Gangster versuchte, mich zu töten und wurde dann selbst in einem See versenkt.
Ich schrak auf und dachte an Pentti Osmala, den Polizisten vom Dezernat für organisierte Kriminalität und Wirtschaftsdelikte, der mich im Visier hatte. Ich dachte auch an meinen Bruder, an dessen fingierten Tod, an seine ungeheuerlichen Aktivitäten, seine Intrigen. Ich dachte daran, dass sich kürzlich ein zwielichtiger Investor fast unseren Park einverleibt hatte.
An all das und noch mehr dachte ich, und nicht zum ersten Mal ging mir durch den Kopf, dass es nicht nur die Mathematik gewesen war, die mich in die Lage versetzt hatte, diesen Wahnsinn zu überstehen und unseren Abenteuerpark vorläufig in ruhiges Fahrwasser zu steuern. Es war noch etwas anderes gewesen, der Faktor X, die große Unbekannte, die uns geholfen hatte – ich war in ausreichend romantischer Stimmung, um es Liebe zu nennen.
Draußen wanderte der Winterwind geduldig an den Wänden der Hochhäuser entlang, das Geräusch verschmolz mit Lauras ruhigen Atemzügen. Mein rechter Arm fühlte sich ein wenig pelzig an, weil ich ihn bewusst ruhig hielt, um Laura nicht zu wecken. Es war gut so, ich wollte mich nicht bewegen, wollte nirgendwohin. Ich wollte einfach nur hier sein.
Die unruhigen, beängstigenden Bilder begannen zu weichen. Andere Bilder griffen Raum, zum Beispiel die von unserem ersten Date. So nannte man das wohl. Das war schön gewesen und weniger riskant, als ich befürchtet hatte. Von der ersten Begegnung wanderten die Gedanken zum gerade vergangenen Tag, an dem wir gemeinsam Kisten geschleppt und ausgepackt und begonnen hatten, unser neues Zuhause zu gestalten. Irgendwann verschwanden auch diese Bilder, und ich spürte nur noch die Gegenwart und Wärme von Laura Helanto.
Zu Hause, wirklich. Endlich hatte ich den Weg an einen sicheren Ort gefunden, im metaphorischen und im ganz konkreten Sinn. (Auch wenn ich als gelernter Versicherungsmathematiker natürlich wusste, dass Sicherheit immer eine relative Größe blieb und dass im Leben nur eines wirklich sicher ist und dass dieses eine uns Menschen veranlassen sollte, gute Lebensversicherungen abzuschließen.)
Wie auch immer, dieser Gedanke war ebenso real und nah und grundlegend wie Laura neben mir, in meinen Armen.
Der Gedanke, in Sicherheit zu sein, geborgen.
Nichts und niemand würde mich jemals wieder bedrohen oder in Angst versetzen.
«Der Elternabend fängt um sechs an», sagte Laura. «Es reicht, wenn du Viertel vor da bist. Ich würde selbst hingehen, aber ich habe das Treffen in Otaniemi, und dann besichtigen wir den Ausstellungsraum. Wenn ich den Auftrag bekomme, wäre das kommende halbe Jahr abgesichert.»
Ich hatte Laura schon zweimal gesagt, dass ich gerne hingehen würde und dass es selbstverständlich sei. Wir waren jetzt eine Familie. Dazu gehörte, dass wir uns Aufgaben teilten und gemeinsam am Gelingen arbeiteten.
«Mach dir keine Gedanken, ich kriege das hin», sagte ich. Mir lag auf der Zunge, dass ich schon weit Schlimmeres und Komplizierteres überstanden hatte. Aber ich schwieg. Die Vergangenheit war genau das, vergangen, sie lag hinter mir. Ich würde nicht hierher, ins neue Zuhause, die Angelegenheiten des Abenteuerparks mitbringen. Vor allem nicht die schwierigen. Nicht mal andeutungsweise.
Laura saß mir gegenüber, sie trank ihren zweiten Morgenkaffee und ließ ab und zu den Löffel klirrend in dem großen gelben Becher kreisen. Draußen war es noch stockdunkel, Tuuli hatte sich gerade auf den Weg zur Schule gemacht. Ich war auf dem Sprung in den Park. Es war Montag, und wir begannen die Woche immer mit einem Meeting aller Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter. Ich wollte zeitig da sein, um die Unterlagen zusammenzustellen, die ich brauchen würde.
Ich stand auf, räumte die Spülmaschine ein. Das war angenehm, eine Art Mathematik des Alltags. Schon ein fehlplatzierter Topf, eine schief stehende Schüssel, ein ganz gewöhnlicher kleiner Teller konnten erheblichen Einfluss auf den Spülerfolg haben. Wie so oft ging es auch hier um Gelingen oder Scheitern. Das hatte ich Laura auch gesagt. Und ich hatte angeboten, Aufgaben im Haushalt zu übernehmen. War ja selbstverständlich. Wie zum Beispiel die Spülmaschine. Laura war mehr als einverstanden gewesen.
«Sag mal, wie geht es dir eigentlich?», fragte sie.
Ich wandte mich ihr zu. Hinter ihr sah ich durch das Fenster Sand und Meer und Menschen. Am «Arabia», dem Strand des Künstlerviertels von Helsinki, waren schon Leute unterwegs. Laura trug ihre graue Jogginghose, ein großes hellblaues Sweatshirt und rosa Wollsocken. Ich hatte mich für eine dunkle Anzughose, ein gebügeltes weißes Hemd und eine graue Krawatte entschieden.
«Nun … in welcher Hinsicht?», fragte ich, während ich die Gläser einräumte, Seite an Seite, eng an eng und doch mit ausreichend Zwischenraum.
Ich spürte Lauras Blick auf mir ruhen, drehte mich wieder zu ihr um. Sie lächelte.
«Also, falls dir das noch nicht aufgefallen sein sollte, du bist umgezogen. Wie geht es dir damit?»
«Ja, richtig», sagte ich. Messer und Gabel sortierte ich gerne so, dass sie ineinandergriffen. «Ja, bestens. Ich halte es für eine wunderbare Lösung. Absolut gelungen.»
«Das freut mich zu hören», sagte sie.
Ich hatte gelernt, dass Laura in Momenten wie diesem eine Gegenfrage erwartete. In meinem früheren Leben waren derlei Dinge nebensächlich gewesen. Frage, Gegenfrage. Es hatte mich damals nicht interessiert, was die Leute gerade machten, womit sie sich beschäftigten und was sie wollten. Aber ich wusste inzwischen, dass mich alles interessierte, was Laura betraf. Deshalb fragte ich:
«Und du? Wie geht es dir so?»
Laura Helanto nippte an ihrem Kaffee. Sie verschluckte sich, hüstelte kurz, räusperte sich. «Auch ich denke, dass es eine gute Lösung ist. Wunderbar gelungen.» Sie lachte. Ich wusste nicht recht, worüber. Sie sah mich an.
Ich mochte es, wenn ihre Augen funkelten, aber ich musste mich auch auf die Besteckkörbe konzentrieren, und der Sekundenzeiger der Uhr an der Wand schritt schnell voran. Ich musste los, in den Park.
«Wir haben darüber gesprochen, aber …», sagte sie. «All das, was passiert ist. Wir haben es nicht wirklich vertieft. Ich hoffe, dass jetzt alles sicher ist. Dass wir in Sicherheit sind. Du verstehst?»
Ich ahnte, was sie meinte. «Der Abenteuerpark ist aus dem Gröbsten raus. Alle sind mit Begeisterung bei der Sache. Die Besucherzahlen sind stabil. Ebenso unsere Einnahmen. Doch, ja, die Kasse klingelt. Der Rubel rollt. Bald werden wir über Investitionen nachdenken können. Und wir … wir sind hier. Du, Tuuli und ich, wir drei. Unsere Lebenshaltungskosten sind gering, auch die sonstigen Ausgaben halten sich in Grenzen. Wir haben eine kluge Haushaltsführung. Ich bin Versicherungsmathematiker, deshalb verspreche ich nichts. Aus Erfahrung. Hundert Prozent, also Gewissheit, gibt es nicht. Aber ich würde sagen, dass die Wahrscheinlichkeiten für uns sprechen.»
Laura schwieg. Dann lächelte sie.
«Danke, Henri», sagte sie und überreichte mir ihren Kaffeebecher. Ich nahm ihn entgegen und stellte ihn direkt an seinen Platz in der Spülmaschine. Dann schaltete ich die Maschine ein, und nach einem Kuss, der unglaublich guttat, war ich schon bald auf dem Weg zum Abenteuerpark, dem DeinMeinFun.
Die Fahrpläne und die Streckenführung waren neu. Ich fuhr mit der Metro zum Ostzentrum, um dort in den Bus umzusteigen. Aber erst, nachdem ich den einen, der mich rechtzeitig ans Ziel gebracht hätte, verpasst hatte. Zu spät zu kommen zählte sicher nicht zu meinen Angewohnheiten. Aber egal, es war nun nicht mehr zu ändern.
Ich beschloss, die mit der neuen Streckenführung verbundenen Eindrücke, den Anblick der kaum vertrauten Landschaft und den entschleunigten Start in den Tag zu genießen, so gut es eben ging. Die Route war mir unbekannt. Das passte dazu, dass in meinem Leben zurzeit viel Neues passierte.
Nachdem ich endlich angekommen war, lief ich zügig zum Park. Das hatte auch, aber nicht nur mit den zehn Minusgraden und dem eisigen Wind aus Nordwesten zu tun. Ich hatte mir das Wochenende ausnahmsweise freigenommen. Eigentlich war ich immer entweder samstags oder sonntags vor Ort, aber dieses Mal hatte der Umzug angestanden, und noch etwas anderes war mir vor einigen Wochen klar geworden: Die Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter waren alle in ihre Rollen reingewachsen und arbeiteten eigenverantwortlich. Ich hatte die Dinge gerne unter Kontrolle, machte vieles selbst, aber ich konnte loslassen. Das Tagesgeschäft lief reibungslos.
Tatsächlich arbeiteten alle so gut, dass ich begonnen hatte, über Gehaltserhöhungen nachzudenken. Sollte sich unsere finanzielle Lage weiter stabilisieren, war es an der Zeit.
Ich überquerte die Straße und den schneebedeckten großen Parkplatz, erreichte den Haupteingang, drehte mich langsam um die eigene Achse, sah mich um. Das kam mir selbst etwas seltsam vor, war aber zur Gewohnheit geworden. Denn vor nicht allzu langer Zeit hatte ich noch triftige Gründe gehabt, mich regelmäßig umzusehen. Ich ließ meinen Blick für eine Weile über den Parkplatz wandern. Er war noch spärlich belegt, so wie immer an einem Montagmorgen. Ganz im Sinne des Durchschnittswertes in der Gaußschen Summenformel. Ich trat ein.
Während ich an der Krokodilbahn, dem Erdbeer-Labyrinth und dem Riesendonut vorüberlief, stieg mir der Duft von frischem Hefegebäck und Kaffee in die Nase. Unsere neueste Investition, die Elchschanze, stand wohlverdient im Zentrum der großen Halle. Das Geweih des Elchs, das zugleich die Sprungschanze war, ragte monströs hervor und glänzte wie neu. Überhaupt war alles sehr sauber, die Geräte, die Wände, die Böden. Kristian, der inzwischen für die Gebäudereinigung zuständig war, leistete ganze Arbeit. Es roch auch alles frisch und neutral, weshalb die Düfte aus unserem Café, dem Krummen Kuchen, umso angenehmer durchdrangen.
Ich hatte noch ein paar Minuten bis zum Morgen-Meeting. Ich ging in mein Büro, fuhr den PC hoch und druckte die Dokumente und Berichte aus, die ich brauchen würde. Ich sah aus dem Fenster im ersten Stock, richtete meine Krawatte, schnappte meine Unterlagen und lief zum Konferenzraum.
Der Raum war neu eingerichtet. Es war sogar ein ganz neuer Raum. Eine Idee von Kristian. Unter seinen vielen Verbesserungsvorschlägen war das einer der besten gewesen. Vor allem einer, der sich auch hatte verwirklichen lassen.
Kristian selbst hatte die Wände eingezogen, die jetzt unseren Meetingraum vom Lager abtrennten. Die Inneneinrichtung stammte von Minttu K., unserer Marketingchefin. Sie war ihrer Neigung zu weißem Glanz und schwarzem Leder gefolgt. In den Ecken standen skurrile Kunststoffteile, die Minttu hartnäckig Skulpturen nannte. Ähnliches wie diesen Raum hatte ich bislang nur im Kino gesehen. Genauer gesagt, in einem futuristischen Horrorfilm, in dem ich nur wegen einer Verwechslung beim Ticketkauf gelandet war.
Als ich ankam, waren alle schon da, saßen am schneeweißen Konferenztisch: Kristian, Minttu K., Esa, unser Securitymanager, Samppa, unser Spiele-Animateur, Johanna, unsere Köchin und Wirtin des Cafés.
Ich ging ans Tischende, zog mir einen Stuhl heran, setzte mich. Alles sahen mich an. Dann betrachteten sie die Unterlagen, die ich vor mir abgelegt hatte. Dann sahen sie wieder mich an. Diese Stille war neu. Etwas hatte sich verändert.
Ich betrachtete den Stapel Papier. Ich hatte den Bericht ausgedruckt und war damit hierhergelaufen, ohne selbst einmal reinzuschauen. Gleich die erste Seite verriet etwas über die Besucherzahlen am Wochenende. Verkaufte Eintrittskarten. Einnahmen. Ich betrachtete die Zahlen, schwarz auf weiß, und dachte an den von Neuschnee eingezuckerten, gähnend leeren Parkplatz und die pieksaubere Halle, in der es nach Kaffee und Gebäck aus dem Krummen Kuchen gerochen hatte. Das alles gehörte zusammen, ergab Sinn.
Aber welchen Sinn?
«Was ist passiert?», fragte ich in die Runde.
Ich sah jeden der Reihe nach an. Esa sah angestrengt geradeaus, als wäre da etwas, das er überwachen musste. Sein schwarzer Ordner mit dem Logo der US Marines lag vor ihm auf dem Tisch. Samppa richtete ein wenig prätentiös seinen Pferdeschwanz. Als er damit fertig war, begann er, seine Armreife zu sortieren. Er hatte eine Menge davon, in allen Farben. Johanna hielt meinem Blick stand. Aber wie so oft, fiel es mir schwer, in ihren Augen zu lesen. Vermutlich hatte sie diesen undurchdringlichen Blick während ihrer Gefängnisaufenthalte erlernt. Minttu K. saß direkt neben mir, aber von ihrem Gesicht konnte ich wenig erkennen. Ein riesiger Becher verdeckte den größten Teil davon. Ich vermutete, dass der Geruch von Fensterputzmittel, der mir in die Nase stieg, aus diesem Becher stammte.
«Unsere Besucherzahlen sind eingebrochen», sagte ich. «Ins Bodenlose. Von einem Tag auf den anderen.» Ich blätterte in den Unterlagen. «Der Ticketverkauf liegt bei 15 Prozent vom Normalniveau. Der Krumme Kuchen macht etwa 10 Prozent vom sonstigen Umsatz. Was ist passiert?»
«Hier bei uns gar nichts», sagte Esa.
«Genau», sagte Samppa.
«Aha. Und das bedeutet?», fragte ich. «Ist also woanders was passiert?»
«Na ja … in der Purzelbaumwelt», sagte Esa.
Die Purzelbaumwelt war unser neuer Konkurrent. Ich wusste bislang wenig über die Firma. Mein Bruder Juhani hatte eine Weile für sie gearbeitet, war dann aber, nach wenigen Wochen, mal wieder spurlos verschwunden.
Über die Purzelbaumwelt wusste ich zweierlei: Erstens hatte die Internationale Vereinigung der Abenteuerparks dieses Unternehmen nicht zertifiziert. Ohne diese Entscheidung zu begründen. Zweitens wusste ich, wo sich der Park befand. Das nagelneue, imposante Gebäude stand, von unserem DeinMeinFun aus betrachtet, genau am anderen Ende der Stadt.
«Was ist denn da passiert, in der Purzelbaumwelt?», fragte ich.