Das Ende des Chinesischen Traums - Lea Sahay - E-Book

Das Ende des Chinesischen Traums E-Book

Lea Sahay

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Beschreibung

Was passiert wirklich in China? – China-Korrespondentin Lea Sahay bietet exklusive Einblicke in Politik, Wirtschaft und den chinesischen Traum Lange schien Pekings neo-kommunistische Politik aufzugehen. Die Verbindung von Wachstum, Nationalismus und sozialer Kontrolle sah aus wie eine erfolgreiche Alternative zu westlicher Demokratie und Marktwirtschaft. Doch heute zeigt die Fassade der zweitgrößten Wirtschaftsmacht der Welt Risse: Der Tech-Boom ist vorbei, die Immobilienblase geplatzt und das Gesundheitssystem kollabiert. Lea Sahay lebt seit 16 Jahren in Peking und Shanghai. Die langjährige China-Korrespondentin gilt als top-informierte Kennerinnen des Landes. Ihr Sachbuch lässt uns hinter die Kulissen blicken und die Entwicklungen in China durch die Augen einfacher Menschen erleben: - Wie sieht das Leben in China heute aus? - Wie hat es sich in den letzten 20 Jahren verändert? - Warum folgen die Chinesen dem machthungrigen Kurs von Staatspräsident Xi Jinping? - Welche Versprechungen macht das totalitäre Regime?Ein politisches Buch, das die Menschen in den Mittelpunkt stellt Lea Sahay lässt uns an den Träumen und Ängsten der Chinesen teilhaben und macht so die moderne chinesische Gesellschaft verständlich. Die Journalistin spricht zum Beispiel mit jungen Chinesinnen, die nach der Aufhebung der Ein-Kind-Politik nicht mehr nur als Mütter wahrgenommen werden wollen. Oder mit beruflichen Aufsteigern über enttäuschte Hoffnungen, den Einfluss der Staatspartei und Zukunftsängste. Und sie erzählt von persönlichen Erfahrungen im katastrophalen chinesischen Gesundheitssystem. Die einzigartige Kombination von Alltag, Wirtschaft und Politik in China liefert einen Schlüssel zum Verständnis der Supermacht am Scheideweg.

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Seitenzahl: 348

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Lea Sahay

Das Ende des Chinesischen Traums

Leben in Xi Jinpings neuem China

Knaur eBooks

Über dieses Buch

Was passiert wirklich in China?

Lange schien Pekings neo-kommunistische Verbindung von Wachstum, Nationalismus und sozialer Kontrolle eine erfolgreiche Alternative zu westlicher Demokratie und Marktwirtschaft. Doch heute zeigt die Fassade des Global Players Risse: der Tech-Boom ist vorbei, die Immobilienblase geplatzt und das Gesundheitssystem kollabiert. Lea Sahay, langjährige China-Korrespondentin und eine der profiliertesten Kennerinnen des Landes, spürt diesen Entwicklungen nach. Sie blickt hinter die Kulissen des Landes und erzählt die Geschichte Chinas durch die Augen einfacher Menschen. Einzigartig kombiniert sie dabei Alltag und Staatspolitik und liefert so einen Schlüssel zum Verständnis eines Landes am Scheideweg.

 

Weitere Informationen finden Sie unter: www.droemer-knaur.de

Inhaltsübersicht

Widmung

Einleitung

Im Ausnahmezustand

Das neue China unter Xi

Generation ohne Optimismus

Chinas drei neue Berge

Sicherheit statt Wachstum

China! Zukunft?

Die Zukunft ist schon da

Chinas Tech-Giganten

Der nächste Jack Ma

Kaviar Made in China

Der rote Stern über Davos

Eine andere Welt

Ein neuer Anfang

Rückkehr auf die Weltbühne

Neues Peking, großartiges Olympia

Erinnerungen an Armut und Hunger

Bewunderung fürs Ausland

Für immer Ausländer

Die chinesische Familie

»Du bist jetzt Teil der Familie«

Der Deal mit dem Volk

Das Jahrhundert der Schande

Der Traum vom Aufstieg

Versagen ist keine Option

Abschied aus Peking

Die Partei führt alles

Inszenierte Harmonie

Kampf gegen Fliegen und Tiger

Ein Mann des Volkes

Wie die Kerne eines Granatapfels

»Kopf hoch!«, rufen wir, unsre Heimat ist hier

Chronik einer Vertuschung

Welche Pandemie?

»Wir sind hier ja nicht in Amerika«

Retter in der Not

Zutritt für ausländische Freunde verboten

Aus Öffnung wird Konfrontation

Die schwarze Hand Amerikas

Eine Partnerschaft ohne Grenzen

Die Sprache unserer Feinde

Demokratie auf Chinesisch

Eine Festung mit Hängebrücken

Chinas eiserne Corona-Politik

Wenn der Lockdown zum Normalzustand wird

Jeder kämpft für sich alleine

Fünf-Sterne-Medizin

Vor der Tür

Auf der Intensivstation

Auf unbestimmte Zeit getrennt

Chinesen suchen Umwege

Alltag im Krankenhaus

Leb wohl, Seuchengott

Medizinischer Aufruhr

Krankheit als Armutsgrund Nummer eins

Wölfe mit weißen Augen

Der verschwundene Sohn

Über den Parteitag

Abschied

Der Brückenmann von Peking

Unkontrollierte Durchseuchung

Ein Land mit kollektiver Amnesie

Die letzte Generation

»Seid ihr bereit, mehr Kinder zu kriegen?«

Eine Schande für China

Bitternis ertragen lernen

Blick nach vorn

Literatur

Für Jonathan und Charlotte

Einleitung

Im Ausnahmezustand

Ich stand in der Notaufnahme des Pekinger Kinderkrankenhauses und versuchte zu verstehen. Es war ein schwüler Freitagabend im September 2022, um mich herum drängten sich chinesische Ärzte und Eltern, Krankenschwestern und Geschwister im blaukalten Krankenhauslicht. Das Pekinger Kinderkrankenhaus ist eines der größten in China, mehr als drei Millionen Kinder werden dort im Jahr behandelt. Wenn es schnell gehen muss, kommen sie hier an, im kleineren der zwei Hauptgebäude, in einem einzelnen schmalen Raum, in dem an ruhigen Tagen auf jeder Seite vier Betten stehen, zwischen denen Schläuche und Kabel von der Decke hängen.

Ich blickte hinunter auf meinen Sohn Jonathan, acht Monate alt, der in einem dieser Betten lag, die für ihn viel zu groß waren. Er schien mich nicht mehr zu erkennen. »Warum behandeln Sie ihn nicht?«, fragte ich eine der Schwestern, ich unterdrückte meine Panik. »Er braucht einen negativen Coronatest«, lautete die Antwort. Selbst in China mussten Kinder unter zwei Jahren eigentlich keine Testergebnisse vorweisen, Jonathan war noch nie getestet worden. Doch als ich für seine Anmeldung kurz den Raum verlassen hatte, mussten sie einen Abstrich gemacht haben, denn jetzt sollten wir warten. In zwei Stunden würde das Ergebnis da sein, sagte einer der Ärzte. Die Schwester, die uns hierher begleitet hatte, flüsterte: »So viel Zeit hat er nicht, er stirbt, können Sie keine Ausnahme machen?« Doch der Arzt schüttelte den Kopf: »Das sind die Regeln. Da kann man nichts machen.«

Fast drei Jahre war es inzwischen her, dass das Coronavirus in Wuhan entdeckt worden war. Im Rest der Welt war längst die Normalität zurückgekehrt, doch in China stemmten sich die Behörden weiter mit heftigen Maßnahmen gegen eine Ausbreitung des Virus. Der Staats- und Parteichef der Kommunistischen Partei Chinas, Xi Jinping, ließ sich als Erfinder der sogenannten Null-Covid-Strategie feiern, wonach bei einem oder zwei Fällen Millionenstädte abgeriegelt wurden. Seine Politik hatte höchste Priorität. Selbst dann noch, als mit der Ankunft der hochansteckenden Variante Omikron eine Ausbreitung nicht mehr zu verhindern war.

So kam es, dass ich im Herbst 2022 in einer Pekinger Kinderklinik stand und dabei zusehen musste, wie die Ärzte unseren schwer kranken Sohn nicht unmittelbar behandeln wollten. Von einem auf den anderen Tag war er an einer sehr seltenen Immunstörung erkrankt und kämpfte mit dem Tod. Unzählige Male hatte ich als Journalistin erlebt, was es bedeutete, wenn die Menschen in China in den Weg der Partei gerieten. Nicht immer weil sie Widerstand leisteten, häufiger hatten sie einfach Unglück, zur falschen Zeit am falschen Ort zu sein.

Das neue China unter Xi

Wir haben Glück gehabt, unser Sohn hat überlebt und ist heute wieder gesund. Doch viele andere können das nicht sagen. Nach drei Jahren strikter Corona-Politik ging den Lokalregierungen das Geld aus, die Omikron-Welle war im Winter 2022 nicht mehr aufzuhalten. Ohne Warnung hob die Regierung die Beschränkungen auf und ließ nicht einmal den Krankenhäusern genug Zeit, sich auf die Ausbreitung vorzubereiten. Ungebremst und ohne ausreichende Impfkampagne brach die erste landesweite Viruswelle über China herein und tötete laut Schätzungen zwischen einer und zwei Millionen Menschen. Eine Aufarbeitung hat es nie gegeben. In der offiziellen Lesart hat die Partei unter Führung von Xi Jinping alles und zu jeder Zeit richtig gemacht.

Fast 20 Jahre ist es her, dass ich das erste Mal nach China reiste. Ich war 16 Jahre alt und Schülerin. Zwischen 2007 und 2008 lebte ich fern von jeder Politik in einer Gastfamilie. Zu dieser Zeit bereitete sich China auf die Olympischen Sommerspiele vor. In vieler Hinsicht waren diese Jahre der Beginn des Aufstiegs eines alten Traums, den Xi Jinping nach seinem Amtsantritt 2012 zum »Chinesischen Traum« erklärte. Eine historische Mission mit dem Ziel, China wieder zu einer starken und mächtigen Nation aufsteigen zu lassen. Zum 100-jährigen Bestehen der Volksrepublik 2049 soll das Land die Welt anführen. Laut Xi gibt es Veränderungen, wie wir sie seit einem Jahrhundert nicht gesehen haben. Sich selbst sieht er als Führer, der den Aufstieg Chinas zu wahrer Größe möglich machen wird. 2049 wäre er 95 Jahre alt.

Die »große Wiedergeburt der chinesischen Nation« begann in den Sportstadien Pekings. Die Feierlichkeiten im Sommer 2008 waren ein monumentales Unterfangen, eine perfekte Inszenierung, die größte nationale Coming-out-Party der Geschichte. Viele Chinesen begrüßten die Vision der Staatsführung zur Rückkehr glanzvollerer Zeiten, denn sie ließ sich mit ihrer eigenen Version des Chinesischen Traums verbinden: des Traums der Bürger, die sich vom Siegeszug Chinas auch die Verbesserung der persönlichen Lebensumstände erhofften. Meine Gastfamilie waren herzliche und stolze Chinesen. Durch sie ist China meine zweite Heimat geworden, schon bevor ich Journalistin wurde. Damals dachte ich wie viele: Hier liegt die Zukunft.

2016 kehrte ich nach dem Studium als Korrespondentin für das Düsseldorfer Magazin Wirtschaftswoche zurück ins Land. Super-Start-ups wie Alibaba und Tencent hatten China in die Moderne katapultiert. Junge Menschen träumten nicht von Karl Marx und Friedrich Engels, sondern von der Gründung ihrer eigenen Unternehmen. Gerade in Shanghai war es einfach, sich von der Energie und dem Fortschrittsdrang des neuen Chinas anstecken zu lassen.

Bedingung für den Erfolg war Pekings Bereitschaft gewesen, den Privatunternehmen nach der Wirtschaftsöffnung die nötigen Freiräume zu lassen. Unternehmer und Investoren konnten sich auf Zusagen der Partei verlassen, die Privatwirtschaft agierte in Freiräumen, die ihnen die Politik schuf, zum ersten Mal entstanden zarte Blüten einer Zivilgesellschaft.

Seit die Parteiführung den Volksaufstand am Platz des Himmlischen Friedens 1989 niederwalzen ließ, hatten sich Führung und Volk auf einen Deal eingelassen: Wir lassen euch reich werden, und ihr hört auf die Partei. Wer das Spiel mitspielte, kassierte die Belohnung. Bei meiner Rückkehr 2016 wollte ich über die Träume der Chinesen schreiben, über ihre Liebe zum Fußball, das gute Essen und den ewigen Optimismus, dass es den eigenen Kindern besser gehen würde. Es wirkte, als lägen die schlechten Tage hinter China. Es kam dann anders.

2012 kam Xi Jinping, Sohn eines Revolutionärs, an die Macht. Innerhalb kürzester Zeit drehte er viele Reformen zurück, zentralisierte Entscheidungsprozesse und hob die Trennung zwischen Staat und Partei wieder auf. Der Staatschef stellt die Parteikontrolle über alles, wie in den dunkelsten Zeiten der Sechzigerjahre konzentriert er alle Macht auf sich. Es war im Jahr 2017, als die ersten Hinweise an die Öffentlichkeit drangen, die Partei habe Internierungslager in Xinjiang in Betrieb genommen. 2019 kämpften die jungen Menschen in Hongkong um ihre Freiheit, bevor Peking die Demokratiebewegung unter dem Vorwand nationaler Sicherheit zerstörte. 2020 saß ich im Januar in einem Zug nach Wuhan, nicht wissend, dass die Nachricht einer unbekannten Infektionskrankheit bald das Leben aller Menschen auf der Welt verändern würde.

Aus der Blackbox Peking, in der eine kleine Clique hinter verschlossenen Türen regiert, ist eine Echokammer geworden, in der ein einziger Mann Chinas Zukunft diktiert. Die Folge sind politische Fehler, die irregeleitete Corona-Politik ist nur ein Beispiel. Während der Pandemie übernahmen von Peking ernannte Ordnungshüter die Kontrolle, die willkürlich und ohne Gnade sicherstellten, dass sich Menschen an die ideologiegetriebenen Quarantänevorschriften hielten. Es waren Polizisten, aber auch einfache Sicherheitsleute und Freiwillige der Nachbarschaftskomitees, die in weißen Ganzkörperanzügen durch die Straßen zogen, auf alle eindroschen, die ihre Masken nicht trugen, die Menschen in ihren Häusern einmauerten oder in zentrale Quarantänelager abtransportierten.

Generation ohne Optimismus

Heute trauen sich viele Chinesen nicht einmal mehr, den Namen des Parteiführers laut auszusprechen. Er, dessen Name nicht genannt werden darf. Die innenpolitische Verhärtung verschreckt Investoren, und Chinas wichtigster Wachstumsmotor stockt: In den letzten Jahrzehnten ist das Land vor allem durch Investitionen in die Infrastruktur und Immobilien gewachsen. Gerade am Anfang hatte das Entwicklungsland großen Nachholbedarf. Doch je mehr gebaut wurde, desto weniger nützlich waren die Projekte. In nur einem Jahrzehnt hat China zwei Drittel aller Schnellzugstrecken weltweit im eigenen Land gebaut. Seit Jahren eröffnet China jährlich teils zehn neue Flughäfen. Und selbst die entlegensten und ärmsten Regionen des Landes sind mit sechsspurigen Autobahnen und Brücken durchpflügt. Menschenleer und niemals in der Lage, das Wachstum zu generieren, das es für einen Erhalt braucht.

Einen zweiten Infrastrukturboom wird es nicht geben, und auch die Immobilienbranche wankt. Ein Drittel trug diese bisher zu Chinas Wirtschaftsleistung bei, die Lokalregierungen verdienten am Verkauf von Land, die Immobilienentwickler an neuen Projekten. Doch schon heute mündet manch eine Geister-Autobahn in eine Geisterstadt. Nach einem Vierteljahrhundert unaufhörlichen Wachstums ist die Blase am Immobilienmarkt geplatzt.

Im Angesicht einer nie da gewesenen Jobkrise wissen viele junge Menschen sowieso nicht mehr, wie sie sich das Leben in Chinas Metropolen leisten sollen. Es geht um junge Leute wie Xiao Li, eine Uni-Absolventin, die ich im Jahr nach der Corona-Öffnung kennenlernte. Die 23-Jährige, die in Wirklichkeit anders heißt, war die Erste in ihrer Familie, die studiert hatte. Nun saß sie vor mir, erzählte von der erfolglosen Jobsuche und einem Praktikum, von dem sie kaum leben konnte. Ihre Eltern hatten einen Großteil ihres Ersparten in ihre Ausbildung zur Steuerberaterin investiert. Inzwischen überlegte sie, sich einen Fabrikjob zu suchen.

Ihre Geschichte steht für die von Millionen jungen Menschen im Land, die nicht mehr wissen, wie sie in Zukunft leben sollen. Jede Generation in den vergangenen 40 Jahren ist in China reicher und selbstbewusster geworden. Xiao Li steht für eine Generation ohne Optimismus. Sie ist überzeugt: »Mir wird es nicht besser gehen als meinen Eltern.« Der Partei sind junge Leute wie Xiao ein Graus, nennt sie »Jugendliche der vier Neins«, weil sie zu wenig daten, nicht heiraten, keine Kinder wollen und keine Wohnung kaufen.

Chinas drei neue Berge

Der Kontrast zu meinen ersten Jahren in China könnte heute kaum größer sein. Jahrelang hat sich die Partei als Erbauer eines Landes der Superlative feiern lassen. Die höchsten Brücken. Die größten Flughäfen. Sie hat sich selbst berauscht an immer ehrgeizigeren Projekten, weniger sichtbar war der kräftige Anstieg der Verschuldung, der dafür nötig war. Ein Kurswechsel muss her, doch für ein neues Wachstumsmodell müsste der schwache Konsum angekurbelt werden, der mit weniger als 40 Prozent deutlich unter dem Niveau von Industrieländern liegt. Dafür braucht es keine auf Pump finanzierte Prestigeprojekte, sondern ein funktionierendes Sozialsystem. Das jedoch kostet Zeit und Geld.

Mitte des letzten Jahrhunderts begründete die Kommunistische Partei (KPCh, folgend vereinfacht KP) ihre Revolution mit dem Kampf gegen die »drei alten Berge«: Imperialismus, Feudalismus und den bürokratischen Kapitalismus. Heute haben sich drei neue Berge vor den Chinesen aufgebaut: niedrige Sozialleistungen und Renten, die wuchernden Bildungsausgaben und das marode Gesundheitssystem.

Chinas Arbeiter, die das Land auf Kosten ihrer Gesundheit aufgebaut haben, wissen heute nicht, wovon sie im Alter leben sollen. China hat Erfolge in der Armutsbekämpfung vorzuweisen. Doch 2020 hat der inzwischen verstorbene Ministerpräsident Li Keqiang selbst zugeben müssen, dass mindestens 600 Millionen Menschen immer noch von nur 1000 Yuan im Monat leben, umgerechnet 130 Euro. Die Kluft zwischen Stadt und Land ist riesig, die soziale Mobilität gering.

Durch die Ein-Kind-Politik kümmern sich Ehepaare heute um vier Großeltern und ein Kind. Nach Südkorea ist China das teuerste Land, um ein Kind großzuziehen. Die Folge sind sinkende Geburtenraten, seit 2022 schrumpft die Bevölkerung. Es droht Arbeitskräftemangel, gleichzeitig dürfte China in weniger als 20 Jahren älter sein als das vergreiste Japan.

Dazu kommt das marode Gesundheitssystem, das ich für zwei Monate aus nächster Nähe erlebte. China ist die zweitgrößte Wirtschaft der Welt, doch seine Krankenhäuser sind überfüllt und chronisch unterfinanziert. Es gibt zu wenig medizinisches Personal, Krankheit gilt als Armutsgrund Nummer eins in China. Mit der alternenden Gesellschaft wird sich das Problem noch verschärfen, allein bis 2035 dürfte sich die Zahl der 60-Jährigen und Älteren auf 400 Millionen Menschen verdoppeln.

Sicherheit statt Wachstum

Xi Jinping verspricht Wohlstand für alle, doch egal, ob oben oder unten: Das Land steckt in einem kollektiven Burn-out, und die Ungleichheit wächst weiter. Die Fassade des perfekt inszenierten Chinesischen Traums bröckelt. Anstelle schneller Hilfe hält die Regierung bisher an ihrer Erfolgsgeschichte fest. Xi ist kein Marxist, er hält jegliche Form der sozialen Wohlfahrt für falsch und populistisch, sie mache Arbeiter faul. Stattdessen baut er im Sinne Lenins den Sicherheitsapparat aus, heizt den Nationalismus an und bläst zur Verteidigung. Überall sieht China jetzt Feinde. Die USA, die westlichen Staaten, sie sollen die Chinesen einkreisen und unterdrücken. Es ist die Geschichte einer gedemütigten Nation, die sich von den Ketten der imperialistischen Mächte befreit hat und sich nun erneut verteidigen muss.

 

Großmacht sein, das gibt auch Sicherheit, selbst wenn sie im eigenen Leben fehlt. Die Chinesen sind wieder nationalistischer und militarisierter, damit einher geht aber auch Isolation: Wo selbst Taxifahrer früher mit Begeisterung Englisch lernten, um sich mit ihren ausländischen Gästen unterhalten zu können, schottet sich das Land heute wieder ab. Schüler sprechen weniger Fremdsprachen, dafür sollen sie lernen, wie man Spione erkennt. Auf der Straße rufen Bürger die Polizei, wenn sie Ausländer sehen. Gegenüber seinem Nachbarn Taiwan eskalieren die Drohungen, die Gefahr für die Demokratie vor Chinas Küste war nie größer.

Gleichzeitig wächst bei vielen der Frust: Im Angesicht wachsender Wirtschaftsprobleme fordert Xi, die Leute sollten für Chinas Aufstieg lernen, Härte zu ertragen. Doch die meisten Chinesen hatten eine eigene Interpretation des Chinesischen Traums. Sie haben damit Hoffnungen verbunden: ein Auto, eine Wohnung, genug Geld zur Gründung einer Familie. Dieser Ausblick war das Fundament für die Macht der Partei und die Duldung der Bevölkerung. Ich möchte in diesem Buch den Blick nach China öffnen, wie ich es erlebt habe. Dabei geht es mir nicht nur darum, die Machtpolitik Xis, den Tech-Boom oder das marode Gesundheitssystem verständlich zu machen, sondern mir ist es auch ein Anliegen, den Perspektiven der Menschen in diesem Land Raum zu geben. Dabei wird auch immer wieder die Frage aufkommen, was passiert, wenn der Chinesische Traum für immer mehr Menschen zum Albtraum wird.

Lea Sahay

Peking, Mai 2024

1. Kapitel

China! Zukunft?

Die Zukunft ist schon da

Das fühlte sich verdammt nach Zukunft an. Shenzhen im Juli 2018. Ich stand in dem Kontrollzentrum der städtischen Busgesellschaft, das Licht war gedämmt, damit man die Vorgänge auf unzähligen Bildschirmen an den Wänden besser verfolgen konnte. Neben mir verschränkte Duan Fanfang, eine zierliche Frau Ende 20, ihre Arme und lehnte sich zurück, um auch die oberste Reihe der Bildschirme im Blick zu behalten: Auf den Monitoren vor uns fuhr gerade ein Bus in Richtung Stadtzentrum, ein Schriftband verriet, dass der Fahrer auf 40 Stundenkilometer beschleunigte, der Akku des Busses bei 84 Prozent stand und noch 220 Kilometer bis zum Aufladen durchhalten würde. Duan hatte alles unter Kontrolle, als säße sie in dem Fahrzeug, statt in einem Büro der Busgesellschaft. Mit ein paar Klicks hatte sie nicht nur Zugang auf alle Überwachungsinstrumente und Kameras des Elektrobusses, sondern auch auf die aller anderen Elektrobusse in Shenzhen. Davon gäbe es atemberaubende 16300 Stück in der Stadt, erzählte sie.

Jeder davon schob sich als grüner Punkt über einen digitalen Stadtplan auf Duans Bildschirm: Welcher Fahrer ist wo unterwegs, wie viel Stromreserve hat welcher Bus noch, wie viele Fahrgäste steigen ein? »Wir können alles steuern«, erklärte sie stolz. Fuhr ein Fahrer zu schnell, verwarnte sie ihn. Mussten zu viele Passagiere warten, schickte sie mehr Busse. Regelmäßig eröffne ihre Abteilung neue Haltestellen, sagte sie. Wo der Bedarf dafür am höchsten war, entscheide ein Algorithmus.

Was mir Duan und ihre Kollegen zeigten, war kein Modellversuch. Binnen fünf Jahren hatte die Stadt alle Dieselbusse gegen E-Busse ausgetauscht und ans Kontrollzentrum angeschlossen. In Deutschland unterhält die Berliner BVG, der größte Verkehrsbetrieb mit etwa 1600 Bussen, bis heute nur 288 elektrische Modelle, bundesweit sind es laut neuester Zahlen immer noch nicht mehr als rund 2000.

Die südchinesische Metropole Shenzhen war ein Ort zum Staunen, besonders wenn man wie ich zum ersten Mal die Megacity besuchte. 1980 wurden die von Reisfeldern umsäumten Dörfer der Region im Perlflussdelta unter Führung des Wirtschaftsreformers Deng Xiaoping zur ersten Sonderwirtschaftszone des Landes ernannt. Das Provinznest, nur 20 Zugminuten von Hongkong entfernt, sollte von der Nähe zur internationalen Finanzmetropole profitieren – damals noch ein Teil des britischen Königreichs – und dem bitterarmen Land wirtschaftliches Wachstum bescheren. Der Plan ging auf. Innerhalb weniger Jahre zogen Millionen Bauern nach Shenzhen, wurden Fabrikarbeiter oder gar Unternehmer. Die Stadt explodierte, »Shenzhener Tempo« wurde zum geflügelten Wort für die neue Wirtschaftsexpansion, inspiriert vom Bau des Guomao-Handelszentrums. Alle drei Tage stellten Arbeiter ein Stockwerk fertig, in nur drei Jahren stand das 50-stöckige Gebäude, 1985 das höchste Gebäude Chinas.

China wurde zur Werkbank der Welt und das Perlflussdelta zum Herz des produzierenden Gewerbes. Fabriken schossen wie Bambus aus dem Boden. Shenzhen als Hardware-Hauptstadt der Welt war geboren. Heute kommt ein Großteil aller Smartphones, Computer und Drohnen aus Shenzhen. Während 1980 nur 340000 Menschen in der Stadt lebten, sind es heute fast 18 Millionen. Am Flughafen begrüßt Besucher das Motto der Stadt: »Kommst du nach Shenzhen, bist du ein Shenzhener.« Weil die meisten Bewohner zugewandert sind, haben sich ihre herkömmlichen Kulturen und Küchen in der Stadt etabliert. Anders als in Peking oder Shanghai müssen sie nicht fürchten, als Bauern und Fremde verspottet zu werden.

 

Die Reise zu den E-Bus-Visionären, die ich damals für die Wirtschaftswoche unternahm, war eine dieser Geschichten aus China, die auf großes Interesse stieß. Sie zeigte nicht nur Chinas ungestümen Drang zu Aufstieg und Fortschritt, sondern funktionierte auch wunderbar als Kontrast zur Bundesrepublik, in der bei Neubauprojekten ständig verschiedenste Interessen in Einklang gebracht werden müssen. Hier ein Planfeststellungsverfahren, da ein Bürgerprotest oder Gerichtsurteil, das selbst bescheiden ambitionierten Plänen in die Quere kommen konnte. Nicht selten mit dem Ergebnis, dass am Ende gar nichts passierte. In China hingegen genügte offenbar ein Befehl von oben – und die Beamten fanden einen Weg, die Anweisung aus Peking zu realisieren.

Chinas Tech-Giganten

Zwei Jahre zuvor war ich als Korrespondentin für die Wirtschaftswoche nach China gegangen. Ich war 25 Jahre alt, hatte gerade mein Politikstudium in Berlin beendet. Nun lautete meine neue Adresse Shanghai. Wie die meisten Neubürger aus dem Westen fühlte ich mich schon nach ein paar Wochen von der Stadt am Ostchinesischen Meer in den Bann gezogen. Ich spazierte durch die historischen Gassen der im Jahr 1849 von französischen Geschäftsleuten und Händlern gegründeten Französischen Konzession. Der Stadtteil aus der Kolonialzeit war bis 1946 in französischem Besitz gewesen und für seine breiten Alleen, prächtigen Villen und kleinen Gassen bekannt. Ich staunte über Wolkenkratzer, die sich auf der gegenüberliegenden Seite des Huangpu-Flusses im Bezirk Pudong auftürmten. Mein Büro lag in einer der alten Straßen der 26-Millionen-Stadt, in einer Wohnung mit hohen Decken, knarrenden Dielen und Kakerlaken, die einem abends von den Wänden entgegensprangen.

In dieser boomenden Metropole zwischen Ost und West, Tradition und Moderne, war es leicht, sich vom Leben im neuen China berauschen zu lassen. Dank einer techaffinen, jungen Bevölkerung und 710 Millionen Internetnutzern waren 2016 in fast allen Branchen milliardenschwere Techunternehmen entstanden. Während die ausländische Konkurrenz wie Facebook, Google und X – damals noch Twitter – durch die Zensur ausgesperrt wurden, entstanden in China gigantische Eigenmarken: der Suchmaschinenanbieter Baidu, das soziale Netzwerk Weibo oder Tencent mit seiner App Wechat, die den Alltag in China bestimmen sollte.

Egal, ob Chinesen etwas kauften, sich mit Freunden verabredeten oder ins Kino gingen: Wechat funktionierte wie ein eigenes Ökosystem, über das gechattet, gekauft und bezahlt werden konnte. 

Die App veränderte das Leben so stark, dass auch immer mehr westliche Unternehmen wie Facebook auf die Super-App aufmerksam wurden. Lange hatten Chinas Firmen den Ruf, zu kopieren. Jetzt wurden sie zu Vorbildern. Naheliegend, dass ich den Auftrag meiner Redaktion erhielt, die Techtrends aus dem Osten zu erklären. Wie genau funktionierte es, per Handy zu zahlen? Mussten sich Facebook und Co. vor einer Expansion fürchten? Was machten die Chinesen besser? Und bei allen klang eine Frage mit: Hängt China uns ab?

Zu dieser Zeit waren Chinas Techunternehmen längst zum wichtigsten Wachstumstreiber der chinesischen Wirtschaft geworden. Staatsmedien wie die China Daily propagierten überschwänglich die vier neuen Erfindungen des modernen Chinas: Hochgeschwindigkeitszüge und das dazugehörige längste Streckennetz der Welt, mobile Zahlungsmittel, die Bike-Sharing-Firmen, die Chinas Straßen mit Millionen Leihfahrrädern fluteten, und seine Online-Handelsplattformen.

Als Gigant unter Riesen galt der 1999 gegründete Online-Händler Alibaba. Nachdem ich fast ein Jahr lang immer wieder um einen Interviewtermin gebeten hatte, erhielt ich 2017 die Chance, die Zentrale des Unternehmens in Hangzhou zu besuchen. Am Eingang drängten sich nicht nur Mitarbeiter, sondern auch einige Dutzend schaulustige Chinesen, die mit dem Taxi eine halbe Stunde aus der Innenstadt gekommen waren, nur um ein Selfie vor dem Firmenlogo zu schießen.

Nach einem ausführlichen Personencheck mit Taschen- und Passkontrolle wurde ich hereingelassen. Zum Campus gehörte eine Shoppingmall, in der das Unternehmen neue Technologien wie Gesichtserkennungssoftware und Selbstbedienungsläden testete, in denen keine Verkäufer mehr arbeiteten. Es gab auch ein Hotel, in dem Roboter einen großen Teil der menschlichen Angestellten ersetzten – indem sie zum Beispiel beim Einchecken oder Essenslieferungen aufs Zimmer halfen. Auf dem weitläufigen Gelände fuhren Mitarbeiter mit orangefarbenen Fahrrädern umher, automatisierte Lieferfahrzeuge transportierten Pakete. Besucher deckten sich in einem Laden mit Alibaba-Fanartikeln wie Kuscheltieren und Schlüsselanhängern ein. Es wirkte, als wären sie zum Fanshop ihres Lieblingsvereins gepilgert – und nicht zum Hauptquartier eines Großkonzerns.

Falsch war der Eindruck nicht. Denn Alibaba und sein charismatischer Gründer Jack Ma waren in China mehr als nur ein Unternehmen und sein Chef. Ma galt als Kultfigur und hatte längst den Status eines chinesischen Steve Jobs erreicht. Er verkörperte in gewisser Weise eine chinesische Version des American Dream: Reich werden war geil. Und ausgehend von der 2003 gegründeten Handelsplattform Taobao war das Unternehmen zu einem gigantischen Konglomerat gewuchert, das mit seinen vielfältigen Aktivitäten in Handel, Logistik, Finanzen und Medien allenfalls vom US-Riesen Amazon übertroffen wurde. Genau den hatte Jack Ma im Blick, als er 2016 erklärte, Alibaba habe 15 Jahre lang China verändert. »Jetzt ist die Welt dran.«

Heute gibt es acht Millionen Anbieter auf Taobao, in der Rangliste der meistbesuchten Internetseiten lag die Online-Plattform 2023 weltweit auf Platz 8, Alibaba zählt 230000 Angestellte. Derartige Dimensionen waren in den ersten Jahren von Alibaba noch unvorstellbar gewesen. 1995 machte Ma während einer Reise in den USA erste Erfahrungen mit dem Internet. Darunter eine, die elektrisierte: Er tippte die Worte für »Bier« und »China« in eine Suchmaschine ein – doch die lieferte keine Ergebnisse. Das soll der Moment gewesen sein, in dem der bis dahin völlig unbekannte Chinese beschloss, ein eigenes Online-Angebot aufzubauen.

Es war die Geschichte eines Underdogs, 1964 geboren und in der Kulturrevolution des Diktators Mao Zedong aufgewachsen. Nach dem Besuch von Präsident Nixon im Jahr 1972 wurde Hangzhou zu einem Tourismus-Spot. Ma, der aus ärmlichen Verhältnissen stammte, bot kostenlose Führungen für Ausländer an, um sein Englisch zu verbessern. Einer dieser Besucher, der Schwierigkeiten hatte, seinen chinesischen Namen Ma Yun auszusprechen, gab ihm den Vornamen Jack. Später fiel Ma zweimal durch seine Abschlussprüfung der Mittelschule, nicht einmal die Fast-Food-Kette Kentucky Fried Chicken wollte ihn anstellen. Doch Ma gab nicht auf. Der Manager Porter Erisman, der in den Gründerjahren von Alibaba für den Chinesen arbeitete und den ich 2017 für ein Porträt über seinen früheren Chef traf, erzählte mir von seinen Ambitionen. Noch als Ma das Unternehmen mit 17 Freunden aus seiner Wohnung in Hangzhou steuerte, brannte er vor Ehrgeiz. Ebay sei vielleicht ein Hai im Ozean, habe er lachend gesagt, er aber sei ein Krokodil im Fluss Jangtse. Als die amerikanische Auktionsseite Ebay Anfang 2003 einen China-Ableger startete, hatte Ma gerade erst sein Unternehmen gegründet. Drei Jahre später zog sich das US-Unternehmen aus China zurück – das Krokodil hatte sich durchgebissen.

 

Alibaba stand nicht nur für den neuen, gewaltigen Reichtum des Landes und seinen Turbo-Kapitalismus. Ma verglich sein Unternehmen gerne mit dem Kampf zwischen David und Goliath. Er war der listige Angreifer, der es mit der westlichen Großkonkurrenz aufnahm. Ma war charismatisch, rebellisch und auf internationalen Konferenzen und im Angesicht von Gründern wie Mark Zuckerberg lustig und schlagfertig. Geschickt verstand er, sein Image zu Hause als gerissener Geschäftsmann mit dem nötigen Patriotismus zu verbinden. An seinem letzten Tag als CEO von Alibaba sang er »Ich liebe dich, China« und sicherte sich so – zumindest für viele Jahre – die Gunst Pekings. Mit seinem Erfolg wurde Ma zum Aushängeschild für das neue China, wie es die Führung nach außen präsentieren wollte: innovativ, technikgetrieben und erfolgreich.

Der nächste Jack Ma

Reformer Deng Xiaoping hatte fast 40 Jahre zuvor mit seinen Wirtschaftsreformen zu »mutigen Experimenten« aufgerufen, und wohin ich in diesen Jahren auch immer kam: Überall träumten junge Menschen davon, es der ersten Generation chinesischer Internetpioniere nachzutun. »Ich will der nächste Jack Ma werden«, war ein Satz, den ich immer wieder von Junggründern hörte. Beim 19. Parteitag forderte Xi im Oktober 2017, China zu einem »Land der Innovatoren« zu machen. Die lokalen Behörden reagierten auf den Befehl, indem sie alles daransetzten, optimale Bedingungen dafür zu schaffen.

Im Dezember 2017 reiste ich mit dem Schnellzug ins Zentrum der chinesischen Start-up-Szene: das Viertel Zhongguancun im Nordwesten Pekings, Chinas »Silicon Valley«, war 1988 vom Staatsrat zur Pilotzone für die Hightech-Industrie ernannt worden. In zwei Jahrzehnten war der Distrikt zum Epizentrum des Chinesischen Traums aufgestiegen. Allein 2016 hatte Peking rund eine Milliarde Euro für die Infrastruktur des Viertels bereitgestellt, das in den 1980er-Jahren noch weitgehend Ackerland gewesen war. In den Cafés saßen junge Leute in schwarzen Rollkragenpullovern und diskutierten über Software-Updates und eigene App-Ideen. In Blickweite waren immer die Vorbilder Alibaba und Tencent, Google und Microsoft. Auch Lenovo, Chinas größter Computerhersteller, war dort gegründet worden. Heute sitzen drei der sechs bestbewerteten Start-ups der Welt im Zhongguancun, darunter Bytedance, Mutterunternehmen des globalen Sozial-Media-Riesen TikTok.

Bei meinem Kurzbesuch 2017 war ich mit einer jungen Mitarbeiterin von Megvii verabredet, einer der vier großen »KI-Drachen«, die Software für Gesichtserkennungssysteme entwickelten. In nur sechs Jahre war der Wert des Unternehmens auf zwei Milliarden Dollar gestiegen. Das Hauptquartier sah aus wie viele Start-ups: Im Eingang stand ein übergroßer Autoroboter aus der Filmreihe Transformers, dahinter brüteten junge Leute an Bildschirmen. Die meisten hatten an einer der zwei Eliteuniversitäten studiert, die Pekinger und die Tsinghua-Universität, die nur einen Steinwurf entfernt lagen. Die Atmosphäre war heiter für einen Ort, den das Londoner Wirtschaftsmagazin Economist als »Big-Brother-Maschinenraum« bezeichnete.

Als Besucher musste ich zunächst an einer Kamera vorbei, die mein Gesicht scannte. Dann ging es weiter in einen Vorführraum. Auf einem Bildschirm sah ich einen Mann, der mit einem kleinen Kind an der Hand die Straße überquerte. An der Seite des Bildschirms blinkte ein Ladebalken in Rot auf: »Identität wird überprüft«. Kurz darauf erschien das Ergebnis. 93,5 Prozent Übereinstimmung mit einem Bild aus der Datenbank für geflüchtete Straftäter. Name: Li. Alter: 42 Jahre. Daneben sein aktueller Aufenthaltsort. »Dort kann ihn die Polizei festnehmen«, erklärte mir die Mitarbeiterin, die mich durch das Unternehmen führte.

Das Programm namens »Face++« war Teil des staatlichen Überwachungsprogramms Skynet, benannt nach der künstlichen Intelligenz in den »Terminator«-Filmen. Nicht nur Alter und ethnische Herkunft konnte die Software schätzen, sondern auch jeden Menschen sofort identifizieren. Dafür hatte das Land eine nationale Datenbank mit Fotos aller Chinesen aufgebaut, die älter als 15 Jahre waren. Wie mächtig dieses Instrument war, testete der britische Korrespondent John Sudworth 2017. Die lokale Polizei in der Stadt Guiyang hinterlegte für einen Fernsehbeitrag sein Foto in ihrer Datenbank, während sich der Journalist in Richtung des nächsten Bahnhofs aufmachte. Sieben Minuten dauerte die inszenierte Jagd, dann konnten ihn Polizisten mithilfe der örtlichen Überwachungskameras aufspüren. In den chinesischen Staatsmedien wurde stolz über diese »Leistung« berichtet.

Als Sudworth das Land im Jahr 2021 in Reaktion auf seine Xinjiang-Berichterstattung und aus Sorge um seine Sicherheit verlassen musste, warf die ultranationalistische Staatszeitung Global Times dem Reporter hingegen vor, die Geschichte verdreht zu haben. Das System sei anders als behauptet kein Mittel, um regierungskritische Stimmen zu unterdrücken und Dissidenten zu überwachen, sondern diene lediglich dazu, Kriminalität zu bekämpfen. »Böse Jungs schnappen« nannte das Yin Qi, der zu den Gründern des Megvii-Konzerns gehörte.

Die totale Überwachung, die sich für mich wie ein Albtraum anfühlte, war für die Mitarbeiter normal. Im Vorführraum sah man einige ihrer Gesichter in einem Fahrstuhl flimmern. Sobald sie das Büro betraten, tauchten ihre Namen auf einem Bildschirm am Eingang auf. Wer kommt wann? Und arbeitet wie viel? Alles Fragen, die Firmen in Zukunft mithilfe der Software beantworten können. Die junge Frau, die mich durchs Unternehmen führte, wirkte stolz. Wie viele Chinesen sorgte auch sie sich nicht um einen möglichen Missbrauch oder staatliche Eingriffe in ihre Privatsphäre. Neue Technologien sollten gesellschaftliche Probleme lösen, die Menschen zu mehr Moral erziehen, sie ehrlicher und das Leben sicherer machen. Ziel war ein besseres China.

Aus Sicht vieler Chinesen reagierte die Regierung mit den technischen Mitteln zur Steuerung und Kontrolle auf ein weitverbreitetes Gefühl mangelnden Vertrauens in der Gesellschaft. Die rasante Industrialisierung hatte den Zerfall traditioneller Gemeinschaften beschleunigt.

Aufsichtsbehörden konnten mit dieser Entwicklung nicht Schritt halten, die Folgen waren tödliche Skandale, verseuchte Lebensmittel und Umweltkatastrophen. Auf Märkten entdeckten Kunden »Geisterwaagen«, ungenaue Waagen, mit denen Kunden getäuscht wurden, der Betrug durch Online-Kriminelle explodierte.

Ein Gefühl großen Misstrauens durchzog das Land. Privatwirtschaftliche Kreditsysteme wie »Sesame Credite« von Alibabas Tochter Ant Financial, die auf der Grundlage des Kaufverhaltens und sozialen Netzwerks die Kreditwürdigkeit errechneten, wurden vor diesem Hintergrund nicht mit Furcht, sondern Begeisterung aufgenommen. Sie sollten zum neuen sozialen Kit der Gesellschaft werden.

Das Gleiche galt für die Idee der Regierung eines sogenannten Sozialkreditsystems. Dabei ging es weniger um die Bewertung eines jeden Einzelnen, das ist zum Glück eine dystopische Fantasie geblieben und in Pilotprojekten versandet. Ziel war vielmehr, Unternehmen zum Einhalten staatlicher Regulierungen zu zwingen. Verstöße gegen Umweltvorschriften oder Lebensmittelsicherheit führen heute zu Strafen oder Zwangsschließungen, Betrüger landen auf schwarzen Listen.

Ab 2017 eroberte die Gesichtserkennung immer mehr Bereiche des chinesischen Lebens, und das nicht nur durch behördliche Überwachung. Der Bezahldienst Alipay machte in Hangzhou erste Testläufe in einem Fast-Food-Laden, in dem Kunden über einen Scan ihres Gesichts zahlen konnten, in Peking mussten Besucher von Parktoiletten durch eine Gesichtskontrolle, um dann genau 60 Zentimeter Klopapier zugeteilt zu bekommen.

Der Staat war nicht nur Megviis größter Kunde, sondern auch einer der wichtigsten Investoren. Alles, was das Unternehmen entwickelte, basierte auf künstlicher Intelligenz. Aber Peking wollte nicht nur seine Bürger besser kontrollieren, sondern auch den Traum der Wiederherstellung der glanzvollen Wirtschaftsnation verwirklichen. Start-ups wie Megvii sollten helfen, binnen zehn Jahren die USA und Europa als Technologieführer abzulösen.

Landesweit wurden administrative Hürden für Gründungen gesenkt und milliardenschwere Förderprogramme eingerichtet. Unis öffneten Anlaufstellen, wo Studierende ihre Gründungsideen einreichen konnten. Wer seinen festen Job aufgab, um ein Start-up zu gründen, wurde vom Staat unterstützt. 2016 stellte China umgerechnet mehr als 213 Milliarden Euro für wichtige Forschungsfelder bereit. Damit hatte das Land nach den USA das zweitgrößte Forschungsbudget der Welt. Neben großen Mengen Kapital setzte Peking auch auf knallharten Wettbewerb: Wirtschaftsprofessor Meng Rui von der China Europe International Business School in Shanghai erklärte mir, ich müsste mir Chinas 31 Provinzen und Regionen wie Länder vorstellen, die miteinander konkurrieren. Pekings Plan war, aller Welt Konkurrenz zu machen. »Die Lokalregierungen versuchen nun, Strategien zu entwickeln, um die entsprechenden Sektoren vor Ort bestmöglich zu fördern.«

Der Konkurrenzkampf fand auch zwischen Städten und sogar innerhalb verschiedener Stadtteile statt. Sie wetteiferten mit günstigen Grundstückspreisen, niedrigen Steuern und weniger Bürokratie um Unternehmer. In Shanghai arbeitete ich eine Weile in einem staatlichen Co-Working-Space für Gründer, das ohne Mietkosten oder Mitgliederbeitrag für jeden offenstand. Ich setzte mich morgens zwischen die jungen Chinesen, die dort ihre Ideen entwickelten. Die Lokalregierung konnte mit dem kostenlosen Gründertreff der Zentralregierung zeigen, wie sie Xis Innovations-Ambitionen vorantrieb.

Firmen wie Megvii, die sich auf wichtige Zukunftstechnologie wie die KI spezialisiert hatten, profitierten besonders. Jede Provinz entwickelte Strategien, um die KI-Entwicklung noch gezielter voranzutreiben. Peking unterstützte auch die Etablierung von KI-Clustern, um Universitäten, Firmen und Experten miteinander zu vernetzen. Dazu lockte es Ausländer und ausgewanderte chinesische Fachkräfte mit großzügigen Gehältern ins Land.

Kaviar Made in China

Pekings Ziel war klar: In den nächsten Jahren sollte das Land zum globalen Technologieführer werden. 2015 hatte die Führung mit ihrer Strategie »Made in China 2025« detailliert aufgelistet, wie der Aufstieg zur Technologie-Macht aussehen sollte: In zehn Schlüsselindustrien strebte das Land in den nächsten Jahren die Führerschaft an, darunter Informationstechnologie, Elektromobilität und Raumfahrt.

Dafür bot Peking billige Kredite und Subventionen für heimische Hersteller. In seinem Masterplan nannte die Führung klare Quoten für den Marktanteil chinesischer Firmen. Chinas Konzerne sollten in bestimmten Branchen aufholen und dabei ausländische Firmen aus dem Markt drängen. In Shenzhen hatte ich erlebt, wie sich diese Strategie in der Realität bemerkbar machte: E-Busse boomten, weil die Regierung gewaltige Geldsummen beisteuerte. Ziel war nicht nur, die Luftverschmutzung in vielen Teilen des Landes in den Griff zu bekommen, sondern dringender noch die technologische Vorherrschaft in diesem Bereich der Automobilindustrie zu erlangen.

Peking investierte durch Staatsfonds und Subventionen zwischen 2009 und 2017 laut dem Center for Strategic and International Studies mehr als 60 Milliarden Dollar in die Elektromobilität. Mit Erfolg: Bereits 2018 gab es mehr als 60 heimische Marken für E-Fahrzeuge. Ein Jahr zuvor wurden 777000 batteriebetriebene Fahrzeuge verkauft sowie sogenannte Plug-in-Hybride, also Benziner, die mit einem Elektromotor kombiniert waren. 2019 verordnete Peking den Autofabriken sogar eine Mindestquote an E-Autos, andernfalls müssten sie hohe Strafen zahlen. Indirekt half dabei wohl auch die Arroganz deutscher Autobauer: Sie spotteten über die ersten Gehversuche der Chinesen, ihre Fokussierung auf digitale Features und nannten die Fahrzeuge »Reisschüsseln auf vier Rädern«.

Nur fünf Jahre später ist ihnen das Lachen vergangen. Die deutsche Autoindustrie ist von der Elektromobilität abhängig, mehr als ein Drittel ihrer Fahrzeuge verkauft sie in China, das zudem wichtiger Lieferant für Batterie- und Motormaterialien wie Kobalt, Lithium und Grafit ist. Bei der Münchner Automesse IAA im Jahr 2023 stellten chinesische Autobauer bereits die Hälfte aller Aussteller. Bald könnte die chinesische Konkurrenz die Weltmärkte mit billigen Elektroautos überschwemmen.

Als Journalistin hatte ich in diesen Jahren das Gefühl, zur richtigen Zeit am richtigen Ort zu sein. Unternehmer luden mich ohne Bedenken in ihre Firmen ein, als Wirtschaftsjournalistin, die nicht über Politik berichtete, standen mir viele Türen offen. Es war nicht schwer, Menschen zu finden, die von ihren Träumen erzählen wollten, die häufig kurioser, größer, ambitionierter waren, als ich es mir vorstellen konnte. So war es auch mit Xia Yongtao. Er war Mitgründer von Kaluga Queen, einem Unternehmen aus Ostchina, das innerhalb weniger Jahre zum weltweit größten Hersteller eines Luxusprodukts gewachsen war: Kaviar.

Ursprünglich stammen die teuren Fischeier aus dem Kaspischen und Schwarzen Meer, wo sich die langlebigen, empfindsamen Störe besonders wohlfühlen. Doch China hatte das in den 1990er-Jahren nicht aufgehalten, Störe in eigenen Gewässern zu züchten: Die Staatsführung beauftragte das nationale Forschungsinstitut Chinese Academy of Fishery Sciences, das Potenzial für eine nationale Kaviarindustrie zu berechnen. 1998 begann das Land auf Geheiß der obersten Führungsriege mit Zuchtversuchen. Fünf Jahre später gründete eine Gruppe chinesischer Unternehmer Kaluga Queen.

Was heute aufgrund von wachsender Kontrolle und Misstrauen gegenüber der ausländischen Presse fast unmöglich ist, war 2017 noch kein Problem: Xia Yongtao war nicht nur zu einem Interview bereit, er lud mich mit einem Kollegen auch in die Fabrik ein, in der die Tiere ausgenommen wurden, und zeigte, wie die riesigen Fische gehalten wurden. Schlüssel für den Erfolg des Projektes war ein kurioser Zufall. 1957 hatte Mao Zedong ein Tal im Kreis Chun’an in Ostchina fluten lassen, um dort drei Jahre später das erste Wasserkraftwerk Chinas zu eröffnen. 300000 Menschen wurden dafür umgesiedelt. Heute erinnern nur noch die Bergspitzen, die aus der Wasseroberfläche ragen, an die Flutung. »See der tausend Inseln« wird er deshalb genannt.

Was Mao nicht ahnte: Störe gedeihen in dem See. Nur wenn im Sommer die Temperaturen zu sehr steigen, müssen sie in ein gekühltes Becken umziehen. »Am besten verkaufen sich die Eier des sogenannten Huso Hybrid«, erklärte mir Xia. Der Fisch war eine Kreuzung aus dem Kaluga- und dem Amur-Stör, »einzigartig in der Welt«. 30 Gramm Huso-Hybrid-Eier kosteten 210US-Dollar. Ich traute mich kaum, die kleinen blauen Dosen anzufassen.

Woher das »schwarze Gold« stammte, erfuhren die Kunden allerdings nur auf Nachfrage. Mit dem Label »Made in China« warb Xia nur ungern. Ob durch Bleichmittel verseuchtes Fleisch oder Kälteschutzmittel in Apfelsaft – Chinas Lebensmittelproduktion hatte einen schlechten Ruf. »Die Marke sollte so international wie möglich wirken«, sagte der Gründer, auf dem Design waren keine chinesischen Schriftzeichen zu sehen. »Wir verkaufen das Versprechen eines neuen Lebensstils«, sagte Xia, »eines Tages wird man darauf auch in China stolz sein.«

Der rote Stern über Davos

Von einem bitterarmen Land entwickelte sich China in nur 30 Jahren nicht nur zum größten Kaviar-Produzenten der Welt, sondern auch zu einer Gesellschaft, in der sich mehr Menschen als in irgendeinem anderen Land leisten konnten, Kaviar zu konsumieren. 2019 überholte China die USA als Land mit den meisten reichen Menschen, 2020 brachte die Region Großchina, zu der auch Taiwan und Hongkong zählen, gemäß der Reichenliste des Shanghaier Hurun-Magazins dreimal so viele neue Milliardäre hervor wie der westliche Konkurrent. Chinas Parteikader agierten in diesen Jahren wie im Rausch. Das Gefühl von Überlegenheit wurde immer größer und war durch internationale Entwicklungen befeuert worden. So etwa von einem Ereignis auf der anderen Seite der Erdkugel: der Wahl von Donald Trump zum US-Präsidenten, der den Amerikanern Glanz und Größe versprach, aber gleichzeitig eine Isolationspolitik ankündigte.

Unter dem Titel »Der Anti-Trump« begrüßten Zeitungen der westlichen Welt wie die Washington Post Chinas Präsidenten Xi Jinping, der wenige Tage vor Trumps Vereidigung im Januar 2017 nach Davos reiste. Ausgerechnet der Chef einer Kommunistischen Partei plädierte vor der Weltgemeinschaft für Globalisierung und freie Märkte. Xi, in blauem Anzug, weinroter Krawatte und ewig sanftem Lächeln, wirkte wie Gegengift zum Unheil, das der Weltwirtschaft aus Richtung USA drohte.

Mehr als Wunschdenken war das freilich nicht. Zu Hause schottete Peking die chinesischen Unternehmen gegen die ausländische Konkurrenz ab, Konzerne wurden zu Partnerschaften mit chinesischen Firmen gezwungen, die eine Mehrheitsbeteiligung hielten, zu Technologietransfer oder der Verpflichtung für weitere Investitionen. In Industrien wie der Medienbranche, der Landwirtschaft und dem Finanzsektor waren ausländische Investitionen limitiert oder vollständig verboten. Doch der Schock, den Trumps Politik bei westlichen Bossen auslöste, saß tief, sie ließen sich gerne täuschen.

»Der Osten steigt auf, der Westen steigt ab«, lautete das Mantra, das Parteichef Xi verkündete. Zehn Jahre zuvor hatten er und seine Mächtigen zugesehen, wie New Yorker Banker mit Kartons unter dem Arm aus der Investmentbank Lehman Brothers gelaufen waren. Für Peking war die internationale Finanzkrise aus mehreren Gründen Schock und Zäsur. Chinas Wirtschaftswunder war zu einem großen Teil durch die globale Konjunktur befeuert worden, nun taumelte sie in Richtung Abgrund. Die Partei hatte alles auf das westliche Wirtschaftsmodell gesetzt, das auf einmal wankte. Ein Kurswechsel musste her.

Anstatt sich weiter in Richtung einer freien Marktwirtschaft zu entwickeln, forcierte die Führungsriege einen anderen Weg: Die alten Instrumente des sozialistischen Staatskapitalismus wurden ausgepackt, auf Kosten von Kleinunternehmen, die bankrottgingen, sprangen Staatsunternehmen ein. China sollte sich wieder auf sich selbst verlassen, eigene Nachfrage und damit Wachstum schaffen.

Die KP warf die Gelddruckmaschinen an und setzte ein Investitionsprogramm auf, wie es das in der Weltwirtschaft noch nicht gegeben hatte: Umgerechnet 460 Milliarden Euro sollten ein beruhigendes Signal an Investoren und das Volk senden. Was mit dem Geld konkret passieren sollte, war hingegen überhaupt nicht klar. Lokalregierungen sollten innerhalb von zwei Wochen Ideen einreichen. Es gab keine Prüfung, wie sinnvoll die jeweiligen Pläne waren, was sie für die Umwelt bedeuten würden. Am Ende hatte Peking eine Liste mit einem Volumen, das mehr als sechs Mal so groß war wie das Konjunkturprogramm.

Es war ein Freifahrtschein für Lokalregierungen zum Schuldenmachen und Investieren, in Infrastruktur, Immobilien und Industrien, die schnell Wachstum generieren würden, so etwa U-Bahnen, Straßen, Flughäfen und Kraftwerke. In seinem Bauwahn verbrauchte China zwischen 2011 und 2013 mehr Beton als die USA im gesamten 20. Jahrhundert: 4,5 Milliarden Tonnen. Bereits 2014 klagten staatliche Experten über »ineffiziente Investments« in Geisterstädte, Stahlwerke und verlassene Straßen, die sich zwischen 2009 und